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von EGLEA

FRAGENDE ZEICHEN

VON EGLEA Sie war noch ziemlich neu, die Marmorgruppe von Gian Lorenzo Bernini in Santa Maria della Vittoria, genannt Die Ekstase der heiligen Teresa, als ein französischer Diplomat bei seinem Rom-Besuch dorthin geführt wurde. Er betrachtete die schmachtende Schönheit genau. Mit geöffneten Lippen und geschlossenen Lidern, den Kopf hingegeben in den Nacken gelegt, sah sie aus, als erwarte sie den Kuss eines Liebhabers und alles, was danach kommen musste. Das Gesicht wandte sie einem Engel zu, einem halbwüchsigen, schmalen Wesen mit vieldeutigem Lächeln. In der rechten Hand hielt er einen Pfeil, den er auf die Verzückte richtete, mit der linken lüpfte er ihr langes Gewand.

«Wenn das die heilige Ekstase ist», sagte der Diplomat, «dann kenne ich sie auch.»

So gelassen nahmen die meisten Gläubigen in Rom das nicht.

Vieldeutig ist nicht nur der Gesichtsausdruck des Engels und seine Geste, auch sein Geschlecht ist es, das könnte ein Elf-, Zwölfjähriger oder eine Elf-, Zwölfjährige sein; das aber war es nicht, was die Menschen empörte.

Zu Berninis Zeit waren die Engel grösstenteils zu androgynen Erscheinungen geworden, nur selten tauchten sie in der Kunst noch mit Rüstung und kräftiger Statur auf, sekundäre, geschweige denn primäre Geschlechtsmerkmale waren bei Engeln ohnehin nie angedeutet worden. Bärtig oder sichtbar rasiert waren sie in keinem Fall aufgetreten. Auch daran, dass Engel eine unübersichtliche Population waren, was Wohnsitz, Vorkommen, Charaktereigenschaften, Ausstattung, Anzahl der Flügel, Kostümierung und Frisur anging, hatten sich die meisten im Barockzeitalter gewöhnt.

Im Alten Testament waren die namentlich aufgeführten Engel allesamt männlich gewesen, doch schon zu Beginn des Neuen hatte ausgerechnet Jesus Christus persönlich diese Gewissheit ins Wanken gebracht. Laut Markus hatte er erklärt: «Wenn … Menschen von den Toten auferstehen, heiraten sie nicht, noch lassen sie sich heiraten, sondern sie sind wie die Engel im Himmel.» Das hiess, sie haben kein Geschlecht. Ein Dichter der Spätantike namens Gregor von Nazianz siedelte die Engel dort an, wo sie schwer dingfest zu machen waren, in einem Zwischenreich, das sich keiner vorstellen konnte, vermutlich auch nicht sollte: «Verglichen mit dem Menschen», schrieb er, «ist die Natur von Engeln geistig, im Vergleich zu Gott aber körperlich.» Fast tausend Jahre später wurde es noch schwieriger, an die Engel heranzukommen: Der Theologe Thomas von Aquin behauptete, Engel seien keine Materie, sie seien nichts als Geist.

KOLUMNE In der Musik schien es jedoch solche Zweifel an Gestalt und Geschlecht der Engel nicht zu geben. Engelschöre konnten nur von Knaben gesungen werden. Das war so in Zeiten, als weibliche Wesen sowieso keinen Zugang zur Kirchenmusik hatten, und das hielt sich. Dabei waren Knabenchöre nur erfunden worden, weil ausgewachsene Männer, falls sie nicht kastriert waren, niemals so hoch singen konnten wie die Komponisten mit wachsender Begeisterung komponierten.

War es nicht pragmatisch gedacht, die Engel aufzuteilen in solche fürs Feine und solche fürs Grobe? Für das alltägliche Leben brauchte man Engel, derer man habhaft werden konnte, Schutzengel, die in der Unfallverhütung eine zentrale Rolle zu spielen bereit waren, überall, zu jeder Zeit, bei jeder Lappalie, Stimmlage gleichgültig, und Engel fürs Überirdische, unerreichbar, deren Stimmen möglichst körperlos klingen sollten, jedenfalls durften sie nicht sinnlich oder verführerisch sein.

Als es um Argumente ging, Mädchen aus Knabenchören auszusperren, wurde Letzteren ein Originalklang-Status zugeschrieben; der aber erwies sich rasch als fragwürdig, denn die sogenannten Knaben in den Chören waren im 16. und im 17. Jahrhundert wesentlich älter als heute, der Stimmwechsel setzte später ein, ihre Stimmen mussten also reifer gewesen sein, sodass sie eher wie Frauenstimmen geklungen haben dürften. Trotzdem, es lässt sich nicht bestreiten, dass über 60 Prozent der Hörenden erkennen können, ob da Knaben oder Mädchen singen, dass ein Knabenchor als eigenes Instrument folglich seine musikalische Berechtigung besitzt. Mahler oder Britten wussten, was sie wollten, als sie Knabenchöre einsetzten; werden die beschrieben, ist immer von Reinheit und gläserner Klarheit die Rede. Wen lässt das nicht an Unschuld, an Wahrheit denken? Selbst in Filmmusiken singen die Knaben, wenn es ums Entrückte geht.

Als vor zehn Jahren bekannt wurde, dass allein bei den Regensburger Domspatzen mindestens 547 Chorknaben sexuell missbraucht worden waren, als Ehemalige auch in anderen Chören auspackten, sie hätten in ständiger Angst vor Prügeln und Übergriffen gelebt und gesungen, als die Aufklärung in vielen Fällen eher einer Eintrübung glich, hätte es

Lea Singer = Eva Gesine Baur

uns da nicht schwerfallen müssen, nach wie vor an Reinheit und Klarheit, an Wahrheit und Unschuld zu denken, wenn wir Knabenchöre hörten? Wir waren dabei, als Verantwortlichen chronisches Wegschauen vorgeworfen wurde, durften wir da weghören? Oder klang wirklich nichts mit, was unsere Illusion beeinträchtigt hätte?

Klang ist Suggestion. Wir sehen, was wir hören. «I see a voice», sagt Pyramus in Shakespeares Midsummer Night’s Dream.

Das ist nicht vernünftig, das ist Musik.

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