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Facundo Agudin, Leitung Basler Gesangverein

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GESANGSTEXT

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«SEINE MUSIK VERDIENT ES, WIEDERENTDECKT ZU WERDEN»

VON SIMONE HUTMACHER-OESCH Facundo Agudin ist ein schweizerischargentinischer Dirigent mit internationaler Tätigkeit. Nach Abschluss seines Masterstudiums an der Universidad Católica Argentina spezialisierte er sich in Alter Musik und historischer Komposition bei Pedro Memelsdorff in Bologna und an der Schola Cantorum in Basel. Seine sechsjährige Tätigkeit als Mitglied im Schweizer Kammerchor in Zusammenarbeit mit dem Tonhalle-Orchester Zürich unter der Leitung von Claudio Abbado, Valery Gergiev, Armin Jordan, Simon Rattle, Gennadi Roschdestwenski, Wolfgang Sawallisch und David Zinman gab ihm wichtige Impulse für seine weitere Entwicklung als Dirigent. Er ist Mitbegründer sowie künstlerischer und musikalischer Leiter von Musique des Lumières. Agudin lebt in Basel und ist seit 2020 Dirigent des Basler Gesangvereins.

SHO Herr Agudin, Sie verfügen über eine mehrjährige internationale Erfahrung als Chorsänger und Chorleiter.

Haben Sie vor Weissagung und Erfüllung bereits Erfahrungen mit Vokalwerken von Hans Huber machen können? FA Auch wenn ich über keine besondere Erfahrung mit den Vokalwerken Hubers verfüge, komme ich aus einer ‹deutschorientierten› Choraltradition. Als Knabe konnte ich in Buenos Aires, wo ich geboren bin, wichtige Erfahrungen in semiprofessionellen und professionellen Chören sammeln, die über ein wesentliches deutsches Repertoire verfügten: Mendelssohn, Schumann, Brahms, Bruckner und natür-

lich Bach. Mit siebzehn wurde ich Assistent bei einem der wichtigsten Chöre von Buenos Aires (ich erinnere mich, dass die Sängerinnen und Sänger bis zu dreimal so alt waren wie ich!), in welchem ich viel Standardgesangsrepertoire dirigierte. Besonders vertraut wurde ich mit der farbenreichen BöcklinSinfonie von Huber, welche wir 2015 vier Mal mit Musique des Lumières in einem besonderen Programm zusammen mit Viktor Ullmanns Kaiser von Atlantis aufgeführt haben. Ich habe vor, Hubers Musik vermehrt zur Aufführung zu bringen.

«Das Werk bietet den Künstlerinnen und Künstlern und dem Publikum wahrhaft schönes musikalisches Material.»

SHO Der Basler Gesangverein hatte bereits bei der Uraufführung von Weissagung und Erfüllung im Jahre 1913 im Basler Münster mitgewirkt. Wie kommt es, dass der Gesangverein für die Aufführung des Werks erneut angefragt wurde? Was bedeutet das für den Chor? FA Ich erinnere mich an den Morgen, an welchem Hans-Georg Hofmann mit mir über Weissagung und Erfüllung sprach. Er beschrieb das Werk als eindrückliches Dokument der Basler Musikgeschichte. Die Einladung, bei dieser Aufführung zusammen mit dem Sinfonieorchester Basel und der Knabenkantorei Basel mitzuwirken, habe ich sofort angenommen. Es war so, dass ich die Position als Musikdirektor beim Basler Gesangverein in unsicheren Zeiten übernommen hatte. Die Vorbereitungen zu Huber waren über Videoproben fast abgeschlossen, was die fünfzig bis sechzig Sängerinnen und Sänger, die geduldig das Werk einstudierten, sicherlich sehr gefordert hatte. Proben abzuhalten in Covid-Zeiten, stellte eine echte

INTERVIEW Herausforderung dar. Aber der Basler Gesangverein und auch die Knabenkantorei Basel haben es geschafft, sicher durch diese stürmischen Zeiten zu kommen und das Projekt zu retten! Wir freuen uns auf die Aufführung und sind sehr gespannt darauf.

SHO Haben Sie schon andere Weihnachtsoratorien gesungen oder dirigiert?

Wie lässt sich Hubers Werk vergleichen? FA Natürlich, ich habe schon viele traditionelle auf Weihnachten bezogene Werke (Bach, Saint-Saëns, Honegger, Poulenc, Mendelssohn, Charpentier, Händel, Corelli) dirigiert und gesungen. Meiner Meinung nach wird Hubers Werk möglicherweise seinen Platz in der Tradition deutscher Oratorien und Kantaten finden, die sich auf die Christus-Erzählung (mit neuen Dichtungen oder biblischen Texten) beziehen. Trotz seiner technischen Anforderungen und der grossen Besetzung werde ich mein Bestes tun, damit Weissagung und Erfüllung ein beliebtes Weihnachtsoratorium wird. Obwohl nicht alle Sätze unbedingt das gleiche formale Kaliber aufweisen, glaube ich, dass das Werk in seiner Form aussergewöhnlich ist. Es bietet den Künstlerinnen und Künstlern sowie dem Publikum wahrhaft schönes musikalisches Material (oft orientiert an modaler Harmonik und nahezu traditioneller Volksmusik). Ich denke, dass unser Publikum von seiner altertümlich anmutenden, etwas ‹märchenhaften› Farbigkeit begeistert sein wird.

SHO Gibt Huber in seiner Partitur klare

Anweisungen zur stimmlichen Ausgestaltung des Oratoriums, oder räumt er gewisse Freiheiten ein, die es dem Chor erlauben, das Werk selbst mitzugestalten? FA Die Partitur ist ziemlich anspruchsvoll: Der Komponist verlangt einen grossen Doppelchor, Knabenchor und vier Solistinnen und Solisten. Die Vorgaben sind in der Notation auf traditionelle Weise klar angegeben. Wie gesagt, die Partitur kann manchmal gesanglich ein wenig extrem sein (was ja auch auf Beethovens Vokalwerke zutrifft). Huber war ein subtiler Kenner aller grossen Oratorien. Seine direkten und indirekten Bezüge in Farbigkeit und Atmosphäre zu Mendelssohns

FACUNDO AGUDIN

34 Elias, Schumanns Peri oder Faust, zum Deutschen Requiem von Brahms oder sogar zu Mahlers Auferstehungssinfonie scheinen mir eindeutig, auch wenn diese eher in einer ‹sanften› Art auftreten. Es wirkt eher wie ein altes, unter Wasser betrachtetes Familienfoto, auf dem man die familiären Konturen verschwommen und mysteriös wahrnimmt.

«Seine farbenreiche und aufrichtige Sprache vermag eine fast cinematische Inspiration auszulösen.»

SHO Die Uraufführung im Jahr 1913 wurde in der damaligen Presse sehr gelobt. Obwohl die schweizerische

Presse zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei kulturellen Themen noch eher regional ausgerichtet war, erfuhr die Uraufführung überregionale Anerkennung durch die Zeitungen.

Könnten Sie sich als international tätiger Dirigent vorstellen, dass das

Werk auch ausserhalb der Schweiz auf Aufführungsinteresse stossen könnte? FA Ich würde mich geehrt fühlen, Weissagung und Erfüllung in Italien, Frankreich, Spanien, Argentinien oder Russland zur Erstaufführung zu bringen und mich im Ausland für die bedeutsamsten Komponisten Basels stark zu machen. Huber gehört definitiv in diese Gruppe. Seine farbenreiche und aufrichtige Sprache vermag beim modernen Publikum eine fast cinematische Inspiration auszulösen. Seine Musik verdient es, entdeckt und auch von einer grösseren Zuhörerschaft geliebt zu werden.

SHO Facundo Agudin, vielen Dank für das

Gespräch!

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