2 minute read

Dies Natalis

Next Article
DEMNÄCHST

DEMNÄCHST

EINE PERFEKTE WIEDERGABE DES TEXTES

VON GUIDO HELDT Die Texte von Thomas Traherne (1637–1674), die Gerald Finzi (1901–1956) in Dies Natalis vertont, gehören heute zum Kanon, aber für mehr als zwei Jahrhunderte waren sie verschollen. Traherne, der als Pfarrer in Herefordshire gearbeitet hatte und später als Kaplan für Orlando Bridgeman, einen hohen Beamten Charles II., hatte zu Lebzeiten keines seiner Gedichte veröffentlicht. 1896 fand der Buchliebhaber William T. Brooke Manuskripte in einer Karre mit Ramschbüchern und kaufte sie für ein paar Pence. Sie wurden zuerst als Werke Henry Vaughans identifiziert; bald aber ermittelte Bertram Dobell den wahren Autor und publizierte 1903 eine erste Sammlung.

Die Feier kindlicher Unschuld verbindet Traherne mit Vaughan, aber der Ton seiner Texte ist sein eigener. Trahernes Trick, uns die Welt mit den Augen und Ohren eines Kindes zu zeigen, gibt den Gedichten eine Direktheit und (scheinbare) Naivität, zu der es in der englischen Dichtung der Zeit nichts Vergleichbares gibt und in der alles in der physischen Welt zum Wunder wird: Sonne und Sterne, «diese kleinen Glieder», Augen, Hände und Zunge; die Weizenfelder, die stehen wie von Ewigkeit zu Ewigkeit; die Alten, die scheinen wie unsterbliche Cherubim, und die jungen Männer und Frauen wie funkelnde Engel … Dahinter wartet die Erkenntnis, dass es auch noch anderes gibt: Gesetze und Dispute, Armut, Sünden und Tränen; die Feier des ungetrübten Blicks schliesst die Trauer um seine baldige Trübung ein.

Finzi hatte Trahernes Centuries of Meditations 1923 kennengelernt und The Recovery aus dem Third Century als Motette gesetzt. Der agnostische Sohn jüdischer Eltern vertonte Zeit seines Lebens christliche Texte, für ihn ein integraler Bestandteil englischer Kultur, diesseits ihrer Metaphysik, an die er nicht glaubte. 1925 oder 1926 begann er, The Salutation zu vertonen, die Arie der späteren Kantate; die anderen Sätze entstanden über die nächsten anderthalb Jahrzehnte, und nachdem der Kriegsausbruch die Premiere beim Three Choirs Festival in Hereford im September 1939 verhindert hatte, wurde Dies Natalis im Januar 1940 in der Londoner Wigmore Hall uraufgeführt.

Finzis hypertraditioneller Stil ist ein natürliches Medium für die Unmittelbarkeit von Trahernes Texten, auch wenn der elegische Ton, mit dem die instrumentale Intrada einsetzt, vom Verlust der Unschuld zu sprechen scheint, noch bevor das Kind seinen ersten Blick auf die Welt geworfen hat. Die Sätze ordnen sich zu einer quasisinfonischen Folge: Intrada und Rhapsody sind motivisch verwoben und bilden den Kopfsatz. The Rapture, pendelnd zwischen

Triller-Fanal und federnden Synkopen, ist das Scherzo, Wonder, metrisch und harmonisch komplexer, der langsame Satz. Die abschliessende Salutation verwendet mit ihrem Bach-Pastiche einen Ton, den Finzi auch anderswo einsetzt (etwa in der Arie der Schwesterkantate Farewell to Arms von 1944).

In allen Sätzen zeigt die Singstimme die Eigenarten, die Finzi zu einem so kongenialen Vertoner von Texten machen: Streng syllabisch, ist die Stimme nur locker mit dem Instrumentalsatz verbunden, der ihr die kontinuierliche Grundlage liefert, bildet Rhythmus und Kontur der Texte aber so präzise ab, dass sich Text und Musik fugenlos miteinander verbinden. Man mache die Umkehrprobe: Wenn man mit Finzis Vertonung im Kopf ein Gedicht rezitiert (selbst die Prosafragmente aus dem dritten der Centuries of Meditations, die er in Rhapsody vertont), kommt dabei fast automatisch eine perfekte Wiedergabe des Textes heraus.

Gerald Finzi (1901–1956)

Dies Natalis

BESETZUNG Tenor solo, Streicher

ENTSTEHUNG 1938/1939

URAUFFÜHRUNG 26. Januar 1940 in der Wigmore Hall in London

This article is from: