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von Benjamin Herzog
E WIE ENGLISCHHORN
VON BENJAMIN HERZOG Wir gerieten uns fast in die Haare. Eines Abends in den Bergen beim Geografiespiel, auch ‹Stadt, Land, Fluss› genannt. Ein Freund schrieb nämlich beim Buchstaben E als Land ‹England› hin. No way! Ich protestierte, das müsse korrekt doch Grossbritannien heissen. Bestimmt, entgegnete der Freund gelassen, allerdings würde doch kaum einer diesen Begriff gebrauchen, oder hätte ich etwa schon einmal von schönen ‹Grossbritannien-Ferien› gehört? Ich gab klein bei. England ist Teil Grossbritanniens, wo aber überall Englisch gesprochen wird. Wie auch in den restlichen Ländern des Commonwealth, also Teilen Kanadas, Australiens und so weiter. Englisch ist, um mit Fontane zu sprechen, «ein weites Feld». Und darauf findet auch das Englischhorn seinen Platz, das mit England (oder Grossbritannien) allerdings reichlich wenig zu tun hat. Und mit einem Horn noch viel weniger. Hörner übrigens wurden auf Englisch (egal ob British oder American English) lange ‹French Horn› genannt. Darum, weil sie unter Louis XIV., beziehungsweise seinem Hofkomponisten Jean-Baptiste Lully, ihren Einzug in die Kunstmusik erlebten. Das Englischhorn jedoch gehört zur Familie der Oboen, also der Doppelrohrblattinstrumente. Doch auch dort verliert sich schnell, wer zum Beispiel in die Historie dieser Instrumente eintaucht. Da gibt es Pommern und Dulziane, Krummhörner und Cornamusen. Ein weites Feld ... Im modernen Orchester konnten nur Fagott und Oboe ihren Platz behaupten. Und unser Englischhorn, das aber weder englisch ist, noch ein Horn. Das ‹cor anglais›, wie es die Franzosen selbst heute nennen, leitet sich sprachlich vom ‹corps anglé› ab, vom angewinkelten Körper, den das Instrument einst hatte. Denn das Englischhorn ist das im Vergleich zur Oboe tiefere und deshalb im Bau längere Instrument, weshalb es früher geknickt wurde, damit Spieler auch die unteren Grifflöcher erreichen konnten. Und so geknickt durchs Leben zu gehen, das ist nie gut. Ein geknicktes Rohr, so sagen Orchestermusiker*innen, sei schwer zu spielen. Unabhängig von Einsatz, Ehrgeiz, Eifer verheddert sich ihre Atemluft in einem solchen Rohr, wenn sie strömungshemmende Engstellen durchrauschen muss. Heutige Instrumente umschiffen diese Gefahr: Sie sind gerade gebaut statt mit Knick und können dank des sogenannten S-Bogens hinter dem Mundstück auch so bequem gespielt werden. Angeblich schrieb Igor Strawinsky die enigmatische Melodie, mit der sein Sacre du Printemps beginnt, für Englischhorn und nicht, wie wir das heute hören, für Fagott. Das Englischhorn spielt erst ab Takt zehn. Eine Gegenstim-
© Janine Wiget
me, und die ist erst noch tiefer als die Hauptstimme im Fagott. Hatte Strawinsky für die Uraufführung in Paris keinen ausreichend guten Englischhorn-Spieler? Das Orchestre de Paris jedenfalls beschäftigt heute einen eigens für das ‹cor anglais› angestellten Musiker. Nicht nur für Strawinsky. Eine Ausnahme, denn das Englischhorn wird selten eingesetzt und normalerweise von der Zweiten Oboe gespielt. Warum eigentlich nicht von der Ersten Stimme? Auch das ist ein weites Feld. Das rare Englischhorn: Komponist*innen setzen es ein, wenn sie eine instrumentale Trumpfkarte ausspielen wollen. Dvořák in seiner 9. Sinfonie Aus der neuen Welt. Der langsame Satz, eine angebliche ‹Indianermelodie›, was jedoch nicht stimmt. Später unterlegte ein gewisser William Arms Fisher, ein Schüler Dvořáks, dieses berühmte Solo mit einem «Goin’ home» übertitelten Text. Heimweh ist angedeutet, Verlust auch. Ein Klang, fürs Ferne wie geschaffen. Für Dvořák drückte der Satz angeblich eine Totenklage aus. Ja, wenn es ums Sterben geht, ist das Englischhorn gerne zur Stelle. Vielfach in der italienischen Oper bis Giuseppe Verdi. Oder in Wagners Tristan und Isolde, wo das lange Englischhorn-Solo zu Beginn des 3. Aufzugs das noch viel längere Sterben Tristans ankündigt. Berlioz, dessen Instrumentationslehre Wagner (und wohl auch Dvořák) verinnerlicht hatte, schreibt über das Englischhorn: «Seine Töne sind schwermütig, träumerisch, edel, etwas verschwommen, gleichsam aus der Ferne kommend; kein anderes Instrument ist so gut geeignet Bilder und Empfindungen vergangener Zeiten aufs neue zu erwecken.» Ein Melancholiker also, dieser geknickte Körper, stimmlich in der Mittellage und weniger durchscheinend als seine prominentere Schwester, die Oboe. Doch, so sagen Bläser*innen im Orchester, wenn das Englischhorn einmal sein Solo hat, so ist ihm Erfolg beim Publikum gewiss. Der Applaus von uns, die wir uns von seinen Klängen gerne auf ein weites Feld entführen lassen.
→ Das nächste Mal: F wie Frack