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von Sigfried Schibli

DREI STÄDTE, EIN FESTIVAL

VON SIGFRIED SCHIBLI Würden Sie mir bitte einen kurzen Blick in den Gewürzschrank Ihrer Küche gestatten? Darin könnte sich nämlich eine kleine Flasche mit einer dunkelbraunen Flüssigkeit befinden, die mich interessiert. Es ist eine Flüssigkeit, die Sie gelegentlich und wohldosiert zum Würzen Ihrer Speisen oder zur Zubereitung eines Cocktails verwenden: Worcestershiresauce oder abgekürzt Worcestersauce.

Dieses Produkt mit einem komplexen Geschmack und einer mehr oder weniger geheimen Zusammensetzung wurde ums Jahr 1837 angeblich von zwei Chemikern in England erfunden und trat rasch seinen Siegeszug durch die internationale Kochszene an. Heute fehlt es in kaum einem Haushalt.

Eingeweihte wissen, dass man ‹Worcestersauce› anders ausspricht, als man es schreibt. Dasselbe gilt für die Stadt Worcester in der Grafschaft Worcestershire, neben Gloucestershire und Herefordshire eine der drei Grafschaften westlich von London. Für Menschen, die nicht englischer Muttersprache sind, wahre Zungenbrecher! Die entsprechenden Landschaften dieser ‹Three Counties› liegen zwischen Bristol im Süden und Birmingham im Norden. Da sie vorwiegend agrarisch geprägt sind, wird man sie spontan kaum mit musikalischer Hochkultur in Verbindung bringen. Darin kann man sich allerdings täuschen! Auch wenn die englische Oper und die grosse Sinfonik eher in London oder Birmingham spielen als in Worcester, Gloucester, Cheltenham oder Hereford, sind diese Orte Stätten bemerkenswerter musikalischer Aktivitäten. Am bekanntesten wurde das Three Choirs Festival, das jeweils im Sommer stattfindet und traditionsgemäss von einer grossen Whisky-Degustation begleitet wird. Es handelt sich um ein ‹rotierendes Festival›, das einmal in Worcester, ein anderes Jahr in Gloucester und dann wieder – wie in diesem zu Ende gehenden Jahr – in Hereford stattfindet. Konzertorte sind jeweils

Die Kathedrale im englischen Hereford

die Kathedralen der drei Städte, aber weil man in England ist und dort eine ausgeprägte sommerliche Open-Air-Kultur existiert, spielt sich ein nicht unwesentlicher Teil des Festivals auf den grünen Wiesen um die Gotteshäuser herum ab. Und wer nicht so viel mit der klassischen Musik am Hut hat, wird die populären Croquet-Spiele vorziehen oder im Freien picknicken.

Im Zentrum der musikalischen Aktivitäten des Three Choirs Festival stehen Chorwerke. Haydns Schöpfung, Dvořáks Requiem und das Oratorium The Dream of Gerontius des britischen Nationalkomponisten Sir Edward Elgar sind hier regelmässig zu hören, aber auch Orchesterlieder etwa von Gustav Mahler und Erich Wolfgang Korngold sowie Liederabende und Instrumentalmusik. Seit 2015 gibt es beim Three Choirs Festival auch einen Wettbewerb für neue Chorwerke, der den Festtagen dazu verhilft, nicht nur gediegen, sondern auch innovativ zu sein. Das Festival bezeichnet sich stolz als «the world’s longest running classical and choral music event». Tatsächlich gibt es diese musikalischen Sommerfestspiele bereits seit dem frühen 18. Jahrhundert; damals hauptsächlich mit Musik von Henry Purcell und William Croft. Danach stand sehr häufig der Name George Frideric Handel auf dem Programm. Sein Messiah und Mendelssohns Elias wurden fast jedes Jahr in einer der drei Städte aufgeführt, während es Bachs Matthäus-Passion erst 1871 ins Programm schaffte. 1838 wurde der Name Three Choirs Festival eingeführt, fast gleichzeitig mit der weltberühmten Worcestersauce.

Und was hat diese Geschichte im Programmheft des Weihnachtskonzerts vom Sinfonieorchester Basel verloren? Ganz einfach: Im Rahmen dieses Festivals fand 1940 die Uraufführung der Solokantate Dies Natalis von Gerald Finzi statt; der Komponist leitete persönlich die Aufführung in der Kathedrale von Hereford. Ob er sich davor oder danach einen alkoholischen Cocktail mit Worcestershiresauce gemixt hat, ist leider so wenig bekannt wie die genaue Rezeptur dieser sehr speziellen Flüssigkeit.

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