4 minute read

von EGLEA

Next Article
DEMNÄCHST

DEMNÄCHST

FRAGENDE ZEICHEN

VON EGLEA In der Münchner Königinstrasse radle ich jeden Tag vorbei an einem Stück Berliner Mauer, das dort vor dem amerikanischen Konsulat steht; Denkmal der Befreiung und Freiheit vor einem Gebäude, das sich seit ‹Nine Eleven› selbst zu einer Festung verbarrikadiert hat.

Genau dort zweigt die Schönfeldstrasse ab, die zur Bayerischen Staatsbibliothek führt, meinem Zweitwohnsitz. In der Ortsleihe hat dort lange Zeit ein sommersprossiger, rothaariger Mann gearbeitet, auf dessen Unterarm auf Griechisch eintätowiert war: «Ich erhoffe nichts, ich fürchte nichts. Ich bin frei.» Das steht auf dem Grabstein von Nikos Kazantzakis in Heraklion, der Mann in der Staatsbibliothek kannte den Friedhof und den Grabstein seit seiner Kindheit. Seine Eltern waren in den 1970er-Jahren im Süden von Kreta Teil einer Hippiekolonie, die schon seit den 1960er-Jahren in den Höhlen von Matala hauste, ursprünglich Grabkammern und seit Jahrhunderten Zuflucht von Menschen, denen ihre Freiheit in Zeiten der Verfolgung wichtiger war, als jeder Besitz.

Schubert war nie in Griechenland, seine einzige weitere Reise führte ihn nach Ungarn, wo er sich, wie er seinem Freund Hüttenbrenner erzählte, für «die Zigeunermusik» interessierte, damals die Musik der Menschen ohne festen Wohnsitz. Aber er hatte dreissig Gedichte vertont von Schiller, Goethe, seinem Freund Mayrhofer, einem Altphilologen, und anderen, von der Fahrt zum Hades bis zu den Göttern Griechenlands, von Ganymed bis Prometheus, von Orest auf Tauris bis zu Philoktet oder einem Fragment aus den Eumeniden des Aischylos. Glucks Iphigenie bewegte ihn mehr als jede andere Oper. Er, ein Freigeist, der wenig redete, und seine Freunde, die dachten wie er, sie brauchten im System Metternich, wo die Geheimpolizei allgegenwärtig war, Metaphern, um das Leiden an der geistigen Enge auszudrücken. Das konnte die Forelle sein, die in die Falle gelockt und gefangen wurde, eine Ballade, die sein Freund Christian Friedrich DanielSchubart während seiner Festungshaft schrieb, es konnte das Wandern sein, unbeobachtet, ungebunden, das noch dem Ärmsten blieb, es konnte auch Griechenland sein, ein Utopia der Freiheit. In der freien Erfindung lag das letzte Reservat. Weckte in ihnen, den Dichtern, Komponisten, Malern, Philosophen, der Schaffensprozess Hoffnung? Wer an das Ende des Wandernden in der Winterreise denkt, kann daran nicht glauben. Doch Schubert war trainiert in Befreiungsschlägen, auch wenn der kleine, gedrungene Mann, der mit Brille schlief, nicht danach aussah. Er hatte sich von der Enge des Konvikts, des Lehramts, des bürgerlichen Sicherheitsdenkens befreit. Weil er, schneller als jeder andere seiner Zeitgenossen, schon in Unterhosen beim Frühstück komponierte, hatte er es geschafft, sich mit kleinen Formaten, die sich verkauften, mit Liedern, einem von Beethoven nicht dominierten Reich, und mit Klavierstücken, finanziell über Wasser zu halten; dennoch hatte er nicht aufgegeben, frei zu sein für jede andere musikalische Möglichkeit.

Beethoven, sein übermächtiges Idol, traf Schubert oft in der Verlagsbuchhandlung Steiner & Co, wo der jede Woche mehrmals auftauchte, immer zwischen 11 und 12 Uhr, und herzog über die Musik der Italiener. Schubert kannte diese Abneigungen nicht, begeisterte sich für Cherubinis Medea, hörte, als er Paganini erlebte, «die Engel singen» und weinte in Verdis Don Carlos. Er fürchtete sich nicht vor dem Fremden, Andersartigen, Neid sagten die Freunde, kannte er nicht, selbst finanzielle Nöte vermochten ihn nicht zu lähmen,

Lea Singer = Eva Gesine Baur

© Jacques Schumacher

und er fürchtete sich vor keiner Form der Komposition, ob es eine Messe war, eine Sinfonie, ein Streichquartett oder ein Klaviertrio; nur vor dem ganz grossen sinfonischen Format schien er sich noch zu fürchten.

Im Frühling 1824 wurde in ganz Wien auf Plakaten für den 7. und den 23. Mai die Ur- und eine weitere Aufführung von Beethovens neuer Sinfonie im Kärntnertortheater angekündigt, der Neunten, ein Werk, das alle bisherigen Dimensionen sprengte. Der Text des Schlusschors war Schubert vertraut, er hatte schon 1817 Schillers Ode an die Freude vertont, nur stiller und kleiner. Anstatt verschreckt zu reagieren, kündigte er selbst etwas Grosses an, gross im Umfang, eine Stunde sollte das Ganze dauern, gross in der Besetzung und damit auch in den Erfordernissen: Raus aus den Wohnzimmern, Hinterzimmern und Salons, ran an ein grosses Publikum!

Was hatte Schubert den Mut gegeben? Hatte er aufgehört, sich zu vergleichen, und begonnen, dem Eigensinn Beethovens seinen Eigensinn entgegenzusetzen, seine eigene Klangwelt? Hoffte er gar, ihn zu erreichen oder zu überbieten? Wer aufgehört hat, sich zu vergleichen, den interessiert so etwas nicht mehr. Schubert machte, was er machen musste, und begann

EGLEA

27 seine nächste Sinfonie, es sollte seine letzte sein, mit einem Hörnerruf. So hatte noch niemand eine Sinfonie begonnen. Der Dirigent der Uraufführung zehn Jahre nach Schuberts Tod, Felix Mendelssohn Bartholdy, begann seinen Lobgesang wie Schubert mit einem Hörnerruf, der begeisterte Zuhörer Robert Schumann begann mit einem Hörnerruf seine Frühlingssinfonie. Jeder verstand diese SchubertSinfonie ohne Erklärung. «Die ist nicht zu beschreiben; das sind Menschenstimmen, alle Instrumente», schrieb Schumann an Clara Wieck. Viele Menschenstimmen – sagten sie: Wir sind das Volk, und wir sind frei? Mikis Theodorakis, der den Alexis Sorbas-Roman von Kazantzakis vertonte, brachte darin einen Tanz, den Sirtaki. Er war eine Erfindung von Theodorakis und wurde zum Inbegriff griechischer Volksmusik, griechischen Freiheitsdrangs. Als er 1987 in Ost-Berlin ein Freiluftkonzert vor 150 000 Jugendlichen gab, sang Theodorakis am Ende Schuberts Lied vom Lindenbaum, ein Kunstlied, das zum Volkslied geworden war, und bewegte mühelos alle zum Mitsingen. Warum die mitsangen, kapierten nur ein paar Herren im Anzug nicht, der Staatsratsvorsitzende Egon Krenz und die rechts und links von ihm. Theodorakis war nicht festzunageln, er hielt sich an die Spielanweisung von Albert Einstein: «Zu Schubert habe ich nur zu bemerken: Musizieren, lieben – und Maul halten.»

This article is from: