Nr. 8 Saison 21/22 – Befreiung

Page 26

KOLUMNE

26

FR AGENDE ZEICHEN VON EGL E A

In der Münchner Königinstrasse radle ich jeden Tag vorbei an einem Stück Berliner Mauer, das dort vor dem amerikanischen Konsulat steht; Denkmal der Befreiung und Freiheit vor einem Gebäude, das sich seit ‹Nine Eleven› selbst zu einer Festung verbarrikadiert hat. Genau dort zweigt die Schönfeldstrasse ab, die zur Bayerischen Staatsbi­ bliothek führt, meinem Zweitwohnsitz. In der Ortsleihe hat dort lange Zeit ein sommersprossiger, rothaariger Mann gearbeitet, auf dessen Unterarm auf Griechisch eintätowiert war: «Ich erhoffe nichts, ich fürchte nichts. Ich bin frei.» Das steht auf dem Grabstein von Nikos Kazantzakis in Heraklion, der Mann in der Staatsbibliothek kannte den Friedhof und den Grabstein seit seiner Kindheit. Seine Eltern waren in den 1970er-Jahren im Süden von Kreta Teil einer Hippiekolonie, die schon seit den 1960er-Jahren in den Höhlen von Matala hauste, ursprünglich Grabkammern und seit Jahrhunderten Zuflucht von Menschen, denen ihre Freiheit in Zeiten der Verfolgung wichtiger war, als jeder Besitz. Schubert war nie in Griechenland, seine einzige weitere Reise führte ihn nach Ungarn, wo er sich, wie er seinem Freund Hüttenbrenner erzählte, für «die Zigeuner­ musik» interessierte, damals die Musik der Menschen ohne festen Wohnsitz. Aber er hatte dreissig Gedichte vertont von Schiller, Goethe, seinem Freund Mayr­ hofer, einem Altphilologen, und anderen, von der Fahrt zum Hades bis zu den Göt­ tern Griechenlands, von Ganymed bis Pro­ metheus, von Orest auf Tauris bis zu Philo­ ktet oder ­einem Fragment aus den Eume­ niden des Aischylos. Glucks Iphigenie bewegte ihn mehr als jede andere Oper. Er, ein Freigeist, der wenig redete, und seine Freunde, die dachten wie er, sie brauchten im System Metternich, wo die Geheim-

polizei all­gegenwärtig war, Metaphern, um das Leiden an der geistigen Enge auszudrücken. Das konnte die Forelle sein, die in die Falle gelockt und gefangen wurde, eine Ballade, die sein Freund Christian Friedrich Daniel Schubart während seiner Festungshaft schrieb, es konnte das Wandern sein, unbeobachtet, ungebunden, das noch dem Ärmsten blieb, es konnte auch Griechenland sein, ein Utopia der Freiheit. In der freien Erfindung lag das letzte Reservat. Weckte in ihnen, den Dichtern, Komponisten, Malern, Philosophen, der Schaffensprozess Hoffnung? ­Wer an das Ende des Wandernden in der Winterreise denkt, kann daran nicht glauben. Doch Schubert war trainiert in Befreiungs­ schlägen, auch wenn der kleine, gedrungene Mann, der mit Brille schlief, nicht danach aussah. Er hatte sich von der Enge des Konvikts, des Lehramts, des bürgerlichen Sicherheitsdenkens befreit. Weil er, schneller als jeder andere seiner Zeitge­ nos­sen, schon in Unterhosen beim Frühstück komponierte, hatte er es geschafft, sich mit kleinen Formaten, die sich verkauf­ ten, mit Liedern, einem von Beethoven nicht dominierten Reich, und mit Klavier­ stücken, finanziell über Wasser zu hal­ten; dennoch hatte er nicht aufgegeben, frei zu sein für jede andere musikalische Möglichkeit. Beethoven, sein übermächtiges Idol, traf Schubert oft in der Verlagsbuchhandlung Steiner & Co, wo der jede Woche mehr­mals auftauchte, immer zwischen 11 und 12 Uhr, und herzog über die Musik der Italiener. Schubert kannte diese Abneigun­ gen nicht, begeisterte sich für Cherubinis Medea, hörte, als er Paganini erlebte, «die Engel singen» und weinte in Verdis Don Carlos. Er fürchtete sich nicht vor dem Fremden, Andersartigen, Neid sagten die Freunde, kannte er nicht, selbst finanzielle Nöte vermochten ihn nicht zu lähmen,


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.