Hinterbliebenen-Nachsorge - Absturz der Birgenair-Maschine in der Dominikanischen Republik 1996

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»Schmerzen, so tief wie das Meer» Beim Absturz der Birgenair-Maschine in der Dominikanischen Republik 1996 kamen 189 Menschen ums Leben. Es gab keine Überlebenden. Dieses Buch ist den Opfern sowie den Hinterbliebenen gewidmet.

Besonders danken möchten wir Frau Sybille Jatzko Sie hatte die Idee, dieses Buch über den Flugzeugabsturz zu veröffentlichen und allen Hinterbliebenen und dienstlich Beteiligten die Möglichkeit zu geben, ihre Erlebnisse und Erfahrungen hier zu schildern. Sie hat uns kurz nach dem Unglück zusammengeführt und uns gemeinsam mit ihrem Mann, Dr. Hartmut Jatzko, sowie weiteren Psychologen und Seelsorgern betreut. Sie hat uns den Mut und die Kraft gegeben, die man braucht, um eine solche Katastrophe zu bewältigen. Sie besucht bis heute noch regelmäßig die Treffen unserer Gruppe und steht uns nach wie vor mit Rat und Tat zur Seite.

Danke, Sybille! Die Gruppe der Hinterbliebenen

Umschlagbild / kleine Fotos: Das Foto oben links zeigt den Gedenkstein in Puerto Plata. In Sichtweite war das Flugzeug ins Wasser gestürzt. Das Foto unten rechts ist genau an der Stelle aufgenommen, an der das Flugzeug auf dem Meer aufschlug. In etwa 2.200 Metern Tiefe liegen das Wrack und die nicht geborgenen Toten.

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Hinterbliebenen-Nachsorge Absturz der Birgenair-Maschine in der Dominikanischen Republik 1996

Herausgeber

Sybille Jatzko Fritz Hitzfelder

Unter Mitarbeit von

Beate Coellen Peter Dirim Horst Engel Andrea Giemulla Jutta Helmerichs Hartmut Jatzko Peter Leimbach Jochen Michalek Lothar M端ller Heidi Schalek Olaf Schaper J端rgen Schramm Claus Weisner

Verlagsgesellschaft Stumpf + Kossendey mbH, Edewecht 2007

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

© Copyright by Verlagsgesellschaft Stumpf und Kossendey mbH, Edewecht, 2007 Satz: Weiß & Partner, Oldenburg Umschlaggestaltung: Sabine Sellier, Braunschweig Druck: Media-Print, Paderborn ISBN 978-3-938179-39-0

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˘ Inhaltsverzeichnis

Inhalt Abkürzungen .........................................................................................................................................7 Geleitwort ..............................................................................................................................................9 Vorwort ................................................................................................................................................ 10 Warum wurde dieses Buch geschrieben? ................................................................................... 11

A Der Absturz ...........................................................................................................13 1

Die Suche nach den Ursachen ............................................................................................... 14 1.1 Die Dominikanische Republik ................................................................................................14 1.2 Birgenair ........................................................................................................................................15 1.3 Die Katastrophe ..........................................................................................................................17 1.4 Die Untersuchung des Unfalls...............................................................................................20 1.5 Auszug aus dem Untersuchungsbericht mit Anmerkungen ......................................29

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Nach der Katastrophe .............................................................................................................. 40 2.1 Die Rettungsaktion vor Ort – ein Helfer berichtet ..........................................................40 2.2 Eine folgenschwere Entscheidung 2.3 2.4

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– der Geschäftsführer der Fluglinie berichtet ..................................................................41 Flug Nr. ALW 301 landet nicht in Berlin-Schönefeld – die Referatsleiterin berichtet ..............................................................................................43 Fragen zur Identifizierung der Opfer – ein Kriminalbeamter antwortet ................47

Das Trümmerfeld....................................................................................................................... 51 3.1 Die Bedeutung eines Trümmerfeldes..................................................................................51 3.2 Das Trümmerfeld in Puerto Plata..........................................................................................52

B Trauer-Wege..........................................................................................................57 1

Die vielfältigen Trauerreaktionen ......................................................................................... 58 1.1 Was ist eigentlich Trauer? .......................................................................................................58 1.2 Die Schicksalsgemeinschaft ...................................................................................................59 1.3 Erschwerende Bedingungen der Trauer .............................................................................64

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Besonderheiten des Trauerprozesses nach belastenden Ereignissen ......................... 66 2.1 Trauerphasen und Trauerprozess..........................................................................................66 2.2 Hinweise zur Gesprächsführung mit trauernden Hinterbliebenen .........................69 2.3 Erschwerte Trauerbedingungen nach Unglücken und Katastrophen......................69 2.4 Trauer braucht einen Ort .........................................................................................................71 2.5 Besonderheiten und Hilfen für die Trauerarbeit nach Katastrophen.......................71 2.6 Hinweise für Institutionen für den Umgang mit Hinterbliebenen 2.7

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nach Katastrophen ....................................................................................................................72 Hinweise zur Gesprächsführung nach Katastrophen für Telefonseelsorger und andere erste Ansprechpartner ..................................................73

Seelsorgliche Begleitung und religiöses Ritual in der Nachsorgegruppe................... 74 3.1 Entstehungsgeschichte ...........................................................................................................74 3.2 Bundestreffen..............................................................................................................................74 3.3 Regelmäßige Gottesdienste zum Jahrestag in Frankfurt und Berlin .......................76 3.4 Einbinden von Hinterbliebenen in die Ausbildung von SAT der LTU .......................77 3.5 Einzelbegleitung einer Familie ..............................................................................................78 3.6 Zehnter Jahrestag: Gedenken vor Ort .................................................................................78 3.7 Abschließende Gedanken .......................................................................................................79

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˘ Inhaltsverzeichnis

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Erlebnisberichte der Hinterbliebenen ................................................................................. 80 4.1 Die vergangenen zehn Jahre im Erleben der Angehörigen .........................................80 4.2 Hinterbliebene berichten ........................................................................................................81 4.3 Abschließende Gedanken .................................................................................................... 196

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Gedenksteine ........................................................................................................................... 197 5.1 Die Idee ....................................................................................................................................... 198 5.2 Die Realisierung ....................................................................................................................... 198

C Nachsorge in einer Schicksalsgemeinschaft ................................................. 205 1 2

Das Konzept der Nachsorge ................................................................................................. 206 Die ersten Treffen der Schicksalsgemeinschaft ............................................................... 207 2.1 Einladung zur Nachsorge, Mai 1996 ................................................................................. 207 2.2 Nachsorgetreffen in Erfurt, August 1996 ........................................................................ 212 2.3 Nachsorgetreffen in Seeheim-Jugenheim, November 1996 .................................... 216

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Jahrestage ................................................................................................................................. 219 3.1 Der erste Jahrestag 1997 – Flug nach Puerto Plata ...................................................... 219 3.2 Der zweite Jahrestag 1998 – die Psychologin berichtet ............................................. 232 3.3 Der vierte Jahrestag 2000 – Besuch bei Ersthelfern ................................................... 238 3.4 Der zehnte Jahrestag 2006 – Spurensuche ................................................................... 240 3.5 Der elfte Jahrestag – »Es ist, wie es ist«........................................................................... 247

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Die Helfer .................................................................................................................................. 251 4.1 Psychologen .............................................................................................................................. 251 4.2 Seelsorger .................................................................................................................................. 266

D Katastrophenbewältigung .............................................................................. 269 1

Was ist zu tun nach einer Katastrophe? Empfehlungen Betroffener ........................ 270 1.1 Organisatorisches ................................................................................................................... 270 1.2 Beistand...................................................................................................................................... 272 1.3 Maßnahmen nach einem Flugunfall ............................................................................... 273 1.4 Liste wichtiger Ansprechpartner ....................................................................................... 278 1.5 Was wäre besser zu vermeiden: unlautere Medienberichte..................................... 283

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Veränderungen in der Katastrophennachsorge seit dem Flugtagsunglück von Ramstein ........................................................................................... 285 Die Interessengemeinschaft (IG) ........................................................................................ 288 ECHO Deutschland – Verein der Opfer, Hinterbliebenen und Förderer zur Bewältigung der Folgen von Flugzeugkatastrophen .............................................. 291 NOAH – Koordinierungsstelle der Bundesregierung zur Nachsorge ......................... 294 5.1 Ausgangspunkte für die Einrichtung der Koordinierungsstelle NOAH ................ 295 5.2 Hauptaufgabe: Koordination und Betreuung ............................................................... 296

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E Flugzeug, Besatzung und Opfer...................................................................... 299 1 2 3

Das Flugzeug ............................................................................................................................ 300 Die Piloten................................................................................................................................. 301 Die Opfer ................................................................................................................................... 302

Anhang ............................................................................................................... 319 Literaturverzeichnis ................................................................................................................ 320 Abbildungsnachweis .............................................................................................................. 322 Herausgeber und Autoren .................................................................................................... 323

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˘ Geleitwort

Geleitwort Ich begrüße es sehr, dass das vorliegende Buch erschienen ist. Es gibt einen tiefen Einblick in die persönlichen Schicksale von Menschen, die von Katastrophen betroffen sind. Ferner gibt es konkrete Beschreibungen, wie ihnen von professionellen Helfern und engagierten, einfühlsamen Laien geholfen werden konnte. Entscheidend ist auch: Dieses Buch wurde gestaltet von Menschen, die die Opfer von verschiedenen Katastrophen viele Monate und auch Jahre danach begleitet haben und Hilfe in ihrer Traurigkeit, ihren Schmerzen, aber auch in ihrer Hoffnung gaben. Über hundert Seiten enthalten die persönlichen Berichte von Betroffenen, über ihr Erleben und ihre Wege der Bewältigung der schweren Belastungen. Sybille Jatzko, Gesprächstherapeutin, und Dr. med. Hartmut Jatzko, Internist und Psychiater, haben viele Menschen, die die Katastrophen von Ramstein, Puerto Plata, Kaprun und Bali erleben mussten, von Anfang an intensiv begleitet und auch einen wesentlichen Teil ihrer Freizeit dafür eingesetzt. Sie sind fachlich sehr qualifiziert. Das Wesentliche aber ist, dass bei ihnen das Persönliche, das Seelische der Betroffenen, im Vordergrund steht. Ihre vielen Bemühungen fanden auch Anerkennung in der Öffentlichkeit durch die Verleihung des Verdienstordens des Landes Rheinland-Pfalz am 12.10.1999 und des Bundesverdienstkreuzes am Bande am 3.12.2004. Prof. Dr. Reinhard Tausch Psychologisches Institut der Universität Hamburg Mai 2007

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˘ Vorwort

Vorwort Immer wieder, wenn sich eine neue kleine oder große Katastrophe ereignet hat, lese oder höre ich in den Medien von den betroffenen Menschen dieselbe Klage: »Uns hilft keiner.« Immer wieder fühlen sich solche Menschen im Stich gelassen. Belastende, emotionale Bewegungen oder Krisenzeiten werden viel zu schnell als therapiebedürftig gedeutet. Häufig wurde uns von professionellen Kollegen vorgeworfen, dass eine Langzeitbegleitung den Trauerprozess am Leben erhalten würde. Dabei wissen diese Kollegen nicht, was sich bei den Treffen ereignet, erfahren auch nicht von den Betroffenen, wie sehr diese sich gestützt und verstanden fühlen. Eine für länger angelegte Schicksalsgemeinschaft entwickelt und verändert sich üblicherweise von einer therapeutischen zu einer freundschaftlichen Gemeinschaft. Innerhalb dieser Gemeinschaft lernten die Teilnehmer und Teilnehmerinnen, ihre Gefühle in größeren Gruppen auszudrücken, fanden Bewältigungsmechanismen, um mit der Trauer umzugehen und weiterzuleben. Sie wurden zu Helfern für andere Angehörige aus nachfolgenden Katastrophen. Täglich stellen die Medien künstlich Filme über Tod und Elend her. Immer mehr Menschen leben allein und werden ausgegrenzt. Immer mehr wird über Einsamkeit geklagt. Mit diesem Buch möchten die Verfasser einen Beitrag leisten und darauf hinweisen, dass dies nicht so sein muss. Die Geschichten und Erfahrungen der in diesem Buch zu Wort kommenden Betroffenen können uns helfen, mutiger auf andere Menschen zuzugehen, die ein ähnliches Schicksal getroffen hat. Allen Helfern, die sich auf diese Wegbegleitung einließen und in ihrem Wirkungskreis mit diesen Erfahrungen die Katastrophennachsorge mit weiterentwickeln, ist an dieser Stelle zu danken. Dr. med. Hartmut Jatzko Arzt für innere Medizin, Psychiatrie, Psychotherapie, psychosomatische Medizin Krickenbach, im Mai 2007

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˘ Einführung

Warum wurde dieses Buch geschrieben? Es war der Wunsch vieler Hinterbliebener, eine Erinnerung zu haben, die nicht nur ihre verunglückten Familienangehörigen betrifft, sondern sie wollten auch eine Erinnerung an das gesamte Umfeld dieses schrecklichen Unfalls haben. In diesem Buch können sie von Gefühlen, Ängste und Gedanken erfahren, welche die Hinterbliebenen der anderen Opfer hatten. Es interessiert auch, wer die anderen Opfer waren, wie viele Kinder dabei waren, wie viele Opfer geborgen werden konnten und wie viele auf dem Meeresgrund ihre letzte Ruhe fanden? Hier die Antwort: 73 Opfer konnten geborgen werden. Für 116 Personen wurde das Meer zur letzten Ruhestätte. Dieses Buch soll nicht nur die Erinnerung einzelner Familienangehöriger wach halten, sondern alle Verunglückten sollen hier versammelt sein, um ihrer zu gedenken. Auch wenn die jetzigen Hinterbliebenen einmal nicht mehr leben, soll dieses Buch dazu beitragen, diesen Unfall nicht so schnell in Vergessenheit geraten zu lassen. Es soll auch jenen Personen zeigen, die durch einen anderen Unfall Angehörige verloren haben, wie es den Hinterbliebenen des Flugzeugabsturzes direkt nach dem Unfall ging, wie sie den Unfall verarbeitet haben und wo sie heute stehen. Für die Hinterbliebenen ist ein solcher Unfall ein gewaltiger Schock. Bei einigen Familien kehrte der »Ernährer« nicht mehr heim. Manche Eltern standen schlagartig ohne Kinder da, und auch Kinder hatten plötzlich keine Eltern mehr. Bei allen machten sich Verzweiflung, Angst und Hoffnungslosigkeit breit. Die Seele war tief verletzt und niemand wusste, wie er es bewältigen könnte. – Der Weg ist oft schwierig und langwierig. Man fühlt sich, als wäre man von einem unsichtbaren Korsett so eng eingeschnürt, dass man kaum noch Luft zum Atmen bekommt. Sicherlich gelingt es einigen, dieses unsichtbare Korsett allein wieder zu lockern, den meisten Hinterbliebenen gelingt es jedoch nicht. Hier war die Hilfe eines »Seelenarztes« gefragt. Behutsam und mit viel Einfühlungsvermögen wurden in unseren »psychologischen Runden« die schmerzenden und brennenden Themen angesprochen und diskutiert. Für viele war es schwierig, sich vor den versammelten Teilnehmern zu öffnen und Gefühle zu zeigen. Der Erfolg blieb jedoch nicht aus. Man konnte danach über den Unfall sprechen, ohne gleich in Tränen auszubrechen. Es wurde leichter und entspannter. Gleichgültig ist es, wie jemand zum Hinterbliebenen wurde: ob durch einen spektakulären Flugzeugabsturz, durch ein Schiffsunglück oder andere Unfälle, bei denen Hunderte von Menschen ums Leben kommen und über die in allen Medien berichtet wird, oder ob durch einen einsamen Motorradunfall, der in den Medien kaum Interesse findet. Für die betroffenen Hinterbliebenen ist es genau das gleiche Schicksal. Sie haben ein Mitglied ihrer Familie verloren. Es sind die gleichen Schmerzen, die gleichen Ängste und die gleiche Ungewissheit vor der Zukunft.

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˘ Einführung

Man kann jedem Hinterbliebenen raten, egal welchen Unfall er durchstehen muss, sich psychologisch helfen zu lassen, um seine Probleme in den Griff zu bekommen und sein inneres Gleichgewicht wieder zu erlangen. Unfälle können nirgends völlig ausgeschlossen werden, weder in der Luft noch auf dem Wasser, weder auf der Straße noch auf der Schiene oder sonst wo. Unfälle werden ausgelöst durch menschliches oder technisches Versagen oder durch Naturereignisse. Unfälle durch menschliches Versagen können durch großes Verantwortungsgefühl, Disziplin und viel Training der Fahrzeugführer auf ein Minimum reduziert werden. Bei technischem Versagen sind die Techniker, Ingenieure und Entwickler gefragt. An ihnen liegt es, mit zu Ende gedachten und ausgereiften Konstruktionen die Sicherheit zu gewährleisten. Trotzdem kann jede Technik durch »Verkettung unglücklicher Umstände« Schaden anrichten. Dies alles kostet viel Zeit und Geld, aber das Leben und die Gesundheit von Menschen sollten höher bewertet werden als Kosteneinsparungen. Über eines müssen wir uns im Klaren sein, das Leben aller Menschen ist nicht ohne Gefahren. Auch wenn an alles gedacht wurde und nach menschlichem Ermessen nichts mehr passieren kann – ein Restrisiko bleibt immer. Fritz Hitzfelder Herausgeber Schramberg, im Februar 2007

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Der Absturz

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A ˘ Der Absturz

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Die Suche nach den Ursachen

L. Müller

1.1 Die Dominikanische Republik Die Dominikanische Republik liegt etwa zehn Flugstunden von Deutschland entfernt auf der Insel Hispaniola östlich von Haiti, zwischen dem Atlantik und der Karibik. Jährlich verbringen dort mehr als drei Millionen Menschen ihren Urlaub. Aufgrund der räumlichen Nähe sind es vorwiegend Gäste aus den USA und Kanada, aber auch Urlauber aus Europa – aus Skandinavien, Österreich, der Schweiz, Italien, Spanien und natürlich aus Deutschland –, die auf dieser herrlichen Insel ihre schönsten Tage im Jahr verleben. Zunehmend kommen auch Touristen aus osteuropäischen Ländern wie Ungarn und Polen.

Abb. 1 ˘ Haiti und die Dominikanische Republik mit der Absturzstelle Die Bevölkerung der Dominikanischen Republik stammt im Wesentlichen von europäischen Einwanderern ab, die überwiegend aus Spanien kamen, und den Nachfahren afrikanischer Sklaven. Die Landessprache ist Spanisch. Es wird aber auch teilweise haitianisches Kreolisch und Französisch gesprochen. Das Klima ist tropisch mit hoher Luftfeuchtigkeit und Temperaturen im Durchschnitt von 28 °C, die Wassertemperatur beträgt sowohl im Norden im Atlantik als auch im Süden in der Karibik ganzjährig zwischen 26 °C und 28 °C. Kilometerlange traumhaft weiße Sandstrände laden zu endlosen Spaziergängen ein. Fast ausschließlich spielt sich das Leben der Urlauber in großen luxuriösen Hotelanlagen mit riesigen Parkanlagen ab. Kommt es dann doch einmal in kleinen Restaurants oder

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in Cafés zu Begegnungen mit der einheimischen Bevölkerung, den Dominikanern, sind diese meist sehr herzlich. Mit 48.730 km2 ist die Dominikanische Republik flächenmäßig etwas größer als das Bundesland Bayern. 9,2 Millionen Einwohner leben in dem Inselstaat, das ergibt eine Bevölkerungsdichte von 181 Einwohnern pro Quadratkilometer (zum Vergleich: In Deutschland leben ca. 230 Personen auf einem Quadratkilometer). Die Hauptstadt Santo Domingo ist mit 1,9 Millionen Einwohnern mit Abstand die größte Stadt der Republik, danach folgt mit 507.000 Einwohnern Santiago de los Caballeros. Puerto Plata steht mit 112.000 Einwohnern an achter Stelle. Die Dominikanische Republik verfügt über sechs internationale Verkehrsflughäfen, von denen der in Santo Domingo der größte und am besten ausgerüstete ist. Die meisten anderen Verkehrsflughäfen sind ausrüstungstechnisch auf einem niedrigeren Niveau und nicht mit europäischen Maßstäben zu vergleichen. Von Europa aus werden in der Regel nur Santo Domingo, Puerto Plata und Punta Cana angeflogen.

1.2 Birgenair In den 90-er Jahren weiteten einige Charterfluggesellschaften ihr Streckennetz von Europa in die Karibik aus und flogen für Reiseveranstalter, die mit kostengünstigen Pauschalreisen warben. Sie waren eine ernste Konkurrenz für die alteingesessenen Fluggesellschaften. Auch Birgenair gehörte dazu. Pauschalreisen, deutlich günstiger als mit renommierten Fluggesellschaften, waren dadurch möglich. Nicht selten wurde den Gesellschaften vorgeworfen, auf Kosten der Sicherheit, der Ausbildung des Personals und der Lohnkosten zu sparen, was in einigen Fällen und gerade am Anfang der »Billigfliegerei« auch nicht immer unberechtigt war.

Abb. 2 ˘ Die ursprünglich vorgesehene Boeing 767 von Alas Nacionales am 9. Februar 1996 auf dem Flughafen von Puerto Plata 15

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A ˘ Der Absturz

1988 gründete Mehmet Birgen das Luftfahrtunternehmen Birgenair mit Sitz in Istanbul. Zum Flugzeugpark gehörten neben drei B 757-200 und zwei B 737-300 auch eine DC10 und eine B 767-200 für Langstreckenflüge. Ziel war, gemeinsam mit Reiseveranstaltern wie Öger Tours preiswerte Pauschalreisen von Mitteleuropa in die Türkei anzubieten. Das Geschäft lief gut; deshalb entschloss man sich 1995, das Streckennetz durch Flüge in die Karibik zu erweitern. Speziell zu diesem Zweck wurde eine Tochtergesellschaft von Birgenair in der Dominikanischen Republik mit dem Namen »Alas Nacionales« (spanisch: »nationale Flügel«) gegründet und die einzige B 767-200 in dieses Unternehmen eingebracht. 1995 wurde dieses Flugzeug in der Dominikanischen Republik mit dem Kennzeichen HI-660CA zugelassen. Es war auch dieses Flugzeug, das am 6. Februar 1996 aus Berlin-Schönefeld kam und die 176 Urlauber des Fluges ALW 301 aus Puerto Plata abholen und wieder nach Hause bringen sollte. Bereits während des Fluges von Deutschland in die Dominikanische Republik trat ein Fehler an einem der drei Hydrauliksysteme auf. Nach der Landung auf dem Flughafen von Puerto Plata versuchten Mechaniker von Alas Nacionales, eine fehlerhafte Hydraulikpumpe zu reparieren bzw. auszutauschen (s.u., Kap. A 2.2). Da dies aber so kurzfristig nicht möglich war, entschloss sich Birgenair kurzerhand, auf die am Flughafen geparkte B 757-200, Kennzeichen TC-GEN, zu wechseln. Das ging jedoch nicht so einfach. Da dieses Flugzeug seit dem 23. Januar, also 14 Tage, nicht mehr geflogen war, mussten eine Reihe von Kontrollen durch Abb. 3 ˘ Die abgestürzte Boeing 757 die Flugzeugmechaniker von Alas Naciozwei Jahre zuvor, im Juni 1994, auf dem Düsseldorfer Flughafen nales durchgeführt werden, was geraume Zeit in Anspruch nahm. Zu dieser Vorbereitung gehört auch das Abnehmen aller Blindverschlüsse. Das sind die roten Deckel in den Triebwerkseinläufen, die roten Fähnchen an den Fahrwerken, die Stöpsel für die Bohrungen, die den statischen Druck am Flugzeug messen, und auch die Abdeckkappen für die Staurohre – Pitotrohre genannt –, die anhand der einströmenden Luft die Geschwindigkeit messen. Eins dieser Pitotrohre sollte später eine verhängnisvolle Rolle spielen, weil es, wie sich später herausstellte, verstopft gewesen sein muss. Aufgrund dessen, dass dieses Flugzeug nicht in eins von Puerto Plata nach Berlin-Schönefeld durchfliegen konnte, wurde eine Zwischenlandung in Gander (Kanada) eingeplant. Dazu wurde es mit 55.000 lbs (engl. Pfund) Kerosin betankt. Da die aus Berlin kommende Besatzung der B 767 keine Berechtigung hatte, die B 757 zu fliegen, musste eine neue Besatzung herangeschafft werden. Kapitän Ahmet Erdem und sein Copilot Aykut Gergin sowie ein zweiter Kapitän namens Muhlis Evrenesoglu befanden sich seit dem 27. Januar in einem Hotel in Puerto Plata; sie und zehn Flugbegleiter wurden beauftragt, den Flug nach Berlin durchzuführen. Gegen 23.40 Uhr Ortszeit, in Deutschland war es frühmorgens 4.40 Uhr, war das Flugzeug abflugbereit. An Bord befanden sich 176 Passagiere, darunter 164 deutsche Urlauber, und 13 Besatzungsmitglieder.

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A ˘ Der Absturz

1.3 Die Katastrophe Der Flugverlauf wurde aufgrund der durch die Untersuchungskommission vorgelegten Auswertung des Cockpit Voice Recorder (CVR, Sprachaufzeichnungsgerät) und des Flight Data Recorder (FDR, Flugschreiber) rekonstruiert. Ich war Mitglied dieser Kommission. Es war ein angenehm milder Abend, ein leichter Wind wehte aus Ost bis Südost, der Himmel war bewölkt und der leichte Regen hatte gerade aufgehört, als sich um 23.42 Uhr und 11 Sekunden das Flugzeug auf der Startbahn 8 auf dem Flughafen von Puerto Plata in Bewegung setzte. Keiner der Fluggäste ahnte auch nur im Entferntesten, dass der Flug bereits nach fünf Minuten in einer Katastrophe enden und das Leben aller 189 Insassen des Fluges ALW 301 ausgelöscht sein würde. Im Cockpit der Boeing 757 saßen drei Piloten, als verantwortlicher Flugzeugführer auf dem linken Sitz Kapitän Erdem, auf dem rechten Sitz der Copilot Aykut Gergin und auf dem Notsitz der zweite Kapitän Muhlis Evrenesoglu, der auf dem ersten Flugabschnitt keine Funktion hatte. Kapitän Erdem flog dieses Flugzeug auf der ersten Etappe, der Copilot sollte ihm zuarbeiten und ihn unterstützen, so war die Arbeitsteilung vorgesehen. Kapitän Erdem war mit 61 Jahren ein erfahrener Pilot, er hatte während seines Fliegerlebens diverse Flugzeugmuster geflogen, unter anderem bei Singapore Airlines den Airbus A 310. Von seinen insgesamt 25.000 Flugstunden hatte er auf dem Flugzeugmuster B 757 1.875 Stunden geflogen. Sein Copilot Aykut Gergin war mit 34 Jahren und rund 2.870 Flugstunden auf unterschiedlichen Flugzeugmustern nicht gerade unerfahren, hatte aber auf der B 757 mit knapp 72 Flugstunden wenig Erfahrung. Auch der zweite Kapitän, 51 Jahre alt, hatte erst rund 122 Flugstunden auf diesem Flugzeug absolviert, war aber mit 15.000 Flugstunden auf anderen Flugzeugmustern als erfahren einzustufen. Im Cockpit rechnete keiner mit ernsthaften Problemen auf diesem Flug, als sich das Flugzeug endlich mit über zwei Stunden Verspätung in Bewegung setzte. Auch die Passagiere waren sicher froh, dass es endlich losging, und hatten es sich für die bevorstehende zehnstündige Flugreise bereits bequem gemacht, soweit dies in Charterflugzeugen möglich ist. Der Kapitän hatte die Leistungshebel beider Triebwerke nach vorn auf die erforderliche Startleistung geschoben, und das Flugzeug beschleunigte. Beim Übergang vom LowSpeed- in den High-Speed-Bereich bei 80 kt (80 Knoten entsprechen etwa 150 km/h) zeigte der Copilot dies laut Vorschrift mit dem Ausruf »Eighty Knots« an, was auch als »Incapacitation Check« bezeichnet wird, das heißt, es wird noch einmal geprüft, ob beide Piloten im Vollbesitz ihrer körperlichen und geistigen Kräfte sind und ob alle Instrumente normal arbeiten. Als der Copilot diesen Check bei 80 kt durchführte, antwortete der Kapitän, dass seine Geschwindigkeitsanzeige offensichtlich nicht funktionierte, er aber den Start fortsetzen werde, da die Geschwindigkeitsanzeige des Copiloten funktioniere und dieser ihm die notwendigen Geschwindigkeiten für den Startverlauf ansagen solle. Das Flugzeug hob mit einer Geschwindigkeit von etwa 135 kt (ca. 250 km/h) vom Boden ab und stieg mit einem Anstellwinkel (englisch: Pitch) von etwa 12° in den nachtdunklen Himmel.

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C ˘ Nachsorge in einer Schicksalsgemeinschaft

Das Konzept der Nachsorge

1

S. Jatzko Bei der Organisation und Leitung einer Nachsorgegruppe sind vorab einige Entscheidungen zu treffen. Vor allem muss die Frage geklärt werden, was genau die Gruppenarbeit leisten soll.

Tab. 1 ˘ Einleitung und Beginn einer Nachsorgegruppe ˘

Zeitpunkt der Gruppenbildung (möglichst schnell nach einem Ereignis)

˘

aktives Zugehen auf die Betroffenen

˘

Einladung zur Teilnahme an einer geleiteten Nachsorgegruppe (Schicksalsgemeinschaft)

˘

Gruppenzusammensetzung

˘

äußere Gruppenstruktur (Termine, Häufigkeit, Dauer, Zeitrahmen, Ablösung und Beendigung der professionellen Betreuung; äußerer Rahmen und Umgebung, Finanzierung)

˘

innere Gruppenstruktur (Steuern des Gruppenprozesses, Themen, Gruppenregeln, evtl. Untergruppenbildungen)

˘

Informationsaustausch für alle Betroffenen und für alle Belange der Geschädigten, woraus sich Interessengemeinschaften bilden ( Information über die Todesumstände, Aufklärung über das Katastrophengeschehen, Informationen über Umgang mit Behörden, Medien etc., Interessenvertretung, die der Bewältigung dient, gemeinsame Aktionen)

˘

psychotherapeutische Hilfe zur Bewältigung einer posttraumatischen Belastungsstörung und Begleitung des Trauerprozesses (Erinnerung an das traumatische Erlebnis und Äußern des emotionalen Erlebens, damit Beginn des Verarbeitens. Durch Gespräche, Entspannungen etc. erkennen, dass sie nicht allein sind, schrittweise und wiederholte Konfrontation mit der belastenden Situation (durch Berichte der anderen besser zu ertragen). Klärung der Umstände des Todes. Desensibilisierung, evtl. auch am Ort des Geschehenen, Rituale, Klärung der Beziehung zu den Verstorbenen, z.B. geleitete Phantasien, Beschäftigung mit Fotos und symbolischen Objekten der Verstorbenen, Besprechen von Träumen, Schuldbewältigung und Abschiedsrituale

˘

Hilfestellung zur Bewältigung von aktuellen Lebensproblemen als Folge der Veränderungen der Lebenssituation durch die Katastrophe

˘

Hilfestellung und Unterstützung bei der Suche nach Einzeltherapie, wenn dieses als notwendige Weiterbegleitung erkannt oder gewünscht wird

˘

Aufnehmen weiterer Betroffener zu unterschiedlichen Zeiten. Ein schneller Beginn nach einem Ereignis lädt Betroffene ein, die beziehungsfähig sind. Andere ziehen sich erst einmal zurück und nehmen später den Kontakt zu anderen Betroffenen auf, die sie evtl. für die Schicksalsgemeinschaft motivieren.

Was aber kann denn helfen, was hat mir geholfen? Wenn man nach einiger Zeit der Erschütterung und grenzenlosen Traurigkeit aus dem tiefen Abgrund, dem großen schwarzen Loch, in das man gefallen ist, wieder ganz allmählich das Tageslicht und seine Umwelt wahrzunehmen im Stande ist, braucht man einfach Menschen. Menschen, die Ähnliches erlebt haben, und Menschen, die denen geholfen haben, die Ähnliches erlebt haben. Was man nicht braucht, ist »Schulter-

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C ˘ Nachsorge in einer Schicksalsgemeinschaft

klopfen« mit dem Hinweis: »Es wird schon wieder.« Es wird nämlich nicht! – Aber woher sollen sie es auch wissen? (Edmund Menk)

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Die ersten Treffen der Schicksalsgemeinschaft

2.1 Einladung zur Nachsorge, Mai 1996 Ich hörte vom Absturz der Birgenair-Maschine im Fernsehen und schaltete dann auf den Sender CNN um, wo die Bergung der Toten gezeigt wurde. Tief betroffen von dem Leid, das über die Angehörigen hereingebrochen war, sah ich diese Bilder. Alles, was unser Team mit der Ramsteingruppe (Nachsorgegruppe für Opfer und Hinterbliebenen nach der Flugtagskatastrophe von Ramstein 1988) erlebt hatten, war in meinen Gedanken wieder präsent. Wer wird sich um diese Menschen kümmern? Ich verfolgte in den Medien die Nachrichten. Nach einigen Tagen sah ich dann am Abend eine Sendung mit einer Angehörigen, die den Wunsch äußerte, sich mit den anderen zu treffen, und sich über die mangelnde Hilfe beklagte. Das klang für mich wie eine Aufforderung, eine Gruppe ins Leben zu rufen, um die Erfahrungen, die wir bei der Nachsorge mit den Hinterbliebenen von Ramstein gesammelt hatten, weitergeben zu können. Ich setzte mich an den Computer und begann, einen Brief an die am stärksten betroffene Reisegesellschaft Öger Tours zu schreiben. Nach einem Telefonat mit dem Verantwortlichen dieser Reisegesellschaft wurde mir Unterstützung zugesagt. Nun konnte ich aber die Namen der Betroffenen aus Datenschutzgründen nicht bekommen. Ich wählte einen ungewöhnlichen Weg: Nach einem Telefonat mit dem Staatsanwalt, dass ich diese Nachsorge einrichten würde und solche schon einmal geleistet hätte, wurde mir gestattet, die Namen zu bekommen. Ich versicherte, dass die Namen nicht weitergegeben würden. Damit hatte ich für dieses Vorhaben eine sehr gute Unterstützung erhalten. Mein erster Einladungsbrief wurde verfasst. Ich wollte einen liebevollen und fürsorglichen Brief schreiben, ohne jedoch zu ahnen, dass dieser Brief auf einige Angehörigen wirkte, als wäre ich von einer Sekte beauftragt. Nach mehreren Telefonaten mit den Angehörigen konnte ich diesen Eindruck ausräumen. Ein Ort des Treffens wurde ausgesucht. Immer wieder hieß es, die Nachsorgegruppe könne nicht ins Leben gerufen werden, weil alle Betroffenen zu weit auseinander wohnen würden. Aber genau dieser Grund sollte kein Hindernis für uns sein. 60 Hinterbliebene hatten sich zu diesem ersten Treffen angemeldet. Für das Treffen suchte ich mir noch mehrere Helfer, um eine gute Versorgung zu gewährleisten. Meine Kollegin Dr. Marlis Lohmann, Diplom-Psychologin aus Hamburg, sagte zu, ein Helfer aus Krefeld, Diplom-Psychologe Jürgen Schramm, und der Notfallseelsorger Uwe Schneider aus Blieskastel mit seiner Frau nahmen ebenfalls teil. Ich halte es bis heute für wichtig, in der Nachsorge einen Seelsorger dabei zu haben. Wir wagten den ersten Schritt und fragten aus der Ramstein-Nachsorgegruppe Hinterbliebene, ob sie als Helfer teilnehmen würden. Fünf Hinterbliebene kamen. Der ausgesuchte Ort war das Ausbildungszentrum der Luft-

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Abb. 1 ˘ Die Verteilung der Betroffenen nach Postleitzahlbereichen hansa in Seeheim-Jugenheim. Jede Unterstützung, die wir für diese Nachsorge benötigten, wurde gegeben. In der Vorbereitungszeit rief mich ein Vater an, der seinen Sohn verloren hatte, und äußerte große Zweifel, was dieses Zusammenkommen denn solle und was und ob es denn helfen könnte? Trotz des guten Gespräches blieben noch Bedenken. Wir waren auch sehr berührt, dass ein polnischer Vater, der seinen Sohn verloren hatte, diese lange Reise auf sich nahm, um die anderen zu treffen.

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Was würde alles auf uns zukommen? Es sollte sich zeigen, dass es sehr viel war. Die erste Gruppe gestalteten wir mit einem inneren Kreis mit 189 Kerzen auf einer Decke und einem großen Stuhlkreis darum. Da einige Hinterbliebene aus den neuen Bundesländern eine kirchliche Andacht vermuteten und diese ablehnten, wollten sie erst nicht dabei sein. Unser Seelsorger nahm dieses auf und führte und leitete dieses Gedenken für jedermann zugänglich. Um der inneren Welt einen besseren Ausdruck zu verleihen, wurde eine Pinnwand als »Klagemauer« errichtet. Nach einer Meditation konnte jeder seine Wut, seinen Zorn, seine Bedenken oder was immer ihn bewegte, auf einen kleinen Zettel schreiben und anonym an die Klagemauer heften. Nach Auflistung der Gefühle – Wut, Ärger, Ängste – nahmen wir Zettel für Zettel von der Wand ab, lasen den Text vor, und der Schreiber des jeweiligen Zettels konnte sich äußern. Manchmal fühlten sich auch andere Teilnehmer angesprochen und erzählten von sich.

Abb. 2 ˘ Unsere »Klagemauer« 209

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Abb. 2 (Fortführung) ˘ Unsere »Klagemauer« Gerade, wenn durch Technik oder Menschenhand ein Unglück geschieht, haben Hinterbliebene mit sehr viel Wut zu kämpfen. Für diese Gefühle gibt es häufig keine Möglichkeit, sie zu äußern. Dann projiziert sich diese Wut schnell auf Mitarbeiter in Behörden, denn diese Menschen reagieren häufig distanziert und werden als kalt und gefühllos wahrgenommen. Es ist Ausdruck einer sehr verletzlichen Phase. Menschen, die beruflich mit solchen Betroffenen zu tun haben, sollten Verständnis und Rücksicht walten lassen. Wenn ein nicht betroffener Mensch sich die Mühe macht, »zehn Minuten in den Schuhen des anderen zu stehen« – so lautet eine gängige Metapher –, dann können Verständnis und Rücksichtnahme wachsen. Während dieser Nachsorge stellten wir fest, dass die Ramstein-Hinterbliebenen eine große Hilfe für die Betroffenen waren. So wurden sie immer wieder gefragt, wie sie es denn bewältigt hätten, was ihnen geholfen hatte. Ein Ehepaar konnte mit erneuter Betroffenheit berichten, wie unterschiedlich die Verarbeitung von Frauen und Männern funktioniert. Das wiederum war für die anwesenden Ehepaare sehr hilfreich. So entwickelten die Frauen Verständnis für ihre Männer, die sich am anderen Morgen in einer kleinen Männergruppe zusammengesetzt hatten und sich austauschten. Die Ehefrauen bewerteten dieses nicht als gegen sich gerichtet, und so entspannten sich die Beziehungen. Wir hatten auch vier Jungendliche in dieser Gruppe, sie hatten ihre Eltern verloren. Unsere Aufmerksamkeit und Mitgefühl konzentrierten sich auf diese vier. Das älteste Mädchen war 19, dann kamen ein Zwillingspärchen, 17 Jahre alt, und ein Bruder von neun Jahren. Mit großer Angst sahen sie in die Zukunft. Die vielen Gespräche gaben ihnen den ersten Halt. Es wurde aus der Gruppe immer wieder der Wunsch geäußert, mit dem Reiseunternehmen zu sprechen. So baten wir Vertreter von Öger Tours, zu kommen und am Nachmittag teilzunehmen. Mit großer Sorge und Anspannung versuchte ich noch, eine Möglichkeit zu

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entwickeln, wie wir die Dinge erfragen und besprechen konnten. Der Zorn, der nach dem plötzlichen Verlust eines Angehörigen auftritt, kann sich auf vieles richten, auch auf ein Reiseunternehmen. Dieses vertritt schließlich eigene Interessen. Die Mitarbeiter aber sind selbst betroffen. Wir baten die Hinterbliebenen, sich zusammenzusetzen und einen Frageplan zu entwickeln. Danach lief diese Aussprache sehr geordnet ab. Große Betroffenheit löste auch bei den Vertretern dieses Unternehmens die Tatsache aus, dass mehrere Hinterbliebene überhaupt keine Informationen hatten, wie sie nun die Vermisstenanzeigen erstellen sollten, an wen sie sich wenden mussten, und dass das Standesamt I in Berlin für die Totenscheine zuständig sei. Wir baten dann diese Vertreter zu berichten, wie sie selbst diese Katastrophe erlebt hatten. Schock, schlaflose Nächte, nicht wissen, wie es weiter geht, Angst und Furcht vor wütenden Angehörigen und der Wunsch zu helfen, ohne als schuldig hingestellt zu werden, waren schwer auszuhaltende Gefühle. Nachdem die Hinterbliebenen gehört hatten, wie sehr betroffen diese Mitarbeiter waren und dass sie immer noch unter diesem Ereignis litten, entwickelte sich eine andere Stimmung. Nun waren diese Menschen nicht mehr anonym. Beide Seiten konnten Verständnis für einander entwickeln, und es begann eine gute Zusammenarbeit. Wir beendeten dieses Treffen mit dem ausdrücklichen Wunsch, uns bald wieder zu treffen.

2.2 Nachsorgetreffen in Erfurt, August 1996 Freitag Abend trafen wir uns in einem Raum des Hotels R. Kessler, ein Künstler aus München, stellte sich selbst und seine Arbeiten vor. Er wollte mit seiner künstlerischen Arbeit den Angehörigen helfen, einen Platz der Erinnerung und des Mahnens zu schaffen, um Identifizierung und Verarbeitung zu ermöglichen. Herr K. hatte sich im Vorfeld sehr viele Gedanken und Mühe gemacht und hatte gute, konstruktive Vorschläge, um eine neue Gedenksteinkultur einzuleiten. Wir versuchten, im Gespräch herauszufinden, welche Bedeutung diese Gedenkstätten für die Hinterbliebenen haben könnten. Dabei stellte sich heraus, dass ein eigener Platz zu Hause mit Bildern und Blumen oder der eigene Gedenkplatz auf dem Friedhof (schnell zu erreichen!) zunächst eine größere Bedeutung haben als ein Platz in Frankfurt oder Berlin. Die gesuchte Nähe zum Opfer ist aber für die Angehörigen am stärksten zu spüren in der Dominikanischen Republik auf dem Wasser an dem Ort, wo die Maschine sich befindet. Immer stärker wurde von fast allen das Bedürfnis geäußert, zum ersten Jahrestag eine Gedenkfeier an diesem Ort zu veranstalten, wobei die Gemeinschaft ein tragender Bestandteil der Feier sein sollte, damit keiner sich allein fühle. Ein Hinterbliebener hatte sich schon die Koordinaten der Absturzstelle vor Puerto Plata geben lassen, um dieses Bedürfnis erfüllen zu können. Herr Kessler wurde mit wenigen Fragen bedacht, da alle erst anfingen, sich mit diesem Gedanken vertraut zu machen, und die Antwort eher langsam wachsen lassen wollten. Es gab auch Gedanken wie: »Wo sollte diese Gedenkstätte stehen, wenn, dann müssten es ja zwei in Deutschland und eine in der Dominikanischen Republik sein.« Am Samstag gingen wir gemeinsam in das Augustinerkloster in Erfurt.

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Hier hatte ich drei Räume angemietet, um drei Kleingruppen bilden zu können. Am Vormittag blieben wir in einem Raum zusammen, da sich alle gemeinsam erleben wollten, alle sich kennen lernen wollten und auch voneinander hören wollten, wie es jedem ging. Die allgemeine Runde des Vorstellens ergab, dass es einige gab, die sich wieder etwas besser fühlen. Dieses betraf besonders die Männer, die durch ihre Arbeit eine hilfreiche Ablenkung erfuhren. Die meisten Teilnehmer erzählten jedoch, dass es ihnen zurzeit eher schlechter gehe. Die Umwelt hatte die Aufmerksamkeit entzogen, und viele spürten, dass von ihnen wieder »Normalität« verlangt würde. Sie trauerten jedoch innerlich sehr, und dieses könnten sie nicht mehr so zeigen, und das »Sich-Zusammennehmen« koste sehr viel Kraft. Nun bekam die Gemeinschaft nun einen größeren Stellenwert, da sie hier weinen und trauern konnten, ohne sich zu verstellen. Sehr viele Tränen flossen, wobei mehrere Menschen gar nicht mehr sprechen konnten, da sich so viel Spannung löste. Viele fühlten sich von Freunden und Verwandten im Stich gelassen. Bei einigen war das Gefühl des Erkennens der Endgültigkeit und der Realität vorrangig. Andere erzählten, dass sie es noch gar nicht glauben könnten und eher das Gefühl hätten, der Sohn oder die Tochter sei noch auf Urlaub und komme erst später heim. Bei den Hinterbliebenen, die gar nichts von den Angehörigen zurückbekommen hatten, stellten sich Unruhe und Suchen nach Nähe ein. Die letzten Spuren zu sehen, könnte diese Nähe wieder herstellen. Dabei kam die Vorstellung zum Vorschein, dass es sehr helfen würde, wenn sie an dem Ort des Geschehens Blumen ins Wasser werfen könnten. (Dies gleicht dem Wunsch der schwedischen Angehörigen nach dem Estonia-Untergang, auf dem Wasser die möglichste Nähe spüren zu können.) Fast alle glaubten, hierdurch eine Erleichterung erfahren zu können. Uns drei Helfern machten zwei ältere Damen aus Berlin und ein älteres Ehepaar sehr hilflos und betroffen, da diese Menschen den Mut zum Leben verloren hatten, wobei sie äußerten, dieses Gefühl nicht überwinden zu können. Viele grauenhafte Phantasien, dass Fische die Toten auffräßen, quälten sie und ließen sie nicht mehr los. Ein älterer Herr, der seinen Sohn, Schwiegertochter und Enkelkinder verloren hatte, sagte, dass er nicht mehr könne, dass er es nicht mehr überwinden könne. Er saß zusammengesunken in der Gemeinschaft und konnte auch nicht mehr viel Kontakt aufnehmen. Hier hofften wir sehr, dass im Äußern seiner Gedanken, wobei er sich gehört und verstanden fühlte, seine Suche nach Hilfe zu erkennen sei.

Die Gemeinschaft und die Möglichkeit, alles äußern zu können und hierbei nicht bewertet zu werden, sondern in der Trauer gewürdigt zu werden, schafft eine Entlastung, die auch neue Gedankengänge zulässt und die Blockierung langsam auflöst. Bei einigen Hinterbliebenen war es innerhalb der Familien oder in der weiteren Verwandtschaft zu Auseinandersetzungen und gegenseitigen Vorwürfen und Verletzungen gekommen, so dass es ihnen wichtig war, diese Auseinandersetzungen mitzuteilen. Danach konnten sie die Not und Wut der anderen Menschen hören. Menschen entfernen sich manchmal voneinander, weil sie den anderen nicht verstehen und mit diesen belastenden Gefühlen nicht umgehen können.

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fall überlassen war. Es fehlt eine übergeordnete strukturierte Organisation, die für längerfristige Begleitung sorgt. So hatten sich an den Innenministerien der Landesregierungen Koordinierungsstellen gebildet, die sich zur Aufgabe gestellt hatten, diese Langzeitversorgungen zu vermitteln. Es waren jedoch keine Vorkenntnisse vorhanden, die dieser Versorgung eine Struktur hätten geben können. Notfallseelsorge kann trauernde Angehörige begleiten. In einer gemischten Gruppe (Trauernde sowie Traumatisierte) ist jedoch eine Zusammenarbeit mit Traumatologen erforderlich. Für diese Differenzierung innerhalb der Schicksalsgemeinschaften gibt es noch zu wenig Standards, strukturelle Hilfen sowie ausgebildete und zuständige Helfer. Dabei ist auch das Problem des Datenschutzes aufgetaucht. So konnten nach dem Birgenair-Absturz nur die Menschen angeschrieben und für eine Nachsorge eingeladen werden, die sich an offizielle Stellen gewandt hatten. Menschen, die nicht in der Lage waren, die keine Kraft hatten, sich an diese Stellen zu wenden, konnten aus Datenschutzgründen nicht erreicht und eingeladen werden. Immer wieder war im Internet zu lesen, dass sich viele Menschen nicht versorgt oder betreut fühlten. Am 21.4.2005, eigentlich für alle Beteiligten viel zu spät, fand ein Angehörigentreffen in der evangelischen Kirche in Tempelhof statt. Einhellig stellten wir fest, dass wir alle auf uns allein gestellt sind, von der vollmundig versprochenen Hilfe der Regierung keine Spur. Wir erfahren auch nichts darüber, wie viele Menschen schon identifiziert sind, in der Zeitung steht nichts mehr, und im Internet ist es auch schon schwierig, die neuesten Daten herauszubekommen. (Zitat aus einer Äußerung im Internet) Zur Verbesserung dieser unvollkommenen Nachsorge sind weitere Koordinierung und wissenschaftliche Begleitung und dadurch die Erfassung neuer hilfreicher Erkenntnisse notwendig. Technik wird immer wieder Unglücke verursachen und die Natur wird uns Schicksalsschläge beibringen. Wir werden es hinnehmen müssen. Wie wir aber den Schaden begrenzen, das liegt in unserer Macht.

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Die Interessengemeinschaft (IG)

F. Hitzfelder Immer wenn in letzter Zeit große Unglücke passieren, bei denen es viele Verletzte und Tote gibt, ist zu beobachten, dass sich die Angehörigen und Hinterbliebenen zusammenschließen, um dem Schicksal nicht allein ausgeliefert zu sein. Sie beschließen, was zu tun und zu lassen ist. Ein weiterer Grund ist sicherlich der Gedanke, dass sie gemeinsam größeren, berechtigten Druck auf Versicherungen, Behörden, Reiseveranstalter, Fluggesellschaften usw. ausüben können. Genau aus diesen Gründen haben sich auch die Hinterbliebenen der Birgenair-Maschine zusammengeschlossen.

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Interessengemeinschaft (IG): Ansprechpartner Fritz Hitzfelder, Tel. 07422 / 75 77, Fritz.Hitzfelder@freenet.de Sybille Jatzko, Sybille@Jatzko.de, Tel. 06307 / 993006 Peter Leimbach, Tel. 030 / 3656616, Peterleimbach@t-online.de Edmund Menk, Tel. 02761 / 41 63, emenk@t-online.de Heidi Schalek, Tel. 06691 / 71503 Die Betroffenen der Hinterbliebenen-Gruppe sind aus der gesamten Bundesrepublik Deutschland bunt zusammen gewürfelt. Es sind Menschen, die vorher nie etwas miteinander zu tun hatten, die völlig verschiedene Charaktere, Berufe und Interessen haben. Diese Personen haben sich nicht gesucht, wie das bei Gleichgesinnten in Vereinen der Fall ist, sondern das Schicksal hat sie durch diesen Unfall zusammengeführt. Niemand der Hinterbliebenen hatte in seinem Leben eine solche große Katastrophe (amtlich »Großschadensereignis« genannt) mitmachen müssen, und niemand wusste Bescheid, wie man mit einer solchen Katastrophe umzugehen hat. Ein Beispiel: Wenn eine Person geborgen, identifiziert und damit der Name zugeordnet wird, bekommt man eine Sterbeurkunde. Was aber, wenn eine Person nicht geborgen wird? Woher bekommt man dann die Sterbeurkunde? Denn ohne diese Sterbeurkunde können Sie weder bei Banken, Versicherungen oder anderen Instanzen Ansprüche erheben. Rechtlich dürfen Sie nicht einmal die Zeitung kündigen. Ungefähr einen Monat nach dem Unglück trat eine Frau, die ihre Mutter bei dem Flugzeugabsturz verloren hatte, in der Fernsehsendung Schreinemakers auf. Am Schluss dieser Sendung wurde ihre Telefonnummer eingeblendet. Hier konnte man erfahren, dass ein Treffen der Hinterbliebenen am 13. April 1996 in Cottbus geplant war. Es kamen dann sehr viele Personen nach Cottbus, von denen nicht alle Hinterbliebene waren. Es waren auch einige Presseleute, die sich nicht zu erkennen gaben, und ein Fernsehteam dabei. Es wurde beschlossen, gemeinsam gerichtlich gegen mögliche Schuldige vorzugehen. Hier wurden auch die Adressen der Hinterbliebenen gesammelt, wobei es oft schwierig war, Hinterbliebene von Presseleuten und neugierigen Personen herauszufiltern. Von staatlicher Seite wurde die Bekanntgabe der Adressen aus Datenschutzgründen verweigert. Kurz danach kam ein Brief von der Gesprächstherapeutin Sybille Jatzko. Sie lud alle Hinterbliebenen ein, Anfang Mai 1996 an einer psychologischen Runde im Frankfurter Raum teilzunehmen. Bei den ersten Treffen wurden auch zwei weitere Psychologen hinzugezogen. Wieder kamen viele Hinterbliebene, die sich zum Teil schon von Cottbus her kannten. Jeder hatte es wohl dringend nötig. So eine psychologische Runde wühlt das Geschehene nochmals derart auf, dass man glaubt, der Unfall wäre erst gestern gewesen. Das tiefe Loch, in das man wieder fällt, die tiefe Trauer, die einen wieder einholt, machen es aber leichter, sich die Gefühle und Ängste von der Seele zu reden. Wichtig war zu hören, was die anderen außerdem bedrückte, und wichtig war auch, sich den anderen innerlich zu öffnen. Hier wurde man von jedem verstanden, weil alle das gleiche Schicksal erlitten hatten, und man durfte auch Trauer und Tränen zulassen. Dies sind Dinge, die allen bis dahin fremd gewesen waren und die einige Teilnehmern Überwindung kostete. Was anfänglich niemand von uns

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ECHO Deutschland e. V. Livländische Str. 16 10715 Berlin Telefon: 030 / 8538792 oder 0172 / 3232700 Fax: 030 / 85728800 Internet: www.echo-deutschland.de Eine Vielzahl von Problemen kam auf die Hinterbliebenen zu. Die Erledigung notwendiger Formalitäten war für die Angehörigen sehr schwierig. Keiner, auch nicht die Behörden, war auf eine solche Katastrophe vorbereitet. Es war einer der größten Flugunfälle, bei dem Deutsche betroffen waren. Es gab keine schnellen und angemessenen Lösungen. Die Bundesregierung hat auf ganzer Linie kläglich versagt. Gegenseitige Hilfe und ein Erfahrungsaustausch zwischen den Hinterbliebenen, welche gerade in den ersten Wochen wichtig gewesen wären, wurden zusätzlich durch den Datenschutz (Ausnahme Berlin) blockiert. Die Betreuung der Hinterbliebenen zur Bewältigung der Folgen dieser Flugzeugkatastrophe wurde durch Privatinitiative unabhängiger Psychologen organisiert. Diese Betreuung wurde in Form von gemeinsamen Nachsorgetreffen durchgeführt. Uns als Verein geht es um den Umgang mit denjenigen, die durch eine solche Katastrophe betroffen sind. Das heißt in erster Linie: »Krisenmanagement«. Unsere Erfahrungen haben gezeigt, dass man gemeinsam mit den Behörden und anderen Institutionen Strategien entwickeln muss, um die Betroffenen in solch einer Situation aufzufangen. In vielen Bereichen besteht noch Handlungsbedarf! In den letzten Wochen und Monaten wurden viele Informationen gesammelt und Erfahrungen ausgetauscht. ECHO Deutschland e. V. hat sich für die Zukunft Ziele gesetzt und möchte sich mit folgenden Themen auseinandersetzen: ˘ Bewältigung der Folgen von Flugzeugkatastrophen – Betreuung – Sicherstellung der persönlichen Gegenstände ˘ Förderung der Flugsicherheit – sachgerechte Pilotenausbildung – Erfassung, Dokumentation und Veröffentlichung von »kritischen Flugsituationen« – Verbesserung der Kommunikation zwischen Herstellern, Betreibern und Führern von Luftfahrzeugen – verbesserte Kontrollen und Überarbeitung der geltenden Sicherheitsstandards – einheitliche Luftfahrtsprache – Ruhezeiten des Luftfahrtpersonals ˘ Durchsetzung adäquater finanzieller Absicherungen bei Unfällen – Überarbeitung des Warschauer Abkommens – unbürokratische Soforthilfe sowie Bereitstellung von Krisenfonds – Einführung von Schmerzensgeldansprüchen durch gesetzliche Grundlagen

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˘ Die Verwirklichung dieser Ziele soll auf nationaler und internationaler Ebene angestrebt werden u.a. durch: – Gründung eines Dachverbandes – Veränderung bzw. Ergänzung von Rechtsvorschriften – Möglichkeit der Bildung eines Passagierbeirates – Ausarbeitung und Veröffentlichung von Empfehlungen – Zusammenarbeit mit Behörden und Vereinigungen mit ähnlicher Zielsetzung – Weitergabe von Informationen und Aufklärung der Öffentlichkeit (z.B. über Web-Sites im Internet, Presse- und Informationsveranstaltungen). Über verschiedene Aktivitäten des Vereins, besonders den Birgenair-Absturz betreffend, gibt die Tab. 1 Auskunft.

Tab. 1 ˘ Beispiele für Aktivitäten von ECHO Deutschland e. V. ˘

Unfalluntersuchungsbericht / April 1997. Reise in die Vereinigten Staaten mit verschiedenen Kontaktaufnahmen zur Klärung der Unfallursache.

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Birgenair / August 1997. Pressekonferenz in Bonn mit Herrn Cetin Birgen: Zusage einer Spende in Höhe von 80.000,– DM für unsere Gedenksteine. Diese Spendenzusage wurde nach seinem Versterben im Dezember von seinen Erben nicht eingehalten.

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Frankfurter Pietät / Januar 1998. Mithilfe in der Veranlassung und Durchsetzung der Exhumierung von drei anonym beigesetzten Urnen (beigesetzt im Januar 1997!), welche die sterblichen Überreste von drei nicht identifizierten Leichen enthielten. Im Zuge der Überführung von zwei weiteren Urnen, welche die ganze Zeit noch bei der Frankfurter Pietät verblieben waren, erfuhren wir, dass diese beiden Urnen so genannte »Mischurnen« waren! Das bedeutet, dass diese Aschkapseln viele Leichenteile von unterschiedlichen Menschen (insgesamt wurden elf Särge verbrannt) enthalten. Der Verein bat um Einsichtnahme der Akten. Ein persönliches Gespräch fand in Begleitung von Sybille Jatzko in Frankfurt a.M. statt (s.o., Kap. C 3.2). Nach diesem Gespräch wurden die drei Aschkapseln für die Identifizierung exhumiert. Die zwei anderen Urnen wurden anlässlich der Trauerfeiern nach Berlin und Frankfurt überführt und dort feierlich beigesetzt. Der Frankfurter Pietät entstanden Kosten in Höhe von 35.000,00 DM. Die Frage, wer diese Kosten in diesem Fall übernimmt, ist nach wie vor ungeklärt. Der Verein bemüht sich um eine generelle Regelung, wer für solche Kosten aufkommen muss. Aktuell drängt das Ordnungsamt darauf, die letzte noch nicht identifizierte Urne beizusetzen.

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Organisation der Trauerfeier in Berlin Schönefeld / Februar 1998. Beisetzung einer Urne und feierliche Gedenksteineinweihung.

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Unterwasserfilm / 1997 – 1998. Der Vereinsvorstand hat mehrfach Anstrengungen unternommen, die Unterwasseraufnahmen zu erhalten. Eine amerikanische Anwaltskanzlei und eine ebenfalls amerikanische Hinterbliebenenorganisation, vertreten durch Hans Ephraimson, unterstützten uns bei diesem Vorhaben. Um einen vertrauenswürdigen Umgang zu gewährleisten, wurden verschiedene Modelle in Betracht gezogen, u.a. hätte sich die Psychologin Sybille Jatzko als Vertrauensperson zur Verfügung gestellt.

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Katastrophenschutzübung auf dem Flughafen Schönefeld / 1998. Mitwirkung und Erfahrungsaustausch mit den zuständigen Helfern.

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Lufthansa-Krisenmanagement / 1998. Eine Gruppe von Psychologen nahm Kontakt mit dem Verein auf, um in einen Erfahrungsaustausch zu treten.

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EUCARE (European Confidential Aviation Safety Reporting Network). Dies ist eine europäische Initiative mit Sitz in Berlin zur Verbesserung der Flugsicherheit – durch das Sammeln von Informationen über Unfälle und Vorfälle im Flugverkehr. Diese Informationen können von Piloten, Flugbegleitern, Technikern und Passagieren anonym an diese Organisation weitergegeben werden. Zu EUCARE besteht ein regelmäßiger Kontakt.

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Tab. 1 ˘ Beispiele für Aktivitäten von ECHO Deutschland e. V. ˘

Verbesserungsvorschläge / 1998. Auf Wunsch des Bundesverkehrsministeriums hat der Verein Kritikpunkte und Verbesserungsvorschläge in Form einer Liste ausgearbeitet. Diese Liste wurde an alle Behörden, mit denen wir zusammenarbeiten, verschickt. Den Behörden haben wir persönliche Gesprächsbereitschaft angeboten. Wir erhoffen uns damit Veränderungen gesetzlicher Grundlagen.

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Absturz Thai Airways / Dezember 1998 – 1999. Organisation eines Treffens in Ulm mit Opfern und Hinterbliebenen des Flugzeugabsturzes in Surat Thani / Thailand.

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Gedenkfeier in der Dominikanischen Republik / Februar 2000. Zusammen mit der Interessengemeinschaft (IG) wurde eine bis zu 14-tägige Reise organisiert. 26 Angehörige in Begleitung von Sybille und Hartmut Jatzko konnten gemeinsam am Ort des Geschehens gedenken.

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Absturz der Concorde in der Nähe von Paris / Juli 2000. Aktive Mitwirkung bei der Zusammenführung von Hinterbliebenen und Verantwortlichen. Der Verein hat auf Wunsch von Air France und den Hinterbliebenen seine Erfahrungen eingebracht. Vertreter des Vereins fuhren zum Gedenkgottesdienst nach Köln und zum 1. Angehörigentreffen nach Paris.

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Anwaltskammer Berlin / August 2000. Der Verein reichte bei der Berliner Anwaltskammer eine Beschwerde gegen einen Berliner Anwalt ein. Dieser Anwalt schrieb Betroffenen und bot seine Dienste an. Beschwerde: »unlautere Mandantenwerbung«.

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Pressearbeit. Der Kontakt zur Presse wird gehalten. Mit Hilfe der Presse konnten wir in der Vergangenheit immer wieder Druck auf die Behörden ausüben. Der Verein bemüht sich, die Öffentlichkeit für die Belange von Angehörigen und Opfern von Flugzeugkatastrophen zu sensibilisieren.

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Gedenkfeierlichkeiten. Der Verein hat es sich zur Aufgabe gemacht, die jährlichen Gedenkfeierlichkeiten für die Opfer der Birgen Air – Katastrophe zu organisieren.

NOAH

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Koordinierungsstelle der Bundesregierung zur Nachsorge, Opfer- und Angehörigenhilfe

J. Helmerichs, A. Fritsche, K. Fröschke, V. Harks, M. Kromm, R. Tiesler Anfang des Jahres 2003 wurde im Zusammenhang mit den Anti-Terrormaßnahmen der Bundesregierung nach dem 11. September 2001 eine zentrale Stelle zur Koordinierung der Nachsorge, Opfer- und Angehörigenhilfe (NOAH) für Deutsche, die im Ausland durch schwere Unglücksfälle oder Terroranschläge zu Schaden kommen, eingerichtet. NOAH ist rund um die Uhr im 24-Stunden-Betrieb erreichbar. NOAH Provinzialstrasse 93 53127 Bonn (Postanschrift: Postfach 1867, 53008 Bonn) Telefon: 01888 / 550-2444 oder kostenfrei 0800 / 1888-433 Fax: 0228 / 5554-2459 oder 01888 / 550-2459 E-Mail: noah@bbk.bund.de Internet: www.bbk.bund.de

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Nach Angaben des Auswärtigen Amtes steigt die Zahl der Bundesbürger, die weltweit Urlaubs- oder Geschäftsreisen unternehmen, an. Zurzeit treten jährlich rund 50 Millionen Bundesbürger eine Auslandsreise an. Diese Tendenz hat zur Folge, dass dieser Personenkreis auch vermehrt den Gefahren von Unglücken und Terroranschlägen ausgesetzt ist. So kamen in den vergangenen Jahren zahlreiche Bundesbürger im Ausland zu Schaden bei ˘ Flugzeugabstürzen (wie Birgenair/Dominikanische Republik, Concorde/Paris) ˘ Busunfällen (wie in Siofok/Ungarn, Lyon/Frankreich, Hensies/Belgien) ˘ Schiffsunglücken (wie in Kena/Ägypten und Manama/Bahrain) ˘ Bergbahn-/Seilbahnunfällen (wie Kitzsteinhorn und Sölden/Österreich, Cavallino/Italien) ˘ Lawinenabgängen (Galtür/Österreich) ˘ Entführungen (wie in Algerien, im Iran, Irak, Jemen) ˘ Terroranschlägen (USA, Bali, Djerba, Madrid, London, Dahab/Sinai) ˘ Naturkatastrophen (Tsunami, Südostasien). Was passiert, wenn der Urlaub oder die Geschäftsreise mit einem schweren Unfall oder in einer Katastrophe endet? Wer kümmert sich im Ausland um die Betroffenen? Was kommt auf Angehörige in der Heimat zu, wenn Eltern, Partner oder Kinder im Ausland zu Schaden kommen? So belastend eine schwere Verletzung oder der Tod eines Angehörigen ohnehin schon sind, können nach einem Unfall im Ausland die dadurch auftretenden Probleme den Schmerz, die Sorgen und die Ratlosigkeit noch verschlimmern. Rat und Beistand im Ausland gewähren die über 200 Botschaften und Generalkonsulate der Bundesrepublik Deutschland auf der Grundlage des Konsulargesetzes. Bei schweren Unglücksfällen oder terroristischen Anschlägen im Ausland, bei denen Deutsche betroffen sind, werden in der Regel innerhalb kürzester Zeit Vertreter der zuständigen deutschen Auslandsvertretung aktiv. Die Wirksamkeit des Konsulargesetzes endet jedoch im Zuständigkeitsbereich anderer deutscher Behörden, d. h. an der deutschen Grenze. Wer kümmert sich dann im Inland um Hinterbliebene, Verletzte und Todesopfer? Wer leistet Hilfe und Betreuung, auch für Angehörige?

5.1 Ausgangspunkte für die Einrichtung der Koordinierungsstelle NOAH Bis vor einigen Jahren war es oft dem Zufall überlassen, ob Betroffene ein Unterstützungsangebot zur Verarbeitung der erlebten traumatischen Ereignisse und für die allmähliche Rückkehr in den dann völlig veränderten Alltag erhielten oder nicht. Die psychosoziale Versorgungsstruktur in Deutschland ist zwar recht gut, der Zugang allerdings für viele unübersichtlich. Oft ist Notfallopfern, Angehörigen oder Hinterbliebenen von schweren Unglücksfällen unklar, welche Hilfsangebote es überhaupt für sie gibt und wo sie fündig werden können. Von staatlicher Seite wurden lange mangels Zuständigkeit keine Betreuungsangebote gemacht. Nach den Erfahrungen mit den politisch motivierten Anschlägen vom 11. September 2001, auf Djerba und Bali 2002, bei denen Deutsche ums Leben kamen und verletzt wurden, sowie nach weiteren schweren Unglücksfällen im Ausland mit Be-

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