BOS_LEITSTELLE AKTUELL

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Kernprozesse der Notrufabfrage

1 / 2011 · November 2011 · 1. Jahrgang


NEU! BOS-LEITSTELLE AKTUELL wendet sich an alle Träger und Betreiber von Leit­ stellen zur Gefahrenabwehr: im Brand­ schutz, Rettungsdienst und Katastrophen­ schutz ebenso wie an Leitstellen der ­Polizei oder Sicherheitsleitstellen bei den Werk­ feuerwehren. Sie bietet interessierten Führungskräften Kernprozesse der Notrufabfrage

ebenso fachlich fundiertes Wissen wie dem engagierten Leitstellendisponenten oder dem in der Ordnungsbe­hörde zuständigen

1 / 2011  ·  November 2011  ·  1. Jahrgang

Verwaltungsfachmann.

Alle vier Monate Neues zu den Themen:   Technik in der Leitstelle   Einsatzberichte aus der Perspektive des Disponenten   Taktische Konzepte zur Einsatzbearbeitung   Organisation des Arbeitsfeldes Leitstelle

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EDITORIAL

Weichenstellung für den Notfallpatienten Liebe Leserinnen und Leser, lassen Sie mich die brennendste Frage, die Sie sich vermutlich stellen werden, zuerst beantworten: Braucht die Welt eigentlich noch eine neue Fachzeitschrift? Unsere Antwort: Sie ist längst überfällig! Leitstellen existieren seit vielen Jahren für alle Bereiche der Gefahrenabwehr. Sie haben ein Schattendasein gefristet, wurden als komfortabler Versetzungsort für ruhebedürftige Kollegen missbraucht, und hartnäckig hielt sich auch in den Verwaltungsspitzen die Mär von der „Telefonzentrale der Feuerwache“, die vor allem nach Dienstschluss im Rathaus das Telefon des Einwohnermeldeamtes bediente. Und dafür musste „man“ ja nun wirklich nicht besonders qualifiziert sein. Allerdings, wenn wir die Entwicklungen retrospektiv betrachten, haben auch wir selbst nicht viel dazu beigetragen, den Ruf der „Telefonisten und Pförtner“ wieder los zu werden. Auf Kongressen war das Thema Leitstelle eher schwach vertreten, die Idee eines Leitstellenkongresses wurde (leider) wieder aufgegeben. Rückläufige Besucherzahlen und unspektakuläre Themen? Hier geht es eben nicht um die Defibrillation durch den Rettungsassistenten, sondern um Kommunikation durch den Disponenten. Aber selbst bei der Berufsbezeichnung sind wir uns ja nicht sicher. Ist Disponent korrekt oder doch besser Einsatzsachbearbeiter? Welches Selbstverständnis haben wir eigentlich in unserem Beruf? Sehen wir uns als Telefonisten oder sind wir Fachkräfte, die in einem Hochrisikobereich tätig sind? Es geht doch wohl immerhin um Menschenleben, die wir tagtäglich am Telefon retten! Ohne Defibrillation, aber durch exzellente Gesprächsführung. Leider auch ohne eine einheitliche Qualifikation und ganz sicher ohne ausreichende Honoration dieser Leistung. Jahrelang war das „eigentlich jedem klar“, doch plötzlich rückt die Leitstelle mehr und mehr in den Fokus der Betrachtung. Im September 1996 wurde im Kloster Maria Laach erstmalig bestätigt, dass die Qualifikation des Mitarbeiters in einer Leitstelle unzureichend ist und dringend der Erneuerung – besser der erstmaligen Festschreibung – bedarf. Obwohl ein Kloster der Ort der Erneuerung war, wurden die Stimmen nicht erhört. Es ging weiter wie bisher, telefonieren als Grundqualifikation reichte zur Rettung von Menschenleben völlig aus. Ein gutes und aktuelles Beispiel dazu. Die telefonische Reanimationsunterstützung, bereits 1993 von Bernd Fertig in dessen Buch „Strategien gegen den plötzlichen Herztod“ publiziert, fand wenige Anhänger, 1 · 2011 | 1. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 3

war einfach „zu umständlich“, kostete Zeit – und die hatten wir wahrlich nicht in der Leitstelle. Im Oktober des Jahres 2010 ging ein Ruck durch die Leitstellenwelt. 17 Jahre nach dem Strategien-Buch wird die Telefonreanimation hoffähig. Das ERC nimmt sie in die Leitlinien auf, die Leitstelle rückt in den Blickpunkt der Welt, internationale Fachgesellschaften erkennen: Genau hier werden bei vielen Krankheitsbildern die Weichen für den Notfallpatienten gestellt. Die Welt muss aber auch erfahren, was in den Leitstellen in Deutschland, Österreich und der Schweiz geleistet wird. Sie muss erfahren, dass in diesen Leitstellen hochqualifiziertes, motiviertes und für diese Leistung honoriertes Personal eingesetzt werden muss. Wir werden dieses Ziel nicht heute und nicht morgen erreichen. Es dürfen aber nicht wieder 17 Jahre vergehen, bis auch der letzte Zweifler erkannt hat, dass die Leitstelle innerhalb der „Chain of survival“ eines der stärksten Kettenglieder werden muss.

Achim Hackstein Redaktion   BOS-LEITSTELLE AKTUELL  Leitstellenleiter,  Leitstellen-Zweckverband Nord,  Am Oxer 40,  24955 Harrislee,  achim.hackstein@  leitstelle-nord.de

Und genau darum brauchen wir eine Fachzeitschrift, die Informationen und Botschaften für die Leitstellen in Deutschland, Österreich und der Schweiz aufbereitet, publiziert und Fachleuten die Plattform des Erfahrungsaustausches bietet. Wir wollen das Thema „Leitstelle“ von politischen und strategischen Vorurteilen lösen, wollen Menschen motivieren, sich aktiv mit der Arbeit in einer Leitstelle auseinanderzusetzen. Wir wollen innovative Lösungen für technische und organisatorische Probleme vorstellen. Wir wollen mit Ihnen gemeinsam und für Sie eine Fachzeitschrift schaffen, die auch den Einsatzkräften „auf der Straße“ zeigt, dass die Arbeit in der Leitstelle facettenreich und mehr als nur Telefonieren ist. Dass die Tätigkeit im Zentrum der Schnittstelle „Anrufer/Einsatzkräfte“ hohe fachliche und kommunikative Ansprüche an den Disponenten stellt. Und genau darum braucht die Welt die vor Ihnen liegende Fachzeitschrift BOS-LEITSTELLE AKTUELL! Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen mit dieser ersten Ausgabe!

Achim Hackstein

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INHALT

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ORGANISATION

Unvermeidbare vermeidbar machen: 28 Das Machen Sie Fehler – aber sprechen Sie darüber

News

D. Sievers

MENSCH

AKTUELLES

EuroNavigator in München: 8 Die Leitstellenarbeit ist Teamarbeit

Gefährdungsbeurteilung in einer Integrierten 24 Leitstelle – Teil 1: Grundlagen

A. Hackstein, A.-M. Baumann

TAKTIK

PORTRÄT

Telefonreanimation bei Kreislaufstillstand: 34 Wettlauf mit der Zeit

Kleine Leitstellen-Typologie: 12 Wohin wird die Reise gehen?

St. Bandlow-Hoyer

Die neue Einsatzleitzentrale für 16 Schutz & Rettung am Flughafen Zürich:   Mit freier Sicht aufs Flughafenareal

M. Günther, S. Makel, P. Watzke, M. Hilchenbach

R. Trottmann

W. Lenz

AUSBILDUNG

Leitstellendidaktik: 42 Vom Lehren und Lernen

H. Sudowe

KASUISTIK

TECHNIK

Gefahrgutunfall auf Autobahn: 20 Hilfreiche Ortskenntnis des Disponenten

Leitstellentechnik: 48 Anspruch vs. Wirklichkeit?

H. Schroff

St. Bandlow-Hoyer

Redaktionsleitung: Klaus von Frieling, M.A., Edewecht Tel. 04405 9181-21 · E-Mail: frieling@skverlag.de Verlagsleitung: L. Kossendey (Anschrift des Verlages) 1. Jahrgang Redaktion: Stephan Bandlow-Hoyer (Leiter kommunaler Teil Kooperative Regionalleitstelle West, Elmshorn) · Dr. André-Michael Baumann (Stab des Landesbranddirektors, Berlin) · Heiko von Deetzen (Leiter polizeilicher Teil ­Kooperative Großleitstelle Oldenburg) · Robert Frey (Leiter der Heli-Einsatzzentrale, REGA Zürich) · Achim Hackstein (Leiter kommunaler Teil Kooperative  Regionalleitstelle Nord, Harrislee) · Frank Leenderts (Leiter kom­munaler Teil Kooperative Großleitstelle Oldenburg) · Dr. Wolfgang Lenz (Ärztlicher Leiter Rettungsdienst, Main-Kinzig-Kreis) · Michael Richartz (Leiter der Feuerwehr- und Rettungsleitstelle, Bremen) · Daniel Sievers (Stellvertretender Leiter der Integrierten Regionalleitstelle NordOst, Eberswalde) · Rolf Strobel (Stellvertretender Leitstellenleiter, Berufsfeuerwehr Stuttgart) · Hendrik Sudowe (Diplom-Gesundheitslehrer, Osnabrück) · Reto Trottmann (Leiter Einsatzzentrale Schutz & Rettung, Zürich) · Gernot Vergeiner (Leiter Landesleitstelle Tirol, Innsbruck)

Druck: Media-Print Informationstechnologie GmbH Eggertstr. 28 · 33100 Paderborn Herausgeber: Verlagsgesellschaft Stumpf und Kossendey Postfach 1361 · 26183 Edewecht · www.skverlag.de

Einzelpreis: 9,60 Euro Bankverbindungen: Deutschland: PGiroKto.: Postbank Hannover,   BLZ 250 100 30, Konto-Nr. 2837-300 Volksbank Ammerland-Süd, BLZ 280 618 22, Konto-Nr. 15 872 000 Österreich: Steiermärkische Bank, Graz, BLZ 208 15, Konto-Nr. 0300 / 730 959 Hinweis: Aus Gründen der Lesbarkeit wurden alle Personenbezeichnungen ausschließlich in der männlichen Form dargestellt. Selbstverständlich sind dennoch stets Personen beliebigen Geschlechts gemeint.

Anzeigenverkauf: Verlagsgesellschaft Stumpf und Kossendey z.Z. gültige Anzeigenliste 2011 Bestellungen und Abonnentenverwaltung: Tel.: 04405 9181-0 Fax: 04405 9181-33 Erscheinweise: alle 3 Monate, 4 Ausgaben jährlich Abo-Preis: bei Bankeinzug: 35,40 Euro (zzgl. der jeweils gültigen Postvertriebsgebühr) bei Rechnung: 36,50 Euro (zzgl. der jeweils gültigen Postvertriebsgebühr)

ISSN 2193-4401 Abbildungsnachweise: S. Drolshagen (Titelseite, S. 16); G. Vergeiner (S. 8-11); K. von Frieling (S. 12); A. Hackstein (S. 13-15, S. 24, S. 42, 44, 47); Erich Keller AG (S. 18, 19); Schutz & Rettung Zürich (S. 18); Feuerwehr Stuttgart (S. 20-23); Landkreis Barnim (S. 25, 26); IRLS Süd (S. 28); M. Günther (S. 29); BilderBox (S. 34, 35); W. Lenz (S. 38, 41); F. Gebauer (S. 49, 50)


Handbuch Leitstelle Das Grundlagenwerk Achim Hackstein, Hendrik Sudowe und ihr Team von Fachautoren liefern eine Bestandsanalyse der unterschiedlichen Leitstellenformen und Kommunikationssysteme, beschreiben den Arbeitsplatz und erläutern die Einsatzvorplanung und den Kernprozess der Notrufabfrage. Der Bedeutung von Qualitätsmanagement und Wirtschaftlichkeit gehen sie nach und legen Entwicklungsmöglichkeiten offen. Praxisnahe Erklärungen und realitätsnahe Beispiele geben Orientierung und Planungshilfen für die tägliche Arbeit am Ausgangspunkt der Rettungskette.

• zur Projektunterstützung • mit Planungshilfen • als Ratgeber

Handbuch Leitstelle Strukturen – Prozesse – Innovationen hrsg. von A. Hackstein und H. Sudowe - 1. Aufl. 2010 - 400 Seiten - 105 Abbildungen und 23 Tabellen - Broschur Best.-Nr. 465 · € 39,90

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NEWS

Kabelloses Funken in Notfallzentralen und Leitstellen Imtradex bietet mit der IFB-Revario eine Kommunikationslösung für das kabellose Funken in Leitstellen an. Mit der kabellosen Sendetaste PTT-13WL und dem IFB-Empfänger erweitert sie schnurlose Telefon-Headsets mit der „push to talk“ (PTT)-Funktion. Die IFB-Revario ist nun noch einmal deutlich verbessert worden. So entfällt bei der neuen Version z.B. die aufwändige KeylockVerschlüsselung. Stattdessen wird nun auf den digitalen Austausch individueller Seriennummern für den parallelen Betrieb mehrerer Systeme gesetzt, was die Betriebskosten deutlich senkt.

Arbeitskreis BOS-Leitstellen gegründet Der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e.V. (BITKOM) und der Bundesverband Professioneller Mobilfunk e.V. (PMeV) haben einen Arbeitskreis BOS-Leitstellen gegründet. Ziel dieses offenen und herstellerübergreifenden Gremiums ist es, gemeinsame Grundlagen für die Anbindung der Leitstellen an den Digitalfunk für Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben zu formulieren und einen wesentlichen Beitrag zur Erarbeitung von Standards für die Planung von BOS-Leitstellen unter Berücksichtigung der taktisch-betrieblichen Anforderungen zu leisten. In dem Arbeitskreis (AK) haben sich Hersteller von Leitstellen und Leitstellenprodukten zusammengefunden, die im BITKOM oder PMeV organisiert sind. „Das Gremium ist offen für sämtliche Hersteller, die sich mit die-

sen Aufgaben befassen – unabhängig davon, ob sie BITKOM oder PMeV angehören“, sagt der Leiter des AK, Siegmund Buchholz. Darüber hinaus sucht der Arbeitskreis regelmäßige Abstimmungen mit der Bundesanstalt für den Digitalfunk der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BDBOS) und der AG Leitstellen der Digitalfunk-Projektgruppen der Bundesländer. Die Gründung des AK BOS-Leitstellen ist vor dem Hintergrund der Einführung des bundeseinheitlichen BOS-Digitalfunks zu sehen. Dieser ist insbesondere im Hinblick auf Leitstellen ein sehr komplexes Thema: Nutzer, Planer und Hersteller müssen mit einer neuen Technik, aber auch grundlegend anderen Strukturen und Organisationen umgehen. Der voranschreitende Aufbau des BOS-Digitalfunks verlangt rasche Lösungen von allen Beteiligten.  www.pmev.de

Darüber hinaus werden bei den neuen Modellen die NiMH-Akkus durch die leichteren Li-Ion-Akkus ersetzt. Damit reduziert sich nicht nur das Gewicht, sondern es verlängert sich die Betriebsdauer. Für das Laden der Akkus der kabellosen Sendetaste PTT-13WL liefert Imtradex auch eine Lade­station mit. Ebenfalls neu sind Funktionen zur Reichweitenkontrolle: Wird der Funkbereich verlassen, macht ein Warnton, der wahlweise an- oder abgeschaltet werden kann, den Mitarbeiter rechtzeitig darauf aufmerksam, bevor die kabellose Kommunikation zusammenbricht. Für die bessere Handhabung wird bei der neuen Version der IFB-Revario die Sendetaste aus schwarzem, durchgefärbtem ABS-Kunststoff gefertigt.

Bezirk Imst wird durch die Leitstelle Tirol betreut Seit dem 30. September 2011 werden alle Notrufe der „144“ und Anforderungen für den qualifizierten Krankentransport „14844“ aus dem Bezirk Imst in der Leitstelle Tirol entgegengenommen, bearbeitet, alarmiert und disponiert. Auch die Johanniter-Unfall-Hilfe und der Malteser Hospitaldienst werden ab diesem Zeitpunkt zentral von dort aus koordiniert. Das Tiroler Rettungsdienstgesetz 2009 sieht vor, dass die Leitstelle Tirol künftig landesweit den Notruf „144“ entgegennimmt und die Rettungsfahrzeuge in Tirol alarmiert und disponiert. Sobald alle verbliebenen Notrufbereiche an die Leitstelle Tirol angebunden sind, wird sie pro Jahr ca. 80.000 Notfalleinsätze und 180.000 Krankentransporte alarmieren und disponieren. Per Mausklick können dann tirolweit über 500 hauptberufliche und ca. 5.000 freiwillige Mitarbeiter auf den 50 Ortsstellen der Rettungsorganisationen in den Einsatz geschickt werden. Seit mehr als eineinhalb Jahren laufen bereits die Gespräche und Abstimmungen zwischen Vertretern des Landes Tirol, der „Rotes Kreuz Tirol gemeinnützige Rettungsdienst GmbH“ und der Leitstelle Tirol, um einen reibungslosen Übergang in das neue System gewährleisten zu können.

 www.imtradex.com

www.leitstelle-tirol.at

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NEWS

eCall übermittelt Daten an Leitstellen Eine automatische Alarmierung von Rettungsdienst und Feuerwehr im Falle eines Unfalls soll ab 2015 für alle Neuwagen in der EU verpflichtend vorgeschrieben werden. Eine entsprechende Empfehlung an die EU-Staaten hat die EU-Kommission in Brüssel im September beschlossen. Das automatische Notrufsystem eCall funktioniert mit einem Crash-Sensor und Satellitenortung. Bei einem Unfall wird der Crash-Sensor aktiviert und sendet ein Not­ signal aus. Gleichzeitig werden wichtige Informationen an die Notrufzentrale übermittelt: Die Geschwindigkeit des Fahrzeugs vor dem Unfall und die Aufprallwucht geben wichtige Hinweise über die Schwere des Crashs. Über

Satellit wird die genaue Position des Fahrzeugs eruiert und weiter beobachtet. Geht in der Notrufzentrale ein Unfallalarm ein, versucht man, den Fahrer über die vereinbarte Nummer zu erreichen. Hebt er nicht ab, wird die Rettungskette in Gang gesetzt. Das eCall-Notrufsystem ist Teil der eSafety-Initiative der EU, um die Anzahl der Unfalltoten zu halbieren. Zurzeit sterben durchschnittlich 40.000 Menschen jedes Jahr bei Verkehrsunfällen auf Europas Straßen. Nach Angaben der Kommission sind EU-weit bisher weniger als ein Prozent aller Fahrzeuge mit eCall-Technik ausgestattet, das pro Fahrzeug weniger als hundert Euro kostet.

Celios, Ceus und Cevas für Flughafen Düsseldorf Das Spezialisten-Team der Airport-Feuerwehr des Flughafens Düsseldorf International arbeitet mit 166 Beschäftigten seit mehr als 10 Jahren mit Software-Systemen des Systemhauses CKS Systeme GmbH & Co. KG aus dem emsländischen Meppen. Jetzt wurden im Rahmen eines Upgrades die weiterentwickelten Systemlösungen Celios sowie flankierend Ceus und Cevas neu implementiert, die im Verbund sämtliche einsatzrelevanten Bereiche des Flughafens vom Leitstellen- bis zum Einsatzmanagement vor Ort einschließlich administrativer Bearbeitung abdecken. Zu den vorrangigen Zielen zählen der Schutz und die Sicherheit von Passagieren, Mitarbeitern sowie Sach- und Immobilienwerten des Flughafens. Gleichzeitig steht die Aufrechterhaltung eines durchgängigen Flughafenbetriebs im Fokus. In der Sicherheitszentrale werden sämtliche Informationen auf nur einem Einsatzleitrechner gebündelt und im Einsatzfall allen drei Einsatzbereichen Feuerwehr, Serviceund Störungsstelle sowie Security-Leitstelle zur Verfügung gestellt. Über Schnittstellen angebunden sind die Gefahrenmeldeanlage mit rund 28.000 Brandmeldern und 70.000 Sprinklern sowie weitere sicherheitsrelevante Einrichtungen wie Entrauchungsanlagen, Aufzugsnotfallsteuerungen usw. und eine elektroakustische Anlage mit 9.300 Lautsprechern und ein Aufzugsalarmsystem.

 www.ec.europa.eu

 www.cks-systeme.de

Neuausstattung der Polizei­leitstelle in Bremerhaven Seit Anfang Oktober wickelt die Ortspolizeibehörde Bremerhaven ihre Einsätze mit dem Einsatzleitsystem secur.CAD nun auch in der umgebauten und neu ausgestatten Einsatzzentrale ab; nachdem zuvor das neue Einsatzleitsystem in der Rekordzeit von nur drei Monaten von der Swissphone Systems GmbH als Generalunternehmer installiert und konfiguriert sowie darauffolgend im Probetrieb erfolgreich getestet wurde. Sowohl das Einsatzleitsystem als auch das rein software-basierte Kommunikationssystem und die Langzeitdokumentation wurden gemeinsam auf einer hardwaresparenden virtuellen Plattform installiert. Auch funktional sind secur.CAD und das Funk-Notruf-Abfragesystem sehr tief integriert. Auftragsbestandteil war zudem die Anbindung an das TETRA-Netz und die Neumöblierung der Leitstellenräume. Bereits Mitte Juli 2011 war die Abnahme für das Einsatzleitsystems erteilt worden.  www.swissphone-systems.de 1 · 2011 | 1. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 7

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AKTUELLES

Abb. 1: Engagierte, interessierte und fachkundige Besucher

Die EuroNavigator in München: Leitstellenarbeit ist Teamarbeit Autoren:   Achim Hackstein Dr. André Baumann

Notrufabfrage als Kernprozess der Leitstelle, auf rettungsdienstlichen Kongressen bisher eher ein Randthema, rückte im Rahmen der 4. EuroNavigator-Konferenz, die am 8. und 9. September 2011 in München stattfand, in den Mittelpunkt der Betrachtung. Schon in der Vorplanung der Konferenz, insbesondere beim Lesen der Referenteninformationen, fiel auf, dass hier Planungs- und Organisationsprofis am Werk sind. Da finden sich Hinweise und Wünsche des Veranstalters, die auf eine hochkarätige Konferenz schließen lassen, allerdings selbst bei kongresserfahrenen Referenten Ängste freisetzen, ob das angestrebte Niveau wirklich realisiert werden kann. Retrospektiv betrachtet kann gesagt werden, dass bei den meisten Referenten diese Ängste unbegründet waren. Die Konferenzeinladung hielt, was sie versprach: Vorträge auf fachlich hohem Niveau.

Organisation Die Konferenz wird veranstaltet von der International Academies of Emergency Dispatch (IAED), vielen besser bekannt durch die ebenfalls in Salt Lake City ansässige Firma Priority Dispatch Consultings und das Produkt der Firma zur Notrufabfrage, dem AMPDS, in Berlin SNAP und in Hamburg SMAP genannt. Das Produkt wird in vielen Ländern eingesetzt, daher kamen auch Besucher und Vortragende aus ebenso vielen Ländern, und es wird wieder deutlich, dass gemeinsame Probleme und Fragestellungen auch in Zukunft nur gemeinsam gelöst werden können. 8

Tag 1 Schon die erste Sitzung war eine niederländischschweizerisch-deutsche Koproduktion. Robert Frey, Leiter der Heli-Leitstelle der Rega am Flughafen Zürich und BOS-LEITSTELLE AKTUELL-Redaktionsmitglied, informiert über das Rega-App zum iPhone, mit dessen Hilfe sich der Standort einer verunfallten Person auf wenige Meter genau ermitteln lässt. Ein Einsatzbeispiel untermauerte den entscheidenden Zeitvorteil für den Patienten auf beeindruckende Art und Weise. Um Zeitvorteile ging es auch im nachfolgenden Thema Kooperative Leitstelle, die 1 · 2011 | 1. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 8


AKTUELLES

vom Verfasser dieses Beitrags als die Leitstellenform der Zukunft präsentiert wurde. Dr. Jan de Nooij aus Leiden stellte auf der Basis selbst erhobener Zahlen überzeugend die Vorteile einer standardisierten Notrufabfrage mit AMPDS dar. Seinen Worten folgend wäre die Einführung auch für alle Leitstellen in den Niederlanden denkbar. Eine von Astrid Meier, Berufsfeuerwehr Stralsund, im „Netzwerk Leitstelle“ durchgeführte Umfrage zum Thema Standardisierung der Notrufabfrage brachte dagegen ernüchternde Ergebnisse. Von ca. 70 befragten Leitstellen meldeten sich nur 12 Leitstellen zurück, von denen nur wenige Standards realisieren. In der zweiten Sitzung an diesem ersten Konferenztag stand der Mensch im Mittelpunkt der Betrachtung. Frau Magistrat Barbar Mayr, Landesleitstelle Tirol, hält Erwachsene zwar für „unbelehrbar“, aber durchaus lernfähig. Es geht nur um die richtige Wahl und Zusammensetzung der das Lernen beeinflussenden Faktoren. Vor allem aber wurde deutlich, dass in die Aus- und Weiterbildung investiertes Geld sehr gut angelegt ist. Das Land Bayern hat das scheinbar auch erkannt, zumindest wenn man den Ausführungen von Christian Schwarz, Feuerwehrschule Geretsried, aufmerksam gefolgt ist. In der Landesfeuerwehrschule ist eine technisch und organisatorisch beeindruckende Lehrleitstelle entstanden, in der mit erheblichem Aufwand die Leitstellendisponenten des Landes ausgebildet werden. Allerdings aktuell noch ohne Berücksichtigung der standardisierten Notrufab­frage, was einen kleinen Wehmutstropfen in den Becher der Freude fallen lässt. Gernot Vergeiner, Landesleitstelle Tirol, sprach wahrscheinlich vielen Konferenzteilnehmern aus der Seele, als er darauf hinwies, dass wir aktuell den Menschen im Tätigkeitsfeld Leitstelle, die bekanntlich in einem Hochrisikobereich wirkt,

in unseren Fortbildungsmaßnahmen regelmäßig vernachlässigen. Ein Aufruf an alle Verantwortlichen: Leitstellenarbeit ist Teamarbeit, und den Menschen in der Leitstelle kann kein technisches System jemals ersetzen. Reinhard Malzer aus Wien stellte das Ergebnis der Auswertung von Feedback-Bögen zur „Trefferquote“ im Rahmen der standardisierten Abfrage dar, allerdings auf Basis einer recht dünnen Zahlendecke, die unter Umständen keine wirklich fundierten Aussagen zulässt. Was aber deutlich wurde ist die Tatsache, dass in den Fragestellungen des Protokolls unter Umständen Unschärfen erkennbar sind oder Formulierungen verbessert werden könnten. Dass die demografische Entwicklung nicht gerade auf eine für Leitstelle und Rettungsdienst positive Zukunft hoffen lässt, war eigentlich jedem klar. Christoph Redelsteiner aber versteht es hervorragend, den Zuhöreren die tatsächlichen Auswirkungen einer immer älter werdenden Bevölkerung vor Augen zu führen. Vorgesetzte von heute sind Konsumenten rettungsdienstlicher Leistungen von morgen. Es wird gravierende Probleme in der Mitarbeitergewinnung geben, die Leitstellenfachkraft mit klarer Positionierung im Gesundheitswesen, beschriebenen Qualifikationsparametern und der Möglichkeit, in andere Berufe im Gesundheitswesen zu wechseln, wäre eine Lösung aus dem Dilemma. Nach Einführung der standardisierten Protokolle beklagen viele Leitstellen steigende Notarzt-Einsatzzahlen. Gernot Vergeiner zeigte logisch nachvollziehbar auf, wie flexibel und hochgradig parametrisierbar AMPDS den örtlichen Gegebenheiten angepasst werden kann. Theoretisch lässt sich dazu folgende Rechnung aufmachen: 833 Hauptbeschwerden × n Koordinaten = n Ausrückefolgen, wobei dies eine rein fiktive Betrachtung darstellt, die in der täglichen Abb. 2: Spannende Vorträge, visuell sehr gut aufbereitet

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AKTUELLES

Praxis nicht relevant ist. Der erste Kongresstag schloss mit einem spannenden Vortragsblock rund um das AMPDS-Feuerwehrprotokoll. Darin finden sich Fallbeispiele, Erfahrungen mit einem Unwetterprotokoll und Überlegungen von Andre Baumann, Berlin, zur Integration des aus der Einsatztaktik bekannten TürChecks in die Notrufabfrage. Dietmar Jeschke aus der Leitstelle der Berufsfeuerwehr Hamburg rundete mit einigen Gedanken und Überlegungen zur Lage „Sturmflut in Hamburg“ kompetent den ersten Tag der EuroNavigator-Konferenz ab. Tag 2 Die ersten beiden Blöcke des Folgetages widmeten sich im Wesentlichen der Zusammenarbeit zwischen der Leitstelle und dem Rettungsdienst. Zunächst stellte Michael Bayeff-Filloff aus Rosenheim das bayerische Konzept des ÄLRD vor. Besonders interessant war hier die Möglichkeit des Zugriffs auf Daten aus der Leitstelle. In Verbindung mit den Daten einer strukturierten Abfrage bieten sich hier interessante Forschungsmöglichkeiten. Ebenso spannend ging es weiter, als Heinrich Audebert das Konzept des StrokeEinsatzmobils (STEMO) aus Berlin vorstellte. Neben der interessanten Fahrzeugtechnik ist insbesondere die richtige Erkennung eines Schlaganfalls in der Leitstelle von entscheidender Bedeutung für die Ergebnisse des Forschungsprojektes. Da das Projekt noch nicht beendet ist, wird es interessant sein, eventuell im nächsten Jahr mehr über den Verlauf zu erfahren. Um Daten aus der Leitstelle und die Möglichkeiten, damit Prognosen zu erstellen, ging es auch in den folgenden Referaten, wenn auch mit unterschiedlicher Zielsetzung. Die mögliche Zusammenarbeit zwischen Leitstelle und Public-Health-Einrichtungen war das Thema, zu dem Thomas Krafft aus Maastricht referierte. Hier ist sicherlich die Frühwarnung bei Pandemien das Thema, das uns zukünftig am ehesten beschäftigen wird. Jerry Overton aus Salt Lake City erörterte die Möglichkeiten, mit Hilfe von Daten der Leitstelle und moderner Software-Unterstützung die Disposition von Einsatzmitteln auch bei steigendem Bedarf effizient durchzuführen. Um die Unterstützung der Einsatzkräfte vor Ort durch Telemedizin ging es in dem Beitrag von Max Skorning aus Aachen. Ein interessantes Thema, das zukünftig sicherlich viele Möglichkeiten bieten wird. Der nächste Block, der komplett von Wiener Notärzten vorgestellt wurde, widmete sich dem Thema der Weiterentwicklung des AMPDS. Zunächst ging es um die Frage der richtigen Wortwahl bei der Telefonreanimation: Ist die Anweisung „Drücken Sie, so fest 10

Sie können“ besser als „Drücken Sie 5 cm“? Raphael van Tulder stellte seine Vergleichsstudie zu diesem Thema vor und konnte feststellen, dass die geänderte Anweisung keine Vorteile gegenüber der derzeitigen Anweisung im AMPDS bietet. Dennoch müssen die Anweisungen noch optimiert werden, um eine bessere Qualität der Telefon-HLW zu erzielen. Um die Verkürzung der Eintreffzeiten durch einen Voralarm ging es bei der Studie „Cardiac arrest – wenn Minuten zählen. Der AMPDS Pre-alert Trial“ von Christoph Weiser. Trotz strukturierter Notrufbearbeitung vergehen im Regelfall mehrere Minuten vom Notrufeingang bis zum Ausrücken eines Rettungsmittels. Im Falle eines Herzstillstandes sind damit die entscheidenden ersten 4 Minuten oft schon vergangen, bevor der Rettungsdienst auf dem Weg ist. Erstaunlicherweise hat der Voralarm zu keiner Verbesserung der Eintreffzeiten geführt. Hier gibt es sicherlich noch Optimierungspotenzial in den verschiedenen Leitstellen. Offenbar wurde aber auch hier wieder, dass die Ermittlung der Einsatzadresse – gerade in ländlichen Gebieten – die Hilfsfrist erheblich beeinflusst. Dass die Eintreffzeit alleine jedoch noch nicht den endgültigen Reanimationserfolg bestimmt, zeigte die Arbeit von Mathias Stöckl. In einer umfangreichen Studie wurde versucht zu ermitteln, welche Faktoren das Überleben beeinflussen. Die drei Beiträge zeigten eindrucksvoll, wie standardisierte Anweisungen notfallmedizinische Forschung ermöglichen. Es bleibt spannend. Der folgende Teil der Veranstaltung widmete sich schwerpunktmäßig dem Thema Qualitäts- und Be­ schwerdemanagement. Die Vorträge von Rene Kerschbaumer zum Beschwerdemanagement und Walter Endres zum Audit beleuchteten das Thema eher allgemein, während Daniel Wegscheider und Heinz Novosad mit ihren Beiträgen Einblicke in das Qualitätsmanagementsystem der IAED lieferten. ­Interessierten sei hier die Homepage der IAED ­empfohlen, auf der man viele Eckpunkte nachlesen kann. Kurz vor Schluss wurde es dann noch einmal etwas technischer. Christian Laucher aus St. Pölten stellte zunächst die neue Software der Firma PDC ProQA Paramount vor. Diese wird voraussichtlich ab 2012 erhältlich sein und bietet viele interessante neue Eigenschaften. Die entscheidenden Änderungen spielen sich aber an der Schnittstelle zum Leitsystem ab, und davon handelte dann auch sein zweiter Vortrag, der die Integrationsmöglichkeiten in das Leitsystem darstellte. Leider konnte man diese Dinge noch nicht wirklich live sehen, da es sich um eine Betaversion handelte und derzeit noch kein Leitstellenher1 · 2011 | 1. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 10


AKTUELLES

Abb. 3: Zeit auch für fachkundige Gespräche am Rande der Veranstaltung

steller eine zertifizierte Schnittstelle hat. Ähnliches galt – zumindest für Deutschland – für den Beitrag „Digitalfunk-Anbindung und -Integration im Einsatzleitsystem“ von Stefan Schafft aus Innsbruck. Es war interessant zu erfahren, wie eine TETRA-Lösung funktionieren kann. Wir werden hoffentlich bald erfahren, wie die Anbindung in Deutschland gelöst wird. Fazit Der diesjährige vierte EuroNavigator war eine rundherum gelungene Veranstaltung, insbesondere auch für diejenigen, die (noch) nicht Nutzer einer standardisierten Notrufabfrage sind. Nach den Veranstaltungen in Berlin, Wien und Innsbruck in den vergangenen Jahren haben erstmalig mehr als 100 Teilnehmer

den Weg nach München gefunden. Ohne hellseherische Fähigkeiten zu besitzen, sei die Prognose gewagt, dass die Folgeveranstaltung im nächsten Jahr – Konferenzort wird Berlin sein – wieder Meilensteine in der Notrufabfrage setzen wird und ein Muss für alle Verantwortlichen in Leitstellen, egal welchen Typs darstellt. Man konnte erfahren, welches Potenzial in einer Standardisierung der Notrufabfrage liegt und dass erst ein hoher Grad an Standardisierung umfassende Forschung ermöglicht. Für die Technikinteressierten unter uns wäre eine Beteiligung von Leitsystemherstellern mit der Integration des computergestützten Abfrageprotokolls wünschenswert gewesen. Es wird interessant sein zu sehen, ob es im nächsten Jahr in Berlin gelingt, einige Leitstellenhersteller zu gewinnen.❂

Notruf

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Notruf-Training

für EinsatzbearbeiterInnen von Zentralen und Integrierten Leitstellen

112 Weitere Informationen unter:

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Training, Fortbildung, Weiterbildung, Ausbildung für erfahrene und neue EinsatzbearbeiterInnen / DisponentenInnen von Zentralen und Integrierten Leitstellen

• zukunftsorientierter Unterricht • nach aktuellen Standards • aus der Praxis für die Praxis • Inhouse-Seminare •… Kontakt: E-Mail: Notruf-Training112@gmx.de 11 Telefon: 0171 / 954 95 69


PORTRÄT

Abb. 1: Homogener Technikeinsatz in Leitstellen ermöglicht Standardisierung

Kleine Leitstellen-Typologie: Wohin wird die Reise gehen? Autor:                     Stephan Bandlow-Hoyer Redaktion   BOS-LEITSTELLE AKTUELL  Leiter des kommunalen Teils der   Kooperativen Regionalleitstelle Schleswig-Holstein West

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Leitstellentypen lassen sich weniger aufgrund technischer Rahmenbedingungen als vielmehr durch ihren organisatorischen Aufbau differenzieren. Der grundsätzliche räumliche und technische Aufbau einer Leitstelle ist in der EN ISO 11064 sowie in der sehr aktuellen DIN EN 50518 beschrieben. Abgesehen von Details unterscheiden sich die einzelnen Leitstellentypen in ihren technischen Erfordernissen also demnach nicht zwangsläufig voneinander. Lediglich die in neuerer Zeit als Virtuelle Leitstelle bezeichnete Leitstellenform, in der mehrere Leitstellen kommunikations- und datentechnisch miteinander vernetzt werden, leitet ihren Namen aus der Welt der Technik und nicht in klassischer Weise aus Organisationsmerkmalen ab.

Einheitliches Kernziel einer jeden Leitstelle (LS) als stationäre Führungseinrichtung ist die optimale Kommunikation und Koordination mit den Hilfe­ suchenden, den Einsatzkräften und allen sonstigen am Einsatz beteiligten Einheiten, Personen und Dienststellen. Integrierte Leitstelle und Kreisleitstelle Klassisch hat sich in weiten Teilen der Bundesrepublik die so genannte Integrierte Leitstelle (ILS) in Trägerschaft der Kreise und kreisfreien Städte als gängiger Standard für eine Leitstelle in der Daseinsvorsorge und Gefahrenabwehr etabliert. In Nord- und Westdeutschland finden sich Integrierte Leitstellen auch unter der Bezeichnung Kreisleitstelle (KLS).

Dabei ist die Zuständigkeit für den Brandschutz, die Hilfeleistung und den Rettungsdienst mit seinen Aufgabenbereichen Notfallrettung, Notarztdienst und dem Krankentransport obligat. Vielfach wurde auch die Funktion des ständig besetzten Meldekopfes der Katastrophenabwehrbehörde, des behördeninternen Bereitschaftsdienstes und oft auch die Vermittlung des vertragsärztlichen Notdienstes integriert. Abhängig vom konkreten Betreiber der Integrierten Leitstelle wurden öfter auch weitere zusätzliche Aufgabenbereiche vom Hausnotruf bis zum Fahrdienst für Senioren in die Leitstellen gegeben. Bei den Integrierten Leitstellen werden die vorhandene Technik, der einheitliche Notruf 112, das eingesetzte Personal ebenso wie die organisatorischen 1 · 2011 | 1. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 12


PORTRÄT

Vorgaben innerhalb der Leitstelle für alle o.g. Aufgabenbereiche wirksam. Die vollständige Durchdringung aller Aufgabenbereiche erfordert breit und sehr gut geschultes Personal. Damit ist die Qualifikation des Personals eine wesentliche Voraussetzung für den Betrieb einer funktionierenden Integrierten Leitstelle. Integrierte Regionalleitstelle Beginnend im Jahr 2001 mit Inbetriebnahme der Integrierten Regionalleitstelle (IRLS) Elmshorn (Schleswig-Holstein) bildeten sich in den nördlichen Bundesländern zunehmend Integrierte Leitstellen mit einer Zuständigkeit für mehrere Kreise bzw. kreisfreie Städte. Bei nahezu gleicher Organisation und Aufgabenstellung wie in den Integrierten Leitstellen versorgen die Integrierten Regionalleitstellen nicht nur geographisch größere Gebiete, sondern sind in aller Regel auch für deutlich mehr Menschen verantwortlich. Damit konnte in allen bisher realisierten Integrierten Regionalleitstellen eine Optimierung der personellen Besetzung bei gleichzeitiger Verbesserung der Wirtschaftlichkeit und Dienstleistungsqualität erreicht werden. Sprachliche Sonderformen der Regionalisierung finden sich z.B. bei der sogenannten Regionsleitstelle Hannover, in der die Landeshauptstadt Hannover und die Region Hannover gemeinsam im Sinne einer Integrierten Regionalleitstelle tätig sind. Auch die Integrierten Leitstellen im Freistaat Bayern und Bereichsübergreifende Integrierte Leitstellen in Baden-Württemberg sind dem Grunde

nach der Gruppe der Integrierten Regionalleitstellen zuzuordnen. Virtuelle Leitstelle Vorwiegend aus der Not heraus, eine ausreichende personelle Mindestbesetzung von Leitstellen mit kleinräumig oder weniger einwohnerstarken Versorgungsbereichen sicherzustellen, wurde die technische Lösung der Virtuellen Leitstelle bzw. des Virtuellen Leitstellenverbunds geschaffen. Ausgehend von der Industrie wurden Vernetzungslösungen von Einsatzleitrechnern und der Notruf- und Funkabfrage entwickelt, um einzelne Integrierte Leitstellen – seltener reine Feuerwehr- oder Rettungsleitstellen – miteinander zu verbinden und so Standorte zu erhalten. Die wirtschaftlichen Effekte der Virtuellen Leitstelle sind überschaubar und stehen bei einer Vollkosten­ betrachtung deutlich hinter denen einer „echten“ Regionalisierung zurück. Feuerwehrleitstellen und Rettungsleitstellen Weitaus weniger als noch vor einigen Jahren finden sich reine Feuerwehrleitstellen oder Rettungsleitstellen auf der Landkarte deutscher BOS. Neben Einrichtungen dieser Art, die parallel an einem einheitlichen Standort betrieben wurden, waren in Deutschland auch viele baulich und örtlich gänzlich getrennte Einrichtungen mit komplett unterschiedlicher Technik zu finden. Abb. 2: Feuerwehr-, Rettungsdienst- oder Integrierte Leitstelle? Die Technik verrät es erst auf den zweiten Blick

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Abb. 3: Prozess­ organisation entsprechend der Aufgabenstellung erfordert auch eine funktionale Raumplanung

Im süddeutschen Raum, insbesondere in Bayern, waren viele Jahre reine Rettungsleitstellen mit großräumiger, bereichsübergreifender Zuständigkeit üblich. Außer z.B. in der Landeshauptstadt München wurden Einsätze der Feuerwehr über die Polizei angenommen und an die zuständige Feuerwehr bzw. deren nicht ständig besetzte Feuerwehr-Einsatzzentrale auf dem Alarmweg weitergeleitet. Mit fortschreitender Einrichtung der Integrierten Leitstellen in Bayern wird diese Sonderlösung in den nächsten Jahren keine Gültigkeit mehr haben. Aus der vorgenannten organisatorischen Trennung von Feuerwehrleitstellen, Rettungsleitstellen und ihren verschiedenen Abwandlungen resultiert auch die in den südlichen Bundesländern über Jahre hinweg sehr stark beworbene Rufnummer 19222. Ohne dass sie je den Status einer echten Notrufnummer nebst deren Sonderfunktionalitäten hatte, war sie regional als Erreichbarkeit der Rettungsleitstelle zum Teil stark frequentiert und technisch gut ausgebaut, z.B. mit einer Vorwahlfreiheit aus dem Festnetz. Leitstellen in der Gefahrenabwehr Die öffentlich-rechtlich betriebenen Leitstellen in der Gefahrenabwehr lassen sich rückblickend in die Gruppen der Integrierten Leitstellen, Rettungsleitstellen und Feuerwehrleitstellen einteilen. Als Deri14

vate der Integrierten Leitstelle haben sich die Integrierte Regionalleitstelle und in wenigen Fällen die Virtuelle Leitstelle etabliert. Kooperative Regionalleitstelle Die Kooperative Regionalleitstelle (KRLS) ist die jüngste Leitstellenform und beschreibt eine Struktur, in der Leitstellen für die polizeiliche und nichtpolizeiliche Gefahrenabwehr unter Nutzung gleicher Technik und Gebäude (technisch-logistische Synergie), jedoch bei getrennter Aufgabenwahrnehmung betrieben werden. Sie unterscheidet sich daher bereits konzeptionell grundlegend vom häufig diskutierten Gedanken der „Bunten Leitstelle“, in der polizeiliche sowie nicht-polizeiliche Aufgaben organisatorisch, personell, räumlich und technisch zusammengefasst wahrgenommen werden sollten. Ursächlich für diese veränderte Konzeptumsetzung sind die nicht unbegründeten Bedenken bei einer Vermischung der konkreten Aufgabenwahrnehmung der (polizeilichen) Eingriffsverwaltung mit der (nicht-polizeilichen) Daseinsfürsorge des Staates. Darüber hinaus durfte von Anfang an bezweifelt werden, dass Personal mit einer sehr breiten Qualifikation für polizeiliche und nicht-polizeiliche Aufgaben gleichzeitig einen höheren Qualitätsstandard in der Leitstelle befördert. Gleichzeitig unterscheiden sich die operativ-takti1 · 2011 | 1. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 14


PORTRÄT

schen Anforderungen und die Führungssysteme von polizeilicher und nicht-polizeilicher Gefahrenabwehr deutlich voneinander. Die AGBF hat dazu bereits 2004 ein Thesenpapier entwickelt, das auf Risiken bei der Zusammenführung von polizeilichen und nicht-polizeilichen BOS-Leitstellen aufmerksam macht. Beispiele für Kooperative Regionalleitstellen finden sich in den nördlichen Bundesländern Niedersachen und Schleswig-Holstein. Ohne räumliche Synergie durch gemeinsame Objektnutzung, aber technisch durchaus mit einer Kooperativen Leitstelle vergleichbar ist die Struktur der polizeilichen und nicht-polizeilichen Leitstellen in der Freien und Hansestadt Hamburg, die durch ein einheitliches Einsatzleitsystem an zwei großen Standorten ein hohes Maß an Redundanz bei gleichzeitig optimierten Zusammenarbeitsbedingungen realisiert. An dieser Stelle verschmelzen Komponenten der klassischen Leitstellenformen mit Elementen des virtuellen Leitstellenverbunds. Die technische Einrichtung von Kooperativen Leitstellen erfordert komplexe ITSysteme, die in der Lage sind, polizeiliche und nichtpolizeiliche Prozesse gleich gut abbilden zu können. Darüber hinaus müssen diese Systeme die gemeinsame Nutzung von Daten ermöglichen, ohne dabei den Daten- und Vertrauensschutz zu vernachlässigen. Hier verschmelzen auf Funktionsebene in eindrucksvoller Weise die für Polizeileitstellen (PLS) entwickelten EDV- und Kommunikationssysteme mit denen für Feuerwehr-, Rettungs- bzw. Integrierte Leitstellen. Die Entwicklung Nachdem sich die Leitstellen seit 1974 über mehrere Jahrzehnte hinweg nur technisch und in engen Grenzen auch organisatorisch weiterentwickelt haben, ist seit dem Jahrtausendwechsel eine deutliche Bewegung in diesem Bereich erkennbar. Der Trend geht eindeutig in Richtung großräumiger bzw. einwohnerstarker Dispositionsbereiche. Die Zusammenarbeit mit der Polizei wird vielerorts auch durch die gemeinsame Nutzung des digitalen Behördenfunks enger, ohne dass dabei die eigentlichen Aufgaben vermischt werden. Leitstellen für besondere Betriebsstätten oder größere Werke unterscheiden sich heute im Technikeinsatz kaum mehr von denen der nicht-polizeilichen BOS. Organisatorisch werden jedoch oft zusätzliche Aufgaben, z.B. des Werkschutzes, in Werkleitstellen integriert. Auch zusätzliche Steuerungsmöglichkeiten und die Fähigkeit für aktive Prozesseingriffe finden sich in diesen Leitstellen weitaus häufiger als in den klassischen Leitstellen in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft. 1 · 2011 | 1. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 15

Abb. 4: Die Kooperative Regionalleitstelle als eine moderne Leitstellenform

Die Zukunft Perspektivisch ist davon auszugehen, dass sich in Deutschland Integrierte Leitstellen und Integrierte Regionalleitstellen als überwiegender und organisatorisch wie taktisch vernünftiger Standard etablieren werden. Abhängig vom politischen Willen wird es vereinzelt auch zur Einrichtung von Kooperativen Leitstellen bzw. Kooperativen Regionalleitstellen kommen. Tendenzen zu „Bunten Leitstellen“ mit personeller Durchlässigkeit von polizeilichen und nicht-polizeilichen BOS sind aktuell in keiner Weise erkennbar. Überlegungen dazu müssen nach gängiger Rechtsauslegung auch frühzeitig an Fragen des Datenund Vertrauensschutzes scheitern. ❂ Literatur: 1. AGBF-Bund (2004) Zukunft der Leitstellen der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr. www.agbf.de/pdf/ Zukunft_der_Leitstellen.pdf 2. Innen- und Sozialministerium Baden-Württemberg (2007) Gemeinsame Hinweise zur Leitstellenstruktur der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr. www.lfs-bw. de/Fachthemen/Digitalfunk-Funk/Documents/Leistelle_Hinweise.pdf

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PORTRÄT

Abb. 1: Arbeitsplatz in der Einsatzleitzentrale Zürich

Die neue Einsatzleitzentrale für Schutz & Rettung am Flughafen Zürich Mit freier Sicht aufs Flughafenareal

Autor:                     Hptm. Reto Trottmann Abteilungsleiter Einsatzleitzentralen,  reto.trottmann@ zuerich.ch

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Schutz & Rettung Zürich (SRZ) ist die größte zivile Rettungsorganisation der Schweiz. Unter ihrem Dach befinden sich die Feuerwehr, der Rettungsdienst, Zivilschutz, die Feuerpolizei und zwei Einsatzleitzentralen. SRZ ist eine Dienstabteilung des Polizeidepartements der Stadt Zürich. Sie ist in die Notfall- und Katastrophenorganisation der Stadt Zürich, des Kantons Zürich sowie des Bundes integriert. Mit dem Zusammenschluss der Rettungsorganisationen der Flughafen Zürich AG mit Schutz & Rettung Zürich im Jahr 2008 konnten Synergien genutzt und somit die Schlagkraft der Rettungsorganisation SRZ im Raum Zürich massiv verstärkt werden. Wie üblich bei Fusionen in dieser Größenordnung sind auch gewisse Stolperfallen zutage getreten. So wurde der Betrieb von zwei räumlich und geographisch getrennten Einsatzleitzentralen bezüglich Organisation und Betriebskosten als aufwendig erachtet und auch bestätigt.

Im Jahr 2009 wurde daher das Projekt „ELZ 2011“ ins Leben gerufen. Das Projekt wird in enger Zusammenarbeit mit der Gebäudeversicherung Kanton Zürich, mit der Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich und dem Polizeidepartement der Stadt Zürich realisiert. Es hat folgende Zielsetzung: • Realisierung einer neuen Einsatzleitzentrale (ELZ) am Standort Flughafen Zürich. Dabei wird auf die Sicherheit großen Wert gelegt.

• Überführung der bestehenden alten ELZ Flughafen im Gebäude W 8 in die neue Einsatzleitzentrale im Prime Center 2. • Integration der bestehenden Sanitätsnotrufzentrale 144 Winterthur mit 52 Gemeinden in die Einsatzleitzentrale am Flughafen Zürich. • Weitere Nutzung der bestehenden ELZ an der Weststr. 4 in der Stadt Zürich als geographisch getrennte und redundante ELZ sowie als Schulungszentrale. 1 · 2011 | 1. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 16


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Kanton Schaffhausen

• Sicherstellung der Kommunikation zwischen der Einsatzleitzentrale und den Partnerorganisationen wie Kantonspolizei, Stadtpolizei und weiteren Organisationen. Um diesen hohen Ansprüchen gerecht zu werden, wurden geeignete Räumlichkeiten gesucht. Nach intensiver Suche fand die Projektleitung „ELZ 2011“ im Flughafen Zürich die ehemaligen Räumlichkeiten von Skyguide (Schweizer Flugverkehrs­sicherung), eine sehr passende Umgebung für die neue Einsatzleitzentrale. Neben einer gut erschlossenen öffentlichen Verkehrsanbindung bietet das Gebäude weitere entscheidende Vorteile wie z.B. die geforderten Kälteanlagen, Sicherheits- und Überwachungskonzepte, Notstromversorgung sowie die unterbrechungsfreie Stromversorgung (USV) und Verpflegungsmöglichkeiten. Auch die in den Richtlinien der International Civil Aviation Organization (ICAO) geforderte Sicht auf das Flughafenareal konnte mit diesem Standort erfüllt werden. Heute sieht die Notruflandschaft wie folgt aus: Im Kanton Zürich sind zwei ELZ in Betrieb, die Notrufe über die Telefonnummern „118“ und „144“ entgegennehmen, verarbeiten und die Einsatzmittel disponieren. Eine ELZ befindet sich an der Weststr. 4 in Zürich, die andere im Flughafenareal. Beide Zentralen werden von SRZ betrieben und unterhalten. Die ELZ im Flughafengelände ist für den nördlichen Teil und die in Zürich für den südlichen Teil des Kantons Zürich zuständig. Beide Zentralen nehmen zahlreiche weitere Aufgaben wahr, etwa die Entgegennahme von Alarmen der rund 4.600 Gefahrenmeldeanlagen, die Erstellung des Aufgebotes und der Disposition verschiedener Pikett-, Bereitschaftsdienste, ABC-Spezialisten, außerkantonaler Leistungsaufträge im Bereich der Alarmierung, Vermittlung von Krankentransportdiensten sowie die Koordination von Massenanfällen von Verletzten und Erkrankten (MANV). Die Systemlandschaft der Zentralen ist heute stark heterogen. Als Einsatzleitsystem (ELS) ist in der ELZ Zürich das System I/CAD der Firma Intergraph in Betrieb, das auch bei der Kantonspolizei Zürich und den beiden Stadtpolizeien Winterthur und Zürich im Einsatz ist. In der ELZ Flughafen wird ein System von Swissphone-Systems eingesetzt. Ähnlich heterogen ist die Systemlandschaft in den Bereichen Telefonie, Funk, Sprachaufzeichnung sowie Auftrags- und Statusübermittlung. Diese große Vielfalt an unterschiedlichen Systemen erschwert die Zusammenarbeit der Zentralen und den Datenaustausch. Sie erhöht die Gefahr von Fehlern sowie insbesondere die Ausbil1 · 2011 | 1. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 17

dungs- und Betriebskosten massiv. In den heute schon technisch gut ausgerüsteten ELZ von SRZ nehmen 50 Disponentinnen und Disponenten an beiden Standorten rund 1 um die Uhr jährlich Kanton Zürich insgesamt über 500.000 Anrufe entgegen. 2 Die ELZ Zürich ist 24 Stunden an 365 Tagen im Jahr mit mindestens vier bis sechs Disponenten im Schichtbetrieb besetzt, die am Flughafen mit drei Disponenten. Daraus resultieren rund 100.000 Einsatzdispositionen für die regional zuständigen Feuerwehren im Kanton Zürich und Rettungsdienste in den Kanton Schwyz Kantonen Schaffhausen, Schwyz sowie Zürich. Die Einsatzleitzentralen des Kantons Zürich wie auch die Zentralen in anderen Kantonen sind mit einer stetig steigenden Anzahl von Anrufen 1 Einsatzleitzentrale konfrontiert. Unabhängig 1von den vermehrt auftreEinsatzleitzentrale Flughafen (Nord) Dispositionsgebiet 144 ELZ Flughafen tenden Elementarereignissen Flughafen (Nord) steigt das Anrufvolumen 2 Einsatzleitzentrale 2 Einsatzleitzentrale Dispositionsgebiet Zürich (Süd) jährlich um bis zu sechs Prozent. Die Gründe dafür Zürich (Süd) 144 ELZ Zürich Dispositionsgebiet liegen hauptsächlich in gesellschaftlichen Verände144 ELZ Flughafen rungen wie die zunehmende Verbreitung von MobilDispositionsgebiet telefonen und der gesunkenen Hemmschwelle für den 144 ELZ Zürich Gebrauch der Notrufnummer. Das Projekt „ELZ 2011“ Die Inbetriebnahme der neuen Einsatzleitzentrale im Prime Center 2 am Flughafen in Zürich wurde auf Mitte November 2012 festgelegt. Damit werden gewiss viele gewachsene Altlasten abgeworfen und Neuigkeiten in die ELZ einfließen können. Im gesamten Projekt wird auf die Ausfallsicherheit der eingesetzten Komponenten und die entsprechenden Redundanzen großen Wert gelegt. So wird der Serverraum mit einer Brandmelde- und einer Inergen-Trockenlöschanlage sowie sechs Wassersensoren ausgestattet. Zusätzlich werden die Racks mit den elektronischen Komponenten mit einem Brandfrüherkennungssystem überwacht. Gekühlt werden die 51 Racks mit einem energieeffizienten Kalt-/Warmgangsystem. 17


PORTRÄT

Abb. 2: Projekt ELZ 2011: In der Zentrale werden 17 komplett ausgerüstete ELZArbeitsplätze sowie 14 reduzierte NotfallArbeitsplätze installiert und eingerichtet

Für die Test- und Integrationsumgebung wird in einem separaten Raum die entsprechende Hardware bereitgestellt, sodass hier dieselben Bedingungen wie in der ELZ vorherrschen und jeweils im Vorfeld die Software wie Systemkomponenten kritisch prüfen bzw. testen können. Es werden 17 komplett ausgerüstete ELZArbeitsplätze sowie 14 reduzierte Notfall-Arbeitsplätze in der Zentrale installiert und eingerichtet. Zusätzlich werden im Tactical Operations Center (TOC) ebenfalls zwei vollwertige ELZ-Arbeitsplätze zur Führung bei Groß- und Sonderlagen eingerichtet. Um bei Unwetter jeweils die Anrufspitzen von über 1.900 Anrufen pro Stunde effizient bewältigen zu können, werden die Notfallarbeitsplätze hochgefahren und personell besetzt. Die Zusammenführung der heute geographisch getrennten ELZ Flughafen und Zürich in eine gemeinsame ELZ bezweckt einen flexibleren Personaleinsatz und ver-

einfacht die Ausbildung. Mit dem gleichen Personalbestand wie bei den getrennten soll in der neuen ELZ das stetig steigende Anrufvolumen auf die Mitarbeitenden optimal und gleichmässig verteilt werden. Mit dem neuen Schichtmodell und der neuen ELZ 2011 wird SRZ weiterhin als zuverlässiger Partner den hohen Ansprüchen aller Leistungsempfänger gerecht werden. Die bestehende Zentrale an der Weststr. 4 in Zürich bildet neu die Rückfallebene für den Notfall und wird nur bei einem Ausfall der ELZ 2011 in Betrieb genommen. Grundsätzlich ist diese ELZ im Normalfall personell nicht besetzt, wird jedoch für Ausbildungszwecke und Tests eingesetzt. Sämtliche kritischen Zentralen-Systeme sind am Redundanzstandort in ausreichender Anzahl vorhanden und verfügbar. Die Systemlandschaft der ELZ beinhaltet das Einsatzleitsystem, die Sprachvermittlungs- und

Abb. 3: Im Flughafen Zürich wurden die ehemaligen Räumlichkeiten von Skyguide als passende Umgebung für die neue Einsatzleitzentrale angesehen

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PORTRÄT

Bildsysteme, eine eigene Telefonzentrale für die Notrufnummern, Empfangssysteme für die rund 4.600 Gefahrenmeldeanlagen, den analogen sowie den digitalen Funk, die Sprachaufzeichnung, Pager-Alarmierung sowie Auftrags- und Statusübermittlung. Alle relevanten Systeme sowohl in der Hauptzentrale als auch in der Rückfalleinsatzleitzentrale sind einheitlich, vollständig unabhängig voneinander und mit jederzeit identischem Datenbestand hochverfügbar einsetzbar. Eine Schulungs- und Simulationsumgebung befindet sich am alten ELZ-Standort in Zürich. Hier können alle möglichen und denkbaren Einsatzfälle für Schulungen gleichsam 1:1 am System trainiert werden. So können MANV-Ereignisse direkt im Team abgearbeitet und ausgewertet werden, ohne den Live-Betrieb zu stören. Weiterhin finden sich in der neuen Einsatzleitzentrale Kameraanzeigen und Video-Streaming von über 500 Kamerastandorten von Autobahnabschnitten, Ausfahrten von Einsatzkräften, Verkehrstunneln und neuralgischen Standorten. Vorgesehen ist auch eine eigene Schichtund Dispositionsinsel, von der aus dann alle Einsätze

Abb. 4: Im Tactical Operations Center (TOC) werden ebenfalls zwei vollwertige ELZ-Arbeitsplätze zur Führung bei Groß- und Sonderlagen eingerichtet

koordiniert und disponiert werden. Im Weiteren wird auch das bestehende Abfragesystem der Priority Dispatch® (USA) abgelöst. Zwei Arbeitsgruppen werden bis Ende 2011 für den Feuerwehrbereich sowie den Rettungsdienst ein vereinfachtes, logisch aufgebautes Abfragesystem entwickeln. Daraus wird dann ein Softwaretool für die Abfrage und die Qualitätssicherung programmiert. In einer folgenden Ausgabe von BOS-LEITSTELLE AKTUELL wird über den aktuellen Stand der ELZ 2011 informiert werden. ❂

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Abb. 1: Kurz vor der Messe Stuttgart kollidierten am 18. Mai 2011 zwei GefahrgutLkw

Gefahrgutunfall auf Autobahn Hilfreiche Ortskenntnis des Disponenten

Autor:   Heiko Schroff Lagedienstführer und Schichtführer,  Integrierte Leitstelle Stuttgart,  heiko.schroff@ stuttgart.de

Auf der rechten Fahrspur der Bundesautobahn A8 in Fahrtrichtung München, kurz vor der Landesmesse Stuttgart, kollidierten am 18. Mai 2011 zwei Gefahrgut-Lkw. Zwei Personen wurden dabei verletzt und mussten durch die Feuerwehr gerettet sowie erstversorgt werden. Aus einem dieser Lkw trat ein organisches Lösungsmittel (Butylacetat, sogenannter Essigsäureester) aus. Aus dem zweiten Lkw trat Benzin (Ottokraftstoff) aus, beides verbreitete sich auf der Fahrbahn und in der Kanalisation.

Notruf Der Notruf ging um 19.56 Uhr über „112“ in der Integrierten Leitstelle Stuttgart ein. Der Anrufer (dessen deutsche Sprachkenntnisse sehr gering waren) meldete einen Unfall zweier Lkw auf der Autobahn. Die genaue Örtlichkeit konnte er nicht nennen, nur über die Bebauung entlang der Autobahn konnte der Bereich und die Fahrtrichtung eingegrenzt werden. Über den Unfall und das genaue Ausmaß ließ sich 20

ebenfalls wenig erfragen. Die Angaben ließen vermuten, dass es sich um mindestens einen beteiligten Gefahrgut-Lkw handelte. Starke Hintergrundgeräusche durch den fließenden Verkehr erschwerten die Notrufabfrage zusätzlich. Nachdem nicht eindeutig klar war, ob bei dem Unfall Gefahrgut austritt, entschied sich der Disponent gemäß Alarm- und Ausrückeordnung (AAO) einen Gefahrstoffunfall 3 Chemie zu alarmieren. 1 · 2011 | 1. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 20


KASUISTIK

Problemfelder Selten kann ein Notrufer von der Autobahn den genauen Autobahnkilometer mitteilen. Um die Örtlichkeit genauer zu bestimmen, gibt es folgende Möglichkeiten: Ausfahrten, Wegweiser, Bebauung entlang der Autobahn, Werbetafeln, Brücken, das Hilfemenü der meisten Navigationssysteme und GPS-Koordinaten von modernen Mobiltelefonen. Genaue Ortskenntnis des Disponenten hat in dem beschriebenen Fall dazu geführt, dass der richtige Abschnitt bestimmt werden konnte. Obwohl die Lage unklar war, entschied sich der Disponent, einen Gefahrstoffunfall zu eröffnen. Dieses System hat sich wiederholt bewährt, vor allem vor dem Hintergrund, dass die Anfahrten auf Autobahnen häufig länger und – je nach Fahrtrichtung und Zufahrtsmöglichkeit – schwierig sind. Ergibt die Lageerkundung der ersteintreffenden Kräfte andere Informationen, können die Sondereinsatzmittel die Anfahrt abbrechen. Ordnung des Raumes Um eine räumliche Ordnung der gleichzeitig anfahrenden Rettungskräfte vornehmen zu können, ist die Bildung eines Bereitstellungsraumes unabdingbar. Im Bereich einer Bundesautobahn (BAB) ist dies jedoch anfänglich meist nur vor den Zufahrten zur BAB möglich. Im beschriebenen Fall wurden daher bis auf den ersten Leitungsdienst als Erkunder alle Fahrzeuge in einen Bereitstellungsraum im Bereich der Bundesstraße 27 – Zufahrt zur BAB A8 durch die Integrierte Leitstelle (ILS) eingewiesen. Im weiteren Einsatzverlauf wurden dann an mehreren Zufahrten bzw. auch auf einer nahen Feuerwache Bereitstellungsräume für Einsatzkräfte und Nachschubmaterial eingerichtet. Dies war jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt und nach intensiver Erkundung durch die Einsatzleitung vor Ort in Zusammenarbeit mit der Leitstelle möglich. Erste Lage und Nachforderungen Nach der ersten Erkundungsphase kamen von der Einsatzstelle zahlreiche Lagemeldungen und Nachforderungen von Wasser, Schaummittel und Führungshilfsmittel an die ILS. In dieser Phase übernahm der Lagedienstführer die Zusammenstellung der nachgeforderten Einsatzmittel. Es wurden die Flughafenfeuerwehr mit einem HTLF und einem Flugfeldlöschfahrzeug, zwei TLF 24/50 der Freiwilligen Feuerwehr Stuttgart und der ELW 2 mit Führungsgruppe alarmiert. Parallel hierzu meldete sich der diensthabende Zugführer der benachbarten Messefeuerwehr bei der Einsatzleitung. Durch dessen Ortskenntnis konnte von einem Überflurhydranten eine gesicherte Wasser1 · 2011 | 1. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 21

Alarmierte Kräfte •

Direktionsdienst

örtlich zuständiger Löschzug Feuerwache 5

Gefahrgutzug Feuerwache 2

Sonderfahrzeuge: Messleitfahrzeug, WLF mit Abrollbehälter Sonderlöschmittel, Abrollbehälter Atemschutz und Abrollbehälter Umweltschutz/Land

Freiwillige Feuerwehrabteilungen zur Unterstützung

Organisatorischer Leiter RD

1 Notarzt, 2 Rettungswagen und eine Schnell-Einsatz-Gruppe

versorgung aufgebaut werden. Eine weitere Nachforderung von wasserführenden Fahrzeugen konnte somit verworfen werden. Um dem immer stärker werdenden Kommunikationsbedarf gerecht zu werden, besetzte der Lagedienstführer einen Sonderlageplatz der die komplette Abwicklung des Einsatzes übernahm. Leitstellenverstärkung und Organisation Das hohe Einsatzaufkommen durch parallele Einsätze und die vielen notwendigen Recherchen für den Gefahrguteinsatz machten eine Aufstockung der Leitstelle schnell unabdingbar. Zunächst wurde die Leitstellenverstärkung durch einen Disponenten der Feuerwache alarmiert, über Digitale Meldeempfänger (DME) sowie Telefonalarm-Server wurden dann weitere Disponenten und Lagedienstführer alarmiert. Nach dem Eintreffen von dienstfreiem Personal gestaltete sich die Struktur in der Leitstelle folgendermaßen: Der Sachgebietsleiter übernahm die Gesamtverantwortung, der bisherige Lagedienstführer mit zwei Disponenten den Gefahrstoffeinsatz auf der Autobahn. Für die tägliche Gefahrenabwehr wurde ein dienstfreier Lagedienstführer mit dienstfreien Disponenten eingesetzt. Durch eine Doppelbesetzung der wichtigen Arbeitsplätze konnte ohne Wissensverlust über viele Stunden hinweg gearbeitet werden, da sich die Teams abwechselten. Um solche Einsätze meistern zu können, ist es unerlässlich, bereits in der frühen Phase innerhalb der Leitstelle genaue Aufgabenzuordnungen vorzunehmen bzw. nochmals alle Mitarbeiter auf die vorgeplanten Strukturen hinzuweisen. Diese Strukturen müssen aber auch an den Einsatzstellen bekannt sein und eingehalten werden. Gleiches gilt für eine baldige Funkkanaltrennung bzw. eine Aufschaltung von Leit- und/oder Lokalkanälen. Grundschutz für das Stadtgebiet Die AAO der Feuerwehr Stuttgart sieht vor, dass, wenn mehrere Löschzüge der Berufsfeuerwehr im Ein21


KASUISTIK

Abb. 2: An beiden verunfallten Lkw trat Gefahrgut aus

satz sind, die verwaisten Feuerwachen durch Einheiten der Freiwilligen Feuerwehr (FF) besetzt werden. Hierzu gibt es in der AAO vordefinierte Einheiten der FF für die Feuerwachen. Da an diesem Abend aber einzelne FF-Abteilungen bereits in Einsätzen gebunden waren und einzelne Fahrzeuge nicht zur Verfügung standen, musste hier die ILS gesondert zur AAO alarmieren. Hier hat es sich bewährt, dass für den Grundschutz ein separater Lagedienstführer eingeteilt war. Aufgrund der abendlichen Stunden gab es seitens der Freiwilligen Feuerwehr beim Personal keine Engpässe. Da in Stuttgart sehr häufig Wachbesetzungen alarmiert werden, ist auch im Einsatzleitsystem die Ausrückefolge so definiert, dass Einheiten der FF, die zur Wachbesetzung auf einer Wache einsatzbereit sind, vom Leitsystem automatisch berücksichtigt werden. Hierbei unterdrückt das System auch automatisch die Erreichbarkeiten ihrer Heimatwachen, damit noch am Standort befindliches Personal nicht zusätzlich und unnötiger Weise alarmiert wird. Diese Voreinstellungen entlasten die Arbeitsabläufe enorm. Nachforderung von Auffangkapazitäten Im weiteren Verlauf forderte die Einsatzleitung insgesamt Auffangkapazitäten für 30.000 Liter nach. Als erstes wurde seitens der Leitstelle versucht, Ersatzfahrzeuge der betroffenen Speditionen zu organisieren, was aber aufgrund der späten Abendstunden nicht gelang. Die Kontaktierung anderer Firmen stellte sich ebenfalls als schwierig und zeitintensiv heraus. In Nachschlagewerken der Leitstelle verfügbare Telefonnummern waren teilweise veraltet oder es meldete sich niemand. Im Internet verfügbare 22

Nummern sind außerhalb der Geschäftszeiten nicht besetzt. Aus diesem Grund entschied die Einsatzleitung dann, Feuerwehren aus dem Umland zu alarmieren. Aus Pforzheim, Esslingen und Waiblingen wurden jeweils ein WLF mit Behältern von je 10.000 Liter Fassungsvermögen angefordert. Diese wurden zentral auf der Feuerwache 5 bereitgestellt und nach Bedarf der Einsatzstelle mit Lotsenfahrzeugen der Feuerwehr zugeführt. Diese eigenständige Lotsung durch die Feuerwehr hat sich bewährt: „Feuerwehr spricht mit Feuerwehr“; gleiche „Sprache“, gleicher Funkkanal. Bei Lotsun­gen durch die Polizei wurden zwar Einheiten der Feuerwehr eingespart, aber es traten Probleme bei der Kommunikation auf. Die gefüllten Behälter wurden noch in der Nacht auf Betriebshöfen von Spezial­unternehmen, zu denen die Feuerwehr rund um die Uhr zutritt hat, abgestellt und am Folgetag entleert und gereinigt. Pressearbeit Dass die Einsatzstelle von großem Interesse bei­ vielen Pressevertretern sein wird, war schnell klar. Der Pressesprecher der Feuerwehr Stuttgart war bereits automatisch per SMS informiert worden. Da die Einsatzstelle weiträumig abgesperrt war, wurde in Absprache mit der Einsatzleitung entschieden, vorerst keine Pressearbeit vor Ort zu machen, sondern sehr schnell eine Pressevorinformation per E-Mail (üblicher PresseMail-Verteiler der Leistelle) zu versenden. Zur Unterstützung bei dieser Maßnahme kam der Pressesprecher in die Leitstelle. Zur ersten Presse­information konnte auch bereits ein Übersichtsbild mit versendet werden. Durch diese Maßnahme konnte der Ein­satzleiter vor Ort von der Pressearbeit entlastet ­werden. Alle Anfra1 · 2011 | 1. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 22


KASUISTIK

gen wurden durch den Pressesprecher in der Integrierten Leitstelle beantwortet. Er stand im ständigen Kontakt mit der Einsatzleitung. Durch die Bildstelle der Feuerwehr Stuttgart wurden sehr viele, zum Teil auch spektakuläre Einsatzbilder gefertigt. Diese wurden noch in der Nacht auf der Homepage der Feuerwehr Stuttgart veröffentlicht. Durch diese offensive Pressearbeit, konnte die Einsatzleitung vor Ort massiv entlastet werden. Trotzdem drängten im Verlauf des Einsatzes insbesondere Kamerateams an die Einsatzstelle. Sie wurden gesammelt und dann durch die Einsatzstelle geführt. Im Verlauf des gesamten Einsatzes, auch noch am Folgetag, waren immer wieder zahlreiche Presseanfragen und Interviewwünsche seitens der Feuerwehrsprecher zu beantworten. Verständigungen Nicht nur die Presse musste umfassend verständigt werden, zur Einsatzabarbeitung gehört auch die Verständigung nachgeordneter Stellen wie Amtsleiter, städtischer Referate und zuständiger Ämter sowie des Bezirksbrandmeisters und Landesbranddirektors. Für diese Stellen sind automatische Informationen per SMS keinesfalls ausreichend. Hier müssen Daten und Fakten durch den Lagedienstführer gesammelt, bewertet und in Absprache mit dem Einsatzleiter weitergegeben werden. Oftmals reicht dies jedoch nicht aus, stattdessen sind direkte Kontakte zwischen Einsatzleiter und nachgeordneten Stellen erforderlich. Hier muss darauf geachtet werden, dass alle Informationen und Absprachen sehr diszipliniert in einem System dokumentiert werden.

wie in einer Leitstelle festgelegte Standards und Strukturen bei der Notrufabfrage. Die konsequente Aufteilung in Sonderlage und Tagesgeschäft mit eigenem Lagedienstführer hat sich bewährt. Alle Beteiligten haben sich diszipliniert an die Einsatzplanung zu halten, es können sonst unnötige Belastungen an den Schnittstellen entstehen. Eine schnell verfügbare Leitstellenverstärkung ist ständig vorzuhalten. Ohne die schnelle Auf­ stockung in der Leitstelle sind solche Großein­sätze parallel zum Tagesgeschäft nur schwer zu bewältigen. ❂

Abb. 3: Die Integrierte Leitstelle Stuttgart

Übergabe/Personalwechsel Da schnell absehbar war, dass der Einsatz länger dauern würde und häufigen Personalwechsel durch den Einsatz von Chemikalienschutzanzügen erforderlich machen würde, galt dem Personalnachschub besonderes Augenmerk. Nur bei einer zentralen Planung können wirklich alle Belange berücksichtigt werden. Es hat sich bewährt, ein Gesamtkonzept zu erstellen, bei dem die Leitstelle und die Wachbesetzungen mit berücksichtigt wurden. So konnten Einheiten gezielt in die Pause gehen und wussten vorher, ab wann sie wieder zur Einsatzstelle mussten. Durch die Vollsperrung der Autobahn kam es bei den Ablösekräften der Berufsfeuerwehr zwangsläufig zu Verzögerungen, da die Umleitungsstrecken hoffnungslos überlastet waren. Fazit Eine gezielte Einsatzplanung im Vorfeld ist unabdingbar und erleichtert die Abarbeitung ebenso 1 · 2011 | 1. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 23

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ORGANISATION

Das Unvermeidbare vermeidbar machen: Machen Sie Fehler –   aber sprechen Sie darüber Autor:                     Daniel Sievers Landkreis Barnim  Ordnungsamt  Integrierte Regionalleitstelle NordOst  Stv. Leiter Leitstelle  Eberswalder Str. 41a  16227 Eberswalde  d.sievers@irlsnordost.de Abb. 1: „Hochleistungsbetrieb Leitstelle“: Innerhalb von Sekunden entscheiden Menschen für den Einsatzerfolg – nicht immer ist das ganz ohne Fehler möglich

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Machen Sie eigentlich Fehler? Was ist das für eine Frage! Über Fehler spricht man nicht, wir sind doch Profis, und was würde man in der Öffentlichkeit von unserer Leitstelle halten? Und so lange sich niemand über uns beschwert, läuft doch alles rund in der Leitstelle, oder etwa nicht? Also geht es weiter wie bisher, denn das haben wir schon immer so gemacht. Kommt Ihnen das irgendwie bekannt vor? Haben Sie Ähnliches vielleicht von Ihren Vorgesetzten zu hören bekommen? Wenn ja, dann lassen Sie sich im Folgenden von einem innovativen System inspirieren, das sich recht einfach in jeder Leitstelle implementieren lässt – wenn man es will.

Sonntagnacht im Februar, 3.26 Uhr. Rüdiger R. blickt müde auf die Telefonanlage während er mit der aufgeregten Anruferin spricht, die von ihrem 55-jährigen Ehemann mit bekannter COPD berichtet, der sehr schlecht Luft bekommt. „Aha. Wie lange ist das denn schon so?“, fragt er etwas gelangweilt. Während er überlegt, ob er noch etwas fragen muss, öffnet er die Eingabemaske und gibt die Einsatzdaten in die elektronische Einsatzbearbeitung ein. „Ja, ist gut. Ich schick jemanden“, beendet er das Gespräch, während er einen RTW alarmiert. COPD. Alles Routine. Nichts Besonderes. Der RTW trifft nur wenige Minuten später ein. Vor Ort stellt sich die Situation anders dar: Das Team trifft auf einen im Badezimmer liegenden agonalen Mann mit ausgeprägter Zyanose und Schnappatmung.

Der Patient erweist sich als reanimationspflichtig, ein NEF wird nachgefordert. „Das hätte mir die Ehefrau ja mal sagen können, dass ihr Mann schon blau ist“, murmelt Rüdiger R. Sein Kollege sieht das völlig anders, und schon ist die Diskussion entfacht. „Du bist für den Notrufdialog verantwortlich“, giftet er ihn an. Ein Fehler? Was denken Sie? Entscheiden Sie sich dafür, dass Rüdiger R. ein Fehler unterlaufen ist, stellt sich die Frage, wie die Abfragesituation des Notrufdialogs hätte anders verlaufen können. Auch wenn der RTW nach wenigen Minuten am Einsatzort eingetroffen ist – unser Patient hat leider nicht überlebt. Oder handelte es sich um einen von den Notfallpatienten, denen man „schicksalhaft“ nicht hätte retten können? In der Leitstelle entstand eine lebhafte Diskussion zwischen den beiden Kollegen. Und damit war sie da – die Geburtsstunde des Fehlermanagements in dieser Leitstelle. Die Anfänge des Fehlermanagements reichen weit mehr als 30 Jahre zurück und fanden ihren Ursprung in der zivilen Luftfahrt ausgehend vom Crew Resource Management (CRM). Es basiert auf der Erkenntnis, dass „menschliches Versagen“ in über 60% aller dokumentierten Fehlerereignisse als ursächlich gilt. Zu den häufigsten Fehlerursachen zählen kognitive Überlastung, Übermüdung, hohe Arbeitsbelastung und vor allem Kommunikationsdefizite in einem Team. Vielleicht kommen Ihnen diese Ursachen irgendwie bekannt vor. Der offene Umgang mit Schwachstellen hat sich heute gemeinsam mit dem CRM zu einem festen Bestandteil in der Luftfahrt und auch speziell in der Luftrettung etabliert, um die Sicherheit aller Beteilig1 · 2011 | 1. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 24


ORGANISATION

ten zu erhöhen. Im Mittelpunkt der Fehlerbetrachtung steht nicht der Informant, sondern die Information, was eine Sanktionsfreiheit und hohes Vertrauen in die Funktionalität des Systems erforderlich macht. Inzwischen findet man erfolgreich verlaufende Ansätze eines bewussten Umgangs mit Fehlverläufen sowohl im klinischen als auch schon vereinzelt im präklinischen Bereich (siehe dazu RETTUNGSDIENST 7/2011, S. 42 ff.). Vertrauen bedeutet, keine Angst vor Sanktionen oder Bestrafung erwarten zu müssen, wenn über einen Fehler in offener Form kommuniziert wird. Um sich nicht an den Pranger stellen zu müssen, kann und sollte das Fehlermanagement auf der Möglichkeit der Anonymisierung basieren. Andernfalls besteht die Gefahr, dass eine Vorsortierung stattfindet, welche Fehlereignisse aus Angst vor Repressionen nicht in das bestehende System einfließen. Mit der Zeit wachsen Vertrauen und Erkenntnis darüber, welche Vorteile ein solches System mit sich bringt. Aber welche Vorteile sind das? Jedem von uns ist natürlich durchaus bewusst, dass nicht immer alles rund läuft. Das gilt für das Privatleben genauso wie für den Dienst in der Leitstelle. Während aus persönlichen Fehlverläufen und -entscheidungen im Privatleben weniger ein kritisches Ereignis erwächst, sieht das im Leitstellendienst möglicherweise ganz anders aus: Die Arbeit in der Leitstelle zeichnet sich durch besondere Eigenschaften aus, die sich auf hohe psychische, aber auch physische Belastungen, hohe Anforderungen und zeitkritischen Entscheidungsdruck erstrecken und auf das Leben von Menschen mitunter großen Einfluss haben. Das Arbeitsfeld einer Leitstelle gehört nicht ohne Grund zu den Hochrisikobereichen, zu denen ebenso die Luftfahrtbranche und der Bereich der Notfallmedizin zählen. Die Entscheidungen der Leitstelle haben entscheidenden Einfluss auf den Einsatzverlauf und nehmen so großen Einfluss auf das gesundheitliche Wohlergehen von Menschen. Umso mehr sollten einzelne Prozesse dieser Bereiche in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit geraten. Das geschieht mit dem aus dem Fehlermanagement hervorgehenden Critical Incident Reporting System (CIRS), das bestehende Schwachstellen aufdeckt und die Möglichkeit offenbart, diese zu beseitigen, bevor ein Schaden daraus erwachsen kann. Eine Chance, die nicht ungenutzt bleiben sollte, denn oftmals gibt es über Beinahe-Schädigungen – dazu gehören Fehlverläufe, die (noch) zu keinem Schaden geführt haben – keinerlei Informationen. Es ist schließlich noch einmal alles gut gegangen, und so lange sich niemand beschwert, heißt es an dieser Stelle lapidar „Schwamm drüber“ und weiter geht’s. 1 · 2011 | 1. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 25

Das CIRS bietet eine Plattform, jegliche Art von Fehlverläufen (anonym oder nicht) erfassen zu können, um in einem „lernenden System“ künftige Fehlverläufe und damit Schädigungen auszuschließen. Vormals mangelnde Informationsstände sollen sich umkehren. Fehler sind unausweichlich, aber sie sollen nicht unausweichlich gefährlich werden. Deshalb müssen sie erfasst, analysiert und durch entsprechende Maßnahmen für die Zukunft ausgeschlossen werden. Der einzelne Fehler, so störend er auch sein mag, bietet – wenn er bekannt gemacht, analysiert und beseitigt wird – die Chance, diesen Fehler nicht zu wiederholen und damit das System Leitstelle besser und sicherer zu machen. Wie solch ein System in der Leitstellenpraxis aufgebaut werden kann, soll im Folgenden näher betrachtet werden.

Abb. 2: Elektronisches Eingabeformular einer Störung

Die Basis heißt Vertrauen Das CIRS darf nicht in einer „Blackbox“ versteckt werden, in der vereinzelte Personen etwas aufzubauen 25


ORGANISATION

Zeit zugänglich ist. Der Ablaufprozess eines CIRS könnte folgendermaßen aufgebaut sein:

Abb. 3: Ausgangsmaske des elektronischen internen Störungs- und Verbesserungsmanagements – kritische Vorgänge werden in getrennten Bereichen als Störungen erfasst

1. Ein unerwünschtes Ereignis/ein Fehler wird festgestellt. 2. Es erfolgt eine Eingabe über das Intranet-System. 3. Das CIRS-Team übernimmt die Analyse des Vorgangs und leitet notwendige Maßnahmen aus dem Ereignis ab. 4. Es wird ein Bericht erstellt, der für alle Bediensteten der Leitstelle sichtbar ist. 5. Gemeinsam mit dem Qualitätsmanagement­ beauftragten werden Vorbeugemaßnahmen ermittelt und umgesetzt.

Abb. 4: Kommunikationszentrale: Neben Störungen können auch Verbesserungsvorschläge erfasst und bearbeitet werden

Abb. 5: Das System fortwährend aktuell halten, erkannte Datenänderungen werden direkt in das zentrale Erfassungssystem eingegeben

versuchen, die Mitarbeiterschaft aber gar nicht genau weiß, was darin eigentlich vor sich geht. Und dann wird auch noch über Fehler gesprochen – hier sind unüberwindbare Vorbehalte und möglicherweise sogar persönliche Ängste vorhersehbar. So früh wie möglich sollte über das System und dessen Hintergründe offen und transparent informiert werden. Es sollte als für alle Beschäftigten Vorteile bringender Baustein des Qualitäts- und Risikomanagements verstanden werden, das aus der Mitte heraus gemeinsam in einem Team aufgebaut und nicht „von oben“ auferlegt werden darf. Verbindliche Regeln müssen definiert und niedergeschrieben werden. Von der Leitstellenleitung wird Empathiefähigkeit verlangt, denn die Basis des CIRS heißt Vertrauen – offen mit dem sensiblen Thema Fehler umzugehen und sich genauso frei mit anderen Personen unter zugesicherter Sanktionsfreiheit austauschen zu wollen. Der Aufbau des CIRS sollte in einem Prozesskreis verarbeitet und in einer Prozessbeschreibung dargelegt werden. Als Plattform bietet sich ein papierloses Intranet-System an, das allen Mitarbeitern zu jeder 26

Das CIRS-Team übernimmt die zentrale Lenkung Dem einzurichtenden CIRS-Team (analog zu einem QM-Zirkel) kommt eine zentrale Bedeutung zu. Es nimmt sämtliche Meldungen entgegen und wertet sie innerhalb eines zu definierenden zeitlichen Rahmens aus. Vom CIRS-Team werden aus den einzelnen Ereignissen die notwendigen Vorbeugemaßnahmen abgeleitet, die in einem nächsten Schritt gemeinsam mit dem Qualitätsmanagementbeauftragten (QMB) umgesetzt werden. Dem CIRS-Team wird somit die zentrale Aufgabe im Gesamtsystem zuteil. Um zu vermeiden, dass über den Zeitpunkt der Meldungsabgabe Rückschlüsse auf die meldende Person möglich sind, kann ein Intranet-System so eingerichtet werden, dass es alle eingehenden Meldungen zwischenspeichert und erst zu einem zu definierenden Zeitpunkt (z.B. täglich um Mitternacht) an das CIRS-Team zugestellt werden. Um den Rückhalt aller Beschäftigten sicherzustellen, sollte das CIRS-Team nicht „von oben“ vorgesetzt, sondern bestenfalls über ein geheimes Wahlverfahren innerhalb interessierter Mitarbeiter zusammengestellt werden. Transparenz in allen Vorgängen Es kann nicht oft genug herausgestellt werden, dass die Basis eines CIRS uneingeschränktes Vertrauen darstellt, denn ohne die freiwillige Partizipation aller Beschäftigten verkommt das Fehlermanagement zu einer stieseligen Einrichtung, die Chance, das Leitstellensystem besser und vor allem sicherer zu machen, verstreicht ungenutzt. Transparenz nimmt eine ganz besondere Bedeutung ein. Erreicht wird sie durch die geschaffene Möglichkeit, sich jederzeit einen Stand über die Bearbeitung von Meldungen einholen zu können. In einem Intranet-System kann das erreicht werden, indem für jede Meldung (ob anonym abgege1 · 2011 | 1. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 26


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ben oder nicht) eine Vorgangsnummer erstellt wird, anhand derer sich der jeweilige Bearbeitungsstatus oder bereits ein entwickelter Maßnahmenkatalog abrufen lässt. Zusätzlich werden in regelmäßigen Abständen Reports erstellt, in denen ganz allgemein von den abgegebenen Meldungen und daraus resultierende Maßnahmen berichtet wird. Für jeden ist erkennbar, was mit den Eingaben geschieht. Das grundlegende Prinzip, „Begehe Fehler – aber sprich darüber“, wird an dieser Stelle ganz besonders deutlich. Zurück zu Rüdiger R., der sich gemeinsam mit seinem Kollegen Gedanken über einen Fehler und möglicherweise bestehende Schwachstellen im Abfrageprozess gemacht hat. Was könnte noch verbessert werden, um die Lagebeurteilung ermittelter Notfallsituationen zu jeder Tages- und Nachtzeit zu optimieren? Nach entsprechender Eingabe des Falls im Critical Incident Reporting System erarbeitet das CIRS-Team gemeinsam einen Katalog von Verbesserungsmöglichkeiten, bei denen neue Standardprozesse bei der Notrufbearbeitung in den Vordergrund rücken und wenig später in die Umsetzung gelangen.

Praxistipp Das CIRS kann als zentrale Kommunikationsplattform in ein komplexes Störungs- und Verbesserungsmanagement erweitert werden. So lassen sich über das Intranet nicht nur allgemein Fehlverläufe (Störungen), sondern auch Datenkorrekturen oder Verbesserungen über separate Eingabemasken erfassen und an verschiedene Adressaten zur Weiterbearbeitung versenden. Im Falle eines zu korrigierenden Datensatzes kann dieser z.B. im System erfasst und an die Systemadministration zur Weiterbearbeitung versendet werden. Gleiches gilt für Verbesserungen, die sich aus dem täglichen Leitstellendienst heraus ergeben und nicht zurückgehalten, sondern sogleich an die richtige Stelle (z.B. an den QMB) übermittelt werden sollten. Ideen zu möglichen Verbesserungen sind bedeutendes Potenzial zur Optimierung von Leitstellenprozessen. Das System beschränkt sich künftig nicht ausschließlich auf Fehler, sondern entwickelt sich zu einer zentralen Kommunikations- und Steuerungsplattform in einem praxisnahen und zukunftsweisenden Qualitätsmanagementsystem. ❂

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MENSCH

Abb. 1: Einsatzleitplatz in der IRLS Süd

Gefährdungsbeurteilung in einer Integrierten Leitstelle Teil 1: Grundlagen Autoren: Michael Günther Sören Makel Patrick Watzke Markus Hilchenbach

In einer dreiteiligen Serie wird BOS-LEITSTELLE AKTUELL über den Arbeitsschutz in einer Inte­ grierten Leitstelle berichten. Im Fokus steht die Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung, die in Kooperation mit der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, Fakultät Life Sciences und der Integrierten Regionalleitstelle Süd mit Sitz in Bad Oldesloe durchgeführt wurde. Diese Gefährdungsbeurteilung untersucht den Arbeitsplatz eines Einsatzsachbearbeiters unter den Einflussfaktoren von Lärm, Stress, Klima und Licht. Dazu wurden gezielt arbeitsbereichs- und tätigkeitsbezogene Untersuchungen durchgeführt. Ziel ist es, die Gefährdungen bzw. Belastungen zu analysieren und mit den Vorgaben zum Arbeitsschutz und gängigen Empfehlungen zu verknüpfen. Dadurch sollen erstmals auch für Leitstellen Handlungsmöglichkeiten zur Durchführung der gesetzlich geforderten Gefährdungsbeurteilung gegeben werden. Die kritische Untersuchung einer 112-Leitstelle hat damit einen hohen praktischen Wert für einen reibungslosen Betrieb im „Tagesgeschäft“.

Anhaltende Kopfschmerzen, extreme Abgeschlagenheit, Motivationslosigkeit, Unkonzentriertheit und unkontrollierte Stress-Effekte sind nur ein Teil der Symptome, die vor, nach und während der Arbeit in Leistellen auftreten und auf einen nicht ergonomischen Arbeitsplatz hinweisen können. Zudem führt 28

nicht selten die dauerhafte psychische und physische Belastung am Arbeitsplatz zu Herzkreislaufproblemen bis hin zum Herzinfarkt (6, 8). Eine der wichtigsten Voraussetzungen und selbstverständliche Pflicht für die Arbeit in der Leitstelle ist ein funktionierender und leistungsfähiger Arbeitsablauf auf hohem quali1 · 2011 | 1. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 28


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tativen Niveau. Die Beschäftigung von qualifiziertem und motiviertem Leitstellenpersonal ist deshalb unbedingte Voraussetzung. Aus diesem Grund sind auch die Arbeitsplätze in Leitstellen „so zu gestalten, dass sie der Natur des Menschen gerecht werden. Damit werden die Gesundheit der Mitarbeiter geschützt, die Zufriedenheit erhöht und die Arbeitsqualität verbessert.“ (1) Lärm, Stress, falsche Beleuchtung und schlechte klimatische Bedingungen können dazu beitragen, dass die Tätigkeit in diesem Hochrisiko-Tätigkeitsfeld erheblich beeinträchtigt wird. Die Beurteilung der Arbeitsplätze hinsichtlich ihrer möglichen Gefährdungen und Belastungen kann dabei helfen, die Arbeitsplätze in der Leitstelle so zu gestalten, dass nicht nur die Gesundheit gefördert, sondern auch die Arbeitsqualität und die Zufriedenheit des Leitstellenpersonals erheblich gesteigert wird. Etwaige Investitionen lohnen sich daher in mehrfacher Hinsicht (4). Als Untersuchungsumgebung wurde die Integrierte Regionalleitstelle Süd (IRLS Süd) mit Sitz in Bad Oldesloe ausgewählt. Sie ist zuständig für die Kreise Stormarn und Herzogtum Lauenburg und wird vom Kreis Stormarn als Träger der Leitstelle als eigenständige Einrichtung geführt. In den beiden Landkreisen zusammen leben ca. 415.000 Einwohner. Die ländliche Struktur wird durch die südlichen Gebiete der beiden Kreise aufgebrochen, die direkt an die Hansestadt Hamburg angrenzen. Im Jahr des Untersuchungszeitraumes wurden ca. 310.000 Anrufe in der IRLS Süd geführt. Die Zusammenführung der beiden Kreisleitstellen führte zu einer deutlich spürbaren Mehrbelastung der Einsatzsachbearbeiter an den Einsatzleitplätzen (ELP). Da für die Zusammenlegung der Kreisleitstellen von den Kostenträgern nur die Prüfung der Wirtschaftlichkeit durch Gutachten gefordert wird, ist die Betrachtungsweise der Belastung der Einsatzsachbearbeiter bisher vernachlässigt worden und für die Feststellung der Wirtschaftlichkeit zunächst ohne Bedeutung. Durch einen Gutachter wurden für die Aufgabenbewältigung in der IRLS Süd von Montag bis Freitag in der Zeit von 7.00 bis 20.00 Uhr drei besetzte Einsatzleitplätze (ELP) bemessen, in der Zeit von 20.00 bis 7.00 Uhr zwei Einsatzleitplätze. An Wochenenden und Wochenfeiertagen sind in der Zeit von 10.00 bis 18.00 Uhr drei, in den restlichen Zeiten wiederum zwei Einsatzleitplätze besetzt. Bei personalintensiven Sonderlagen wird dienstfreies Personal zur Besetzung zusätzlicher Einsatzleitplätze alarmiert. Der Dienstplan wurde auf der Basis aktu1 · 2011 | 1. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 29

eller gesetzlicher Bestimmungen erstellt und wird im Dreischicht­system bei Vollarbeitszeit durchgeführt. Die Autoren traten im Herbst des Jahres 2009 an die Leitung der IRLS Süd heran, um die im Folgenden beschriebene Untersuchung durchzuführen. Die Ergebnisse dieser Untersuchung fließen in künftige Planungen der IRLS Süd sowohl im Personalmanagement als auch in die Gestaltung und Ausstattung der Leitstelle mit ein. Theoretische Grundlagen Generell und insbesondere bei der Planung oder Erneuerung von Leitstellen ist darauf zu achten, dass der Arbeitsschutz im vollen Umfang eingehalten wird, denn die Regelungen zum Arbeitsschutz gelten auch für die Einrichtungen der öffentlichen Hand. Es ist also sinnvoll, bereits bei etwaigen Ausschreibungen von Leistungen an den Arbeitsschutz zu denken (1). Mit der Novellierung des Arbeitsschutzgesetzes (ArbschG) im Jahre 1996 wurde die Struktur einheitlicher und das Gesetz somit handhabbarer. Seitdem existiert eine neue Rechtsgrundlage für den Arbeitsund Gesundheitsschutz in allen Betrieben und Verwaltungen. Zielsetzung und Anwendungsbereich des Arbeitsschutzgesetzes ist es (§1 ArbschG), die Sicherheit und den „Gesundheitsschutz der Beschäftigten Abb. 2: Messung in der Raummitte

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auf Basis einer Gefährdungsbeurteilung mit anschließender Dokumentation. Die Gefährdungsbeurteilung und eine Dokumentation sind für alle Betriebe obligatorisch und in §§ 5 und 6 ArbschG vorgeschrieben. Die Gefährdungsbeurteilung ermöglicht dem Arbeitgeber die leichtere Wahrnehmung seiner Pflichten bezüglich der Unterweisung (3) und Unterrichtung seiner Mitarbeiter über Gefährdungssituationen am Arbeitsplatz und bereits getroffene Maßnahmen zum Schutz gem. § 81 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) und §§ 12 und 14 ArbschG. Eine Gefährdungsbeurteilung sollte möglichst für jeden Arbeitsplatz bzw. jede ausgeübte Tätigkeit durchgeführt werden. Dafür ist eine geeignete Variante zu wählen, die für die Beurteilung passend ist. Man unterscheidet zwei Varianten bzw. Arten:

4500 4226 4000 3506

Anzahl Schalldruckpegel

3500 3000 2500 2000 1500 1000 500 0

288

278

0 21 – 30 dB(A)

31 – 40 dB(A)

41 – 50 dB(A)

51 – 60 dB(A)

61 – 70 dB(A)

16

0

0

71 – 80 dB(A)

81 – 90 dB(A)

91 – 100 dB(A)

Schalldruckpegel Abb. 3: Absolute Häufigkeit bei 10-dB(A) Klassen in der Raummitte der IRLS Süd

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bei der Arbeit durch Maßnahmen des Arbeitsschutzes zu sichern und zu verbessern.“ (2) Das Gesetz gilt in allen Tätigkeitsbereichen. Für die Umsetzung des Arbeitsschutzes ist immer der Arbeitgeber zuständig. Das Delegieren von Maßnahmen, die den Arbeitsschutz betreffen, ist nur in einem vorgegeben Rahmen möglich (§ 3 ff. ArbSchG) (2, 3). Bei den Anforderungen an die Arbeitsplätze von Leitstellenpersonal ist besonders die Ergonomie zu berücksichtigen. Unter Ergonomie wird die „Lehre von der der Natur des Menschen entsprechenden Gestaltung der Arbeit und des Arbeitsplatzes“ (1) verstanden. Die ergonomische Planungsleistung von Leitstellenarbeitsplätzen umfasst daher u.a. folgende Hauptbereiche: Standortkriterien, Platzbedarf und Raumgestaltung, Beleuchtung, Akustik, Raumklima, Ästhetik und Wohlbefinden am Arbeitsplatz sowie Tischaufteilungen, Raumaufteilungen, Arbeitsflächen, Stellflächen, Verkehrswege, Benutzerflächen und Fensteranordnungen (4). Selbstverständlich sind neben dem Arbeitsschutzgesetz (ArbschG) auch weitere Richtlinien, Normen, Verordnungen und berufsgenossenschaftliche Vorschriften (BGV) zu beachten (1, 5). Eine Analyse bzw. Erhebung potenzieller psychischer und/oder physischer Gefahren am Arbeitsplatz erfolgt regelmäßig

• Handelt es sich um ortsfeste Arbeitsplätze, kann die Beurteilung „arbeitsbereichs- und tätigkeits­ bezogen“ erfolgen. • Nicht ortsfeste Arbeitsplätze sind überwiegend „berufsgruppen- und personenbezogen“ zu beurteilen (5). Als zentrales Element einer Gefährdungsbeurteilung sollte eine Risikoeinschätzung der festgestellten Gefahren erfolgen und daraus ein Schutzziel abgeleitet werden. Aus dem Schutzziel werden dann ­Maßnahmen zur Vermeidung von Gefahren festgelegt. Bezüglich der Dokumentationspflicht nach § 6 ArbschG hat der Arbeitgeber Unterlagen über das Ergebnis der Gefährdungsbeurteilung, die daraus abgeleiteten Maßnahmen und das Ergebnis der Überprüfung der Wirksamkeit der Maßnahmen aufzubewahren (5). Beurteilung der Lärmwirkungen auf das Personal in Leitstellen Der Begriff Lärm und das, was allgemein darunter verstanden wird, werden normalerweise nicht mit der Arbeit in einer Leitstelle in Verbindung gebracht. Das Personal in Leitstellen wird aber zustimmen, dass Klingeltöne, Alarmierungstöne und lautstarke Gespräche am Telefon oder untereinander mit Kollegen zum Alltag gehören und häufig zu erheblichen Störungen der eigenen Arbeit führen. Die Wirkung von Lärm in Leitstellen wird in der Regel unterschätzt. Es ist bekannt, dass Lärm langfristig zu physischen als auch zu psychischen Problemen bei den Arbeitnehmern führen kann (6). Lärm kann definiert werden als „ein unerwünschtes Geräusch, das zu einer Belästigung, Störwirkung, Beeinträchtigung 1 · 2011 | 1. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 30


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1 · 2011 | 1. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 31

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Anzahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

der Leistungsfähigkeit, besonderen Unfallgefahren oder Gesundheitsschäden führt“ (7). Die Definition macht klar, dass Lärm neben den messbaren Schäden, z.B. am Gehör, auch eine große individuelle Komponente enthält. Lärm kann durch jeden Menschen anders empfunden werden. Der Begriff „Lärm“ setzt sich demnach aus zwei Komponenten zusammen: die subjektive Wahrnehmung und der objektiv messbare Schalldruckpegel in dB(A) (Dezibel (A)). Zentraler Untersuchungsgegenstand einer Gefährdungsbeurteilung in Leitstellen sollte daher immer auch die Bewertung und Beurteilung der Lärmwirkungen sein. Ein Teil der Beurteilungen kann idealerweise bei Neubau- oder Umbaumaßnahmen erfolgen (8, 9). Als Schutzziel ist die sehr geringe bis keine Lärmbeeinträchtigung des Leitstellenpersonals anzustreben. Dafür sind eventuell bestimmte Baumaßnahmen bzw. Veränderungen der Innenausstattung notwendig. Für die vorliegende Gefährdungsbeurteilung in der IRLS Süd wurde daher der sogenannte Schalldruckpegel (dB(A)) mit speziellen Messgeräten über einen ausreichend langen Zeitraum hinweg an verschiedenen Orten in der IRLS gemessen und mit einer speziellen Software ausgewertet. Um auch das individuelle Empfinden von Lärmeinwirkungen durch das Personal der Integrierten Regionalleitstelle erheben zu können, wurde ein dreiseitiger Fragebogen für Leitstellen entworfen, der die Lärmbelastungen jedes einzelnen Mitarbeiters ermitteln kann (9). Im Ergebnis zeigen die Messungen u.a. in der Raummitte der Leitstelle (n = 9.275 Messungen), dass besonders viele Schalldruckpegel in den Bereichen zwischen 41-50 dB(A) und 51-60 dB(A) gemessen wurden (Abb. 3). In einer 8-Stunden-Schicht kann man nach Berechnung des sogenannten äquivalenten Dauerschallpegels daher von einer ständigen Lärmexposition des Leitstellenpersonals in der IRLS Süd von rund 46 dB(A) ausgehen. Dieser Wert ist erst einmal unbedenklich. Bei der Ermittlung der individuellen Belastungen durch Lärm sollten die Mitarbeiter zum einen ihren eigenen Arbeitsplatz (tätigkeitsbezogen) und zum anderen die Räumlichkeit an sich (arbeitsbereichsbezogen) beurteilen. Die arbeitsbereichsbezogene Bewertung ergab, dass die Räumlichkeit von 67% der Befragten als zu laut, von 22% als mittel laut und von 11% als leise empfunden wurde. Die eigenen Arbeitsplätze wurden hingegen von 44% der Befragten als zu laut eingestuft, 44% empfinden ihren Arbeitsplatz als mittel laut und 11% als leise (Abb. 4) (9). Aus den Ergebnissen alleine lässt sich allerdings noch kein Sollkonzept bzw. Schutzziel ableiten. Vielmehr bedarf es gesetzlicher Vorgaben und Empfeh-

6

5

4

3

2

1

0

1= sehr laut

2= laut

Bewertung von Lärm am Arbeitsplatz

3= mittel

4= leise

5= sehr leise/ruhig

Bewertung von Lärm in den Räumlichkeiten gesamt

lungen, anhand derer die Ergebnisse beurteilt werden müssen. Auch wenn primär keine physisch bedenklichen Schalldruckpegel gemessen werden, können erheblich Belästigungen durch Lärm vorliegen! Wie die Ergebnisse der Messungen und Befragungen letztendlich zu werten sind und was für Berechnungen angestellt werden müssen, wird in Teil 2 in der nächsten BOS-LEITSTELLE AKTUELL ausführlich beschrieben.

Abb. 4: Wie beurteilen Sie die Räumlichkeiten und Ihren eigenen Arbeitsplatz in Bezug auf den Geräuschpegel?

Beurteilung der psychischen Belastungen auf das Personal in Leitstellen „Abends nicht einschlafen, nachts nicht durchschlafen und morgens zu früh aufwachen: Schwere Schlafstörungen machen den Alltag von Millionen Arbeitnehmern in Deutschland zur Qual.“ Das schreibt die DAK in ihrem Gesundheitsreport 2010. „Die Hauptursachen sind Stress und Belastungen, die knapp 40 Prozent der Befragten beklagen.“ (13) Eine in Hamburg veröffentlichte Untersuchung des Meinungsforschungsinstitut Forsa enthüllt des Weiteren, dass 63% der deutschen Arbeitnehmer im Job nicht die volle Leistung erbringen können, weil Stressoren auf sie einwirken. Für Unternehmen und Behörden resultieren daraus Kosten in Höhe von 262 Mrd. Euro pro Jahr. (14, 15) „Stress ist ein Ungleichgewicht 31


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Abb. 5: GSR-Kurve eines Einsatzsach­ bearbeiters in der IRLS Süd

von Anforderung und verfügbaren Mitteln, um sie zu bewältigen.“ (10) Im Laufe der Evolution hat sich Stress als eine geniale Überlebensstrategie erwiesen. Bei plötzlichen Gefahrensituationen wird der gesamte Organismus mobilisiert und Energiereserven können freigesetzt werden. Die Norm DIN EN ISO 10075-1 definiert psychische Belastungen als die von außen auf die Psyche einwirkenden Faktoren (10). Diese Belastungen können aus den Arbeitsbedingungen resultieren. So wären z.B. für die Arbeitstätigkeit eines Einsatzsachbearbeiters in einer Leitstelle der Arbeitsauftrag

Abb. 6: Impulsstern

k) Entwicklungsmöglichkeiten

j) I nformation und Mitsprache

a) Handlungsspielraum

i) p assende Arbeitsumgebung

h) passende Arbeitsabläufe

1 1,5 2 2,5 3 3,5 4 4,5 5

g) passende mengenmäßige Arbeit

32

b) vielseitiges Arbeiten

c) g anzheitliches Arbeiten 5 4,5 4 3,5 3 2,5 2 1,5 1

1 1,5 2 2,5 3 3,5 4 4,5 5

5 4,5 4 3,5 3 2,5 2 1,5 1

d) s oziale Rückendeckung

e) Zusammenarbeit f) passende inhaltliche Arbeitsanforderungen

(Art und Umfang der Tätigkeit), die Arbeitsumgebung (z.B. Lärm) und die Arbeitsorganisation (z.B. Arbeitszeit/Schichtdienste und Arbeitsabläufe) zu nennen. Zu den Fähigkeiten, die bei psychischen Belastungen beeinträchtigt werden, sind alle kognitiven Prozesse zu zählen. Dazu gehören all diejenigen Fähigkeiten, die z.B. mit Wahrnehmen, Denken, Erinnern, Empfinden, Bewerten und Verhalten zu tun haben (11). Wie ein Arbeitnehmer die aus seiner Tätigkeit resultierenden Belastungen bewältigt, darüber entscheiden die ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen (10). In der durchgeführten Gefährdungsbeurteilung erfolgen im Rahmen der Arbeitsplatzanalyse verschiedene Datenerhebungen. Dazu gehören persönliche Interviews, die Durchführung eines sogenannten Impulstests zur Analyse der betrieblichen Arbeitsbedingungen und die Datenerhebung mit speziellen Messgeräten (Sense Wear® – Körper-Monitoring-System) zur Individualbeurteilung des Leitstellenpersonals. Durch die Messung der elektrodermalen Leitfähigkeit (Galvanic Skin Response, GSR) wird die grafische Analyse hinsichtlich der Stressbelastungen ermöglicht. Das Sens Wear® Monitoring verwendet dabei physiologische Körpersignale, die von fünf Sensoren (Beschleunigungsmesser in zwei Achsen, Hauttemperatur, Umgebungstemperatur, Wärmefluss und Hautleitfähigkeit/galvanischer Hautwiderstand) den Energieumsatz durch Analyse von Aktivitäts- und Wärmetransfermustern berechnen (12). Mit der Veränderung der elektrodermalen Leitfähigkeit stehen verschiedene vegetative Veränderungen im Körper im Zusammenhang. Abb. 5 zeigt einen 1 · 2011 | 1. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 32


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exemplarischen GSR-Kurvenverlauf eines Mitarbeiters der Leitstelle mit geringen Kompensationsmöglichkeiten für einwirkende Stressoren (9). Der bereits erwähnte Impulstest wird von der Bundesanstalt für Arbeitssicherheit und Arbeitsmedizin als Screening-Verfahren empfohlen (11). Abb. 6 zeigt das Ergebnis der Impulsbefragung und erlaubt eine erste Einschätzung der vorhandenen arbeitsbedingten Beanspruchungen und Kompensationsressourcen in der IRLS Süd (9). Im Teil 3 unserer Serie werden Ihnen neben dem Sens Wear® Monitoring und dem Impulstest als Verfahren der Verhaltensprävention auch die Methodik und die Ergebnisse der Messreihen und Optimierungspotenziale vorgestellt. Beurteilung der raumklimatischen Bedingungen auf das Personal in Leitstellen Die Bedeutung der Berücksichtigung von Klima und Licht in Leitstellen ist nicht neu (1, 4). Gefährdungsbeurteilungen in Leitstellen müssen daher stets die klimatischen Bedingungen und die Lichtverhältnisse beinhalten. Klimatische Bedingungen (Hitze, Kälte, Luftfeuchte) beeinflussen den Menschen in sämtlichen Lebenslagen. Damit der Mensch in verschiedenen Funktionen leistungsfähig bleibt, ist es sinnvoll, gleichmäßige Klimabedingungen an Arbeitsstätten zu ermöglichen. Hierzu müssen Klima, Raumklima, die Wärmeregulation des menschlichen Körpers und andere Einflussgrößen (Abb. 7) betrachtet und bewertet werden, um bauliche und gerätetechnische Maßnahmen in Leitstellen zielführend vornehmen zu können. Außenwände, Fassaden und der Einsatz verschiedener Fenstergrößen sind dabei einige Möglichkeiten. Technisch können Klimaanlagen, Ventilatoren und Lüftungssysteme zur Verbesserung der raumklimatischen Bedingungen beitragen (16). In diesem Zusammenhang wurden in der IRLS Süd Messungen der physikalischen Parameter mit speziellen Messgeräten zu verschiedenen Tages- und Nachtzeiten durchgeführt und bewertet. Die Ergebnisse werden zu einem späteren Zeitpunkt erläutert (9). Beurteilung von natürlichem und künstlichem Licht in Leitstellen Eine große Bedeutung bei der Beleuchtung von Räumen mit Bildschirm- und Büroarbeitsplätzen hat das natürliche Tageslicht. Je nach Tages- und Jahreszeit, Wetter und Ort können sich die Lichtintensität, Einfallsrichtung und Lichtfarbe ändern. Ebenso 1 · 2011 | 1. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 33

Raumklima

physikalische Parameter

• Luftgeschwindigkeit • Luchtfeuchte • Lufttemperatur • Wärmestrahlung

tätigkeitsbezogene Parameter

• Arbeitsschwere • Bekleidung • Aufenthaltsdauer Abb. 7: Einflussgrößen (16)

von Bedeutung sind die Bewertung der eingesetzten Farben an den Wänden und Oberflächen sowie die Lichtfarbe und die Farbwiedergabe der künstlichen Lichtquellen, um einen kontraproduktiven Einsatz der Beleuchtungseinrichtungen und eingesetzten Farben zu vermeiden. Der Begriff Beleuchtung umschreibt das künstliche Ausleuchten von Räumen. Je nach Art und Stärke der Beleuchtung kann diese Einfluss auf die Aktivität und das Wohlbefinden des Leitstellenpersonals nehmen und sich somit auf die Leistungsfähigkeit, die Leistungsbereitschaft, das Wohlbefinden und die Gesundheit der Mitarbeiter auswirken. Weiterhin kann eine schlechte Beleuchtung zu Fehlwahrnehmungen führen. Daher ist es von enormer Wichtigkeit, im Rahmen der Planung von Beleuchtungsanlagen Richtlinien, Vorschriften und Fachinformationen zu beachten und bei Bedarf Fachkräfte und Mitarbeiter in die Beurteilung mit einzubeziehen, um so ein optimales Ergebnis zu erzielen. (17) Zur Realisierung der adäquaten Beleuchtung in Leitstellenräumen müssen zahlreiche Kriterien Berücksichtigung finden, da sich die Qualität der Beleuchtung auf das visuelle Leistungsvermögen des Menschen auswirken kann und für die Wahrnehmung von Formen, Farben und Details ausschlag­ gebend ist. Kriterien für eine optimale Beleuchtung sind u.a. der Tageslichtquotient, die Beleuchtungsqualität, die Beleuchtungsstärke, die Beleuchtungsart, die Beleuchtungsgleichmäßigkeit sowie die Leuchtdichte. Die Durchführung der Messungen und die Ergebnisse im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung werden im Teil 3 der Serie ausführlich vorgestellt. ❂ Teil 2 in der nächsten BOS-LEITSTELLE AKTUELL. Literatur unter www.skverlag.de

Autoren: Michael Günther Diplom-Ökonom und Bachelor of Engineering in Rescue Engineering, Rettungssanitäter, Desinfektor  Owiesenkehre 8  22177 Hamburg  mic.guenther@  web.de Sören Makel Bachelor of Engineering in Rescue Engineering, Rettungsassistent Waldweg 52a 29336 Nienhagen soeren.makel@  web.de Patrick Watzke Student im Studien­gang Rescue Engineering an der HAW Hamburg, Krankenpfleger, Rettungssanitäter Auf der Scholle 4 40668 Meerbusch p-watzke@web.de Markus Hilchenbach Leiter IRLS Süd Integrierte Regionalleitstelle Süd Feuerwehr – Rettungsdienst – Katastrophenschutz Mommsenstr. 13 23843 Bad Oldesloe leiter@irls-sued.de

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TAKTIK

Abb. 1: Zustand vor Reanimation: „Rufen Sie sofort wieder an, wenn der Patient bewusstlos wird“

Telefonreanimation bei Kreislaufstillstand: Wettlauf mit der Zeit Wenn die Pumpleistung des Herzens plötzlich – meist bedingt durch Flimmern der Kammermuskulatur – zum Erliegen kommt, geht alles sehr schnell: Innerhalb kürzester Zeit kommt es zum Funktionsverlust des Gehirns, dem gleichzeitig sowohl der Nährstoff- wie auch der Sauerstoffnachschub abgeschaltet wurde und das, im Gegensatz z.B. zum Muskelgewebe, über keine alternative Energiequelle verfügt. Die am meisten entwickelten Hirnanteile sind von diesem Ausfall der Energieversorgung am schnellsten betroffen, bereits nach fünf Sekunden tritt Bewusstlosigkeit ein. So wird der Betroffene zum Notfallpatienten, ohne selbst auf seine Notfallsituation aufmerksam machen zu können. Allenfalls der zeitgleich durch die fehlende Steuerung der Muskelfunktion auftretende Kollaps bietet ihm die Chance, von seiner Umwelt entdeckt zu werden.

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Das Atemzentrum unseres Patienten ist etwas robuster: Bevor der komplette Atemstillstand eintritt, kommt es zu einer manchmal minutenlangen Phase einer gestörten Atemtätigkeit, die sich in seltenen und tiefen, seufzerartigen Atembewegungen oder in unterschiedlich häufigen, kurzen, „japsenden“ oder „schnappenden“ Atemaktionen äußern kann. Selbst wenn es hier zu einem Lufttransport kommen sollte (hierzu dürften die Atemwege nicht verlegt sein, z.B. durch die Zunge), wäre er ineffektiv, weil der Sauerstofftransport auf dem Blutweg nach wie vor eingestellt ist. Prekär wird die Lage dadurch, dass innerhalb weniger Minuten (eine genaue Quantifizierung ist von vielen Parametern wie Begleit- und Vorschädigung, Temperatur usw. abhängig) dieses Totalausfalls der Energieversorgung aus dem Funktionsverlust des Nervengewebes ein Strukturverlust wird. Selbst wenn anschließend der Kreislauf wieder in Gang kommt, lässt sich die ursprüngliche Funktion nicht mehr wiederherstellen. Manches wird nicht mehr wie vorher, der „bleibende Hirnschaden“ ist die Folge. Wenngleich sich unser Patient in einer existenziellen Bedrohungslage befindet, hat er eine große Chance: In seinen Blutgefäßen befindet sich (vorausgesetzt, dem Kreislaufstillstand lag keine vorherige Atemstörung zugrunde) unverbrauchter Sauerstoff. Gelingt es also, die „Blutsäule“ im Gefäßsystem wieder in Bewegung zu bringen, wird der Strukturverlust des Gehirns aufgehalten. Das probate Mittel zu dieser „Gehirn-Weiterbelebung“ ist leicht durchzuführen: die Herzdruckmassage (HDM), also das Ersetzen der Herz­aktion durch die externe Kompression des Thorax (120-mal pro Minute, 5 bis 6 cm tief). „Herzdruckmassage hat Priorität“ Mit dem Einsetzen einer effektiven Herzdruckmassage beginnt der Verbrauch des im Blut gespeicherten Sauerstoffs; auf kurz oder lang sollte also auch die Atemtätigkeit überbrückend ersetzt werden – es sei denn, eine zwischenzeitlich einsetzende kausale Therapie, z.B. eines Kammerflimmerns, mit einem Defibrillator führt zum Wiederherstellen eines Spontankreislaufs. Somit haben alle in den aktuellen internationalen Reanimationsleitlinien neben der Herzdruckmassage genannten Basis- und erweiterten Maßnahmen ihre Bedeutung und Berechtigung; gleichwohl führen viele dieser Maßnahmen allerdings nur dann zum nachhaltigen Erfolg, wenn frühzeitig mit der HDM begonnen wird. Aus diesem Grund unterstreichen gerade die aktuellen Leitlinien (9) die zentrale Bedeutung der Herzdruckmassage. 1 · 2011 | 1. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 35

Aus Sicht eines Patienten mit plötzlich aufgetretenem Kreislaufstillstand dürfte dessen mutmaßliches Interesse also darin liegen, dass zufällig anwesende Notfallzeugen schnellstmöglich einen Ersatzkreislauf schaffen und zur weiterführenden Versorgung sofort den Rettungsdienst alarmieren. Diesem erheblichen Patienteninteresse an der bestmöglichen Verkürzung seines „therapiefreien Intervalls“ (10) gilt es nachzukommen. Wer massiert das Herz des Patienten? Ideal wäre es, wenn jeder Mensch zum Erkennen eines Kreislaufstillstandes und zur Durchführung einer Herzdruckmassage in der Lage wäre. Dies ist bei weitem nicht der Fall, weil das Beherrschen lebensrettender Sofortmaßnahmen bis heute nicht obligater Bestandteil der Lehrpläne öffentlicher Schulen, sondern historisch an die Fahrschulausbildung geknüpft ist – und auch hier hat die Herzdruckmassage erst Mitte der 80er Jahre Einzug in die Breitenausbildung gehalten. Selbst bei gut geschulten Personen kann durch die Stresssituation eines akuten Notfalls die Abrufbarkeit des gespeicherten Wissens blockiert sein. Relativ sicher funktioniert nur die Aktivierung fremder Hilfe, idealerweise durch Nutzung der europaweiten Notrufnummer „112“. Die Leitstelle hat bekanntermaßen die Aufgabe, das bzw. die nächstgelegenen geeigneten Rettungsmittel zum Notfallpatienten zu entsenden. Für den anhand der Notrufabfrage vermuteten Kreislaufstillstand sind dies klassischerweise der nächstgelegene Rettungswagen und das nächstgelegene arztbesetzte Rettungsmittel. Abb. 3 zeigt jedoch, dass der Rettungsdienst alleine eher selten in der Lage sein wird, die beim Kreislaufstillstand zur Vermeidung bleiben-

Abb. 2: Viele der genannten Maßnahmen führen nur dann zum nachhaltigen Erfolg, wenn frühzeitig mit der HDM begonnen wird

Autor:                     Dr. med. Wolfgang Lenz Redaktion BOS-LEITSTELLE AKTUELL  Ärztlicher Leiter Rettungsdienst,  Main-Kinzig-Kreis, Gefahrenabwehrzentrum,  Frankfurter Str. 34  63571 Gelnhausen  wolfgang.lenz@  mkk.de

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gen Telefonreanimation – ist im Oktober 2010 mit der Veröffentlichung der neuen Leitlinien zur Wiederbelebung (9) geschehen. Die spezielle Bedeutung für die Betreiber der Leitstellen wurde im April 2011 vom Bundesverband der Ärztlichen Leiter Rettungsdienst in Deutschland in einem Positionspapier (2) aufgegriffen (Abb. 4) und im Oktober 2011 nochmals konkretisiert (3).

Abb. 3: Zeitintervalle beim Kreislaufstillstand: „medizinische“ (rot) vs. „gesetzliche“ (blau) Hilfsfrist, hier am Beispiel Hessens

der Schäden erforderliche „medizinische Hilfsfrist“ von drei Minuten einzuhalten. In vielen Rettungsdienstbereichen sind daher ergänzende Systeme wie z.B. die hessischen Voraus-Helfer (7) etabliert, die parallel alarmiert werden können; auch der Einsatz von in der Nähe befindlichen Krankentransportwagen oder die Benachrichtigung niedergelassener Ärzte kann hier zielführend sein. Der Anrufer als „nächstgelegenes Einsatzmittel“ Ein weiteres, für den Patienten sehr wertvolles „Einsatzmittel“ wird in vielen Leitstellen noch nicht berücksichtigt: der Anrufer selbst, der sich meist in unmittelbarer Nähe des Patienten befindet. Bereits 1985 wurde in den USA nachgewiesen, dass über ihn sowohl ein hinreichend sicheres Erkennen des Kreislaufstillstands wie auch eine hinreichend zuverlässige Durchführung der Herzdruckmassage möglich wird (4). In Deutschland konnte sich die sogenannte „Telefonreanimation“ trotz engagierter und fundiert entwickelter Projekte (Reafon® (5), RufAn® (1)) kaum verbreiten. Neben der Befürchtung einer Überlastung der Leitstellenmitarbeiter dürfte die vermeintliche juristische Unsicherheit („Wer haftet bei Komplikationen, bei falsch durchgeführten oder nicht indizierten Reanimationen?“) ursächlich gewesen sein; historisch gesehen sind es die gleichen Vorbehalte, die auch schon die Implementierung der HDM in die Breitenausbildung verzögert haben und die letztlich erst dann ausgeräumt waren, als die Methode zum offiziellen Standard deklariert wurde. Genau dies – nämlich der Aufruf zur standardmäßi-

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Telefonreanimation – von der Kür- zur Pflichtaufgabe Die telefonische Anleitung zur Herzdruckmassage beim Verdacht auf Kreislaufstillstand wird damit von der Kür- zur Pflichtaufgabe; gleichzeitig wird der „Anfangsverdacht“ des Kreislaufstillstands als die „Abwesenheit einer normalen Atmung“ beim bewusstlosen Patienten definiert. Daraus lässt sich folgern, dass auch das Einholen von Schlüsselinformationen über den Zustand des Notfallpatienten (jedenfalls bezüglich der Vitalfunktionen Bewusstsein und Atmung) zur Pflichtaufgabe der Leitstelle gehört – dies wiederum macht eine zumindest minimale Strukturierung der Notrufabfrage unverzichtbar. Strukturierte Abfrage ist Voraussetzung für die korrekt indizierte Telefonberatung Die telefonische Reanimationsanleitung ist allerdings keineswegs völlig risikofrei, denn neben dem Kreislaufstillstand gibt es eine Reihe weiterer Notfallbilder, die mit Bewusstlosigkeit und abnormaler Atmung einhergehen, ohne einer Herzdruckmassage zu bedürfen (z.B. Krampfanfall, Atemwegsverlegung durch zurückgefallene Zunge). Daher muss nach dem „Anfangsverdacht“ vor der Anleitung zur HDM zunächst sichergestellt werden, dass der Patient auch nach Überstrecken des Kopfes weiterhin nicht reagiert, sich nicht bewegt und nicht beginnt, wieder normal zu atmen. Wichtig ist an dieser Stelle, nicht nach dem „Ob“, sondern dem „Wie“ der Atmung zu fragen – sonst besteht die große Gefahr, Patienten mit Schnappatmung als nicht reanimationspflichtig einzustufen. Bei der Frage nach der Atemqualität („Atmet er jetzt normal“?) kommen erfahrungsgemäß spontane und gut verwertbare Beschreibungen, die bei „Schnappen“, „Japsen“ oder auch „ganz seltenem Seufzen“ den klaren Hinweis auf eine Schnappatmung geben. Durch die Vorgabe der zu erfragenden Informationen wird der Disponent entlastet, weil die Verantwortung für die zu stellenden Fragen auf den Ersteller der Anleitung übergeht. Dem Disponenten bleibt 1 · 2011 | 1. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 36


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die Verantwortung für die sachgerechte Umsetzung. Je flexibler die unterstützenden Vorgaben gestaltet sind, desto größer ist die Anforderung an den Einsatzbearbeiter. Zweitrangig ist, ob das Ablaufschema im Einsatzleitrechner integriert ist, ob der Standard in gedruckter Form (z.B. Kartensystem) vorgegeben wird oder ob die Einsatzsachbearbeiter mittels persönlicher Schulung zu einer standardisierten Vorgehensweise angeleitet werden. Diese drei Varianten schließen sich keineswegs gegenseitig aus, sondern sind oft kombiniert vorhanden. Telefonreanimation – nur mit Zustimmung des Anrufers Vor der eigentlichen Anleitung zur HDM ist noch eine weitere Hürde zu nehmen; es könnte sein, dass der Anrufer aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage ist, eine Herzdruckmassage durchzuführen. Weiterhin könnte der Patient selbst z.B. aufgrund seines Vorzustandes nach Kenntnis des Anrufers nicht mit einem Reanimationsversuch einverstanden sein. Um diese Hinderungsgründe ohne nennenswerten Zeitverlust berücksichtigen zu können und dem Anrufer die Möglichkeit des Ausstiegs zu ermöglichen, muss an dieser Stelle sein Einverständnis zur Reanimation erfragt werden; dies kann wie im Text des Göttinger RufAn®-Projekts durchaus motivierend formuliert sein („Wollen Sie versuchen, nach meiner Anleitung eine Wiederbelebung durchzuführen, bis der Notarzt da ist? Das wäre das Beste, was Sie jetzt tun können!“). Verneint der Anrufer eindeutig, sollte dies akzeptiert und keine Überredungsversuche gestartet werden. Keinesfalls darf man Druck gegenüber dem Anrufer aufbauen, etwa durch den Hinweis auf unterlassene Hilfeleistung. Nur Herzdruckmassage oder doch Beatmung? Wie eingangs erläutert, ist beim primären Kreislaufstillstand die Herzdruckmassage die prioritäre Erstmaßnahme. Sie ist schnell anzuleiten, was zu einem schnellen Therapiestart führt. Demgegenüber ist eine Atemspende schwer anzuleiten, benötigt mehr Zeit und wird deutlich ineffektiver durchgeführt. Zudem ist bei der Aufforderung zur Atemspende von einer höheren Ablehnungsquote auszugehen. Umgekehrt ist zu befürchten, dass (bei längerer Wartezeit auf professionelle Hilfe oder bei respiratorischer Vorerkrankung) die ausschließliche HDM ineffektiv wird, wenn der zirkulierende Sauerstoff verbraucht ist. Dieser Ambivalenz kann man Rechnung tragen, indem man den Anrufer zunächst 100 Thoraxkom1 · 2011 | 1. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 37

pressionen durchführen lässt und ihn dann wieder ans Telefon bittet; je nach der mittlerweile abschätzbaren Eintreffzeit des Rettungsdienstes und auch in Abhängigkeit von der Führbarkeit des Anrufers entscheidet der Einsatzbearbeiter, ob er weiterhin zur „Nur-HDM“ anleitet (Standardvorgabe) oder ob er die Anleitung zur Atemspende ergänzt. Falls erfolglos, kann problemlos zur „Nur-HDM“ gewechselt werden. Für eine solche zweizeitige Vorgehensweise spricht auch, dass die Anrufer nach einhundert Thoraxkompressionen oft gefasster und kooperativer sind als in der ersten Gesprächsphase (Abbau von Stresshormonen durch körperliche Aktivität?); mitunter werden jetzt auch Vorkenntnisse reaktiviert, sodass Anrufer fragen, „ob jetzt nicht beatmet werden muss“. Nach dieser Anleitungsphase kommt der Anrufer in vielen

Abb. 4: Positionspapier des BV-ÄLRD zur Telefonreanimation durch Leitstellenpersonal mit einem Auszug aus den aktuellen Reanimationsleitlinien

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TAKTIK

Abb. 5: Durch die Vorgabe der zu erfragenden Informationen wird der Disponent entlastet, weil die Verantwortung für die zu stellenden Fragen auf den Ersteller der Vorgabe übergeht

Fällen ohne weitere Anleitung oder Beratung aus. Wenn irgend möglich, sollte aber die Verbindung bis zum Eintreffen des Rettungsdienstes aufrechterhalten werden. So kann man auf Besonderheiten reagieren und auch zusätzliche Hinweise geben (Ablösung bei der HDM, wenn mehrere Personen vorhanden; Entsenden eines Einweisers).

Umsetzungsbeispiel Der in den Abb. 6 und Abb. 7 dargestellte papiergestützte Algorithmus stellt die aktuell im Rettungsdienstbereich des Autors praktizierte Vorgehensweise dar. Erarbeitet und fortgeschrieben wurde sie unter freundlich genehmigter Nutzung und Modifikation des in Göttingen und Braunschweig genutzten RufAn®-Konzeptes (1), aber auch durch die Analyse realer Notrufgespräche und vor allem unter enger Einbindung der Einsatzsachbearbeiter. Der Algorithmus wird regelmäßig im Rahmen der Disponentenfortbildung evaluiert und weiterentwickelt. So wurde das ursprünglich fast ausschließlich aus kompletten Sätzen bestehende Ablaufschema mittlerweile eher stichpunktartig dargestellt und die wörtliche Textvorgabe jeweils parallel in einem Kasten dargestellt. Dies erleichtert das außerhalb von Standardsituationen gelegentlich erforderliche „Quereinsteigen“ und auch das Überspringen einzelner Fragen in den Fällen, in denen der Anrufer die entsprechenden Informationen bereits zu Gesprächsbeginn genannt hat. Dennoch sollte möglichst oft auf die wörtliche Textvorgabe zurückgegriffen werden. Viele Einsatzbearbeiter beschreiben es als angenehm, „den Kopf frei zu haben“ und

»Notruf Feuerwehr Rettungsdienst« »Wo ist es passiert?« – »Was ist passiert? – »Wer meldet?« Vervollständigung der spontanen Angaben des Anrufers Notfallort wiederholen / bestätigen lassen »Was steht auf der Klingel?« im Notfall keine unnötigen Fragen (z. B. Vorname)

»Spricht / redet er mit Ihnen?« »Reagiert Ihre Mutter noch?« »Öffnet das Kind die Augen?«

Notfall-Art?

andere

Weitere Abfrage

medizinisch

Bewusstsein?

(teilweise) vorhanden

Keine Rea: Weitere medizinische Abfrage

regelmäßig

- Keine Rea, aber NA-Indikation - ggf. weitere Abfrage - ggf. Hinweis auf ­Seitenlage

bewusstlos

»Atmet sie normal?« »Hebt und senkt sich der Brustkorb?«

Kollegen alarmieren lassen oder: »Ich alarmiere Hilfe – Sie bleiben am Telefon.«

Abb. 6: NotrufabfrageAlgorithmus am Beispiel der Zentralen Leitstelle des MainKinzig-Kreises

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»So, jetzt ist Hilfe nach (X-Dorf) unterwegs. Bleiben Sie bitte noch am Telefon – wir schauen jetzt nochmal nach der Atmung: Legen Sie Ihre eine Hand auf die Stirn des Patienten, ihre andere Hand unter das Kinn und kippen Sie den Kopf extrem weit nach hinten. Achten Sie darauf, ob er darauf reagiert, zum Beispiel anfängt zu atmen oder zu husten. Kommen Sie dann zurück ans Telefon.« »Atmet der Patient jetzt normal, hustet er oder hat er sich bewegt?«

NORMALE Atmung? Atemstillstand oder Schnappatmung nicht ausgeschlossen

Alarmierung (061/081) »Hilfe ist unterwegs« Lebensrettender Handgriff Suche nach Lebenszeichen

weiter V. a. Rea?

nein

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sich nicht zu intensiv in den Reanimationsablauf einarbeiten zu müssen. Gerade bei im Rettungsdienst erfahrenen Disponenten besteht sonst die Herausforderung, sich mit seinen professionellen Reanimationskenntnissen in Ausbildungsstand und Sprache eines Ersthelfers kontinuierlich hinein­ denken zu müssen. Verbindliche Einführung nicht ohne gründliche Schulung Um die Telefonreanimation als weitere LeitstellenDienstleistung verbindlich und nachhaltig einzuführen, ist es selbstverständlich nicht ausreichend, lediglich die Algorithmen am Arbeitsplatz auszulegen. Um sich mit der Methode so vertraut zu machen, dass sie auch unter den Stressbedingungen eines Realeinsatzes bei Anrufer und Einsatzbearbeiter einigermaßen sicher angewandt werden kann, sollten mehrere unterschiedliche Telefon-ReanimationsSzenarien (Tab. 1) simuliert werden. Die einfachste Variante ist, den Anrufer durch einen Instruktor zu simulieren; besser wird der Anrufer von einem medizinischen Laien (z.B. Verwaltungsmitarbeiter) simuliert, der mit einem entsprechend vorbereiteten Reanimationsphantom konfrontiert wird (Abb. 8).

»Das Beste, was Sie tun können, bis der Rettungsdienst da ist, wäre eine Herz-Lungen-Wiederbelebung. Ich helfe Ihnen dabei. Einverstanden?«

Variationen

Anrufer

gefasst / aufgeregt / kooperativ / unkooperativ / schwerfällig / besserwisserisch / eloquent / wortkarg / fremdsprachig

Beziehung Anrufer-Patient

Angehöriger / Freund / Nachbar / Arbeitskollege / Kunde / Fremder

Anzahl von Notfallzeugen

Anrufer alleine / weitere Personen / Person kommt im Verlauf hinzu

Entfernung Telefon-Patient

unmittelbar beim Patienten / Freisprechen / schnurgebunden im Nebenraum

Patientenlage

im Freien / auf dem Boden / im Bett / sitzend / Rückenlage / Bauchlage / Seitenlage

Patientenzustand

Atemstillstand / Schnappatmung / Begleitverletzung / initial ansprechbar und Kollaps während Gespräch / Nicht-Kreislaufstillstand (bewusstlos + Atemwegsverlegung, Krampfanfall, Erstickungsanfall, Insult)

Verlauf

bleibt reanimationspflichtig / beginnt zu atmen / kommt zu sich

Idealerweise dient aber die Videoaufzeichnung des Reanimationsversuchs dient, synchronisiert mit der Gesprächsaufzeichnung, zur anschließenden Selbstbewertung des Disponenten und der detaillierten Nachbesprechung mit Instruktor und Teilnehmergruppe.

Tab. 1: Übungsparameter: Durch Kombination lassen sich unzählige Szenarien generieren oder definierte „Standardsituationen“ festlegen

bei Kindern mit Beatmung beginnen

Aufforderung zur HLW

(Algorithmus ist in Arbeit)

OK?

»Legen Sie (den Patienten) flach auf den Rücken und knien Sie sich seitlich neben den Oberkörper. Legen Sie Ihren Handballen auf die Mitte des Brustkorbs, genau zwischen die Brustwarzen. Legen Sie Ihre andere Hand auf die erste Hand. Drücken Sie kräftig und so schnell Sie können nach unten, mit gestreckten Armen. Zählen Sie dabei möglichst laut mit: 1-2-3-4-5... bis Hundert. Kommen Sie dann zurück ans Telefon!«

nein

- akzeptieren oder ggf. motivieren - allgemeine Hinweise

nein

- weiter beobachten - ggf. Seitenlage - allgemeine Hinweise

einverstanden

100 x HDM »1-2-3-4-5…bis 100!«

möglichst laut zählen lassen

»Atmet (der Patient) jetzt, hustet er oder hat er sich bewegt?«

weiter V. a. Rea?

nein

weiter HLW »Drücken Sie weiter kräftig und so schnell Sie können auf den Brustkorb, mit gestreckten Armen. Drücken Sie diesmal… (alternativ!) • »weiter bis 200 und kommen Sie dann zurück ans Telefon« • »so lange weiter, bis der Rettungsdienst eintrifft. Nur wenn Sie unsicher sind, kommen Sie ans Telefon. Oder nehmen Sie es mit und schalten Sie auf Freisprechen. Ich versuche auf jeden Fall am Telefon zu bleiben.«

Merkmal

Gute Anrufer-Führbarkeit? HLW-Kenntnisse beim Anrufer? Längere Eintreffzeit RD?

ja

HLW

»Das ist nicht so schlimm. Das Wichtigste ist jetzt die Herzmassage.« nein

Mögliche Punkte im Verlauf:

• Anrufer loben • Frequenz ggf. korrigieren • Weitere Helfer anwesend? • HDM-Ablösen / Abwechseln • Einweiser für RTW • Fahrstuhl / Licht / Hund • Vorgeschichte (ggf. an RD durchgeben, z. B. Dialyse, Schrittmacher)

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»Das Beste wäre jetzt die Mund-zu-MundBeatmung. Dazu kippen Sie den Kopf wieder extrem weit nach hinten, so wie vorhin bei der Atemkontrolle. Halten Sie dabei die Nase des Patienten zu und blasen Sie zwei Atemzüge in den Mund ein. Danach machen Sie wieder 30 Herzdruckmassagen und kommen dann wieder zurück ans Telefon.«

OK? ja

weiter HLW

»Sehr gut! Dann machen Sie das jetzt immer abwechselnd, also immer 2 mal beatmen und 30 mal drücken. Machen Sie das…» (alternativ!) • »über 10 zyklen (also ca. 2 Minuten) und kommen Sie dann ans Telefon«. • »so lange weiter, bis der Rettungsdienst eintrifft. Nur wenn Sie unsicher sind, kommen Sie ans Telefon. Oder nehmen Sie es mit und schalten Sie auf Freisprechen. Ich versuche auf jeden Fall am Telefon zu bleiben.«

Abb. 7: Reanimationsanleitungs-Algorithmus am Beispiel der Zentralen Leitstelle des Main-KinzigKreises (modifiziert nach RufAn® Göttingen)

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TAKTIK

Methode

Auswertungsbeispiele bzw. Variationsmöglichkeiten

statistische Auswertung

Anteil der vorhergesagten an den tatsächlich angetroffenen Reanimationsfällen (Sensitivität) Anteil der bestätigten an den vorhergesagten Reanimationsfällen (positive Prädiktion) Anteil der angebotenen und durchgeführten Anleitungen an den vermuteten Reanimationsfällen Gründe für nicht durchgeführte Beratung (bereits laufende Reanimation, qualifiziertes Personal vor Ort, Notruf aus „zweiter Hand“, Anrufer entfernt vom Patienten, Ablehnung der Beratung, Hinweis auf sichere Todeszeichen ...)

Einzelfallauswertung

stichprobenartige Gesprächsanalyse vom Disponenten initiierte Gesprächsanalyse extern induzierte Gesprächsanalyse (bei Lob/Beschwerde)

Mitarbeiterbefragung

systematisch (Fragebogen) gelegentlich (bei Fortbildungen oder Mitarbeiterbesprechungen)

Tab. 2: Evaluationsmethoden am Beispiel der Telefonreanimation (sinngemäß auf alle anderen Notruf­gesprächsarten anwendbar)

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Vorbehalte müssen ernst genommen und geklärt werden Unstreitig liegt der Zeitbedarf für ein Notrufgespräch mit Reanimationsanleitung um ein Vielfaches höher als bei der reinen Notrufabfrage. Allerdings ist größenordnungsmäßig je 100.000 versorgte Einwohner mit etwa einem Fall pro Tag zu rechnen, und nicht jeder vermutete Kreislaufstillstand bedarf der telefonischen Unterstützung (z.B. bei Anwesenheit von Fachpersonal, wenn sich der Anfangsverdacht nicht bestätigt oder der Reanimationsversuch abgelehnt wird). Dennoch kann es im Einzelfall zu Pflichtenkollisionen kommen, die im Vorfeld geregelt sein müssen. So hat die Abfrage weiterer Notrufe stets höchste Priorität; dies kann dazu führen, dass eine Telefonberatung unter- oder abgebrochen werden muss. Dies gilt aber in mindestens gleichem Maß für fast alle anderen Nicht-Notruf-Gespräche einer Leitstelle und darf nicht als Argument gelten, grundsätzlich auf die Telefonreanimation zu verzichten. Ebenso muss geregelt werden, wie eine verzögerungsfreie Alarmierung sichergestellt wird, falls hierzu eine Sprachdurchsage erforderlich ist; am besten wird der Alarmierungsvorgang an einen Kollegen delegiert. Ist dies nicht möglich, muss das Gespräch mit dem Anrufer („Bleiben Sie weiter am Apparat, ich alarmiere zunächst Hilfe!“) unvermeidlich kurz unterbrochen werden. Weiterhin ist es sinnvoll, bereits in der Einführungsphase verbindliche Regelungen zur Sicherstellung der Qualität, der verbindlichen Anwendung und der Optimierung des telefonischen Reanimations­algorithmus zu vereinbaren. Wie weiter unten dargestellt, ist u.a. die Analyse und damit das

Abhören von Notrufgesprächen nicht zu vermeiden. Sollte dieser Aspekt noch nicht bereits im Rahmen der grundsätzlichen Qualitätssicherung der Leitstelle geklärt sein, muss eine einvernehmliche, pragmatische und vertrauensvolle Regelung vereinbart werden. Evaluation und Begleitung Auch nach Schulung und Implementierung der Telefonreanimation in den täglichen Leitstellenbetrieb bedarf das Projekt der weiteren Pflege. Zum einen muss der quantitative und qualitative Umsetzungsgrad und daraus ggf. der weitere Optimierungsbedarf ermittelt werden. Tab. 2 fasst hier einige methodische Aspekte zusammen. Hierzu sind neben den klassischen in der Leitstelle vorhandenen Daten (Gesprächs- und Einsatzmittelzeitstempel, Einsatzstichworte) auch medizinische Daten erforderlich. Falls keine Verknüpfungsmöglichkeit zu elektronisch vorhandenen Einsatzprotokollen besteht, ist die Erfassung zumindest der vor Ort vorgefundenen Notfallart und -schwere, z.B. mittels der „Rückmeldezahl (RMZ)“ (11) sinnvoll. So lassen sich auch selektiv Einsätze ermitteln, bei denen eine „manuelle“ Gesprächsanalyse interessant sein könnte. Hierfür muss, wie bereits erwähnt, eine geeignete und vertrauensvolle Vorgehensweise vereinbart sein. Allen Beteiligten muss klar sein, dass nur auf diese Weise ein möglichst hohes Niveau von gleichermaßen Patienten- wie Mitarbeitersicherheit aufgebaut und erhalten werden kann. Mit der Telefonreanimation wird der Disponent zur Einsatzkraft Neben dieser auswertenden Form der Projektbetreuung darf ein anderer Aspekt nicht außer Acht gelassen werden: Durch seine Anleitung zur Telefonreanimation wird der Leitstellenmitarbeiter auch „gefühlt“ zum Teil des therapeutischen Teams (wobei er durch seine Einflussnahme auf die Notrufabfrage und seine Dispositionsentscheidung ohnehin schon dazugehört). Insofern müssen für ihn im Hinblick auf die psychosoziale Betreuung spätestens jetzt die gleichen Standards gelten und die gleichen Ressourcen zur Verfügung stehen wie den vor Ort agierenden Kräften. Somit sollte sich auch die Führungs- und Verantwortungsebene im Rahmen ihrer Fürsorgepflicht sensibilisiert fühlen. Schlussbemerkung und Ausblick Die Telefonreanimation steht derzeit erst im Anfangsstadium ihrer Entwicklung. Zunächst muss sichergestellt werden, dass sie als mittlerweile international vorgegebener Standard jedem Patienten zuteil wird, bei dem die situativen Vor-Ort-Rahmenbedingungen 1 · 2011 | 1. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 40


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dies zulassen. Bis alle Leitstellen diesen Standard vorgegeben haben und alle Länder dies für die Grundausbildung von Einsatzbearbeitern vorschreiben (in Hessen ist dies bereits seit 2008 der Fall (8)), wird es eine Übergangsphase geben, in der besonders motivierte Disponenten unter noch nicht standardisierten Bedingungen eher sporadische Versuche der Telefon­ anleitung unternehmen. Hierbei unterliegen sie mehr ihrem persönlichen Gewissen als einer Vorgabe ihres Dienstherrn und tragen damit einen deutlich höheren Teil an persönlicher Verantwortung. Dieser Artikel, der auf einen wahrscheinlich nirgendwo existenten organisatorischen Idealzustand abzielt, soll diesen oft schon seit Jahrzehnten aktiven Personenkreis keineswegs demotivieren, sondern im Gegenteil ermutigen, fortzufahren und seine Erfahrungen in den Entwicklungsprozess seines Arbeitsplatzes konstruktiv einzubringen. Es bleibt viel zu tun: Nach dem „Ob“ muss auch das „Wie“ der Telefonreanimation standardisiert und wahrscheinlich auch differenziert werden (Beatmung: wenn ja, ab wann und wie? Patientenlagerung: im Bett oder auf dem Boden? Vorgehensweise bei Kindern? Maßnahmen bei respiratorischer Ursache?). Einige dieser Fragestellungen bedürfen hoher Fallzahlen, um signifikante Antworten geben zu können. Hierzu wird auch die bereichsinterne Evaluation soweit standardisiert werden müssen, dass Daten bereichsübergreifend zusammengeführt und ausgewertet werden können. Ein zielführender Ansatz könnte die Integration von noch zu definierenden Telefonreanimations-Parametern in z.B. das deutsche Reanimationsregister sein (6). Es bleibt viel zu tun – packen wir’s an! Die telefonische Anleitung insbesondere des Notrufenden zur Herzdruckmassage ist sicher die mit Abstand bedeutendste Maßnahme der Anruferberatung durch einen Leitstellendisponenten, weil sie die Prognose des Notfallpatienten massiv beeinflussen kann. Aber auch das sollte nur der Anfang sein, denn viele andere anerkannte Sofortmaßnahmen (Seitenlage, Blutstillung usw.) sind ebenfalls prog1 · 2011 | 1. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 41

nostisch bedeutsam und sollten standardisiert sowie bedarfsgerecht angeleitet werden. Gleiches gilt für nicht-medizinische Anweisungen wie Beleuchtung der Hausnummer, Bereitstellung von Einweiser und ggf. Fahrstuhl. Parallel ist die Notrufabfrage so zu verfeinern, dass anleitungsrelevante Situationen schnell und zuverlässig erkannt werden können. Alles in allem ein riesiges und langfristiges Aufgabenfeld für alle am Qualitätsprozess einer Leitstelle Beteiligten! ❂

Abb. 8: Telefonreanimationstraining: Der Anrufer wird idealerweise durch einen medizinischen Laien simuliert, der Notfallpatient durch ein Übungsphantom

Literatur: 1. Bahr J, Panzer W, Rode H et al. (2001) Projekt RUFAN: Reanimation unter fernmündlicher Anleitung. Rettungsdienst 24: 346-348 2. Bundesverband Ärztlicher Leiter Rettungsdienst in Deutschland e.V. (4/2011) Positionspapier zur Telefonreanimation in Leitstellen. 3. Bundesverband Ärztlicher Leiter Rettungsdienst in Deutschland e.V. (10/2011) Empfehlungen zur Durchführung der Telefonreanimation durch Disponenten der Leitstellen für den Rettungsdienst. www.bgs-aelrd.de/images/stories/pdf/2011_bv_stn_ telefonrea_lst.pdf 4. Eisenberg MS, Carter W, Hallstrom A et al. (1986) Identification of cardiac arrest by emergency dispatchers. Am J Pub Health 4: 299 ff. 5. Flesche CW, Grundmann MA, Tarnow J (1996) Quality of telephone guided cardiopulmonary resuscitation (CPR) of layman in a simulated cardiac arrest scenario. Resuscitation 31: 7 ff. 6. Gräsner JT, Fischer M und die AG Reanimationsregister der DGAI (2005) Nationales Reanimationsregister: Strukturierte Datenerfassung der Erstversorgung. Rettungsdienst 28: 334-336 7. Hessisches Sozialministerium: Empfehlungen für Voraus-Helfer-Systeme (2011). Erlass V/V 9a-18r2300 v. 4. April 2011 8. Hessisches Sozialministerium: Richtlinien über die Aus- und Fortbildung des Personals in den Zentralen Leitstellen in Hessen (2008) Erlass V/V 7b-18r-2200 v. 13. Juni 2008 9. Koster RW, Baubin MA, Bossaert LL et al. (2010) Basismaßnahmen zur Wiederbelebung Erwachsener und Verwendung automatisierter externer Defibrillatoren. Notfall Rettungsmed 13: 523 ff. 10. Lenz W (1992) Das therapiefreie Intervall. Ansatzpunkte zu seiner Verkürzung. Rettungsdienst 5: 863-870 11. Lenz W, Luderer M, Seitz G, Lipp M (2000) Die Dispositionsqualität einer Rettungsleitstelle: Qualitätsmanagement mit der „Rückmeldezahl“. Notfall + Rettungsmedizin 3: 72-80

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AUSBILDUNG

Leitstellendidaktik: Vom Lehren und Lernen Lektüre, die sich mit didaktischen Themen auseinandersetzt, ist in der Regel ausschließlich für Ausbilder oder Lehrer verfasst worden. Das ist zwar grundsätzlich nachvollziehbar, denn schließlich ist der Lehrer/Ausbilder für die Organisation und Gestaltung des Unterrichts und der Anleitung verantwortlich, aber eigentlich auch schade, denn 1. versteht man unter Didaktik nicht nur die Lehre vom Lehren, sondern auch vom Lernen – somit sind die Schülerperspektive und dessen Mitverantwortung für Lernprozesse wesentliche Elemente – und 2. wird gerade im beruflichen „Lern-Umfeld“ nicht nur der Lehrer oder Ausbilder didaktisch tätig, sondern werden alle Kollegen, die mit Auszubildenden oder Praktikanten zusammenarbeiten, zum Teil eines didaktischen Arrangements. Also: Alle Beteiligten müssen mit ins Boot – der Schüler oder Auszubildende wie auch die Lehrer, Ausbilder oder Anleiter. Dieser Artikel gibt allen Beteiligten im ersten Teil einen kurzen berufspädagogischen Überblick zur Einordnung der Ausbildung zum Leitstellendisponenten in das berufsbildende System Deutschlands und beschäftigt sich dann mit ganz konkreten didaktischen Planungs- und Organisationsmerkmalen der Ausbildung bzw. des Unterrichts.

Abb. 1: Das gehört zum Job: der Leitstellendisponent als Ausbilder

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Die Ausbildung (oder Weiterbildung?) zum Leitstellendisponenten Wenn heute ein 20-jähriger Abiturient seinen beruflichen Werdegang plant und beschließt, dass Leitstellendisponent sein Traumjob wäre, wird er schnell feststellen, dass sein Ausbildungsweg einen „kurvigen“ Verlauf nehmen wird. Nehmen wir an, dass der junge Mann in Rheinland-Pfalz wohnt. Um hier als Leitstellendisponent tätig sein zu können, müssen Ausbildungen sowohl im rettungsdienstlichen als auch im feuerwehrtechnischen Dienst durchlaufen worden sein – Rettungsassistent + Gruppenführer FF oder Rettungssanitäter + mittlerer feuerwehrtechni-

scher Dienst (2). Damit nicht genug: Wer eine Ausbildung bei der Berufsfeuerwehr absolviert, hat in der Regel zuvor bereits eine handwerkliche Ausbildung abgeschlossen. Das führt zu der kuriosen Tatsache, dass zahlreiche Leitstellendisponenten vier Ausbildungen (z.B. Tischler, Rettungsassistent, Feuerwehrmann, Leitstellendisponent) abgeschlossen haben, bevor sie in der Leitstelle zum Telefon greifen. Nun folgen nicht alle diese Ausbildungen vergleichbaren gesetzlichen Regelungen und führen nicht immer zu einem staatlich anerkannten Berufsbild (1). Ausbildungen in einem staatlich anerkannten Beruf werden in Deutschland meistens im dualen System absolviert. Wer also z.B. Tischler werden möchte, wird eine dreijährige Ausbildung durchlaufen, die – zur besseren Verzahnung von Theorie und Praxis – sowohl im Betrieb als auch in der Berufsschule stattfinden wird. Die schulische Ausbildung wird dabei über die Schulgesetze der Länder geregelt und vom jeweiligen Kultusministerium kontrolliert, während die rechtliche Grundlage zur betrieblichen Ausbildung im Wesentlichen über das bundeseinheitliche Berufsbildungsgesetz (BBiG) vorgegeben wird und durch die Kammern (z.B. Handwerkskammer) überwacht wird. Ganz anders im Rettungsdienst: Die Ausbildung zum Rettungsassistenten findet nicht im dualen System statt und unterliegt auch nicht den Vorgaben des Berufsbildungsgesetzes, sondern wird mit dem Ret1 · 2011 | 1. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 42


AUSBILDUNG

tungsassistentengesetz (RettAssG) über ein Berufszulassungsgesetz geregelt. Der schulische Teil der Ausbildung wird in staatlich anerkannten Rettungsassistentenschulen absolviert, der praktische Teil an einer Lehrrettungswache. Die Aufsicht führen die Länder, z.B. in Niedersachsen nicht das Kultusministerium, sondern das Ministerium für Inneres und Sport. Und der Leitstellendisponent (oder Einsatzsachbearbeiter, Leitstellenmitarbeiter, Dispatcher – es gibt interessanterweise keine einheitliche Berufsbezeichnung!)? Ist kein staatlich anerkannter Ausbildungsberuf! Die Ausbildungskonzepte variieren länderabhängig stark (2). Da über die Feuerwehrund Rettungsdienstgesetze bzw. Rettungsdienstpläne der Länder und auch von Expertengruppen (5) wie bereits beschrieben teilweise beträchtliche Anforderungen an das Vorbildungsprofil der Anwärter gestellt werden – im Ländervergleich mit deutlichen Abweichungen, werden rettungsdienstliche Ausbildungen bis hin zum Rettungsassistenten und entsprechende feuerwehrtechnische Qualifikationen verlangt –, könnte man von einer Spezialisierung oder Weiterbildung sprechen. Selbstverständlich stellt sich dann die Frage, ob ein Leitstellendisponent für die Bewältigung der typischen Situationen seines beruflichen Alltags diese zeit- und kostenintensiven Vor-Ausbildungen wirklich benötigt. So sind z.B. zahlreiche Inhalte der Rettungs­assistentenausbildung kaum relevant für die Disponentenarbeit (z.B. praktische Übungen zur Fixierung eines Patienten auf dem Spineboard, Anlage von i.v.-Zugängen). Außerdem wird die intentionale Ausrichtung der Inhalte für die Zielgruppe Rettungsassistent anderen Schwerpunkten folgen, als sie bei einer leitstellenadressierten Ausbildung vonnöten wäre. Ein Beispiel: Eine rettungsdienstliche Diagnostik umfasst neben der Anamnese auch die Beobachtung der Gesamtsituation, die körperliche Untersuchung sowie den Einsatz diagnostischer Geräte (EKG, Blutdruckmessgerät, Kapnometer, Pulsoxymeter usw.). Dem Leitstellendisponenten steht für „seine“ Diagnostik jedoch lediglich das Telefon mit einem mehr oder weniger belastbaren Notfallzeugen zur Verfügung. Um trotzdem zu einer Diagnose oder Lagedefinition zu kommen, die immerhin als Basis für seine Entscheidungen dient – Erste-Hilfe-Anweisung, Rettungsmittelauswahl, Alarmierung weiterer Dienste, Anruferbetreuung usw. –, rücken allerdings andere respektive unterschiedlich gewichtete Fähigkeiten (soziale und personale Kompetenzen) in den Vorder1 · 2011 | 1. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 43

grund als bei der rettungsdienstlichen Diagnostik vor Ort. Leitstellenarbeit ist angesichts der technischen Möglichkeiten und der gewachsenen Ansprüche mittlerweile ein Hochleistungsbereich – hoch spezialisierte Tätigkeitsfelder können aber mit einer Vorqualifikation, die lediglich gewisse Schnittmengen mit diesem Feld aufweist, nicht einfach nebenbei ausgefüllt werden. Ein kleiner Exkurs in die Medizin: Internisten können sich in ihrer Facharztweiterbildung spezialisieren und Angiologen, Endokrinologen, Diabetologen, Gastroenterologen, Hämatologen, Onkologen, Kardiologen, Nephrologen, Pneumologen oder Rheumatologen werden. Kein Rheumatologe wird eine perkutane Koronarintervention bei einem Herzinfarktpatienten durchführen – und so wird auch ein Rettungsassistent erst dann professionell als Leitstellendisponent tätig werden können, wenn er eine umfassende und zielgerichtete Ausbildung durchlaufen hat, die ihm dieses Tätigkeitsfeld erschließt. Eine solche Ausbildung sollte in Inhalt und Umfang den gestiegenen Ansprüchen Rechnung tragen – eine „vierwöchige Einweisungsphase am Leitstellentisch“ als Ausbildungsersatz ist sicherlich nicht mehr zeitgemäß. Dass die erforderlichen rettungsdienstlichen und feuerwehrtechnischen Aspekte über VorAusbildungen mit einem eigentlich anderen Tätigkeitsziel erlangt werden sollen, mag pragmatisch sein – effizient ist es nicht. Eine Integration der relevanten Inhalte mit leitstellenspezifischer Zielausrichtung in eine gesetzlich geregelte und bundesweit vergleichbare Berufsausbildung zum Leitstellendisponenten wäre eine bedenkenswerte Alternative. Eine Alternative, die übrigens auch Menschen, die aufgrund einer körperlichen Behinderung nicht im Einsatzdienst (RD, FW) tätig werden können, nicht von der Leitstellenarbeit ausschließen würde. Und noch ein Aspekt, ein finanzieller: Ein Leitstellendisponent verfügt in Ausübung seiner Tätigkeit über durchaus beträchtliche Summen, die er völlig selbstständig, also ohne Freigabe durch Vorgesetzte einsetzt. Angenommen in einer Disponenten-Schicht gehen 50 notfallmedizinische Hilfeersuchen ein und die Gebührenordnung im Rettungsdienstbereich sieht 400 Euro für einen RTW-Einsatz, 300 Euro für einen NEF-Einsatz und 100 Euro für einen KTW-Einsatz vor, dann lässt sich erahnen, welche Folgen eine Überversorgung der Notfallsituation mit unnötigen Rettungsmitteln haben kann. Umgekehrt wird selbstverständ-

Autor:                     Hendrik Sudowe Redaktion BOS-LEITSTELLE AKTUELL  Richterskamp 9  49078 Osnabrück  sudowe.hendrik@ osnanet.de

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AUSBILDUNG

Abb. 2: Die Schaltstelle im Mitteleinsatz – auch in finanzieller Hinsicht

Abb. 3: Das Ziel: Kompetenz in jeder Hinsicht

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lich auch eine Unterversorgung in erster Linie für unumkehrbares Leid, aber eben zusätzlich für erhebliche Folgekosten sorgen. Wenn also Erste-Hilfe-Hinweise wie z.B. eine Telefonreanimation unterlassen werden oder bei „nicht ganz so schlimmer“ Angina pectoris „nur“ ein KTW entsendet wird, um die unmittelbaren Kosten vermeintlich gering zu halten, könnten die Behandlungsfolgekosten für den gesundheitlichen Sekundärschaden, der mit einem anderen Mitteleinsatz vermeidbar gewesen wäre, um ein Vielfaches höher sein. Auch mit der besten Ausbildung werden Fehldispositionen nie ganz vermeidbar sein, aber auszahlen wird sie sich trotzdem. Um es mit Benjamin Franklin (1706-1790) zu sagen: „Eine Investition in Wissen bringt immer noch die besten Zinsen.“

Handlungsorientierter Unterricht und Lernfelder Nachdem die Notwendigkeit einer umfassenden und anerkannten Ausbildung für Leitstellendisponenten dargelegt wurde, stellt sich die Frage, welcher grundlegenden konzeptionellen didaktischen Ausrichtung eine solche Ausbildung folgen sollte. Der englische Philosoph Herbert Spencer (1820-1903) erkannte schon vor vielen Jahren – möglicherweise kritischkonstruktiv, nachdem er das vorgenannte Zitat von Benjamin Franklin gelesen hat: „Das große Ziel der Bildung ist nicht Wissen, sondern Handeln.“ Leider wird auch heute noch beides gerne gleichgesetzt. Das ein umfassendes „Wissen“ aber nicht unbedingt zu einem kompetenten „Handeln“ führt, mag das Beispiel aus irgendeiner Leitstelle in Deutschland verdeutlichen (siehe Kasten). Natürlich würde niemand auf den Gedanken kommen, diese Notrufabwicklung als kompetent zu bezeichnen. Interessanterweise kann eine fachliche Kompetenz in medizinischen Belangen jedoch nicht abgesprochen werden. Um allerdings in einer komplexen Situation (Stress, Zeitdruck, aufgeregter Anrufer, Emotionalität) erfolgreich handeln zu können, ist eine isolierte Fachkompetenz völlig unzureichend. Der Disponent benötigt umfassendere Fähigkeiten: Handlungskompetenz! Handlungskompetenz wird in der Regel als Konstrukt aus drei Kompetenzbereichen verstanden (6): 1. Fachkompetenz: Selbstverständlich ist es wichtig, auf der Grundlage der von einem medizinischen Laien in einer psychischen Ausnahmesituation gelieferten Informationen, eine Verdachtsdiagnose oder Lagedefinition zu erstellen, die dann als Entscheidungsbasis für die einzuleitenden Maßnahmen (Auswahl der Rettungsmittel, Anweisung zu Erster Hilfe) dient. Aber auch die ausgeprägteste Fachkompetenz bleibt sinnlos, wenn der Anrufer erbost oder völlig verängstigt den Hörer auflegt, weil es dem Disponenten 2. an der nötigen Sozialkompetenz mangelt. Er muss beruhigen, verständlich kommunizieren, führen und sich empathisch in die Lage des Anrufers versetzen können. Und er benötigt 3. eine Personalkompetenz (oder auch Humankompetenz), die ihm u.a. die selbstkritische Erkenntnis ermöglicht, dass ein anderes Vorgehen wesentlich effektiver gewesen wäre. Diese Selbstreflexion hilft zwar dem Patienten aus dem vergangenen Einsatz nicht mehr, kann aber die Grundlage für 1 · 2011 | 1. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 44


AUSBILDUNG

eine Optimierung kommunikativer Prozesse in zukünftigen Telefonaten bilden. Also, danke Mr. Spencer, wir haben verstanden: „Handeln“ – möglichst kompetent! – ist das übergeordnete Ziel aller didaktischen Bemühungen. Um handlungsorientiert unterrichten zu können, wäre es natürlich hilfreich, genau zu wissen, wie „Handeln“ funktioniert. Welche Mechanismen greifen, wenn der Startschuss fällt und in der Leitstelle das Telefon klingelt, der Leitstellendisponent den Anruf entgegennimmt, die richtigen Anweisungen gibt und die geeigneten Rettungsmittel disponiert? Handeln findet immer in drei Phasen statt (3, 8): Der Disponent plant, was zu tun ist (1.), führt seine Entscheidungen dann durch (2.) und kontrolliert anschließend die Effekte (3.). Ein detaillierterer Blick in die interessante Planungsphase: Im Moment der Notrufannahme beginnt der Disponent damit, Informationen zu sammeln (Ort, Art des Ereignisses, Anzahl der Betroffenen, auslaufende Gefahrstoffe, medizinische Symptome, Vorerkrankungen usw.). Wenn er eine ausreichende Informationsgrundlage erarbeitet hat, geht er den nächsten Schritt: Er gibt dem Problem einen Namen. Im medizinischen Einsatz ist das ein Leitsymptom (z.B. Atemnot, bewusstlose Person) oder eine Verdachtsdiagnose (z.B. Herzinfarkt) und im feuerwehrtechnischen Einsatz eine vorläufige Lagedefinition (z.B. Gefahrgutunfall, Wohnungsbrand). Über diese Diagnose oder Lagedefinition wird nun gewissermaßen eine „Ziel-Schablone“ gehalten. Worum geht es eigentlich sowohl im notfallmedizinischen als auch im feuerwehrtechnischen Einsatz? Um Gefahrenabwehr! Wenn also die Diagnose „Herzinfarkt“ lautet, wird die Analyse des Gefahrenpotenzials zeigen, dass es um einen vital bedrohten Patienten geht, der jeder Zeit durch ein Pumpversagen oder Herzrhythmusstörungen sterben kann. Die Gefahrenpotenzialanalyse bei einem Wohnungsbrand wird ergeben, dass möglicherweise Personen mit schweren Verletzungen im brennenden Haus eingeschlossen sind, eine Ausbreitung des Feuers möglich ist, Einsturzgefahr besteht usw. Der Gefahrenpotenzialanalyse schließt sich nun folgerichtig die Abwägung geeigneter Optionen zur Gefahrenabwehr und die Entscheidung an, welche Anweisungen dem Anrufer erteilt werden und welche Einsatzmittel und Dienste (KTW, RTW, NEF, OrgL, LNA, LF, TLF, DLK, RW, GW, ELW, FF, Polizei, ...) entsendet werden. Dass moderne 1 · 2011 | 1. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 45

Anruf in der Leitstelle Disponent:

„Notruf, Feuerwehr und Rettungsdienst.“

Anruferin:

„Ja, Müller. Mein Mann hat seit gestern Schmerzen in der Brust und im Rücken.“

Disponent:

„Und warum rufen Sie dann jetzt erst an?“

Anruferin (verunsichert):

„Ich dachte, das wird schon wieder. Meinen Sie denn, das ist was Schlimmes?“

Disponent:

„Das kann ich doch von hier aus nicht sagen! Da könnte ein Myokardinfarkt dahinter stecken, vielleicht ist es aber auch nur ein muskuloskelettaler Schmerz – eher harmlos. Könnte auch ’ne Lungenembolie sein, dann wäre allerdings eher eine Dyspnoe führend. Vielleicht ist es auch eine Gallenkolik, eine Ösophagitis oder eine Pankreatitis. Wenn’s eine Aortendissektion wäre, wäre er vermutlich schon tot.“

Anruferin:

„Meine Güte! Das ist ja furchtbar.“ (vom Telefon abgewandt) „Heinz, hast Du das gehört? ... Was hast Du denn jetzt? Heinz!“ (zunehmend verzweifelt) „Jetzt ist er umgekippt!“

Disponent:

„Ist er ansprechbar?“

Anruferin:

„Nein, um Himmels Willen. Er ist tot.“

Disponent (laut):

„Mensch, jetzt bleiben Sie doch mal ruhig. Atmet er noch?“

Anruferin:

„Nein, ich glaube nicht.“ (weint)

Disponent:

„Ruhe jetzt! Sie müssen sofort Thoraxkompressionen durchführen!“

Anruferin:

„Was soll ich? Ich kann nicht. Bitte, kommen Sie doch. Schnell!“

Disponent:

„Wollen Sie, dass Ihr Mann stirbt? Sie müssen jetzt Thoraxkompressionen durchführen. 100× pro Minute im Thoraxzentrum drücken. 5-6 cm tief. Los! Sonst stirbt Ihr Mann und Sie sind schuld!“

Anruf bricht ab Alarm- und Ausrückeordnungen diesen Planungsverlauf teilweise vorwegnehmen, entlässt den Leitstellendisponenten nicht aus der Verantwortung, ihn nachvollziehen zu können und ggf. situative Anpassungen vorzunehmen. Der Prozess der Entscheidungsfindung und die sich anschließende Durchführung und Kontrolle macht das professionelle Handeln des Leitstellendisponenten aus. Das sollte sich in einem handlungsorientierten Unterricht, der als übergeordnetes Ziel Handlungskompetenz anstrebt, widerspiegeln (6). Die Organisation eines handlungsorientierten Unterrichts erfordert vom Lehrer/Ausbilder demnach einen wohlüberlegten Einsatz von Methoden und Medien. Weniger Frontalunterricht und stattdessen mehr Eigentätigkeit des Schülers. Der Lehrer soll dem Schüler nicht nur sagen, was er tun soll, sondern er soll Lernerfahrungen ermöglichen. Geeignete Methoden sind z.B. Simulationen wie Fallstudien, Rollenspiele und Planspiele (4, 8). Hier bietet sich 45


AUSBILDUNG

dem Schüler die Möglichkeit eines Entscheidungstrainings unter simulierten Realbedingungen. Er darf „Handeln“ üben! Ein handlungsorientierter Unterricht funktioniert allerdings nicht nur auf methodisch-medialer Ebene. Er betrifft auch die Auswahl der Inhalte und die Festlegung der Lernziele. Die curriculare Umsetzung der Handlungsorientierung wird für den berufsschulischen Teil der Ausbildungen im dualen System von der Kultusministerkonferenz vorgeschrieben. Inhalte

und Ziele werden seit 1996 nach dem Lernfeldkonzept geordnet (6). Ein Lernfeld ist eine thematische Einheit im Lehrplan, in der die zu vermittelnden Inhalte und Ziele beschrieben und mit einer Zeitvorgabe versehen werden. Zwischen 10 und 15 solcher Lernfelder ergeben in der Summe den Rahmenlehrplan für den schulischen Teil der Berufsausbildung. Ein Auszug aus dem Rahmenlehrplan der Ausbildung zum Werkfeuerwehrmann (7): „Lernfeld 2: Gefährliche Stoffe und Güter handhaben; Lernfeld 6: Einsatzbereitschaft von

Im Gespräch BOS: Wird die Ausbildung zum Leitstellendisponenten im europäischen Ausland ähnlich organisiert wie hier oder können wir diesbezüglich beim Blick über die Grenzen dazulernen?

Prof. Dr.   Klaus Runggaldier, Geschäftsführer Falck Rettungsdienst GmbH, Professor für Medizinpädagogik an der Medical School Hamburg

Runggaldier: Die Ausbildung wird in einigen Ländern analog der in Deutschland organisiert (z.B. Österreich oder Schweiz). Aber es gibt auch zunehmend Länder, die anstelle des fachlichen Schwerpunktes, z.B. doppelte Ausbildung in Feuerwehr und Rettungsdienst wie in Deutschland, die Kommunikationskompetenz in den Mittelpunkt der Ausbildung von Leitstellendisponenten stellen, z.B. Großbritannien oder Schweden. Neben der reinen Ausbildung gibt es selbstverständlich auch Unterschiede in der Organisation, Standardisierung und Qualitätskontrolle von Leitstellen, von der wir hier in Deutschland noch einiges lernen könnten. BOS: Wer ist dafür zuständig, die Notwendigkeit einer bundeseinheitlichen Ausbildung zu erkennen und entsprechende Maßnahmen einzuleiten? Runggaldier: Da Rettungsdienst ja bekanntlich Ländersache ist, gibt es leider unterschiedliche Zuständigkeiten für den Rettungsdienst und auch für die Leitstellen. Aufgrund der daraus resultierenden diversen Verantwortlichkeiten, Zuständigkeiten, Organisationsformen, Interessen und Vorstellungen von Leitstellen, deren Trägern und deren Mitarbeitern gibt es auch unterschiedliche Standards für die Leistellenausbildung und -organisation. Diese vielen und unterschiedlichen Zuständigkeiten werden weiterhin dazu führen, dass außer allgemeinen Empfehlungen und Verlautbarungen keine klare, verbindliche und einheitliche Regelung getroffen werden. BOS: Wenn eine bundeseinheitliche Ausbildung angestrebt werden würde: Welche Ordnungsmittel wären

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erforderlich und welche Instanzen würden die Aufsicht führen? Runggaldier: Es müsste ein verbindliches, bundesweit einheitliches Curriculum geben, das sich an den faktischen Bedürfnissen und Erfordernissen der konkreten Aufgaben und Tätigkeiten von Leistellenmitarbeitern orientiert. Und nicht – wie bisher üblich – stark an historisch gewachsenen Inhalten und an den theoretischen Vorstellungen und Überlegungen, was sinnvoll sei und gebraucht würde. Die Umsetzung einer solcher Ausbildung, insbesondere aber auch die Qualität der täglichen Arbeit von Leitstellendisponenten, müsste dann aber auch regelmäßig evaluiert und verbessert werden, z.B. im Rahmen eines systemischen Qualitätsmanagements. BOS: Wäre das Lernfeldkonzept geeignet, um Inhalte und Ziele einer Disponentenausbildung zusammen­ zufassen? Runggaldier: Wichtiger als die Frage, welches didaktisch-methodische Konzept zur bestmöglichen Entwicklung und Ausbildung der notwendigen beruflichen Handlungskompetenz geeignet wäre, ist meines Erachtens die Frage, über welche Kompetenzen ein Leistellendisponent heute unbedingt verfügen muss und welche, insbesondere formalen, Qualifikationen möglicherweise entbehrlich wären. Überspitzt formuliert: Lieber ein Disponent, der perfekt, zielgerichtet, standardisiert am Telefon kommunizieren kann und vom Anrufer die notwendigen Informationen bekommt, um eine richtige und bedarfsgerechte Dispositionsentscheidung zu treffen, als ein Disponent, der selber zwar gelernt hat, ein Feuer zu löschen und einen Patienten zu intubieren, aber nicht in der Lage ist, richtig und strukturiert Notrufe abzufragen und den Anrufer am Telefon kommunikativ zu führen.

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AUSBILDUNG

Fahrzeugen und Geräten sicherstellen (...) Lernfeld 9: Einsätze zur Brandbekämpfung durchführen (...)“. Im Fokus stehen dabei nicht mehr traditionelle Schulfächer wie Chemie oder Physik, sondern das Handeln in typischen Situationen des beruflichen Alltags – und da bei der Handhabung gefährlicher Güter (Lernfeld 2) sowohl chemische als auch physikalische Vorgänge relevant sind, wird ausgehend von der Situation, die sich im Berufsleben stellen kann, das notwendige Repertoire aus chemischen und physikalischen (usw.) Zusammenhängen handlungsorientiert zusammen­ gefasst. Übertragen auf die Leitstelle könnte ein Lernfeld „Medizinische Notrufabfrage vornehmen“ und ein weiteres „Nutzen von IT-Systemen“ heißen. Die Lernfelder werden im Unterricht zu Lernsituationen konkretisiert. So könnte eine Unterrichtseinheit im Lernfeld „Medizinische Notrufabfrage vornehmen“ als Rollenspiel organisiert werden, in dem ein aufgeregter Anrufer über eine Telefonanlage im Schulungsraum den Leitstellendisponenten mit einem Hilfeersuchen konfrontiert, das in die Anleitung zu Reanimationsmaßnahmen münden soll. Darauf aufbauend könnten dann medizinische, logistische und kommunikative Aspekte der Telefonreanimation erörtert werden. Eine andere Unterrichtseinheit im selben Lernfeld könnte als Fallstudie aufgebaut sein und einen Massenanfall von Verletzten thematisieren, bei dem es z.B. um den adäquaten Einsatz von Rettungsmitteln und die Organisation der Anfahrtwege bei MANV-Situationen geht. Eine Strukturierung der Ausbildungsinhalte und Ziele nach dem Lernfeldkonzept wäre zeitgemäß und würde eine einheitliche Ausbildung ermöglichen, die in Schleswig-Holstein genau so aufgebaut ist wie in Bayern. Fazit Die Ausbildung ist die fundierende Wegbereitung für eine professionelle Berufsausübung – aber sie ist noch mehr: Je nachdem, wie ernsthaft und umfassend sie betrieben wird, leistet sie auch einen wichtigen Beitrag zur Außenwahrnehmung des Berufes und kann somit eine Lobby für die Berufsangehörigen schaffen. Darüber hinaus prägt sie das berufliche Selbstverständnis entscheidend mit. Die Einrichtung moderner Ausbildungskonzepte mit eindeutig handlungsorientierter Ausrichtung und bundesweit vergleichbarer Organisationsstruktur wäre hilfreich, um dem Anspruch, der heutzutage an die Arbeit des Leitstellendisponenten gestellt wird, gerecht zu werden. ❂ 1 · 2011 | 1. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 47

Literatur: 1. Runggaldier K (1998) Die Berufsausbildung zum Rettungsassistenten. Evaluationsstudie zur Ausbildungsqualität eines neuen Berufsbildes. Peter Lang, Frankfurt a.M./Bern/New York/Paris/Wien 2. Hackstein A (2010) Gesetzliche Forderungen. In: Hackstein A, Sudowe H (Hrsg.) Handbuch Leitstelle – Strukturen, Innovationen, Prozesse. Stumpf + Kossendey, Edewecht 3. Sudowe H (2010) Notruf – der erste Kontakt zur Einsatzstelle: Wie funktioniert „Handeln am Telefon“? In: Hackstein A, Sudowe H (Hrsg.) Handbuch Leitstelle – Strukturen, Innovationen, Prozesse. Stumpf + Kossendey, Edewecht 4. Sudowe H (2010) Handlungsorientierung in der Disponentenausbildung. In: Hackstein A, Sudowe H (Hrsg.) Handbuch Leitstelle – Strukturen, Innovationen, Prozesse. Stumpf + Kossendey, Edewecht 5. Schlechtriemen T, Dirks B, Lackner C, Moecke HP, Stratmann D, Krieter H, Altemeyer KH (2006) Leitstelle – Perspektiven für die zentrale Schaltstelle des Rettungsdienstes. 11. Leinsweiler Gespräche der AGSWN e.V. in Zusammenarbeit mit INM, IfN und BAND, 14.- 15. Juli 2006. http://www.notarzt.de/ imageordner/index.php?aktiv=190&menuoffen=10X19 0X&bereich=&inhaltvon=202; abgerufen am 25. Oktober 2011 6. Kultusministerkonferenz (KMK) (o.A.) Handreichung für die Erarbeitung von Rahmenlehrplänen der Kultusministerkonferenz für den berufsbezogenen Unterricht in der Berufsschule und ihre Abstimmung mit Ausbildungsordnungen des Bundes für anerkannte Ausbildungsberufe. http://www.kmk.org/bildung-schule/ berufliche-bildung/rahmenlehrplaene-zu-ausbildungsberufen-nach-bbighwo.html; abgerufen am 14. August 2011. 7. Kultusministerkonferenz (KMK) (o.A.) Rahmenlehrplan für den Ausbildungsberuf Werkfeuerwehrmann/ Werkfeuerwehrfrau. www.kmk.org/bildung-schule/ berufliche-bildung/rahmenlehrplaene-zu-ausbildungsberufen-nach-bbighwo/liste.html; abgerufen am 18. August 2011. 8. Sudowe H (2007) Professionell handeln im Rettungsdienst. Das Trainingsbuch. Urban & Fischer bei Elsevier, München/Jena

Abb. 4: Methodik – ausprobieren statt nur zuhören

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TECHNIK

Leitstellentechnik: Anspruch vs. Wirklichkeit? Autor:   Stephan Bandlow-Hoyer Redaktion   BOS-LEITSTELLE AKTUELL

Abb. 1: Moderne Leitstellentechnik entspricht heute hochverfügbaren Rechenzentren

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Selten liest man in den letzten Jahren von großen Leitstellenprojekten, die ohne nennenswerte Startprobleme ans Netz gehen. Die Ursachen dafür werden meist den Lieferanten der Technik zugeschrieben. Aber ist diese Betrachtung auch immer richtig und fair? Der folgende Beitrag versucht Licht ins Dunkel unserer Realisierungsprobleme zu bringen und Wege aus einem vermeintlichen Zielkonflikt aufzuzeigen.

Die prägenden Überschriften in den Tageszeitungen der ganzen Republik gleichen sich in ihrer Botschaft: „Leitstellenstart verzögert sich wegen technischer Probleme“. Mit großer Regelmäßigkeit kritisieren die Betreiber von Leitstellen im Rahmen von Neubauten den unzureichenden Reifegrad von Einsatzleitrechnersystemen, der Notruf- und Funktechnik sowie der Alarmierungssysteme. Beim Blick hinter die plakative Überschrift zeigt sich aber allzu oft, dass die späteren Probleme durchaus hausgemacht, frühzeitig erkennbar und damit auch vermeidbar gewesen wären. Selbstverständlich kann sich die Branche nicht gänzlich von Fehlern freimachen, denn enge Innovationszyklen und die werbewirksame, öffentliche Ankündigung noch nicht zu Ende entwickelter Funktionen sind Symptome eines in erster Linie marketinggeprägten Produktmanagements in einem auf Sicherheit bedachten Marktsegment. Dass der Erfolg dieser Strategie im BOS-Umfeld nur von kurzer

Dauer ist, sollten die Verantwortlichen erkennen und entsprechend nachhaltig handeln. BOS-Leitstellen unterliegen Austauschintervallen von mehreren Jahren – insbesondere das schützt die Lieferanten bisher vor allzu großen Abwanderungsbewegungen unzufriedener Kunden. Aber auch die Tatsache, dass in der Startphase einer Leitstelle noch problembehaftete Funktionen beim Kunden letztendlich bis zur Störungsfreiheit entwickelt werden, führt letztlich dazu, dass sich nach mehrjähriger Zusammenarbeit doch noch eine gewisse Kundenzufriedenheit einstellt. Eine offene und ehrliche Startbasis ist das beschriebene Prozedere natürlich nicht. Leitstellenprojekte sind heute in aller Regel echte Großprojekte. Sie haben wenig mit dem einfachen Austausch eines Endgerätes zur Notruf- und Funkabfrage für eine Zwei- oder Dreiplatz-Leitstelle früherer Jahre gemeinsam. Zukünftige Entwicklungen wie der digitale Behördenfunk machen die Leitstellen zu einem fast schon integralen Bestandteil eines komplexen Systems und erfordern einen deutlich größeren Abstimmungsbedarf mit diversen Partnern im Gesamtsystem. Trotzdem versuchen wir heute noch allzu oft, die Herausforderungen einer komplexen technischen Erneuerung mit Bordmitteln und eigenem Personal zu meistern. Wir improvisieren dort, wo ein professionelles Projektmanagement dringend erforderlich ist! Diese Improvisation funktioniert so lange recht erfolgreich, wie keine oder nur marginale Probleme auftreten. Spätestens aber dann, wenn komplexe Probleme den Realisierungsplan ins Wanken bringen, zeichnet sich ein versiertes Projektmanagement aus. Ein Blick auf viele Projekte der vergangenen Jahre zeigt, dass insbesondere die Realisierungszeiträume deutlich zu optimistisch geplant wurden. Eine Störung, ein Lieferengpass oder ein längerer Personalausfall an wesentlichen Stellen – und schon kann ein ganzes Großprojekt aus den Fugen geraten. Betrachtet man dann noch o.g. Vertriebsaus1 · 2011 | 1. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 48


TECHNIK

sagen als belastbare Lieferzeitpunkte, steht man sehr schnell vor einem schier unlösbaren Problem in der Realisierung. Zu einem persönlichen Waterloo wird eine Verzögerung im Projekt immer dann, wenn es für die aufgetretene Störung keinen „Plan B“ oder fachlich richtig ausgedrückt keinen „kritischen Pfad“ gibt. Genau dann wird die Suche nach Schuldigen oft zum Hauptthema und eben nicht die viel wichtigere Suche nach Lösungen für das aufgetretene Problem. Kumuliert diese Krise dann auch noch mit einer ungeregelten Außenkommunikation oder mit unbeweglichen Zielvorgaben, kommt es unweigerlich zu einer Bindung der personellen Ressourcen und einem Stillstand im Projekt. Ein gutes Projektmanagement kann also auf Seiten des Kunden wie auch des Lieferanten helfen, den Projekterfolg zu sichern. Kosten des strukturierten Projektmanagements (ob nun als eigene Personalkosten oder als ausgeschriebene Leistung für ein externes Projektmanagement) sind von Anfang an bei der Ermittlung eines Budgets zur Erneuerung einer Leitstelle zu berücksichtigen und offen zu kommunizieren. Es stellt sich aber beim Blick auf BOS-Leitstellen auch die Frage, ob wir es der Industrie nicht auch zu einseitig überlassen, unsere Bedürfnisse zu erkennen und funktionale Lösungen zu entwickeln. Mit jeder Ausschreibung werden die Lieferanten mit höchst spezifischen Anforderungen des zukünftigen Nutzers konfrontiert. So wird jede Leitstelle zu einem Unikat und jede ELR-Software zu einer Individualentwicklung. Wie die Industrie einigermaßen wirtschaftlich auf die unterschiedlichen Kundeninteressen innerhalb einer eigentlich homogenen Branche reagieren soll, scheint einen Großteil der Beschaffer bzw. Ersteller von Pflichtenheften nicht sonderlich zu beschäftigen. Der Vorteil einer großen Stückzahl einheitlicher Produkte und damit einhergehend eines angemessen günstigen Preises kann zwar durch eine Parametrisierung in durchaus weiten Grenzen erreicht werden, aber spätestens im tief funktionalen Bereich sind reine Anpassungen nicht die optimale Lösung für komplexe Kundenanforderungen. Enttäuschungen ob der so nicht erwarteten Realisierung der beschriebenen Position aus dem Pflichtenheft kann wohl jeder Beschaffer aus eigener Erfahrung bestätigen. Dass keiner der namhaften Lieferanten von Einsatzleitrechnersystemen eine wirklich intuitive und damit bedienerorientierte Mensch-Maschine-Schnittstelle anbietet, zeigt das ganze Dilemma. Erhebliches Entwicklerpotenzial wird für die Realisierung von verschiedenen Funktionalitäten aufgeboten und steht damit nicht für die Optimierung in Richtung Endan1 · 2011 | 1. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 49

wender zur Verfügung. Hinzu kommt, dass kaum eine ausschreibende Stelle dieser wichtigen Schnittstelle die Bedeutung zukommen lässt, die ihr eigentlich zugestanden werden müsste. Sind wir also selbst Schuld an dem, was uns die Industrie liefert? In weiten Teilen schon, denn wir haben es in den letzten Jahren – trotz absolut vergleichbarer Aufgabenstellungen in den Leitstellen – nicht geschafft, den Entwicklern und Produktmanagern eine einheitliche Grundausrichtung für ihre Systeme zu beschreiben. Also entwickelt die Industrie von Kunde zu Kunde, von Ausschreibung zu Ausschreibung und von Leitstelle zu Leitstelle. Glück für den Lieferanten, wenn das Pflichtenheft lückenhaft und der Interpretationsspielraum damit groß ist – ob der Kunde jedoch mit der vom Lieferanten erdachten Umsetzungslösung zufrieden ist, ist vom Zufall und der Fachkompetenz des Produktmanagements bzw. der Entwickler abhängig. Deutsche BOS-Leitstellen sind im Kern ihrer Aufgaben sehr gut miteinander vergleichbar. Sie sind im Regelfall als Integrierte Leitstellen eingerichtet und oft für einen großräumigen bzw. einwohnerstarken Versorgungsbereich zuständig. Zusatzaufgaben (Vermittlung des vertragsärztlichen Notdienstes, Werkssicherheit usw.) lassen sich gezielt und modular integrieren. Beste Voraussetzungen also für eine weitgehend homogene Anforderungsstruktur an die dort zu verwendende Technik. Trotzdem wird das sprichwörtliche Rad bei der Erstellung jedes einzelnen Pflichtenheftes neu erfunden. Als sei dies nicht alles schon schlimm genug, fehlt es an einer einheitlichen

Abb. 2: Regionalleitstellen bündeln neben Personal auch Technik

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TECHNIK

Abb. 3: Medientechnik ergänzt heute vielfach die klassische Leitstellen-EDV

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Zusammenarbeitschnittstelle zwischen den realisierten Systemen in der Fläche. Zwar bietet nahezu jeder Hersteller heute offene Systemschnittstellen an, aber einen einheitlichen Standard sucht man vergeblich. Bei den deutschen BOS mangelt es nicht an klugen Köpfen, die bewährte und innovative Ideen für Leitstellen erdenken bzw. zusammenführen können. Viele Funktionalitäten etablierter Systeme entstammen bereits heute Workshops und Brainstormings mit Kunden. Es ist aber bisher nicht gelungen, die Kundenanforderungen der Gesamtheit aller bundesdeutschen Leitstellen zusammenzutragen und in einer, nennen wir sie einmal Standard-Leistungsbeschreibung münden zu lassen. Das, was in Zeiten des Internets, von Wikipedia und Open-Source-Projekten eigentlich undenkbar ist, findet im Bereich der Leitstellen sicher auch noch auch auf absehbare Zeit weiter statt: Eine Kleinstgruppe von Kunden (auch Pflichtenhefte für ein ganzes Bundesland sind aus Sicht der Industrie nicht mehr) fordert von den Zulieferern ein exakt auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenes und zudem hochverfügbares Produkt. Die Beschaffung erfolgt dann auch noch unter wettbewerblichen Vergabebedingungen mit einer ggf. hohen Präferenz auf den Preis. Müssen wir uns da noch wundern, dass die Realisierung von Leitstellenprojekten schwierig und voller Fallgruben ist? Die BOS sind aufgefordert der Industrie klar und einheitlich zu vermitteln, wo die Reise in den nächsten Jahren hingehen soll. Ein klarer Standard, der uns als Kunden plan- und berechenbar macht. Keine Ausschreibungen als Wundertüte der Funkti-

onen, bei deren Realisierung auch für den Lieferanten klar ist, dass er diese nie wieder an einen anderen Kunden verkaufen kann. Im Umkehrschluss aber die Möglichkeit bietet, Standards zu definieren und der Industrie die Gewissheit zu geben, dass die dort beschriebenen Funktionen von einer großen Kundengruppe benötigt (und bezahlt) werden. Zugegeben, in einer Situation, in der es noch nicht einmal eine Standardschnittstelle für den Austausch von Einsatzdaten gibt, ein hehrer Ansatz, aber die Rahmenbedingungen sind durch moderne Kommunikationsmedien günstig wie nie. Nicht zuletzt Zeitschriften wie BOS-LEITSTELLE AKTUELL werden eine geeignete Plattform für Innovationen, Diskussionen und Entwicklungen bieten. Bevor die Industrie uns mit jeder zukünftigen Leitstellenerneuerung vor die Wahl zwischen verschiedenen Lösungen und Philosophien stellt, sollten wir den Weg in die Zukunft vorgeben: partnerschaftlich und fair. Die technische Erneuerung einer Leitstelle darf in Zukunft nicht mit der Notwendigkeit einhergehen, quasi zum Selbstzweck zu werden. Die komplexe Technik einer Leitstelle muss den Stellenwert eines gut funktionierenden und zuverlässig verfügbaren Handwerkszeugs haben, damit sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Leitstellen in ihrer täglichen Arbeit auf das Wesentliche konzentrieren können: die Arbeit für und mit Menschen. Dazu muss ein Technikwechsel in der Leitstelle für den Kunden und den Lieferanten zu einem weitgehend einheitlichen und problemfreien Thema werden und nicht zu einem immer wieder neuen Abenteuer. Ein gelungenes Zusammenspiel zwischen der Industrie als Dienstleister unserer fachlichen Interessen und uns als Kunden ist möglich und schon lange überfällig. Suchen wir gemeinsam den Dialog und etablieren wir uns als berechenbarer Partner auf dem Weg zu echten Standardprodukten. Der Erfolg hat auch hier im wahrsten Sinne des Wortes viele Väter. Einzelne Ideen halten in einem Standard nur dann durch, wenn sie es schaffen, zu begeistern und eine breite Anforderungspalette abzudecken. Ein wie auch immer gestaltetes „OpenSource-Pflichtenheft“ kann daher nie das Produkt eines Einzelnen sein, sondern vielmehr das Ergebnis vieler engagierter, aber durchaus auch kritischer Köpfe auf Seiten der Beschaffer und der Industrie. Man darf optimistisch sein, dass sich der derzeitige Konflikt zwischen Anspruch und Wirklichkeit so langfristig auflösen lässt. Seien wir gemeinsam bereit für einen Austausch mit den beteiligten Akteuren und gestalten wir unser Arbeitsumfeld aktiv mit. ❂ 1 · 2011 | 1. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 50


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