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Risikomanagement
2 / 2013 · Mai 2013 · 3. Jahrgang
Jetzt NEU! Zertifizierte Fortbildung für Leitstellen Prüfen Sie Ihr Fachwissen, sammeln Sie Fortbildungsstunden. BOS-LEITSTELLE AKTUELL bietet allen Abonnenten ab sofort ein kostenloses Zusatzangebot: die Zertifizierte Fortbildung.
Wie’s genau funktioniert, erfahren Sie auf S. 8 und unter
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EDITORIAL
Risiken in Leitstellen: Gibt es so etwas eigentlich? Liebe Leserinnen und Leser,
Risiko behaftet – wenn auch vor einem anderen Hintergrund? Vor allem spielt aber auch die Frage nach
„Nichts geschieht ohne Risiko – aber ohne Risiko
der Wirtschaftlichkeit eine Rolle. Wie viel Redun-
geschieht auch nichts.“ (Walter Scheel)
danz ist noch bezahlbar bzw. welches Risiko muss in einem hochtechnisierten System einfach in Kauf
Dieses Zitat ist so alt wie richtig und darum ist jede
genommen werden? Wir sind in der Pflicht, einfache
Bürgerin und jeder Bürger, jedes Unternehmen, ja,
aber funktionale Rückfallebenen zu schaffen. Bei
jedes Individuum an jedem Tag einem gewissen
Systemausfällen ersetzt die Magnettafel mit bunten
Risiko ausgesetzt – mal mehr, mal weniger. Aber
Schildern die digitale Fahrzeugzustandsanzeige. Nur
sind eigentlich auch unsere Leitstellen einem Risiko
so ist es überhaupt noch möglich, in immer größe-
ausgesetzt? Dort wo jederzeit ein fachkundiger
ren Leitstellenbereichen die Fahrzeugflotte auch
Ansprechpartner verfügbar ist, wo eventuelle Risiken
ohne GPS und Statusübertragung zu lenken. Der
minimiert werden, wo der um Hilfe ersuchenden Mit-
Einsatzmittelvorschlag des EDV-Leitstellensystems
bürgerin oder dem um Hilfe ersuchenden Mitbürger
erscheint nicht mehr, trotz redundanter Server-Bänke.
schnellstmöglich geholfen wird, wo Schadenlagen
Nur den zweiten Switch im Doppelboden, den hatte
begrenzt werden und von wo aus allen Einsatzkräften
man vergessen.
Frank Leenderts Leiter kommunaler Teil Kooperative Großleitstelle Oldenburg Redaktion BOS-LEITSTELLE AKTUELL
jede erdenkliche Unterstützung geboten wird – was soll da schon passieren?
Und damit wären wir auch schon beim größten Risiko der Leitstelle, nämlich dem Menschen. Eine Redun-
Oberste Aufgabe einer jeden Leitstelle ist es, einge-
danz ist hier nicht möglich, denn Gehirne sind nicht
hende Anrufe von um Hilfe ersuchenden Mitbürge-
zu doppeln (Einstellungen übrigens auch nicht). Dort
rinnen und Mitbürgern adäquat entgegenzunehmen,
wo Menschen arbeiten, werden auch immer Fehler
die aus dem Gespräch gewonnenen Erkenntnisse
gemacht. Kann man dieses Risiko überhaupt durch
zu verifizieren, die Einsatzkräfte gemäß der Einsatz-
Schulung, Ausbildung etc. ausschließen? Trainieren
lage zu alarmieren und anschließend beiden Seiten
müssen wir nicht nur Einsätze, sondern auch Aus-
vollumfänglich Begleitung und Unterstützung anzu-
fälle. Die schönste Rückfallebene, sei es die Magnet-
bieten. Doch was geschieht, wenn der eingehende
tafel oder der daneben liegende Vordruck, helfen in
Notruf plötzlich „abreißt“, der um Hilfe ersuchende
kritischen Situationen nicht weiter, wenn nicht vorher
Anrufer am Telefon plötzlich zusammenbricht und
damit geübt wurde, und dies möglichst regelmäßig.
nicht mehr antwortet? Ist eine Leitstellenmitarbeite-
Die vor Ihnen liegende BOS-LEITSTELLE AKTUELL
rin oder ein Leitstellenmitarbeiter nicht auch perma-
beschäftigt sich aus diesem Grund mit vielen span-
nent dem Risiko ausgesetzt, unter großem Zeitdruck
nenden Beiträgen rund um das Thema Risikomanage-
eine falsche Entscheidung zu treffen, die gegebenen-
ment in Leitstellen.
falls Auswirkungen auf den gesundheitlichen Zustand einer Patientin oder eines Patienten hat? Welchem
Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern viel
Risiko ist die Disponentin oder der Disponent aus-
Spaß bei der Lektüre und natürlich eine möglichst
gesetzt, wenn zwar der Notruf entgegengenommen
risikoarme Zeit.
werden kann, aus technischen Gründen aber keine Einsatzkräfte alarmiert werden können? Aktuell wird ein immer größeres Augenmerk auf neueste Techniken gelegt. Aber ist die neueste Technik auch stets risikofreier oder eher mit einem
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Frank Leenderts
3
INHALT
INHALT 6
KASUISTIK
mit Kopfplatzwunde: 31 Bewusstloser Einsatz für RTW und NEF
News
R. Strobel
MENSCH
ORGANISATION
10
Licht aus – Notruf an: Auswirkungen von flächendeckenden Stromausfällen und was Leitstellen tun können U. Rühl
in der Leitstelle: 34 Englisch Redewendungen und Begriffe I. Abele
PORTRÄT
in Regionalleitstellen: 15 Redundanzsysteme Der Brandenburger Weg
in Bayern: 36 Leitstellenausbildung Die Integrierte Lehrleitstelle (ILLS) an der
I. Zellmann
Staatlichen Feuerwehrschule Geretsried Ch. Schwarz, J. Huber
AUSBILDUNG
Wege in der Stabsausbildung: 20 Andere Trainings mit computersimulierten Planspielen G. Hofinger, R. Zinke
MEDIZIN
Leitsymptome – Teil 6: 42 Notfallmedizinische Thermische Schädigungen H. Sudowe
TAKTIK
der Gefahrenmatrix 24 Anwendung in der Notrufabfrage: Geht das?
RECHT
A.-M. Baumann
28 Stuttgart-Lauf: Halb Marathon, halb MANV
contra Schweige46 Auskunftsanspruch pflicht: Die Gratwanderung des Leitstellen-
R. Strobel
disponenten T. Ohr
Redaktionsleitung: Klaus von Frieling, M.A., Edewecht Tel. 04405 9181-21 · E-Mail: frieling@skverlag.de
Einzelpreis: 9,60 Euro Bankverbindungen: Deutschland: PGiroKto.: Postbank Hannover, BLZ 250 100 30, Konto-Nr. 2837-300 Volksbank Ammerland-Süd, BLZ 280 618 22, Konto-Nr. 15 872 000 Österreich: Steiermärkische Bank, Graz, BLZ 208 15, Konto-Nr. 0300 / 730 959
Verlagsleitung: L. Kossendey (Anschrift des Verlages) 3. Jahrgang Redaktion: Stephan Bandlow (Leiter kommunaler Teil Kooperative Regionalleitstelle West, Elmshorn) · Dr. AndréMichael Baumann (Stab des Landesbranddirektors, Berlin) · Heiko von Deetzen (Leiter polizeilicher Teil Kooperative Großleitstelle Oldenburg) · Robert Frey (Leiter der Heli-Einsatzzentrale, REGA Zürich) · Achim Hackstein (Leiter kommunaler Teil Kooperative Regionalleitstelle Nord, Harrislee) · Frank Leenderts (Leiter kommunaler Teil Kooperative Großleitstelle Oldenburg) · Dr. Wolfgang Lenz (Ärztlicher Leiter Rettungsdienst, Main-Kinzig-Kreis) · Michael Richartz (Leiter der Feuerwehr- und Rettungsleitstelle, Bremen) · Daniel Sievers (Stellvertretender Leiter der Integrierten Regionalleitstelle NordOst, Eberswalde) · Rolf Strobel (Stellvertretender Leitstellenleiter, Berufsfeuerwehr Stuttgart) · Hendrik Sudowe (Diplom-Gesundheitslehrer, Osnabrück) · Reto Trottmann (Leiter Einsatzzentrale Schutz & Rettung, Zürich) · Gernot Vergeiner (Tirol)
4
Druck: Media-Print Informationstechnologie GmbH Eggertstr. 28 · 33100 Paderborn Herausgeber: Verlagsgesellschaft Stumpf und Kossendey Postfach 1361 · 26183 Edewecht · www.skverlag.de
Hinweis: Aus Gründen der Lesbarkeit wurden alle Personenbezeichnungen ausschließlich in der männlichen Form dargestellt. Selbstverständlich sind dennoch stets Personen beliebigen Geschlechts gemeint.
Anzeigenverkauf: Verlagsgesellschaft Stumpf und Kossendey z.Z. gültige Anzeigenliste 2011 Bestellungen und Abonnentenverwaltung: Tel.: 04405 9181-0 Fax: 04405 9181-33
ISSN 2193-4401
Erscheinweise: alle 3 Monate, 4 Ausgaben jährlich Abo-Preis: bei Bankeinzug: 35,40 Euro (zzgl. der jeweils gültigen Postvertriebsgebühr) bei Rechnung: 36,50 Euro (zzgl. der jeweils gültigen Postvertriebsgebühr)
Abbildungsnachweise: S. Drolshagen (Titelseite, S. 9); U. Rühl (S. 10-14); I. Zellmann (S. 15, 27, 34); R. Zinke (S. 20-23); P. Knacke (S. 24, 31, 32, 42); A. Baumann (S. 25); R. Strobel (S. 28-30); Staatliche Feuerwehrschule Geretsried (S. 36-41); K. von Frieling (S. 46, 49); H. Friedrich (S. 47)
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BOS-LEITSTELLE AKTUELL
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Leitstellen zur Gefahrenabwehr: im Brandschutz, Rettungsdienst und Katastrophenschutz ebenso wie an Leitstellen der Polizei oder Sicherheitsleitstellen bei den Werkfeuerwehren. Sie bietet interessierten Führungskräften ebenso fachlich fundiertes Wissen wie dem engagierten Leitstellendisponenten oder dem in der Ordnungsbehörde zuständigen Verwaltungsfachmann. Fortbildung r e rt ie z ifi rt e Jetzt mit Z nenten! für alle Abon verlag.de/zf k .s w w w r te Mehr un
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NEWS
Modernste Polizei-Leitstelle Nordrhein-Westfalens Ein im August 2011 begonnener Neubau für das Polizeipräsidium Dortmund wurde am 8. April 2013 von NRW-Innenminister Ralf Jäger gemeinsam mit Oberbürgermeister Ullrich Sierau, Polizeipräsident Norbert Wesseler, BLB-Geschäftsführer Rolf Krähmer und BLB-Niederlassungsleiter Helmut Heitkamp eingeweiht. Der zwei-, teilweise dreigeschossige Neubau beherbergt die modernste Leitstelle und den fortschrittlichsten Führungsraum bei der Polizei in NRW. Herzstück des neuen Führungsraums ist ein riesiger, nierenförmiger Tisch, der extra für die speziellen Belange der Polizei in Handarbeit angefertigt wurde. Dort finden 28 Personen Platz und können über Kopfhörer und Sprechanlagen miteinander kommunizieren. Die Arbeitsplätze sind mit modernster Technik sowie mit Telefonen, Funk und vielem mehr ausgestattet. Für die Leitstelle, in der alle Anrufe über die Rufnummer 110 eingehen, wurden 10 Arbeitsplätze eingerichtet. Weiterhin ist in dem Neubau das Gewahrsam mit 21 Einzel-, 21 Beobachtungs- und drei Sammelzellen untergebracht. Die Anbindung des Neubaus an das Polizeipräsidium erfolgt durch eine Brücke. Der Neubau hat eine Bruttogeschossfläche von rund 3.900 m2. Er wurde in Massivbauweise (Stahlbeton) und in wesentlichen Teilen aus Fertigteilen erstellt. Die Fassade besteht aus Ziegeln mit Lochfenstern und horizontalen Fenstern aus Aluminium-Konstruktionen, die dem erhöhten Maß an Sicherheit entsprechen. Das Gebäude ist mit der vorhandenen Heiz- und Brauchwasserwärmeerzeugung im Polizeipräsidium verbunden. Zusätzlich werden durch ein neu erstelltes Blockheizkraftwerk regenerative Energien genutzt. (Foto: BLB NRW) www.blb.nrw.de
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Rückblick auf arbeitsreiches Jahr Mitte Februar zogen die Geschäftsleitung, der Aufsichtsratsvorsitzende Dr. Walter und LH-Stv. ÖR Steixner Bilanz über das vergangene, arbeitsintensive Jahr der Leitstelle Tirol. Neben der Integration der 2011 noch nicht angebundenen Rettungsdienstbezirke Schwaz und Osttirol im März bzw. November 2012 wurde die Grubenwehr Silberberg Tirol neuer Systempartner der Leitstelle Tirol im September des vergangenen Jahres. Die Anbindung aller Rettungsdienstbezirke und der Subunternehmer des Roten Kreuzes an die Leitstelle Tirol in den vergangenen eineinhalb Jahren hat nach Angaben der Geschäftsleitung die gesamte Belegschaft der Leitstelle Tirol vor zusätzliche Aufgaben gestellt. Durch ein frühzeitiges Aufstocken des Personals konnte die deutlich höhere
Arbeitslast bearbeitet werden. Derzeit arbeiten 72 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Leitstelle Tirol. Die zusätzliche Arbeitslast durch die tirolweite Alarmierung des Rettungsdienstes Tirol spiegelt sich auch in den Zahlen der Leistungsbilanz 2012 wider. 404.000 Anrufe, davon 150.000 Notrufe, wurden durch die Mitarbeiter entgegengenommen und bearbeitet. www.leitstelle-tirol.at
Spatenstich für Integrierte Regionalleitstelle (IRLS) in Leipzig Ordnungsbürgermeister Heiko Rosenthal hat am 21. März 2013 gemeinsam mit Dr. Michael Wilhelm, Staatssekretär im Sächsischen Staatsministerium des Innern, und dem Landrat des Kreises Nordsachsen, Michael Czupalla, den offiziellen Baustart für die Errichtung der Integrierten Regionalleitstelle (IRLS) gegeben. Die Baukosten werden auf insgesamt 11,5 Mio. Euro veranschlagt. Anfang 2015 soll die Einrichtung in Betrieb gehen. Die neue Leitstelle wird für den Bereich des Landkreises Leipzig, des Landkreises Nordsachsen und der Stadt Leipzig und damit für knapp eine Million Einwohner zuständig sein. Sie löst die alte Leipziger Leitstelle in der Hauptfeuerwache sowie die Leitstellen in Delitzsch und Grimma ab. Künftig laufen alle Notrufe in Leipzig ein. Grundlage für die Errichtung ist eine 2011 abgeschlossene Vereinbarung zwischen den Landkreisen Nordsachsen und Leipzig sowie der Stadt Leipzig. Dies war eine Konsequenz aus der vom Freistaat verfügten Reduzierung der Leitstellen für die Feuerwehren, den Rettungsdienst und den Katastrophenschutz auf insgesamt fünf. Sie sind bei den Berufsfeuerwehren Chemnitz, Dresden, Hoyerswerda,
Leipzig und Zwickau angesiedelt. Die neuen Leitstellen verfügen über eine einheitliche Technik, die ihre Vernetzung erleichtert. Die IRLS Leipzig kann bei Großschadenslagen besser agieren als die alte Leitstelle und ist in der Lage, bei Ausfall einer anderen Leitstelle deren Aufgaben vorübergehend mit zu übernehmen. Maximal 21 Disponenten können gleichzeitig arbeiten. Zusätzlich stehen sechs Arbeitsplätze für die Annahme von Notrufen bei Unwettern oder Großschadensereignissen zur Verfügung. Es wird damit gerechnet, dass pro Jahr etwa 750.000 Anrufe eingehen, aus denen rund 250.000 Einsätze resultieren. Das bedeutet, dass jährlich Einsatzkräfte für insgesamt 25.000 Feuerwehreinsätze und 225.000 Notfall- und Krankentransporte im Jahr zu alarmieren und zu führen sind. www.leipzig.de
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NEWS
Flexibel einsetzbare Tischsprechstelle Die neue Tischsprechstelle D-9 aus dem Hause Holmco ist mit einem geräuschkompensierenden Elektretmikrofon ausgestattet, das eine hohe Rückkopplungssicherheit bietet. Das Mikrofon ist für einen Besprechungsabstand von ca. 30-50 cm vorgesehen. Wenn die Tischsprechstelle in sehr lauter Umgebung eingesetzt werden soll, kann stattdessen auch ein Nahbesprechungsmikrofon verwendet werden. Man kann zwischen zwei verschiedenen Schwanenhalslängen wählen, 226 mm und 415 mm. Auf Wunsch kann das Mikrofon mit einem Leuchtring zur Anzeige der Sprechbereitschaft geliefert werden. Wenn eine zweiseitige Verbindung gebraucht
wird, kann ein dynamischer Lautsprecher eingebaut werden, dann ist Gegensprechen möglich. Die Tischsprechstelle kann je nach Anforderung mit Tasten, Schaltern, Lautstärkereglern oder LED-Anzeigen ausgestattet werden. So können bei Bedarf auch mehrere Ruftasten eingebaut werden, über die verschiedene Linien adressiert werden können. Alle Bedien- und Anzeigeelemente können natürlich auch beschriftet werden. Im Gehäuse können elektronische Schaltungen untergebracht werden. Die D-9 kann auch mit USB-Schnittstelle geliefert werden und ist dann plug-and-play-fähig.
Störfälle durch ergonomische Arbeitsgestaltung vermeiden Die Arbeitsbedingungen in Leitwarten lassen sich laut einer Studie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) erheblich verbessern. Wo Beschäftigte an Rechner-Bildschirm-Systemen Prozesse überwachen und steuern müssen, mangelt es oft an der Umsetzung ergonomischer Vorgaben. Zu diesem Ergebnis kommt der Bericht „Bildschirmarbeit in Leitwarten – Handlungshilfen zur ergonomischen Gestaltung von Arbeitsplätzen nach der Bildschirmarbeitsverordnung“, der u.a. mit einer Checkliste Wege zur sicheren und menschengerechten Gestaltung aufzeigt. Im Forschungsprojekt der BAuA überprüften die Wissenschaftler die Arbeitsbedingungen an unterschiedlichen Arbeitsplätzen
in 24 Leitwarten. Dabei betrachteten sie auch die Umsetzung der Bildschirmarbeitsverordnung, die Vorgaben zur Gestaltung der Arbeit mit Rechner-Bildschirm-Systemen macht. Nur etwa zwei Drittel dieser Anforderungen seien in die Praxis umgesetzt worden, heißt es im Bericht der BAuA. Keiner der 27 untersuchten Arbeitsplätze in Leitwarten aus unterschiedlichen Produktions- und Dienstleistungsbereichen habe alle Anforderungen erfüllt. Die größten Defizite fanden sich in den Bereichen Mensch-Maschine-Schnittstelle und Arbeitsorganisation. Dazu gehört u.a., dass die Beleuchtung teilweise nicht angemessen ist und nicht auf ausreichende Arbeitspausen geachtet wird.
www.holmco.de
www.baua.de/de/Publikationen/ Fachbeitraege/F2249.html
Leitstelle für BOS-Digitalfunknetz zertifiziert Die Konzentratorlösung und der Leitstellenarbeitsplatz der RCS-9500-Produktfamilie (Radio Console System 9500) von Cassidian haben erfolgreich alle Interoperabilitätsprüfungen bestanden und sind beide durch die Bundesanstalt für den Digitalfunk der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BDBOS) zertifiziert worden. Damit können sie nun auch im Digitalfunknetz der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOSNet) betrieben werden. Die RCS-9500-Konzentratorlösung bietet eine IP-Anbindung (Internet Protocol) und verarbeitet verschlüsselte Kommunikation an einem zentralen Ort, dem sogenannten Konzentrator. Eine RCS-9500-Konzentratorlösung kann dabei von mehreren Leitstellen ressourcenschonend parallel genutzt werden. Zudem hat sie eine Schnittstelle zum sogenannten Digitalfunkstecker (DF-Stecker). Diese offene Software-Schnittstelle ermöglicht die Anbindung von Leitstellen und Funkarbeitsplätzen von mehreren Herstellern und erleichtert dadurch das Zusammenspiel von Leitstellen im Digitalfunknetz der BOS. Mit dem RCS-9500-Arbeitsplatz steht nun auch ein Nachfolgeprodukt der DWS-C (Dispatcher Workstation Communication) zur Verfügung, das auch eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung entsprechend den Vorschriften des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) bis zum Arbeitsplatz bietet. Diese neue Lösung von Cassidian lässt sich an die Anforderungen der verschiedenen Nutzer anpassen und skalieren: von einzelnen RCS-9500-Endgeräten über vernetzte Einzelarbeitsplätze bis hin zu komplexen und vernetzten Leitstellen. www.cassidian.com
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ZERTIFIZIERTE FORTBILDUNG
Zertifizierte Fortbildung für Leitstellen: Ihr kostenloses Zusatzangebot Was geht heute in der Leitstelle noch ohne Fortbildung? Wie kann man den dynamischen Entwicklungen unserer Zeit gerecht werden, wenn nicht durch systematische, inhaltlich sinnvoll ausgerichtete und regelmäßige Fortbildungen Ihres Personals? Dem entgegenstehen oftmals die Forderungen nach mehr Wirtschaftlichkeit der Kostenträger und dem veränderten Freizeitverhalten Ihrer Mitarbeiter. Aufgrund der hohen Dienstplanbelastung wird es immer schwieriger, Fortbildungsveranstaltungen an dienstfreien Tagen zu organisieren. Hier setzt die neue Zertifizierte Fortbildung der BOSLEITSTELLE AKTUELL an.
In der vor Ihnen liegenden BOS-LEITSTELLE AKTUELL starten wir nun mit der fachspezifischen Ausrichtung der Zertifizierten Fortbildung für Leitstellenpersonal. Die Zertifizierte Fortbildung ist eine Fortbildung auf fachlich hohem Niveau zu komfortablen und wirtschaftlich interessanten Konditionen. Es entstehen keine zusätzlichen Kosten über den normalen Abonnementpreis hinaus, keine Reise- und Übernachtungsaufwendungen, keine langen Ausfallzeiten. Teilnehmen kann jeder Abonnent der BOS-LEITSTELLE AKTUELL, und zwar kostenlos. Sollten Sie die Zeitschrift nicht im Abo beziehen, haben Sie die Möglichkeit, zum Preis von nur 15 Euro pro Jahr einen Online-Zugang über ein bestehendes Abo zu erhalten. Dafür teilt der Bezieher der Zeitschrift dem Verlag den Namen, die Anschrift und E-Mail-Adresse der weiteren Teilnehmer mit. Nach Zahlungseingang werden die Zugangsdaten für die einzelnen Teilnehmer an den Rechnungsempfänger übermittelt.
Den Fortbildungsbedarf abzudecken, gleichzeitig wirtschaftliche und mitarbeiterorientierte Aspekte nicht auszublenden, dies gelingt sehr gut über eine internetbasierte Lernplattform, die wir schon seit einigen Jahren mit großem Erfolg in der Zeitschrift RETTUNGSDIENST für das Rettungsfachpersonal anbieten. Es wird aus unserer Sicht Zeit, auch dem Personal in den Leitstellen diese Möglichkeit zu eröffnen. 8
Und so funktioniert’s Gehen Sie auf die Internet-Seite www.skverlag.de/zf. Loggen Sie sich mit Ihrer Kundennummer (fünf- oder sechsstellige Nummer, befindet sich auf dem Adressaufkleber zwischen den Rauten) und einem Passwort ein. Das Passwort besteht vor der ersten Teilnahme aus Ihrer Postleitzahl und kann nach erfolgreicher Anmeldung geändert werden. Klicken Sie auf „Aktueller Fragebogen“. Jetzt werden Ihnen 20 Fachfragen zu vier markierten Artikeln der aktuellen Ausgabe gestellt. Nur jeweils eine der vier vorgegebenen Antworten ist richtig. Sind Sie sicher, richtig geantwortet zu haben, können Sie mit 2 · 2013 | 3. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 60
ZERTIFIZIERTE FORTBILDUNG
einem Klick den Fragebogen abschicken. Ab jetzt ist keine Änderung mehr möglich. Jeder Fragebogen kann pro Person und Monat nur einmal ausgefüllt und abgeschickt werden. Für die Beantwortung haben Sie Zeit bis zum Erscheinen der nächsten BOS-LEITSTELLE AKTUELL. Die Ergebnisse werden automatisch ausgewertet. Ein Test gilt als bestanden, wenn Sie 80% der Fragen korrekt beantwortet haben. Sie können jederzeit, auch direkt nach einer Teilnahme, Ihr persönliches Punktekonto einsehen. Die Lösungen zu den Tests einer Ausgabe sind aber immer erst dann abrufbar, sobald ein neuer Test online verfügbar ist. Ihr Punktekonto wird Ihnen also immer alle Lösungen der vergangenen Monate, nicht aber des aktuellen Heftes anzeigen. Zum Ende eines Kalenderjahres werden Ihre Ergebnisse auf einem Zertifikat vom S+K-Verlag zusammengefasst. Das Zertifikat können Sie sich innerhalb Ihres Zugangs herunterladen und Ihrem Arbeitgeber vorlegen, der Ihnen eine bestimmte Anzahl von Fortbildungseinheiten dafür anrechnen
kann. Im Zertifikat sind alle Artikel aufgeführt, die Sie bearbeitet haben, alle Ergebnisse in Prozentpunkten sowie jeweils der Vermerk „bestanden“ oder „nicht bestanden“ bzw. „nicht teilgenommen“. Noch Fragen? Sollten Sie noch Fragen zur Zertifizierten Fortbildung haben oder wenn es Probleme bei der Anerkennung gibt, können Sie sich gerne an den S+K-Verlag unter service@skverlag.de wenden. ❂
Die Zertifizierte Fortbildung der Zeitschrift BOS-LEITSTELLE AKTUELL wird unterstützt von: • Leitstellen-Zweckverband Nord, Harrislee • Kooperative Regionalleitstelle, Elmshorn • Großleitstelle Oldenburger Land, Oldenburg • Integrierte Regionalleitstelle NordOst, Eberswalde
1. SYMPOSIUM
LEITSTELLE AKTUELL
BREMERHAVEN | 14.- 15.5.2013
DIE LAGE IM GRIFF
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ORGANISATION
Abb. 1: Notstromaggregat in New York infolge des Wirbelsturms „Sandy“
Licht aus – Notruf an: Auswirkungen von flächendeckenden Stromausfällen und was Leitstellen tun können Autor:
Uwe Rühl Geschäftsführer Rühlconsulting GmbH Neumeyerstr. 48 90411 Nürnberg uwe.ruehl@ ruehlconsulting.de
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Im November 2012 warnte ein deutscher Stromnetzbetreiber vor flächendeckenden Stromausfällen im Winter in Deutschland. Durch den erhöhten Strombedarf und das – nach Meinung vieler Experten – unzureichend ausgebaute Hochspannungsnetz könne es zu Überlastungen und damit Sicherheitsabschaltungen kommen. Geschehen ist glücklicherweise nichts. Fast nichts. Vereinzelt kam es in Stadtnetzen zu Stromausfällen, die zum Teil auch länger andauerten, z.B. im Netz der Stadtwerke München. Ist aber ein großflächiges Ereignis in Deutschland unwahrscheinlich? Die Stromausfälle vom November 2006, als vermutlich wegen der Überführung eines Kreuzfahrtschiffs eine Abschaltung von Hochspannungsleitungen wegen Überlast geschah, was in halb Europa einen Stromausfall zur Folge hatte, oder vom Dezember 2005 nach Eisbruch im Münsterland zeigen uns, dass solche Szenarien in einem hoch entwickelten Industrieland wie Deutschland durchaus möglich sind. Viele befürchten, dass durch die Energiewende vermehrte Vulnerabilitäten in die Energieversorgung einziehen könnten, was in Stromausfällen münden könnte. Ob dies Meinungsmache ist oder tatsächlich ein Bedrohungsszenario darstellt, wird die Zukunft zeigen. Dass die Stromerzeugung und -verteilung zu den kritischen Infrastrukturen der Bundesrepublik Deutschland gehört, unterstreicht die Kritikalität und Wichtigkeit des Themas für die Gesellschaft. 2 · 2013 | 3. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 62
ORGANISATION
Was sind oder wären die Auswirkungen? Zunächst muss man unterscheiden, ob es sich um ein räumlich beschränktes Ereignis in der Mittelspannungs- und Niederspannungsverteilung von Stadtwerken handelt oder um ein großflächiges Ereignis. Zu beobachten ist aber in jedem Fall, dass unsere Gesellschaft immens von einer funktionierenden Energieversorgung abhängig ist. Dabei sprechen wir nicht nur von Komforteinbußen, sondern von echten Beeinträchtigungen des täglichen Lebens. Der Autor konnte die Folgen eines Stromausfalls im November 2012 in New York nach dem Sturm „Sandy“ beobachten. Mögliche und wahrscheinliche Folgen sind zum Beispiel: Ausfall der Telekommunikationsverbindun gen ➜ Telekommunikation ist heute ein allgegenwärtiges Komfort- und Qualitätsmerkmal unseres täglichen Lebens. Durch das zunehmende Verschmelzen von Datenverbindung und Sprachdiensten in End geräten und Leitungswegen wird das Telekommunikationsnetz unter normalen Umständen schon gehörig ausgereizt. Bei einem Stromausfall wäre initial mit einem deutlichen Ansteigen des Kommunikationsverhaltens zu rechnen, da sich Menschen über die Ursache und Dauer der Unterbrechung informieren wollen. Die Kommunikation über das Mobilfunknetz sollte in der ersten Zeit noch weitgehend problemlos möglich sein, vom erhöhten Kommunikationsaufkommen abgesehen. Bereits abgeschnitten sind Anwender, die über DSL-Router telefonieren, die in aller Regel über keine Unterbrechungsfreie
Stromversorgung (USV) verfügen dürften. Einige Unternehmen, die ihre Telekommunikationsanlagen ebenfalls nicht gepuffert haben, dürften dann ebenfalls bereits sehr schnell Einschränkungen erfahren. Nach wenigen Stunden werden auch im Mobilfunknetz Einschränkungen auftreten. Basiszellen, die nicht notstromversorgt sind, sondern lediglich über Akkus gepuffert sind, werden ausfallen. Und schicke Smartphones werden ihren Dienst auch nach spätestens wenigen Tagen versagen. Dies kann bei einem Stromausfall von 24 bis 48 Stunden bereits einen fast vollständigen Zusammenbruch der Telekommunikation bedeuten. Das gilt leider auch für die Möglichkeit, Notrufe abzusetzen, auch wenn die Leitstelle über eine Notstromversorgung verfügt. Ausfall der Treibstoffversorgung ➜ Ohne Strom können Tankstellen keine Kunden beliefern. Einige Tankstellen verfügen über Notstromversorgungen, die Masse allerdings nicht. Eine Einstellung oder deutliche Einschränkung der Treibstoffversorgung kann und wird binnen kurzer Zeit zu chaotischen Verhältnissen führen. Unternehmen und Einrichtungen, die sich für ihre Notstromversorgung darauf verlassen haben, im Bedarfsfall Treibstoff an der nächsten Tankstelle zu beziehen, werden jetzt feststellen, dass dies nicht oder nur sehr erschwert funktioniert. Ausfall Bargeldversorgung und Logistik ➜ Längst zahlen viele Menschen bargeldlos. Größere Geldbeträge oder „Notgroschen“ werden selten zu Hause vorgehalten. Der moderne Mensch ist also von einer funktionierenden Bargeldversorgung über Geld Abb. 2: Emergency Response Command Center
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ORGANISATION
tion, dass der Stromausfall selbst zu einem Ansteigen der Hilfeersuchen führen dürfte, wie einige der oben skizzierten Szenarien zeigen. Es steht also ein steigendes Notrufaufkommen einer technischen Nichtverfügbarkeit der Telekommunikationseinrichtungen gegenüber. Dies bedeutet für die Leitstelle, dass sie die Hilfeersuchen nicht mehr wahrnehmen und deshalb auch, so gerne sie möchte, nicht mehr gezielt darauf reagieren kann.
Abb. 3: Emergency Operations
automaten und über ein funktionierendes bargeld loses Bezahlverfahren abhängig. Ohne Strom wird dies ebenfalls nicht oder nur deutlich eingeschränkt funktionieren. Lebensmittel zu kaufen wird daher für viele schwierig werden. Auswirkungen auf die häusliche Pflege ➜ Menschen, die zu Hause oder in kleinen Heimen gepflegt werden, sind von einer funktionierenden Stromversorgung abhängig, z.B. für Nahrungspumpen oder Monitore, eine Notstromversorgung existiert häufig nicht. Es ist also zu erwarten, dass innerhalb kurzer Zeit ein vermehrtes Aufkommen an Krankentransporten in stationäre Einrichtungen anstehen würde. Auswirkungen auf die Landwirtschaft ➜ Die moderne Tierhaltung ist ebenfalls stark von einer funktionierenden Stromversorgung abhängig. Nicht nur Belüftung und Temperierung, auch Melkanlagen werden elektrisch betrieben. Hier wäre ebenfalls innerhalb kürzerer Zeit zu erwarten, dass Landwirte nach Notstromversorgung rufen. Was bedeutet dies für die Leitstellen? Leitstellen stehen aufgrund ihrer Aufgabenstellung in vorderster Front, wenn flächendeckende Ereignisse – wie Stromausfälle – unsere Gesellschaft treffen. Wo sonst sollte der Bürger Hilfe suchen? Mit welchen Besonderheiten hätte die Leitstelle zu rechnen? Notrufe ➜ Selbst wenn die Leitstelle gut auf Stromausfälle vorbereitet sein sollte, sieht es zumeist auf der anderen Seite der Notrufleitung nicht so aus. Bürger und auch viele Unternehmen und Einrichtungen hätten sofort oder zeitnah nach Eintreten eines Stromausfalls keine Möglichkeit mehr, einen Notruf per Telefon abzusetzen. Dies gekoppelt mit der Situa-
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Auswirkungen auf die Kommunikationsein richtungen der Leitstelle ➜ Kommunikationseinrichtungen, Alarmierungseinrichtungen und auch Funkstrecken werden vermehrt über geroutete öffentliche Verbindungen geführt. Dazu dient im Prinzip die Technologie des Internets, also IP-Verbindungen. Dedizierte Leitungen sind vielfach nur noch erschwert und zu sehr hohen Kosten zu erhalten und werden deshalb zunehmend seltener eingesetzt. Dies kann zur Folge haben, dass Kommunikations- oder Alarmierungseinrichtungen der Leitstelle selbst nicht mehr oder nicht mehr ausreichend verfügbar sein können. Auswirkungen auf die Einsatzfähigkeit der Ret tungskräfte ➜ Die Einschränkung der Treibstoffver-
sorgung, die steigenden Anfälle von Hilfeersuchen, die dann vielleicht direkt an die Einsatzkräfte herangetragen werden, und die Beeinträchtigung des öffentlichen Lebens werden auch Auswirkungen auf die Einsatzkräfte haben. Einsätze können ggf. nicht mehr in der Quantität und Qualität durchgeführt werden, wie dies im „Normalfall“ zu erwarten ist. Einsatzkräfte des Rettungs- und Sanitätsdienstes werden vermutlich vermehrt mit Transporten in stationäre Einrichtungen konfrontiert werden, da eine häusliche Pflege nicht mehr durchgeführt werden kann. Feuerwehr und THW werden zur Erzeugung von Notstrom mehr als begehrt sein. Es wird unmöglich sein, alle Anfragen und Wünsche der Hilfesuchenden erfüllen zu können. Welche Maßnahmen sollten die Leitstellen ergreifen? Szenariobasierte Planungen Im Mai 2012 erschien eine internationale Norm zum Business-Continuity-Management, ISO 22301. Diese Norm ist anwendbar für Unternehmen und Organisationen, die ihre Tätigkeiten und Aktivitäten gegenüber Unterbrechungssituationen „härten“ wollen. Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnologie 2 · 2013 | 3. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 64
ORGANISATION
(BSI) hat mit dem BSI-Standard 100-4 einen Leitfaden veröffentlicht, der dieses Thema ebenfalls sehr ausführlich behandelt.
Dem liegt zugrunde, dass eine Organisation, also auch eine Leitstelle, folgende Schritte ausführen sollte: • Identifizieren der wirklich kritischen Dienstleistungen: Auch für Leitstellen gilt hier die Frage, welche Funktionen in einem solchen Fall tatsächlich zur Verfügung stehen müssen und welches die Komfortmerkmale eines Leitstellenbetriebs im Normalfall sind. Man kann hier den Regelbetrieb und den Notbetrieb einer Leitstelle unterscheiden. Definitiv relevante Dienste sind die Erreichbarkeit für Notrufe und die Fähigkeit, Einsatzkräfte zu alarmieren und einzusetzen. • Was benötigt die Leitstelle, um diese Kerntätigkeiten auszuführen? Dazu gehört die Verfügbarkeit von Personal in ausreichendem Maß, Kommunikationsverbindungen, Dokumentationsmaterial, IT- und TKSysteme, Alarmpläne, Kartenmaterial etc. Wichtig ist die Reduktion auf das wirklich Notwendige. • Welche Szenarien sind wahrscheinlich und könnten eintreten? Hier geht man von Szenarien wie z.B. einem großflächigen Stromausfall aus. Die Planungen sind also hier nicht objekt-, sondern szenariobezogen. Wenige Szenarien sind zumeist ausreichend zur Betrachtung (u.a. Ausfall Telekommunikation, Ausfall des Gebäudes, verminderte Personalverfügbarkeit). • Welche strategischen Maßnahmen kann und muss die Leitstelle ergreifen, um die kritischen Tätigkeiten ausführen zu können? Was muss präventiv getan werden, was reaktiv? • Die erforderlichen Maßnahmen sollten szenariobasiert dokumentiert und beschrieben werden. Anschließende Tests und Übungen sind unerlässlich, um die Wirksamkeit der Planungen nachzuweisen. Härtung des Leitstellenbetriebs gegen Stromausfälle Zu den präventiven Maßnahmen gehört es, die Leitstelle gegen Stromausfälle möglichst zu „härten“. Dies bedeutet, dass die Auswirkungen eines Stromausfalls auf die Kerntätigkeiten der Leitstelle so gering wie möglich gehalten werden können. Dazu gehören u.a.: 2 · 2013 | 3. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 65
Business impact analysis and risk assessment
Exercising and testing
Operational planning and control
Business continuity strategy
Establish an implement business continuity procedures
• Unterbrechungsfreie Stromversorgung für Kernkomponenten der Technik • ausreichend dimensionierte Netzersatzanlage (Notstromversorgung) einsetzen, die in der Lage ist, die Kernkomponenten der Leitstelle, eine (Not-)Beleuchtung, Belüftung und Heizung der Leitstelle zu gewährleisten. Die Netzersatzanlage muss ebenso wie die Unterbrechungsfreie Stromversorgung, regelmäßig gewartet und getestet werden. Ebenso muss die Leitstelle dafür sorgen, ausreichend Betriebsstoffe für die Notstromversorgung vorzuhalten. Hier empfiehlt der Autor mindestens 72
Abb. 4: BusinessContinuity-Lifecycle aus ISO 22313, Seite 15, International Organization for Standardization, Genf
Leitstellenstühle • 24 Stunden • 365 Tage • 3 Schichten • 1 Controller Leitstellenstuhl
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ORGANISATION
stäben gehalten? Zu den Rollen müssen Aufgaben ggf. in Checklisten festgelegt werden. Dabei sollte man auch die Überwachung der Leitstellentechnik einbeziehen, z.B. Lüftung, Temperatur und Luftfeuchtigkeit in Serverräumen der Leitstelle. Dies muss im Notbetrieb ggf. regelmäßig manuell geprüft werden.
Abb. 5: Generatoren auf einem Transporter
Stunden Betrieb unter Volllast. Eine klare vorbereitete Strategie muss dafür sorgen, dass die Leitstelle sicher mit Betriebsstoffen versorgt werden kann, wenn der Stromausfall länger andauert. Hier reichen Aussagen wie „Wir haben eine Tankstelle in der Nähe“ nicht aus. Transport, Pumpvorgang etc. müssen sicher vorbereitet sein und die Leitstelle muss sich davon überzeugen, dass das Verfahren im Ernstfall funktioniert. Weiterhin ist es ratsam, für die Leitstelle noch eine externe Einspeismöglichkeit für eine Notstromversorgung vorzuhalten, sodass im Ausnahmefall die Leitstelle von außen durch eine mobile Netzersatzanlage versorgt werden kann. Auch außerhalb der Leitstelle befindliche Einrichtungen der Leitstelle müssen in diese Maßnahmen einbezogen werden, wie Funkstellen, Alarmierungseinrichtungen, Richtfunkstrecken, VPN-Anbindungen. Hier gilt ebenfalls: testen, überprüfen, regelmäßig warten. Reaktive Maßnahmen – szenariobasierte Pläne Die Leitstelle sollte sich im Klaren sein, wie viel Personal sie in einem solchen Fall benötigt und wie unter diesen erschwerten Bedingungen auch ein Schicht betrieb über Tage aufrechterhalten werden kann. Dafür ist es ggf. hilfreich, Notfalldienstpläne vorzuhalten, die dann automatisch in Kraft treten. Dies sollte auch berücksichtigen, dass sich Leitstellenmitarbeiter selbstständig zur Dienststelle begeben, ohne explizit aufgefordert zu werden. Weiterhin muss der Dienstbetrieb für solche Fälle organisiert werden. Die Besondere Aufbauund Ablauforganisation (BAO) sollte hierbei an das Szenario angepasst sein. Wer übernimmt welche Aufgaben? Wie wird die Verbindung zu Krisen-
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Maßnahmen außerhalb der Leitstelle Was helfen alle Maßnahmen, wenn Hilfeersuchen die Leitstelle nicht erreichen? Hierfür ist es überlegenswert, mit den Einsatzkräften ebenfalls eine szenariobasierte Planung durchzuführen. Tritt ein länger anhaltender Stromausfall ein, könnten Feuerwehrgerätehäuser und Polizeidienststellen als Anlaufstelle für hilfesuchende Bürger dienen. Dies muss natürlich an den Bürger kommuniziert werden. Ob das im Fall des Stromausfalls durch Radiodurchsagen ausreicht, mag der Leser selbst bewerten. Ideal wäre es, solche Planungen im Vorfeld aufzustellen und mit den Bürgern und Unternehmen wiederholt zu kommunizieren. Die Einsatzkräfte brauchen definierte Kommunikationswege zur Leitstelle, die bei Stromunterbrechung sicher funktionieren (z.B. Fahrzeugfunk). Hilfreich sind Checklisten zur „Notrufabfrage“. Fazit Großflächige Ereignisse können die Leitstellen als Schlüsselstellen der Gefahrenabwehr und Daseinsvorsorge jederzeit treffen. Die Leitstellen sind in der Lage, sich auf solche Ereignisse professionell vorzubereiten und damit zu helfen, solchen Ereignissen etwas an Schrecken zu nehmen. Dabei ist es ratsam, über die Leitstellengrenzen hinaus zu denken und die Einsatzkräfte als verlängerte Notrufannahmestellen einzubinden. ❂ Literatur: 1. ISO 22300:2012 – Sicherheit und Schutz des Gemeinwesens – Begriffe. Beuth-Verlag, Berlin 2. ISO 22301:2012 – Sicherheit und Schutz des Gemeinwesens – Managementsysteme für die Planung, Vorbereitung und operationelle Kontinuität – Anforderungen. Beuth-Verlag, Berlin 3. ISO 22313:2012 – Sicherheit und Schutz des Gemeinwesens – Managementsysteme für die Sicherstellung eines kontinuierlichen Geschäftsbetriebs – Leitfaden. Beuth-Verlag, Berlin 4. Nationale Strategie zum Schutz Kritischer Infrastrukturen (KRITIS-Strategie) Bundesministerium des Innern 5. BSI-Standard 100-4 Notfallmanagement. Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, Bonn 2008
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ORGANISATION
Abb. 1: Die Regionalleitstelle Nordost in Eberswalde
Redundanzsysteme in Regionalleitstellen: Der Brandenburger Weg Das Land Brandenburg arbeitet seit dem Jahr 2004 an der Regionalisierung der bis dahin durch die Landkreise und kreisfreien Städte betriebenen Integrierten Leitstellen für Feuerwehr, Rettungsdienst und Katastrophenschutz. Im Rahmen einer Novelle des Gesetzes über den Brandschutz, die Hilfeleistung und den Katastrophenschutz des Landes Brandenburg (Brandenburgisches Brand- und Katastrophenschutzgesetz – BbgBKG) im Jahr 2004 hat der Gesetzgeber die Forderung formuliert, dass es zukünftig Integrierte Regionalleitstellen (RegLs) im Land Brandenburg geben soll.
Die Erfahrungen bei zurückliegenden Katastrophen und Großschadensereignissen in Brandenburg und in anderen Bundesländern haben gezeigt, wie wichtig effektiv funktionierende und gut ausgestattete Leitstellen bei der Abarbeitung von Großschadenlagen sind. Die Leitstellen sind diejenigen Funktionseinheiten, die beim Eintritt einer Großschadens- oder Katastrophenlage die hohen Informations- und Kommunikationsaufkommen bearbeiten und entsprechend handeln müssen. Durch die zuständige Fachaufsicht für die Leitstellen im Land Brandenburg, das Brandenburgische Innenministerium, wurde eine Verordnung über die 2 · 2013 | 3. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 67
Bildung von Regionalleitstellen für den Brandschutz, den Rettungsdienst und den Katastrophenschutz im Land Brandenburg (Regionalleitstellenverordnung – RLSV) am 16. Mai 2007 erlassen. Mit dieser Verordnung nach § 49 Abs. 2 BbgBKG über die Bildung von Regionalleitstellen wurde für das Land Brandenburg eine einheitliche und nach außen erkennbare Struktur gebildet, die die territorialen Versorgungsbereiche für den Brand- und Katastrophenschutz sowie für den Rettungsdienst in sachgerechter Weise regelt. Die Leitstellenstandorte und Versorgungsbereiche wurden bis zum Jahr 2010 gebildet (Abb. 2). Gleichzeitig wur-
Autor:
BAR Ingolf Zellmann Feuerwehr Cottbus Leiter der Leitstelle Lausitz Feuerwehr Cottbus info@feuerwehr.cottbus.de
15
Frankfurt
Oder-Spree
Märkisch-Oderland
Cottbus
Spree-Neiße
Oberspreewald-Lausitz
Elbe-Elster
Teltow-Fläming
Brandenburg
Prignitz
Abb. 2: Leitstellenbereiche
Dahme-Spreewald
Frankfurt (Oder)
Potsdam-Mittelmark
Oderland
Cottbus
Potsdam
Lausitz
Brandenburg an der Havel
Havelland
Brandenburg
Potsdam
Ostprignitz-Ruppin
Nordwest
Eberswalde
Uckermark
Nordost
Oberhavel
Barnim
Land-/Stadtkreis
ORGANISATION
den im Jahr 2006 im Rahmen des Finanzausgleichsgesetzes (FAG) des Landes Brandenburg finanzielle Mittel für die neu gebildeten Regionalleitstellen zur Verfügung gestellt, mit der die Harmonisierung der Regionalleitstellen und die Redundanz zwischen den Leitstellen besonders gefördert werden soll. Im Jahr 2007 erfolgte die Bildung einer Facharbeitsgruppe, besetzt mit Vertretern der Leitstellen, dem Innenministerium, dem Gesundheitsministerium, dem Städte- und Gemeindebund, dem Landkreistag sowie der Landesfeuerwehrschule. Darüber hinaus wurde eine Steuerungsgruppe mit politischen Wahlbeamten (Beigeordnete/Dezernenten) gebildet, um Budgets zu definieren und grundsätzliche Entscheidungen zu fällen. Die Facharbeitsgruppe erarbeitete eine fachliche Konzeption mit Aufgabenschwerpunkten zur Erfüllung der durch die Landesregierung vorgegebenen Ziele. Ein Rechtsgutachten des Innenministeriums stellte in diesem Prozess nochmals klar heraus, dass die Regionalleitstellen den gesetzlichen Auftrag haben, die ununterbrochene und unverzügliche Annahme des Notrufes 112 sicherzustellen, die notwendigen Einsatzmaßnahmen zu veranlassen und den Gesamteinsatz zu dokumentieren. Daraus abgeleitet wurde in diesem Gutachten festgestellt, dass es eine rechtliche Verpflichtung gibt, Vorsorge zu treffen, um für den Fall eines Ausfalles einer Leitstelle aufgrund technischer oder organisatorischer Störungen den Notruf ununterbrochen entgegennehmen zu können. Die Facharbeitsgruppe untersuchte, begleitet von einem externen Berater, verschiedene Varianten einer möglichen Redundanz. Grundsätzlich wurden verschiedene Szenarien
Abb. 3: Vertretungs regelungen
16
X X
X X
X
X X
X X
X
X
X
Oder-Spree
Frankfurt
Märkisch-Oderland
X
Cottbus
X
In der Bewertung der Ausfallszenarien und Risiken konnten drei grundsätzliche Varianten für einen möglichen Redundanzbetrieb erarbeitet werden: Variante 1 Jede Leitstelle errichtet eine eigenständig funktionsfähige Ersatzleitstelle. Variante 2 Durch mobile Führungseinrichtungen, z.B. ELW 2 oder ELW 3, wird im Bedarfsfall eine Ersatzleitstelle in Betrieb genommen. Variante 3 Leitstellen werden technisch so ertüchtigt, dass die vorhandenen Leitstellen sich gegenseitig unterstützen und als Ersatz fungieren können. In einem langen Abstimmungsprozess und unter Betrachtung organisatorischer Prozesse sowie betriebswirtschaftlicher Gesichtspunkte wurde die Variante 3 durch die Steuerungsgruppe bestätigt. Im Land Brandenburg werden im Rahmen des Projektes „Harmonisierung und Redundanz“ die Leitstellen technisch und organisatorisch so ertüchtigt, dass beim Ausfall einer Leitstelle der Betrieb durch zwei andere Leitstellen weitergeführt werden kann. Das bedeutet im Detail, dass die in Abb. 3 aufgezeigten Vertretungsszenarien technisch und organisatorisch umgesetzt werden. Folgende Teilprojekte wurden im Rahmen der Umsetzung des Beschlusses gebildet.
Oderland
Spree-Neiße
Elbe-Elster
Oberspreewald-Lausitz
Dahme-Spreewald
Lausitz
Teltow-Fläming
Brandenburg
Brandenburg
Potsdam
Havelland
Ostprignitz-Ruppin
X
Nordwest
Prignitz
X
Uckermark
Oberhavel
Land-/Stadtkreis Nordost NordWest Brandenburg Lausitz Oderland
Barnim
Ausgefallene Leitstelle Vertretung
Nordost
Potsdam-Mittelmark
Vertretungskonzept der Regionalleitstellen im Land Brandenburg
zum Ausfall einer Leitstelle betrachtet. Für diese hier dargestellten Szenarien wurden anschließend technische und organisatorische Konzepte entwickelt: • organisatorischer Ausfall, • kompletter technischer Ausfall einer RegLs, • Störung bzw. Ausfall der Notruf-Anbindung, • teilweise Störung Notruf-Anbindung vor TKVSt, z.B. einer Ortsvermittlung, • Störung bzw. Ausfall der Datenanbindung, • Störung bzw. Ausfall der Funk- und Notruf anlage und von Teilkomponenten, • Störung bzw. Ausfall des Einsatzleitsystems, • Störung bzw. Ausfall der digitalen Alarmierung, • Störung bzw. Ausfall der Gefahrenmeldeanlage (BMA), • Überlastung einer RegLs.
X
X
Organisatorische Harmonisierung 1. Einführung eines einheitlichen Qualitäts managements 2. Harmonisierung und Novellierung der Ausbildung für Personal in den Regionalleitstellen 3. Erarbeitung eines zukünftigen Betriebs konzepts auf vertraglicher Grundlage 4. Einführung einer strukturierten Notrufabfrage. 2 · 2013 | 3. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 68
ORGANISATION
Technische Harmonisierung 1. Errichtung von jeweils drei Redundanzarbeitsplätzen in den vorhandenen Regionalleit stellen 2. Einführung eines landeseinheitlichen Stichwortkataloges für Feuerwehr- und Rettungsdienst 3. Vernetzung der Regionalleitstellen (technische Vernetzung) 4. Vernetzung der Funk-Notrufabfragen 5. Vernetzung der digitalen Alarmierung 6. Beschaffung eines landeseinheitlichen Einsatzleitsystems inklusive eines Schulungs system für die Landesfeuerwehrschule. Beschreibung der organisatorischen Projekte Einführung eines einheitlichen Qualitätsmanagements (1) In den einzelnen Regionalleitstellen soll ein aufeinander abgestimmtes und einheitliches Qualitätsmanagement nach DIN ISO 9001 aufgebaut werden. Dazu wurde ein gemeinsamer externer Berater beauftragt. Es werden folgende Maßnahmen im Rahmen dieses Projektes bereits realisiert oder befinden sich in der Realisierungsphase: • Ausbildung der QM-Beauftragten, • Erstellen des QM-Handbuches und Koordinierung zwischen den Regionalleitstellen, • Schulung der Mitarbeiter, • gemeinsame Erarbeitung von Verfahrens beschreibungen, • Ausbildung von Mitarbeitern zu Auditoren. Harmonisierung und Novellierung der Aus bildung für Personal in den RLST (2) Durch die Landesfeuerwehrschule Brandenburg in Eisenhüttenstadt (LSTE – Landesschule & Technische Einrichtung für Brand- & Katastrophenschutz) und die Träger der Regionalleitstellen wurde die Ausbildung der Disponenten novelliert und auf die besonderen Anforderung einer Integrierten Regionalleitstelle abgestimmt. Für die Zukunft wurde festgelegt, dass die technische Ausstattung der LSTE für die Ausbildung der Disponenten sich an den technischen Systemen der Regionalleitstellen orientieren muss. Die Disponenten sollen immer an den Systemen ausgebildet werden, die auch im praktischen Betrieb benutzt werden. Es wurde eine dreistufige Ausbildung definiert. Mit den notwendigen Zugangsvoraussetzungen (Rettungsassistent oder Laufbahnausbildung für 2 · 2013 | 3. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 69
den mittleren feuerwehrtechnischen Dienst inkl. Rettungssanitäter) und dem erfolgreichen Abschluss des Moduls 1 kann der Disponent bereits in der Leitstelle eingesetzt werden. Der Mitarbeiter hat dann drei Jahre Zeit, die restlichen Ausbildungen sowie das Modul 2 und Modul 3 (Prüfungslehrgang) zu absolvieren. Erarbeitung eines zukünftigen Betriebs konzepts auf vertraglicher Grundlage (3) Um einen rechtssicheren Betrieb im Redundanzfall sicherzustellen, wurde eine vertragliche Grundlage in
Abb. 4: Digitale Alarmierung
Abb. 5: Einsatzleit system und Portal
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ORGANISATION
der Form eines Redundanzvertrages erarbeitet. Diese öffentlich rechtliche Vereinbarung bildet die Grundlage zur Bildung der kommunalen Arbeitsgemeinschaft „Netzwerk 112“ technischer Leitstellenverbund Brandenburg. Die kommunale Arbeitsgemeinschaft stellt eine von mehreren möglichen Formen der interkommunalen Zusammenarbeit im Land Brandenburg auf der Grundlage des Gesetzes über kommunale Gemeinschaftsarbeit im Land Brandenburg (GKG) dar. Diese kommunale Arbeitsgemeinschaft unterhält eine gemeinsame Geschäftsstelle zur Koordinierung aller Themen der Zusammenarbeit und stellt die gemeinsame technische Weiterentwicklung sicher. Einführung einer strukturierten Notrufabfrage (4) Durch die wesentlichen Änderungen in den internationalen Richtlinien zur Wiederbelebung muss in den Regionalleitstellen sichergestellt werden, dass bereits bei Entgegennahme des Notrufes und Identifizierung einer Situation, in der reanimiert werden kann, die Disponenten die Anrufer anleiten, Maßnahmen zur Herz-Lungen-Wiederbelebung einzuleiten. Um diese Aufgabe zu realisieren und eine Qualitätsverbesserung in der Notrufbearbeitung zu erreichen, wurde beschlossen, eine strukturierte Notrufabfrage mit einem Modul zur Anleitung von Maßnahmen der Ersten Hilfe sowie einem Qualitätsmanagement-Modul einzuführen. Im ersten Schritt wurde eine „Papierversion“ mit den entsprechenden Schulungen auf der Basis des Konzeptes der IRLS Nord in Harrislee eingeführt. Ein besonders fachkundiger Mitarbeiter aus dem Bereich Qualitätsmanagement führte dazu landesweit Schulungen durch. Zurzeit wird gerade die Einführung einer softwarebasierten strukturierten Notrufanfrage im Rahmen des Projektes „Einsatzleitsystem Brandenburg SKEIBB“ vorbereitet. Als Produkt wurde das System „NOAS“ im Rahmen der Ausschreibung zum Einsatzleitsystem bezuschlagt. Bis zum März 2014 soll dieses System flächendeckend im Land Brandenburg eingesetzt werden. Beschreibung der technischen Projekte Errichtung von jeweils drei Redundanz arbeitsplätzen in den vorhandenen RLST (1) In jeder Regionalleitstelle wurden drei zusätzliche Einsatzleitplätze installiert. Sie dienen dazu, beim Ausfall einer Leitstelle diese zu ersetzen. Da die Plätze in die technischen Systeme integriert wurden, kön18
nen sie auch für Schulungen, Datenpflege oder für besondere Einsatzlagen genutzt werden. Einführung eines landeseinheitlichen Stichwortkataloges für Feuerwehr- und Rettungsdienst (2) Um die Zusammenarbeit zu effektivieren und abgestimmte Alarm- und Aurückeordnungen zu ermöglichen, mussten die Stichwort-/Indikationskataloge für Feuerwehr- und Rettungsdienst harmonisiert werden. Seit dem 1. Januar 2013 arbeiten alle Regionalleitstellen mit einem einheitlichen Stichwort-/ Indikationskatalog für den Rettungsdienst. Mit der Inbetriebnahme des einheitlichen Einsatzleitsystems wird auch der für den Bereich der Feuerwehr abgestimmte Stichwort-/Indikationskatalog in Betrieb genommen. Vernetzung der Regionalleitstellen (technische Vernetzung) (3) Für eine funktionierende technische Zusammenarbeit sowie die Umsetzung der Redundanzkonzepte ist es unabdingbar, ein gemeinsames Netzwerk zu installieren. Hierzu wurden die Regionalleitstellen untereinander auf der Basis des Landesverwaltungsnetzes des Landes Brandenburg im Fachnetz der Polizei verbunden. Alle Standorte der Regionalleitstellen wie Funk, digitale Alarmierung und die Standorte der Leitstellen wurden redundant über zwei unabhängige Medien vernetzt. Mit diesen Maßnahmen wird eine sehr hohe Verfügbarkeit und Ausfallsicherheit gewährleistet. Vernetzung der Funk- Notrufabfragen (4) Um den Notruf ununterbrochen entgegennehmen zu können und den einsatztaktisch notwendigen Funkverkehr zu gewährleisten, mussten die vorhandenen Funk-Notrufabfragen der Firma Siemens entsprechend vernetzt werden. Damit ist es möglich, Notrufe und Gespräche zwischen den Leitstellen zu routen und auch auf externe, nicht eigene Funkkanäle im Redundanzfall zugreifen zu können. Vernetzung der digitalen Alarmierung (5) Im Redundanzfall muss sichergestellt werden, dass die Regionalleitstellen auch die notwendigen Alarmierungen auslösen können. Um dieses Ziel zu erfüllen, wurde die bereits flächendeckend im Land Brandenburg vorhandene digitale Alarmierung (Firma Swiss phone) modernisiert. Im Rahmen dieses Projektes wurden die Anlagen miteinander vernetzt und softwaretechnisch sichergestellt, dass die Vertretungs szenarien jederzeit ausgeführt werden können. So 2 · 2013 | 3. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 70
Wer zuerst kommt ... Alarmieren Sie First Responder können durch die Vertretungsleitstellen jederzeit nicht eigene, entfernte Alarmierungsnetze ansprechen und darin alarmieren. Die notwendigen Datenbestände werden entsprechend repliziert. Beschaffung eines landeseinheitlichen Ein satzleitsystems inklusive eines Schulungs systems für die Landesfeuerwehrschule (6) Im Rahmen des größten Teilprojektes müssen die in den Regionalleitstellen vorhandenen heterogenen Einsatzleitsysteme angeglichen werden. Dazu wurde im Rahmen eines gemeinsamen Vergabeverfahrens ein landeseinheitliches Einsatzleitsystem ausgeschrieben. Kernkomponenten dieses Systems sind fünf gleiche, lokale Systeme mit einem zentralen web basierten Portal. Dieses System soll sicherstellen, dass jederzeit alle notwendigen Daten für den Betrieb der Leitstellen und auch die Daten der zu vertretenden Leitstellen im Redundanzfall zur Verfügung stehen. In den zwei Vertretungsleitstellen müssen im Bedarfsfall die notwendigen Einsatz- und Stammdaten zur Einsatzbearbeitung unterbrechungsfrei von der zu ersetzenden Leitstelle vorliegen. Weitere zusätzliche Leistungsmerkmale, wie die Möglichkeit der externen Stammdatenpflege, z.B. durch ehrenamtliche Funktionsträger in den Freiwilligen Feuerwehren, muss das System ebenso bieten. So sollen die zuständigen Aufgabenträger im Brandschutz ihre Alarm- und Ausrückeordnungen im bereitgestellten Webportal bearbeiten. Auch können die Aufgabenträger in diesem Portal ihre Einsatzberichte erstellen. Die leitstellenübergreifende Zusammenarbeit wie das Anfordern von Einsatzressourcen, die Darstellung von Status im Nachbarbereich, das gemeinsame Bearbeiten von Einsätzen im Grenzbereich sowie die Unterstützungsmöglichkeiten bei besonderen Einsatzlagen tragen zu einer deutlichen Qualitätsverbesserung bei. Auch soll dieses System eine „offene“ Schnittstelle zu anderen Systemen für weitere Zusammenarbeitsprojekte enthalten. Das System wird von der Firma CKS Systeme bis zum März 2014 in allen Brandenburger Regionalleitstellen sowie der LSTE betriebsfertig installiert. Der hier aufgezeigte Brandenburger Weg soll als Anregung dienen, um weitere Ideen in diesem Zusammenhang zu entwickeln. Ich möchte mich ausdrücklich bei allen am Projekt beteiligten Kolleginnen und Kollegen bedanken. Ohne deren aktive und konstruktive Mitarbeit wären wir im Land Brandenburg nicht so erfolgreich bei der Regionalisierung der Leitstellen und der Umsetzung des Projektes „Redundanz und Harmonisierung“ gewesen. ❂ 2 · 2013 | 3. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 71
• parallel alarmieren • schneller helfen • Outcome verbessern Die Bedeutung der First Responder wird weiter wachsen, denn der Rettungsdienst steht angesichts der demografischen Entwicklung in Deutschland vor großen Herausforderungen. Dieses Buch zieht eine Bilanz der First-Responder-Arbeit und stellt an Beispielen dar, welche Erkenntnisse gewonnen wurden und wie die Organisation von First Response unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen laufen kann. Daneben wird ein Blick zurück auf die Entstehungsgeschichte von First Response geworfen und nach vorn auf die mögliche Entwicklung des Systems.
First Responder: Verstärkung für die Rettungskette Erfahrungen, Modelle, Konzepte P. Poguntke, M. Eichner - 2. Auflage 2013, 1. Auflage unter dem Titel »Schrittmacher in der Rettungskette« - 112 Seiten - 28 Abbildungen - Softcover Best.-Nr. 446 · € 29,00
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Ausbildung
Zertifizierte Fortbildung
Abb. 1: Feuerwehrleute bei der Stabsarbeit
Autoren:
Dr. Gesine Hofinger
Robert Zinke, M.A Team HF Hofinger Forschung Beratung Training Hohenheimer Str. 104 71686 Remseck gesine.hofinger@team-hf.de robert.zinke@ team-hf.de www.team-hf.de
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Andere Wege in der Stabsausbildung: Trainings mit computersimulierten Planspielen Stäbe werden bislang selten in Teamarbeit und Entscheiden in kritischen Situationen ausgebildet. Ein Stab ist ein Beratungs- und Koordinierungsgremium, das im Fall einer Krise die Führung der Notfall- und Krisenorganisation übernimmt sowie Entscheidungen eines Funktionsträgers vorbereitet und unterstützt (8). Stabsarbeit wird bei der Bewältigung komplexer Ereignisse genutzt, sowohl in staatlichen Institutionen als auch in der Industrie. Stäbe werden sowohl auf taktisch-operativer Ebene gebildet (z.B. Einsatzleitung der Feuerwehr, Technische Einsatzleitung, Abb. 1) als auch auf strategischer Ebene (z.B. Krisenstäbe in Großstädten). Im Gegensatz zu Einsatzkräften sind Krisenstäbe Teams, die nicht vor Ort den Notfall bewältigen, sondern zurückgezogen beraten und entscheiden.
Krisenstäbe müssen sich mit schlecht definierten, offenen und dynamischen Problemen auseinandersetzen – hier sind also individuelle Kompetenzen und Teamkompetenzen besonders gefragt. Aber die Ausbildung von Krisenstäben für diese Anforderungen wird oft vernachlässigt. Unternehmen und Institutionen planen im Rahmen der Krisenvorsorge üblicherweise die personelle Besetzung des Krisenstabs, tref-
fen Festlegungen über Krisenräume, Standardprozesse und Kommunikationstechnik. Anders als im Notfallmanagement, wo regelmäßig geübt wird, wird die so definierte Stabsarbeit in vielen Unternehmen, aber auch Verwaltungen kaum ausgebildet oder beübt. Dort, wo Stäbe ausgebildet werden (wie in den BOS), fokussiert sich die Ausbildung nach Erfahrung der Autoren meist auf die Abläufe der Stabsarbeit. In 2 · 2013 | 3. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 72
Ausbildung
Zertifizierte Fortbildung
Branchen, für die der Umgang mit Krisensituationen eine häufige Anforderung ist, werden die stabsspezifischen Anforderungen wie Lagedarstellung oder -bewertung in operativen wie taktischen Stäben regelmäßig geübt, etwa in vorbereitungsintensiven Stabsrahmenübungen. Allerdings finden Übungen selten in der personellen Zusammensetzung statt, in der der Stab im Einsatz dann arbeitet. Wenn Stabsmitglieder in der Normalorganisation ohnehin Managementaufgaben haben, wird in Unternehmen oft erwartet, dass sie auch ohne Übung die Herausforderungen der Teamarbeit und Führung in Krisen beherrschen. Im realen Einsatz machen viele Krisenstäbe dann die Erfahrung, dass Schwierigkeiten in der Stabsarbeit auftreten. Psychologische Aspekte der Stabsarbeit sollten geübt werden Teamhandeln als Schlüsselressource für sicheres Handeln wird seit vielen Jahren und in vielen Branchen trainiert. Bekannt geworden ist vor allem der Ansatz des Crew (oder Company) Resource Management Trainings in der Luftfahrt (CRM) (4, 5). Diese Art Training soll Teams befähigen, alle verfügbaren Ressourcen zu nutzen und Probleme strukturiert anzugehen. Die im Krisenfall benötigten Fähigkeiten sollen die Trainierten im Alltag üben, damit sie in kritischen Situationen zur Verfügung stehen. Bei CRMTrainings und ähnlichen Ansätzen werden meist Einzelpersonen trainiert; gemeinsames Lernen von Teams in der konkreten Zusammensetzung, in der das Team dann auch arbeitet, ist eher die Ausnahme. Die Fähigkeiten, die in der Stabsarbeit über das fachspezifische Wissen hinaus gebraucht werden, lassen sich in drei große Gruppen aufteilen: Stabsspezifische Prozesskompetenzen, Team und individuelle Kompetenzen. Im Tab. 1 werden einige Beispiele für solche Kompetenzen genannt (2, 6).
Welche Kompetenzen brauchen Stäbe? (Auswahl) Stabsspezifische Prozesskompetenzen • Problemlösungen finden, Entscheiden, Umsetzung kontrollieren • Hintergrundkontrolle, Aktualisierung des Lagebilds • Informationsverarbeitung und -integration • Wissen über Abläufe und Zuständigkeiten Teamkompetenzen • Aufrechterhaltung eines gemeinsamen Situationsbewusstseins • Effektive Informationsverteilung sicherstellen • Ziele klären, Prioritäten setzen • Gruppenstruktur trotz Zeit- u. Entscheidungsdruck aufrechterhalten Individuelle Kompetenzen • Kommunikationskompetenz • Kritikfähigkeit, Kooperativität und Vertrauen • unter emotionaler Belastung und Müdigkeit arbeiten • Problemlösekompetenz und Entscheidungsfähigkeit
ren Interviews mit Verantwortungsträgern und Mitgliedern des Krisenstabs durchgeführt. Mittels nichtteilnehmender Beobachtungen der Mitarbeiter von Leitstellen an ihrem Arbeitsplatz wurden Erkenntnisse zu den „gelebten“ Abläufen und Kommunikationsgewohnheiten erfasst. Außerdem wurden unternehmensinterne Dokumente wie Sicherheitshandbücher, Alarmierungs- und Gefahrenabwehrpläne sowie Notfallpläne analysiert. Auf dieser Basis wurden Anforderungen für die Mitarbeiter des ÖPNV-Krisenstabs formuliert, aus denen dann ein unternehmensspezifisches Trainingskonzept entwickelt wurde. Aufbauend auf den Ergebnissen der Anforderungsanalyse wird dann ein passgenaues Training zusammengestellt. Aus Erfahrung der Autoren hat sich bewährt, je nach Zielen und verfügbarer Zeit die in Tab. 2 dargestellten Module variabel einzusetzen und die Inhalte an die jeweilige Organisation anzupassen.
Tab. 1: Beispiele für benötigte Kompetenzen in der Stabsarbeit (nach 2)
Abb. 2: Teamarbeit beim Planspiel: Lageerfassung und Bewertung
Anforderungsanalysen als erster Schritt für passgenaue Trainings von Stäben Um die eben benannten Kompetenzen effektiv zu trainieren, müssen zunächst die spezifischen Anforderungen und Trainingsbedarfe des auszubildenden Stabs ermittelt werden. In einer Anforderungsanalyse werden Charakteristika der jeweiligen Organisation, Erfahrungen mit Krisen und Stabsarbeit, mögliche Einsatzszenarien sowie Lernbedarfe erfasst. Eine Anforderungsanalyse sollte mit Hilfe unterschiedlicher Methoden erfolgen. Für die bedarfsgerechte Ausgestaltung eines Krisenstabstrainings für ein ÖPNV-Unternehmen wurden z.B. von den Auto2 · 2013 | 3. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 73
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Ausbildung
Zertifizierte Fortbildung
Module
Inhalte (Beispiele)
Anforderungsanalyse
Identifikation von Spezifika der Organisation und Trainingsbedarf
Erfahrungsaustausch und „lessons learned“
Fallbeispiele für Krisen in der Organisation; Abläufe im Unternehmen; Schnittstellen mit anderen Organisationen klären
Entscheiden, Kommunikation und Führung im Stab
Grundlagen der Stabsarbeit; Stress und kritische Situationen
Teamarbeit unter Stress, mit (computersimuliertem) Planspiel
Bewältigung eines Krisenszenarios fernab des Alltagsbereiches; Selbsterkenntnis und Reflexion des Status quo als Stab
Visualisierung/Informationsmanagement
Methoden der Visualisierung und Dokumentation; Umgang mit Krisenstabssoftware
Stabsübung
im Stabsraum (wenn vorhanden), inkl. Alarmierung
Stabsrahmenübung
Stabsübung unter Beteiligung weiterer unternehmensinterner Stellen und ggf. externer Akteure (z.B. Verbindungspersonen)
Tab. 2: Mögliche Module für ein Krisenstabstraining (mod. n. Zinke u. Hofinger, 2012)
Abb. 3: Elemente eines Trainings mit Planspiel
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Generell sind Stäbe vor besondere Herausforderungen bei der Zusammenarbeit ihrer Mitglieder gestellt. Teamarbeit als Kernstück der Stabsarbeit wird aber nur selten in der Ausbildung und im Alltag geübt. Daher bildet sie in Trainings der Autoren häufig einen Schwerpunkt. Teamarbeit kann nach unserer Erfahrung gut durch erfahrungsbasiertes Lernen mit Planspielen und computersimulierten Szenarien geübt werden. Wissenschaftliche Untersuchungen (1, 9) bestätigen den Lernerfolg dieses im nächsten Punkt vorgestellten Ansatzes. Computersimulierte Planspiele sind nützliche Elemente von Stabstrainings Für Stäbe gelten dieselben Grundsätze wie sonst auch für das Lernen Erwachsener. Grundsätzlich ist der höchste Lernerfolg zu erwarten, wenn das Lernen
erfahrungsbasiert und die Motivation der Teilnehmenden hoch ist. Eine gute Möglichkeit, die oben genannten Kompetenzen erfahrungsbasiert und realitätsnah zu trainieren, sind Stabsübungen und Trainings mit simulierten Krisen. Diese Methoden sind allerdings mit erheblichem Zeit- und Ressourceneinsatz verbunden. Es bietet sich daher an, Lernmethoden mit geringerem Aufwand für das Training der Teamkompetenzen eines Stabes zu verwenden. Hier eignen sich besonders (computersimulierte) Planspiele als Trainingsmethode. Diese können einen niedrigen oder mittleren Auflösungsgrad (low bzw. mid fidelity) haben und werden in sehr unterschiedlichen Bereichen für Trainings eingesetzt (z.B. 7, 11). Computersimulierte Planspiele sind eine dynamische und interaktive Übungsform. Anhand komplexer Szenarien können die Teilnehmenden Kompetenzen wie Entscheiden im Team unter Stress üben. Die Autoren setzen häufig Planspiele ein, die die Teilnehmenden in fremde Realitätsbereiche versetzen, wie z.B. als Entwicklungshelfer auf einer Südseeinsel von einem Erdbeben betroffen zu sein oder als Schiffsbesatzung auf der Brücke eines Kreuzfahrtschiffs Notfälle zu managen (Abb. 2). Das Planspiel stellt dabei eine „Spielwiese“ zum Üben und Reflektieren dar – gerade weil eine Übung anders ist als der eigene Beruf, ist Fehler zu machen psychologisch nicht bedrohlich. Verschiedene Planspiele legen den Fokus auf unterschiedliche Anforderungen, wie die Verarbeitung großer Mengen an Information, verteiltes Wissen, Zielkonflikte, Beachtung von Vernetztheit und Dynamik. Ein Krisenstabstraining mit computersimuliertem Planspiel besteht aus verschiedenen Elementen (Abb. 3). Diese gelten analog auch für Stabs(-rahmen-)übungen. Wissensvermittlung zu Stabsarbeit und psychologischen Themen wie Entscheidungsfindung unter Stress, Teamarbeit oder Führung bildet die Grundlage. Nach einer Einführung in das Spiel wird von den Teilnehmenden ein Szenario bearbeitet. Die ausführliche Reflexion und Nachbesprechung (Debriefing) des Planspiels führt zu Erkenntnissen, die zum einen für weitere Durchgänge oder andere Szenarien genutzt werden können. Zum anderen sollen die Erfahrungen aus dem Training durch Debriefing und Transferüberlegungen für die Anwendung im Stabeinsatz nutzbar gemacht werden (3). Daher bespricht das Team auch umsetzbare Vorgaben für die eigenen Funktionen im realen Krisenstab (ein Beispiel zeigt Abb. 4). Damit die Trainerinnen und Trainer die lernenden Teams unterstützen können, 2 · 2013 | 3. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 74
AUSBILDUNG
Zertifizierte Fortbildung
müssen sie selber mit Stabsarbeit vertraut sein, auch wenn das verwendete Planspiel aus einem anderen Bereich stammt. Trainings der psychologischen Aspekte von Stabsarbeit mit Planspielen werden von Teilnehmenden meist positiv bewertet Zum Abschluss sollen einige Erfahrungen mit Stabstrainings vorgestellt werden. Auch wenn die vorgestellte Art von Stabstrainings von den Teilnehmenden positiv evaluiert wird, muss einschränkend gesagt werden, dass die Wirksamkeit von Stabstrainings auf das Verhalten in realen Einsätzen schwer abzuschätzen ist. Durch die Seltenheit von Einsätzen kann es mitunter Monate oder Jahre dauern, bis das Erlernte in der Stabsarbeit angewendet werden kann. Das gilt natürlich auch für die klassische Stabsausbildung. Hier wären systematische Studien wünschenswert. Es gibt immer wieder einzelne Teilnehmende, die sich mit der Übernahme von fiktiven Rollen schwer tun und gerade an dem spielerischen Zugang keine Freude haben. Auch für diese können aber die Debriefing-Runden wertvolle Erkenntnisse bringen. Generell wird jedoch bei der Evaluation von Stabstrainings oder -workshops mit Planspielen von den Teilnehmenden die Wichtigkeit des erfahrungsbasierten Lernens betont. Planspiele dürfen – anders als Stabsübungen mit realen Krisenthemen – auch Spaß machen, was die Lernatmosphäre fördert. Das Erleben eigener Fehler und Erfolge verankert Lerninhalte nachhaltig. In manchen Fällen wurden die Autoren bei Folgeseminaren auf Ereignisse aus Planspielen aus Jahre zurückliegenden Seminaren angesprochen. Insbesondere für die psychologischen Aspekte der Stabsarbeit werden Seminare mit Planspielen als wertvoll angesehen. Sie sollten in der Ausbildung von Stäben nach Einschätzung der Autoren neben Schulungen zur Einweisung in die Prozesse der Stabsarbeit und realistischen Stabsübungen einen festen Platz haben. ❂
Abb. 4: Themen der Teilnehmer zur Selbstreflexion
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Literatur: 1. Crego J (1997) Critical incident management simulation. In: Flin R, Salas E, Strub M, Martin L (Hrsg.) Decision Making under Stress: Emerging Themes and Applications (S. 85-94). Aldershot: Ashgate 2. Hofinger G (2008) Teamtrainings für Krisenbewältigung . In: Buerschaper C, Starke S (Hrsg.) Team
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und Führung in kritischen Situationen (S. 190-205). Frankfurt am Main: Verlag für Polizeiwissenschaften Peters VA, Vissers GA (2004) A simple classification model for debriefing simulation games. Simulation & Gaming 35: 70-84 Salas E, Prince C, Bowers CA, Stout RJ, Oser RL, Cannon-Bowers JA (1999) A methodology for enhancing crew resource management training. Human Factors 41: 161-172 Smallwood T (2000) The Airline Training Pilot (2nd edition). Aldershot: Ashgate Strohschneider S (2008) Human-Factors-Training. In: Badke-Schaub P, Hofinger G, Lauche K (Hrsg.) Human Factors. Psychologie sicheren Handelns in Risikobranchen (S. 289-306). Heidelberg: Springer Strohschneider S, Gerdes J (2004) MS Antwerpen: Emergency management training for low-risk environments. Simulation & Gaming 35: 394-413 Thieme U, Hofinger G (2012) Stabsarbeit und Ständige Stäbe bei der Polizei: Sicherheit durch Professionalisierung In: Badke-Schaub P, Hofinger G, Lauche K (Hrsg.) Human Factors. Psychologie sicheren Handelns (S. 256-271). Heidelberg: Springer Vincenzi D et al. (Hrsg.) (2009) Human Factors in Simulation and Training. Orlando, FL, Taylor and Francis Zinke R, Hofinger G (2012) Konzeption eines Krisenstabstrainings für den öffentlichen Personennahverkehr. Ein Forschungspraxisbericht. In: Felsenreich C, Waleczek H (Hrsg.) Teamkompetenzen für sicheres Handeln – Entwicklung und Umsetzung (S. 101108). Frankfurt am Main: Verlag für Polizeiwissenschaft Zinke R, Hofinger G, Strohschneider S (2008) Training of Crisis Management Resources in Low Risk Environments. The Mid-fidelity Simulation Tool „MS Antwerpen“. Poster presented at: Human Factors and Ergonomics Society Europe Chapter Annual Meeting, Soesterberg, NL
Dies ist ein Artikel der Zertifizierten Fortbildung für Leitstellenmitarbeiter. Sie finden dazu fünf Fragen mit jeweils vier Antworten unter www.skverlag.de/zf. Eine kostenlose Fortbildungsmöglichkeit für alle BOS-LEITSTELLE AKTUELL-Abonnenten.
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TAKTIK
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Abb. 1: Brand im Freien, das klingt doch ganz einfach. Aber was brennt? Für die Auswahl der zu alarmierenden Einsatzmittel ist das eine entscheidende Frage
Anwendung der Gefahren matrix in der Notrufabfrage: Geht das? Was bei Rettungsdiensteinsätzen die richtige Untersuchung und das Ermitteln der Leitsymptome ist, ist beim Einsatz der Feuerwehr zur Brandbekämpfung oder technischen Hilfeleistung die umfassende Erkundung und Lagefeststellung.
Autor:
Dr. André-Michael Baumann Berliner Feuerwehr- und Rettungsdienstakademie Leiter der Rettungsdienstschule Voltairestr. 2 10179 Berlin andre-michael.baumann@ berliner-feuerwehr.de
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„Kalte Lage“: Die Daten im Leitsystem Häufig stehen dem Disponenten bereits im Leitsystem hinterlegte Daten zur Verfügung. Dabei handelt es sich meistens um folgende Informationen: • Art des Objektes, • besondere Gefahren, • Anfahrt zum Objekt, • festgelegte Bereitstellungsräume, • Wasserversorgung, • vordefinierte Alarmstufen. Obwohl Einsatzpläne in der Regel von den örtlich zuständigen Feuerwehren erstellt werden und auch auf den Einsatzfahrzeugen vorhanden sind, empfiehlt es sich, die Einsatzpläne zu kennen und auch regelmäßig zu beüben (Abb. 2).
Auch wenn es keine vorgeplanten Abläufe gibt, unterstützen moderne Leitsysteme die Notrufabfrage. Ein Blick auf das grafische Informationssystem (GIS) kann klären, ob es sich bei dem Einsatzobjekt um ein Ein- oder Mehrfamilienhaus handelt, ob es das erste oder das zweite Haus auf dem Grundstück ist usw. Erkundung: Die Notrufabfrage Trotz aller Planungen werden die entscheidenden Informationen im Notrufdialog gewonnen. Für eine zügige Notrufabfrage ist es unabdingbar, dass immer sofort nach Notrufbeginn die Einsatzadresse ermittelt wird. Egal, welche Information wir durch eine andere Fragestellung erhalten könnten, sie ist nutzlos, wenn das Gespräch aus irgendeinem Grund unterbrochen wird. Es empfiehlt sich daher auch, die 2 · 2013 | 3. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 76
TAKTIK
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Rückrufnummer nach der Adressermittlung kurz zu verifizieren (eventuelle Rückfragen, Unterbrechung etc). Die dritte entscheidende Frage ist die nach der Art des Notfalls. Hier werden die Informationen gewonnen, die es ermöglichen, den richtigen Algorithmus für die weitere Fragestellung auszuwählen. Für jedes Abfrageschema sind daher folgende Fragen zu Beginn des Notrufs zu stellen: • Wo ist der Notfallort? • Wie ist die Rückrufnummer? • Was genau ist passiert? Danach ist der geeignete Zeitpunkt, um einen Voralarm auszulösen oder bei Vorliegen eindeutiger Informationen (z.B. Personen in brennendem Gebäude eingeschlossen) zu alarmieren. Im Rahmen einer Untersuchung hat die Berufsfeuerwehr Köln ermittelt, dass durch eine sinnvoll organisierte Voralarmierung wertvolle Zeit gespart werden kann (Brandschutz 2/2013). Im Folgenden werden die Szenarien „Brand im Freien“, „Brand im Gebäude“ und „technische Hilfeleistung“ zunächst theoretisch erläutert und dann anhand von realen Einsätzen veranschaulicht. Brand im Freien Brand im Freien, das klingt doch ganz einfach. Aber was brennt? Ein Fahrzeug, ein Verteilerschrank oder ein Holzlager? All das macht einen Unterschied in der Auswahl der zu alarmierenden Einsatzmittel. Genauso wichtig ist die Frage, ob das Objekt freistehend ist oder ob andere Gebäude und Objekte in Brand geraten können. Nicht immer zu beantworten, aber trotzdem wichtig, ist die dritte Frage nach besonderen Gefahren. Dies kann der Hinweis auf ein Fahrzeug mit Flüssiggasantrieb sein, der Brand eines Lieferwagens mit Radioisotopen oder auch der Brand eines Verteilerkastens. Und die vierte Frage: Sind Personen gefährdet oder verletzt (z.B. im Fall eines brennenden Müllcontainers vor einem offenen Fenster)?
✆
Notruf
112
Abb. 2: Einsatzplan (Übung) Stadion Mariendorf
Für ein einfaches Abfrageschema sind daher zumindest folgende Fragen zu stellen: • Was genau brennt? • Was ist durch den Brand gefährdet? • Gibt es besondere Gefahren? • Sind Personen gefährdet? Brand Gebäude Deutlich komplexer stellt sich die Lage bei einem Gebäudebrand dar. Trotz guter Planung kann es sein, dass im Leitsystem kein Hinweis auf die Gebäudeart hinterlegt ist. Diese Information ist aber für die Bestimmung der Einsatzmittel und Einsatzkräfte von großer Bedeutung. Ein Gebäudebrand kann ein leerstehendes Gebäude ebenso betreffen wie ein Hochhaus oder ein Industriegebäude. Der zweite wichtige Faktor ist der Brandort. Handelt es sich um den Brand eines Serverraums, um eine Wohnung oder den Dachstuhl? Auch diese Informationen haben Einfluss auf die Einsatzmittelketten. Die
Notruf-Training www.notruf-training112.de Training Fortbildung Ausbildung
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TAKTIK
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Frage nach den gefährdeten Personen muss hier unbedingt noch ergänzt werden. Für eine schnelle Rettung ist es wichtig, den ungefähren Aufenthaltsort der Personen zu kennen. Die Fragen zu einem Gebäudebrand ändern sich daher: • Um was für ein Gebäude handelt es sich? • Was brennt? • Sind Personen gefährdet? • Wenn ja: Wo befinden sich die Personen? • Gibt es besondere Gefahren? Technische Hilfe / Gefahrstoff / Umweltschutzeinsätze Hier reicht das Einsatzspektrum vom „Hund im Dachsbau“ bis zur „eingeklemmten Person unter einem Baum“. Das heißt, hier kommen je nach der örtlichen Rechtslage noch die Faktoren Zuständigkeit, Dringlichkeit und Disposition von Sonder einsatzmitteln hinzu. Um das Problem der Zuständigkeit zu erläutern, ein Beispiel: Nicht jede Feuerwehr ist für die Beseitigung von Ölspuren zuständig. Das Auslaufen von Benzin in das Abwassersystem stellt wegen der Brandgefahr aber eine Indikation für einen Feuerwehreinsatz dar. Das stellt ohne feste Fragen und Handlungsanweisungen ein Problem der Abgrenzung für den Disponenten dar und sollte daher in einem Abfrageschema gelöst werden. Genauso schwierig ist die Unterscheidung der richtigen Dringlichkeit. Bei der Einsatzsituation „Person hinter Tür“ – ein medizinischer Notfall in einer verschlossenen Wohnung – ist es eindeutig. Das bedingt die sofortige parallele Alarmierung von Feuerwehr und Rettungsdienst. Ist aber der Notruf wegen des „unklaren Geruchs“ beim Nachbarn noch ein medizinischer Notfall, der die Benutzung von Sonderrechten rechtfertigt? Auch mit dieser Entscheidung sollte man den Disponenten nicht alleine lassen und entsprechende Fragen und Handlungsanweisungen formulieren. Folgende Fragen müssen zusätzlich zu den ersten drei Fragen immer gestellt werden: • Sind Personen verletzt/gefährdet? • Wenn ja: Wie viele Personen? • Gibt es besondere Gefahren?
Lagebeurteilung (AAAAECCCC) Aufgrund der im Notrufgespräch gewonnenen Informationen muss der Disponent die Lage beurteilen und die richtigen Einsatzmittel mit der richtigen Dringlichkeit entsenden. Grundlage dafür ist das AAAAECCCC-Schema (Angst, Atemgifte, Atomar, 26
Ausbreitung, Chemische Stoffe, Einsturz, Elektrizität, Erkrankung, Explosion). Dieses Schema berücksichtigt nicht nur die Gefahren für die Betroffenen, sondern auch die Gefahren für die Einsatzkräfte. Es sollte jedem Disponenten gegenwärtig sein und die Gesprächsführung auf die Ermittlung der möglichen Gefahren hinzielen. Entschluss: die AAO Aufgrund der gewonnenen Informationen muss nun das geeignete Alarmierungsstichwort gewählt werden. Bewährt haben sich modular aufgebaute Ausrückeordnungen wie in Hamburg und Schleswig-Holstein. Auf den ersten Blick mag eine Ausrückeordnung mit „beschreibenden Stichworten“ wie z.B. eingeklemmte Person praktischer sein. Erfahrungsgemäß führt aber jeder Einzelfall zu einem neuen Stichwort und macht die AAO unübersichtlich. Von der Theorie in die Praxis Wie würde so etwas nun in der Praxis aussehen? Dies wird in den folgenden Beispielen dargestellt. Notrufmeldung zum Gebäudebrand (Hochhausbrand mit Menschenrettung): Disponent
Anrufer
„Notruf 112, wo genau ist der Notfallort?“ Disponent bestätigt die Adresse und fragt nach dem genauen Ort/Ortsteil.
„Kommen Sie schnell, in der DS-Straße 15 brennt es.“
„Wie ist Ihre Rückrufnummer?“
„12345“
„Sagen Sie mir genau, was passiert ist!“
offensichtlich (muss nicht gestellt werden)
„Um was für ein Gebäude handelt es sich?“ Disponent bekommt die Information „Hochhaus“ zusätzlich aus dem Leitrechner.
„Das ist ein Hochhaus.“
„Was brennt?“
„Eine Wohnung, ziemlich weit oben.“
„Sind Personen gefährdet?“
„Ja, der Mieter ist noch drin.“
„Wenn ja: Wo befinden sich die Personen?“
offensichtlich
„Gibt es andere Gefahren?“
„Ja, die anderen Leute schreien auch um Hilfe.“
Gefahrenbeurteilung durch Disponenten: Angst – ja, Hilferufe beim Feuer Atemgifte – ja, für die Person in dem Gebäude Ausbreitung – ja, Brandausdehnung Entscheidung des Disponenten: FEU 2 R 1 (Feuer 2 Löschzüge und Großeinsatz Rettungsdienst)
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Notrufmeldung zu Brand im Freien (Brand eines Reifens an einem Tankwagen): Disponent
Anrufer
„Notruf 112, wo genau ist der Notfallort?“
„Auf der Autobahn B 555, Ri. Süden, Kilometer 22.“
„Wie ist Ihre Rückrufnummer?“
„123456“
„Sagen Sie mir genau, was passiert ist!“
„Der Reifen meines Lkw brennt, ich kriege ihn nicht aus.“
„Was genau brennt?“
offensichtlich
„Ist irgendetwas durch den Brand gefährdet?“
„Wenn Sie nicht schnell kommen, brennt der ganze Lkw.“
„Gibt es besondere Gefahren?“
„Ich habe 5.000 kg Latex geladen.“
„Sind Personen gefährdet?“
„Kann ich nicht sagen.“
Gefahrenbeurteilung durch Disponenten: Ausbreitung – ja, gesamtes Fahrzeug Atemgifte – ja, durch brennende Reifen Chemische Stoffe – nicht auszuschließen Erkrankung – ja, durch Folgeunfälle Entscheidung des Disponenten: FEU X (Löschzug plus Gefahrguteinheiten)
Notrufmeldung „Pkw unter Baum“: Disponent
Anrufer
„Notruf 112, wo genau ist der Notfallort?“
„Kommen Sie schnell, hier ist ein Baum auf ein Auto gefallen.“
„Beruhigen Sie sich, ich brauche zunächst die Adresse, damit ich Ihnen helfen kann.“ Der Disponent wendet Beruhigungstechniken an und bestimmt zunächst die Adresse.
„Die Adresse ist C-Straße in D-Stadt.“
„Wie ist Ihre Rückrufnummer?“
„123456“
„Sagen Sie mir genau, was passiert ist!“
[Im Wesentlichen bereits genannt]
„Sind Personen verletzt/gefährdet?“
„Ja, es sind zwei Personen im Auto.“
„Wenn ja: Wie viele Personen?“
offensichtlich
Gefahrenbeurteilung durch Disponenten: Chemische Stoffe – nicht auszuschließen Erkrankung – ja, zwei Personen eingeklemmt Entscheidung des Disponenten: TH G Y – technische Hilfeleistung größeren Umfangs, Menschenleben in Gefahr, Rüstzug mit Kran; 2 NEF und 2 RTW
Fazit Notrufabfrage beim Feuerwehreinsatz oder umfassende Erkundung: Geht das auch am Telefon? Die Antwort auf diese Frage ist selbstverständlich: Ja, es geht. 2 · 2013 | 3. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 79
Die Notrufabfrage ist immer mehr als nur ein situationsabhängiges Abfragen des Anrufers und ein Abgleich mit dem vorhandenen Wissen des Disponenten. Es ist ein planbarer Prozess. Es gibt einige wenige Schlüsselfragen, die für viele Einsätze identisch sind. Die Ermittlung dieser Informationen lässt sich mit relativ einfachen Abfrageschemata realisieren. Einfache Abfragesysteme kommen dann an ihre Grenzen, wenn sehr differenzierte Informationen oder Verhaltenshinweise gewünscht werden. Wer eine differenziertere Disposition und situationsabhängige Verhaltensanweisungen für den Anrufer möchte, wird nicht umhinkommen, viel Aufwand in die Entwicklung eines eigenen Protokolls zu investieren oder ein fertiges Produkt zu erwerben. Wenn man dafür keine ausreichenden Ressourcen hat, sollte man aber zumindest die wichtigsten Fragen für die Situationen „Brand im Gebäude“, „Brand im Freien“ und „technische Hilfeleistung“ sowie das AAAAECCCCSchema gut sichtbar als Erinnerungshilfe am Arbeitsplatz liegen haben. Des Weiteren sollten einfache, allgemeingültige Verhaltenshinweise definiert werden, um eine Gefährdung von Anrufern oder Betroffenen zu verhindern. Die Entscheidung, welches Serviceniveau gewünscht ist, liegt beim Betreiber der Leitstelle und den beteiligten Organisationen. Eines jedoch ist sicher: Genau wie den Einsatz in einem besonderen Objekt muss man auch das Notrufgespräch „vordenken“. ❂
Abb. 3: Bei eindeutiger Meldung kann ein Voralarm wertvolle Zeit sparen
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TAKTIK
Stuttgart-Lauf: Halb Marathon, halb MANV Autor:
Rolf Strobel Fachbereichsleiter Feuerwehr ILS Stuttgart Redaktion BOS-LEITSTELLE AKTUELL rolf.strobel@me.com
Abb. 1: Koordinierungsgruppe in der TEL
Eine jährlich stattfindende Sportveranstaltung mit Halbmarathon und weiteren Wettbewerben ist an sich, auch bei inzwischen über 19.000 Teilnehmern, eigentlich kein spektakuläres Großereignis, sondern eine „ganz normale“ Sanitätsdienstlage – wobei die Betreuung der Teilnehmer durch Sanitätsdienst und Helfer durchaus aufwendig ist (vgl. New York Marathon: 12.000 Helfer für über 45.000 Läufer). Der Stuttgart-Lauf ist zwar nicht der New York Marathon, aber dennoch einer der größten Volksläufe in Deutschland und findet als solcher 2013 bereits zum 20. Mal statt. Also an sich Routine für die Einsatzkräfte – auch wenn Volksläufe aufgrund der vielen teilnehmenden, teilweise untrainierten Amateure mit hoher Motivation, aber wenig Erfahrung ein höheres Risiko bergen als Profiläufe.
Die Routine wurde allerdings beim 15. Stuttgart-Lauf im Jahr 2008 jäh durchbrochen: Aufgrund des extrem heißen und schwülen Wetters mit bis zu 33 °C am 22. Juni 2008 wurde der Halbmarathon zu einer Hitzeschlacht mit über 300 verletzten Personen. Das Sanitätsdienstkonzept war auf einen derartigen Massenanfall von Verletzten nicht ausgelegt, es mussten zusätzliche Kräfte der Feuerwehr mit dem Stuttgarter Großraumrettungswagen und weitere medizinische Betreuungskomponenten des DRK alarmiert werden. In der Konsequenz der Ereignisse beim 15. Stuttgart-Lauf wurde beschlossen, Sanitätsdiensteinsatzleitung, Veranstalter und die Führung aller beteiligten Hilfsorganisationen nicht mehr in getrennten Räum-
lichkeiten agieren zu lassen, sondern in der TEL der 2006 in Betrieb genommenen Integrierten Leitstelle in SIMOS (Leitstelle für Sicherheit und Mobilität in Stuttgart) zusammenzubringen und das jährliche Sportereignis unter Zuhilfenahme elektronischer Führungsmittel gemeinsam zu koordinieren. Neben der Bildung einer „bunten Koordinierungsgruppe“ aus Sanitätsdienst/DRK, Feuerwehr, THW, Polizei (Verkehr) und Veranstalter war vor allem die direkte Anbindung der ILS mit einem dedizierten Sonderlageplatz ein wesentliches Ziel der Neuorganisation. Mittels kurzer Wege zwischen allen Beteiligten und der direkten Anbindung an die tägliche Gefahrenabwehr konnten die Kommunikationswege erheblich verbessert und die Reaktionszeiten bei Eintreten eines erneuten großen MANV entsprechend verkürzt werden. Dabei wurden und werden bewusst keine „klassischen“ Stabsstrukturen aufgebaut, sondern aufgabenbezogen die Zuständigen zur Koordinierung des Ereignisses zusammengebracht – natürlich mit der Möglichkeit, im Bedarfsfall das Ereignis sehr schnell in eine höhere Führungsstufe zu überführen und dann gegebenenfalls notwendige Stabsfunktionen zu besetzen. Elektronische Führungsmittel Informationsgrundlage für alle Beteiligten war (und ist) dabei das anlässlich der Fußball-WM 2006 in Stuttgart eingeführte vernetzte Lage- und Stabsführungssystem Metropoly BOS mit den Modulen E-LAN (elektronisches Lagekartenführungs-, Auswerte- und Nachweissystem) und E-MAS (elektronisches Meldungs- und Auftragsmanagement), das durch seine Kopplung an das Einsatzleitsystem
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TAKTIK
alle anstehenden und laufenden Einsätze samt zugewiesener Ressourcen permanent in die Lage übernimmt und so bereits ohne weitere Benutzereingaben wesentliche Grundinformationen zum aktuellen Einsatzgeschehen bereitstellt. Das System zeichnet sich daneben durch seine Mehrplatzfähigkeit und die Vernetzung stationärer Arbeitsplätze mit mobilen Systemen für den Einsatz vor Ort aus, die auch mit schmalbandigen Kommunikationsverbindungen eingesetzt werden können und über eine lokale Rückfallebene für nahtloses Weiterarbeiten bei Verbindungsabbruch verfügen. Die vom elektronischen Lageführungssystem automatisch aus dem ELS übernommenen Informationen werden dabei zum einen mit via Funk und Telefon beim Sonderlageplatz „Stadtlauf“ eingehenden Informationen ergänzt und zum anderen über vor Ort an den Behandlungsplätzen stationierte E-LAN-Mobilsysteme mit laufend aktuellen Zahlen zu verletzten Personen mit minimalem Aufwand zu einer vollständigen Lage zusammengeführt, die lückenlos in der zentralen Datenbank des Systems dokumentiert wird. So besteht jederzeit eine Übersicht, wie viele Patienten noch zu versorgen sind, wie vielen Verletzten ambulant geholfen werden konnte und wie viele Patienten zur weiteren Behandlung in eine Klinik transportiert werden mussten. Über die laufende Synchronisation des Systems stehen somit sowohl vor Ort als auch in der Integrierten Leitstelle und der Koordinierungsgruppe stets simultan aktuelle Lageinformationen zur Verfügung. Ein manuelles Aufbereiten der Lagekarte im Stab bzw. der Koordinierungsgruppe und das „Der-Lage-Hinterherlaufen“ sind damit nicht mehr erforderlich. Eine derartig verlässliche Informationsgrundlage ist nicht nur wesentlich für fundierte Entscheidungen und schnelle Reaktionen, sondern auch „resistent“ gegenüber den bei Großereignissen mit vielen Beteiligten fast zwangsweise aufkommenden Gerüchten und Stille-Post-Effekten. Es gibt keine verlässlicheren Informationen als nicht interpretierbare, eindeutige Zahlen der eigenen Einsatzkräfte vor Ort. Auch gegenüber den Medien ist klar im Vorteil, wer „mit einer Stimme spricht“. Durch das Zusammenbringen aller Beteiligten samt der jeweiligen Informationen gibt es nur eine Zahlenangabe zu verletzten oder gar toten Personen und nicht – wie so oft in der Praxis beobachtbar – verschiedene Zahlen von verschiedenen Stellen. Über die in das Lageführungssystem integrierte „Zeitmaschine“ wird dabei auch jederzeit der Zugriff auf alle Stände der Lageentwicklung ermöglicht – dank der lückenlosen Dokumentation kann 2 · 2013 | 3. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 81
also auch präzise Auskunft darüber gegeben werden, wie sich die Verletztenzahlen über die Ereignisdauer entwickelt haben. Über das ebenfalls enthaltene Meldungsmanagement kann zusätzlich die nicht zeitkritische Kommunikation zwischen Einsatzkräften vor Ort, Leitstelle und Stäben bzw. Koordinierungsgruppe abgewickelt werden und so die „nackten Zahlen“ zu einer vollständigen Lagedokumentation ergänzen.
Abb. 2: Elektronische Lagekarte mit Streckenverlauf
Taktik und Technik Entscheidend bei der Vorbereitung und Durchführung von Großereignissen ist aber auch die optimale Nutzung der elektronischen Führungsmittel. So viel wie nötig, so einfach wie möglich. Der Branddirektion Stuttgart stehen insgesamt 14 E-LAN-Mobilsysteme zur Verfügung – trotzdem ist es wenig sinnvoll, jede Unfallhilfsstelle an der Strecke zwangsweise damit auszustatten. Erstens soll das System nicht die eigentliche Aufgabe des Sanitätspostens verdrängen und zweitens entstehen die großen Anfälle von verletzten und erschöpften Personen nicht auf der Strecke, sondern im Ziel des (Halb-) Marathons. Dort muss der Patientenfluss laufend dokumentiert werden – ein gestürzter Läufer auf der Strecke kann auch via Funk oder Telefon an die Leitstelle gemeldet werden und wird dort via Eintragung ins System in die Dokumentation übernommen. Solange es nicht zu schwerwiegenden Zwischenfällen bzw. Schadensereignissen kommt, ist auch das Führen einer „klassischen“, detaillierten Lagekarte über den Automatismus des eingesetzten Lageführungssystems hinaus mit für jeden Abschnitt generierten Schadenskonten eine reine Fleißarbeit ohne echten Zugewinn an relevanten Informationen. Wichtiger ist vielmehr, das Ereignis so vorzubereiten und im System abzubilden, dass die Dateneingabe vor 29
TAKTIK
lich, ob ein in der Leitstelle neu aufgenommener Einsatz des Grundschutzes in Wechselwirkung zur Veranstaltung steht oder eine solche entwickeln könnte. Sei es der Brandmeldealarm in unmittelbarer Nähe des Halbmarathons, ein Rettungsdiensteinsatz in einem durch die Veranstaltung und ihre Straßensperrungen nur über Umwege erreichbaren Gebiet oder ein größeres Schadensereignis, das viele Einsatzkräfte über Stunden binden wird.
Ort möglichst einfach und „narrensicher“ gemacht wird und damit exakt jene Informationen jederzeit zur Verfügung stehen, die Leitstelle und Koordinierungsgruppe als Übersicht und Entscheidungsgrundlage unbedingt benötigen. Entscheidend hierbei sind auch die Auswertung und Darstellung der taktischen Informationen in einer für alle Beteiligten verständlichen Form – Klartext. Genau diese für alle Ebenen geeignete Aufbereitung der Lageinformation ist eine der herausragenden Eigenschaften des eingesetzten Softwaresystems.
Kräftemanagement und Datenaustausch Das Kräftemanagement ist ein sehr wichtiger Punkt im Zusammenhang mit Großereignissen. Mit der bereits erwähnten ELS-Schnittstelle erledigt das Lageführungssystem hierbei große Teile automatisch – manuell ergänzt werden müssen nur Einheiten und Personal, die nicht direkt über die Leitstelle alarmiert werden (z.B. Stärkemeldungen des THW oder die Anzahl der Sanitätsdiensthelfer). Mittels des im System enthaltenen Kräftemanagements, bei dem auch die räumliche Verteilung der Kräfte jederzeit ersichtlich ist, können eine optimale Vorhaltung und Koordinierung der Einsatzkräfte erfolgen. So kann z.B. je nach Lage schnell entschieden werden, ob Kräfte während des Streckenabbaus bei Veranstaltungsende direkt entlassen oder in einen Bereitstellungsraum beordert werden. Auch das Management von Sondereinsatzmitteln wie den Stuttgarter GRTW wird durch die Kopplung Einsatzleitsystem/Lageführungssystem deutlich vereinfacht. Über einen abgesetzten Arbeitsplatz im FLZ des Polizeipräsidiums Stuttgart samt Verbindungsbeamten der Branddirektion und des Rettungsdienstes Stuttgart ist es zudem möglich, Aktion und Reaktion jederzeit zwischen polizeilicher und nicht-polizeilicher Gefahrenabwehr abzustimmen.
Die Gesamtlage im Blick – geografische Informationssysteme Ebenso wichtig wie die aktuelle Lage des Ereignisses an sich ist im Kontext eines Großereignisses, bei dem massive Eingriffe in den Straßenverkehr vorgenommen werden und ganze Stadtteile über Stunden schlecht erreichbar sind, aber auch der laufende Blick auf die Gesamtlage. Durch den Einsatz des in im Lageführungssystem E-LAN enthaltenen geografischen Informationssystems (GIS) und die mögliche „ad hoc“-Einbindung des Streckenverlaufs der Veranstaltung in die Kartenübersicht (Abb. 2) sowie die automatische Übernahme aller Einsätze aus dem ELS ist sofort ersicht-
Fazit Der Stadtlauf Stuttgart findet 2013 bereits zum 20. Mal statt – die gemeinsame Koordinierungsgruppe aus Sanitäts- und Rettungsdienst, Feuerwehr, THW, Polizei und Veranstalter wird zum fünften Mal in der SIMOS TEL das Ereignis mit E-LAN und Routine managen. Die beim Stadtlauf Stuttgart erprobte Vorge hensweise unter Einsatz des Systems E-LAN hat sich aber nicht nur in Stuttgart bewährt, sondern in leicht adaptierter Form auch bei anderen Lagen wie dem Still-Leben Ruhrschnellweg 2010 (Feuerwehr Essen) oder dem Papstbesuch in Erfurt und Freiburg 2011. ❂
Abb. 3: Arbeitsplatz Lagekarte
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KASUISTIK
Abb. 1: Bewusstloser Staplerfahrer wird versorgt
Bewusstloser mit Kopfplatzwunde: Einsatz für RTW und NEF Betriebsunfall: Der Fahrer eines Gabelstaplers stürzt von seinem Fahrzeug, zieht sich eine Kopfplatzwunde zu und liegt bewusstlos neben dem Gabelstapler. Ein anderer Mitarbeiter betritt zufällig den Hof, sieht ihn und setzt einen Notruf ab. Er kann jedoch zum Hergang nichts sagen. Ein Fall, bei dem die Notrufabfrage nicht zu weit ausgedehnt wird, da der Einsatz benötigter Rettungsmittel hier doch als eindeutig gilt: Zügiger Alarm für RTW und NEF!
Der Notruf
Autor:
Leitstelle: „Guten Tag.“
Anrufer: „Kommen Sie schnell, bei uns ist der Karle vom Gabelstapler gestürzt, jetzt hat er eine Kopfplatzwunde und ist bewusstlos!“
Leitstelle: „Wo ist der Unfallort?“
Anrufer: „Bei uns auf dem Hof, Hafenstr. 70.“
Leitstelle: „Sind Sie beim Patienten?“
Anrufer: „Ja.“
Leitstelle: „Wenn Sie ihn ansprechen und an ihm rütteln – reagiert er dann?“
Anrufer: „Nein.“
Leitstelle: „Atmet er normal, wie ist seine Gesichtsfarbe?“
Anrufer: „Ja, er atmet und sieht aus wie immer.“
Leitstelle: „Wie ist das denn passiert?“
Anrufer: „Keine Ahnung, als ich ihn gesehen habe, lag er schon da.“
Leitstelle: „Ist sonst jemand da, der was weiß?“
Anrufer: „Nein, ich bin alleine grad.“
Der Disponent lässt den Patienten in Seitenlage legen und ihn weiter betreuen. (Notruf als Gedankenprotokoll)
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Rolf Strobel Fachbereichsleiter Feuerwehr ILS Stuttgart Redaktion BOS-LEITSTELLE AKTUELL rolf.strobel@me.com
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KASUISTIK
Konzentration und Wirkung ab 20 ppm:
Hornhautschäden bei längerer Einwirkung
≈ 100 ppm:
Reizung der Schleimhäute an Auge und Atemwegen, Speichelfluss, Hustenreiz
> 200 ppm:
Kopfschmerz, Atembeschwerden
> 250 ppm:
Betäubung der Geruchsrezeptoren
> 300 ppm:
Brechreiz
≈ 500 ppm:
Kraftlosigkeit, Benommenheit, Schwindel
> 500 ppm:
Krämpfe, Bewusstlosigkeit
Konzentration und Latenzzeit < 100 ppm:
nach mehreren Stunden
> 100 ppm:
< 1 Stunde
≈ 500 ppm:
lebensgefährlich in 30 Minuten
≈ 1.000 ppm:
lebensgefährlich in wenigen Minuten
≈ 5.000 ppm:
tödlich in wenigen Sekunden
Tab. 1: Konzentration, Wirkung und Latenzzeit von H2S
Abb. 2: Messfahrzeug zur Stoffanalyse
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Zum Einsatzgeschehen Wie üblich fahren der RTW und das NEF auf den Betriebshof der Firma. Bei der Firma handelt es sich um einen Gefahrgut-Entsorgungsbetrieb. Mitten auf dem Hof steht der Gabelstapler, daneben wird der Fahrer von Betriebsangehörigen erstversorgt. Beim Eintreffen der RTW-Besatzung setzen Atmung und Kreislauf beim Patienten aus, das Team beginnt sofort mit der Reanimation. Nachdem die Reanimation begonnen hat, versucht der NEF-Fahrer durch Befragung der Herumstehenden herauszubekommen, was sich ereignet hat. Keiner kann entsprechende Angaben machen. Der Betriebsleiter fordert die Mitarbeiter auf, weiter zu arbeiten. Nach kurzer Zeit stellt der NEF-Fahrer einen auffälligen Geruch im Bereich des Hofes fest und fordert instinktiv die Feuerwehr nach. Kurz darauf melden sich mehrere Mitarbeiter mit Kopfschmerzen. Auch die Rettungsdienstmitarbeiter verspüren jetzt die gleichen Symptome.
Sofort werden alle Arbeiten eingestellt, der gesamte Bereich geräumt und die Nachforderung im Bereich Rettungsdienst erhöht. Der weitere Verlauf Die Reanimation wird erfolglos abgebrochen, die RTW- und NEF-Besatzung gelten im weiteren Einsatzverlauf als kontaminiert und werden vor Ort behandelt. Die Feuerwehr kann zunächst nichts feststellen. Der gesamte Einsatzabschnitt bleibt geräumt und es werden umfangreiche Messungen eingeleitet. In einem Bereich konnte Schwefelwasserstoff in geringen Mengen nachgewiesen werden, daraufhin werden das Rettungsdienstpersonal und die betroffenen Mitarbeiter mit dem Hinweis „Verdacht auf Schwefelwasserstoffintoxikation“ in Kliniken gebracht. Was war passiert? In einem Bereich der Firma wurde Gefahrgut umgepumpt, dabei entstand durch eine chemische Reaktion Schwefelwasserstoff. Schwefelwasserstoff ist ein übel riechendes, stark giftiges Gas. Es ist eine Verbindung aus Schwefel und Wasserstoff mit der chemischen Formel H2S. Schwefelwasserstoff verursacht schon in extrem geringen Konzentrationen den typischen Geruch von faulen Eiern. Schwefelwasserstoff ist brennbar, farblos und eine schwache Säure. Er bildet bei Kontakt mit Schleimhäuten im Auge, der Nase, des Rachens und in der Lunge Alkalisulfide, die eine sehr starke Reizwirkung verursachen. Eine Folge davon sind Wassereinlagerungen in der Lunge. Die eigentliche Giftwirkung beruht auf einer Zerstörung des roten Blutfarbstoffes Hämoglobin und damit einer Lähmung der intrazellulären Atmung. Der Mechanismus ist bis heute unklar, es wird vermutet, dass allgemein schwermetallhaltige, sauerstoffübertragende Enzyme inaktiviert werden. Der kleinere, nicht-oxidierte Teil des Schwefelwasserstoffs kann Schäden im zentralen und evtl. auch peripheren Nervensystem hervorrufen. Das bedeutet, dass H2S-Konzentrationen von 0,1% nach wenigen Minuten und solche von 0,5% nach wenigen Sekunden tödlich wirken. Bewusstlosigkeit tritt bei solchen Konzentrationen schon innerhalb eines oder mehrerer Atemzüge ein. Vermutlich gelang der Schwefelwasserstoff über eine Tankentlüftung ins Freie, der Gabelstaplerfahrer bewegte sich im Bereich der Entlüftung. Durch das zeitweise Einstellen der Arbeiten lief die Pumpe nicht und es entwich kein weiterer Schwefelwasserstoff. Damit ist zu erklären, dass die Rettungsdienstbesatzung am Anfang nichts riechen konnte. Erst als 2 · 2013 | 3. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 84
Testen Sie jetzt RETTUNGSDIENST der Betriebsleiter dazu aufforderte, weiter zu arbeiten, traten Kopfschmerzen bei den Mitarbeitern und später auch bei der Rettungsdienstbesatzung auf. Die endgültige Ursache konnte erst geklärt werden, als von der Feuerwehr gezogene Proben im Labor analysiert worden waren. Nur durch einen glücklichen Zufall trugen die anderen Mitarbeiter der Firma und die Rettungsdienstmitarbeiter keine bleibenden Schäden davon. Fazit Ein Risiko durch Verkettung unglücklicher Umstände kann bei solchen Einsätzen nicht gänzlich ausgeschlossen werden. In diesem Fall haben alle Beteiligten die vorgeschriebenen Verfahrensweisen eingehalten. Der Notruf lief in der Rettungsleitstelle ein, die damals noch keine Objekte und Betriebe in ihrem System erfasst hatte. Dadurch wurde der Disponent beim Abgleichen der Adresse nicht darauf hingewiesen, dass es sich um einen Gefahrgutbetrieb handelt. Der Rettungsdienstbesatzung lag ein klar abgegrenztes Meldebild vor und sie fuhr, wie üblich, möglichst dicht an den Patienten heran. Nicht selten kommt es in Betrieben vor, dass Notrufe über eine Telefonzentrale oder andere Dritte abgewickelt werden. Dieser Umstand verhindert, dass der Disponent klärende Rückfragen stellen kann. Die einzige Möglichkeit, weitere Informationen zu gewinnen, liegt oft darin, den Anrufer zu animieren, Weiteres zu klären und erneut anzurufen. Selten verfügen Rettungsdienstfahrzeuge über Gefahrgutliteratur, um im Bedarfsfall schnell recherchieren zu können. Neuerdings stehen jedoch Apps für Smartphones zur Verfügung, mit denen Einsatzkräfte an der Einsatzstelle anhand des Stoffnamens oder der Stoffnummer schnell die wesentlichen Informationen erfassen können. Rückfragen über die Leitstelle sind natürlich jederzeit möglich. Dabei besteht die Schwierigkeit, dass Daten zumeist nur phonetisch zwischen Leitstelle und Einsatzort übermittelt werden. Hinweise müssen aufwendig mitgeschrieben werden, wobei zusätzlich die Gefahr von Informationsverlusten und Missverständnissen besteht. Der vorliegende Fall zeigt, dass sich Risiken und Gefahren für Einsatzkräfte nie ganz ausschließen lassen. Rückblickend lässt sich vermuten, dass der Einsatz positiver verlaufen wäre, wenn der Disponent Objektinformationen zu der Betriebsstätte über das Einsatzleitsystem erhalten hätte. Der Rettungsdienst hätte womöglich bereits auf der Anfahrt Kenntnis über mögliche Gefahren durch den Einsatz gefährlicher Stoffe in dem Betrieb erlangt und das weitere Handeln daran ausrichten können. ❂ 2 · 2013 | 3. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 85
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AUSBILDUNG
Englisch in der Leitstelle:
Redewendungen und Begriffe Wie reagieren Sie, wenn Sie jemand am Telefon fragt, ob Sie Englisch sprechen? Werden Sie ganz nervös und versuchen das Gespräch möglichst an jemand anders weiterzugeben? Oder versuchen Sie sich mehr schlecht als recht durchzumogeln? Hier sind einige Redewendungen und Begriffe, die Ihnen helfen werden, englischsprachige Notrufe besser zu meistern. Just don’t panic!
You can’t hear the caller ˘ „Could you speak up a bit, please?“ ˘ „Could you speak a little louder, please?“ ˘ „I’m afraid I didn’t quite catch that.“ ˘ „I’m afraid I can’t hear you very well. Could you say that again, please?“ By adding a bit, a little, quite or very well you soften your request and sound more polite. You don’t understand the caller ˘ „I’m sorry, but I don’t understand the word ‚extinguisher’. What does it mean?“ ˘ „I’m afraid I don’t understand what you mean. Could you repeat that, please?“ ˘ „I’m afraid I don’t follow you exactly. Could you explain that to me again, please?“
Autorin:
Ingrid Abele Language Point English Coaching and Training info@language-point.de
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Controlling Native Speakers – Useful phrases Interrupting politely • I’m sorry, could I just interrupt you here? • Perhaps I could just interrupt. • I’m going to have to stop you there for a moment. • Sorry? Pardon?
Reducing the speed • Could you slow down a little, please? • Could you speak a bit more slowly, please? • I’m afraid you’re speaking too fast.
Checking understanding • What do you mean by ...? • Sorry, could you explain ...? • Sorry, do you mean there’s a problem?
Requesting information • (Is there) anything else? • Could you give me the details? • Is there anything else I need to know about this?
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AUSBILDUNG
Exercise 1 Complete the telephoning phrases with the grammatically correct expressions. 1. The caller is talking too quietly, so you say: I’m sorry, could you please ...
2. The caller gives you a number, but you didn‘t hear it. You say: I‘m sorry, but ... a I didn’t catch this. b I didn’t catch that. c I didn’t catch it.
a speak up a bit a little? b speak up a little bit? c speak a little up?
3. To make sure you have understood the right number, 4. He says it again, but much too quickly, so you say: you say: Could you please ... a Could you repeat? a slow a little? b Could you repeat that? b slow up a little? c Repeat this? c slow down a little? 5. The caller explains something that you do not under- 6. You could also say: stand at all. You say: a I don’t quite follow you. a I can’t understand you. b I quite don’t follow you. b I don’t understand. c I don’t follow you quite. c I don’t understand you.
Exercise 2 Telephone Phrases: Find the phrases. Each phrase starts with: Could you ...? A
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Solutions:
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Exercise 1: 1b, 2b, 3b, 4c, 5a, 6c
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Exercise 2: Could you ˘ please repeat that? ˘ speak up a bit? ˘ spell that for me? ˘ please say your name again? ˘ explain exactly what you mean? ˘ slow down a little? ˘ let me interrupt you here for a moment? ˘ give me more information?
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PORTRÄT
Abb. 1: Die Leitstelle beim MANV-Einsatz. Einblick in eine Ausbildungssequenz, in der innerhalb der Leitstelle mit diversen Funktionsträgern gearbeitet wird
Autoren:
Dr. Christian Schwarz Branddirektor und Leiter der Staatlichen Feuerwehrschule Geretsried
Dipl.-Ing. Josef Huber Brandoberrat und Leiter der Abteilung III, Information und Kommunikation an der Staatlichen Feuerwehrschule Geretsried Sudetenstr. 81 82538 Geretsried poststelle@ sfs-g.bayern.de
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Leitstellenausbildung in Bayern: Die Integrierte Lehrleitstelle (ILLS) an der Staatlichen Feuerwehr schule Geretsried Mit der Einweihung und Inbetriebnahme der Integrierten Lehrleitstelle (ILLS) an der Staatlichen Feuerwehrschule Geretsried am 31. Juli 2006 begann im Freistaat Bayern die heiße Phase einer landesweiten Umstrukturierung der Leitstellen der nicht-polizeilichen Gefahrenabwehr. Dieses Datum war der eigentliche Startpunkt dafür, dass im Freistaat Bayern insgesamt 26 Integrierte Leitstellen (ILS) in einem landesweiten Leitstellenverbund über ein exklusives Datennetz mit einheitlicher Einsatzleitsoftware ihren Betrieb aufnehmen sollten. Ein Projekt, das nicht zuletzt im bundesweiten Kontext seinesgleichen suchte und sucht. Die tatsächliche Entwicklungsgeschichte der Integrierten Leitstellen in Bayern reicht dabei freilich noch viele Jahre zurück. Darüber soll auch kurz berichtet werden. Mittlerweile ist dieser Umbau zu einem großen Teil abgeschlossen und neue Herausforderungen wie die Einführung des digitalen Bündelfunks der BOS stellen auch die bayerischen Leitstellen wieder vor sehr spannende Entwicklungen. Einen zentralen Dreh- und Angelpunkt im gesamten Konstrukt der Integrierten Leitstellen in Bayern stellt dabei die Integrierte Lehrleitstelle (ILLS) an der Staatlichen Feuerwehrschule in Geretsried dar. Die Lehrleitstelle ist nicht nur die zentrale Ausbildungsstätte aller bayerischen Disponenten, sondern als landesweites Kompetenzzentrum auch ein wichtiges Bindeglied für die operativen Leitstellen. Nach einem kurzen Abriss über die Entwicklungsgeschichte des Leitstellenkonzepts in Bayern sollen insbesondere das Ausbildungskonzept sowie die Ausbildungsmöglichkeiten an der ILLS vorgestellt werden. 2 · 2013 | 3. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 88
PORTRÄT
Ausgangslage der Leitstellen der nicht-polizeilichen BOS in Bayern Die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg führte im Freistaat Bayern, anders als in vielen anderen Bundesländern, zum Aufbau getrennter und völlig unterschiedlich ausgebildeter Alarmierungsstrukturen für Feuerwehr und Rettungsdienst. Im Bereich des Rettungsdienstes etablierten sich bereits seit 1974 die Rettungsleitstellen flächendeckend in Bayern. Die 26 Rettungsleitstellen wurden allesamt durch das Bayerische Rote Kreuz betrieben, ihr Zuständigkeitsbereich umfasste in der Regel mehrere Landkreise und eine kreisfreie Stadt. Dagegen blieb der Bereich der Feuerwehralarmierung auf kommunaler Ebene. Bis zum Beginn des Migrationsprozesses hin zu Integrierten Leitstellen für Feuerwehr und Rettungsdienst wurden nur 24 Feuerwehreinsatzzentralen betrieben, deren Zuständigkeit sich überwiegend auf das Gebiet der jeweiligen kreisfreien Stadt oder des jeweiligen Landkreises erstreckte. Es waren hier insbesondere die Städte mit Berufsfeuerwehren und Freiwilligen Feuerwehren mit ständigen Wachen, die in der Vergangenheit die Aufgabe der Feuerwehralarmierung selbst übernommen hatten. Die übrigen Landkreise vereinbarten mit der Bayerischen Polizei die Übernahme der Feueralarmierung durch die örtlichen Polizeidienststellen (Polizeiinspektion, Polizeidirektion). Bei der Erhebung des Ist-Zustandes im Rahmen des Vorgutachtens wurden im Jahr 1999 insgesamt 337 Stellen ermittelt, die mittelbar oder unmittelbar bei der Alarmierung der Feuerwehr beteiligt waren. Somit ergab sich bereits zur damaligen Zeit für den Bereich des Rettungsdienstes eine sehr großflächige Alarmierungsstruktur, während für den Bereich der Feuerwehr eine sehr kleinteilige und inhomogene Struktur zu finden war. Seit der Entscheidung des Rates der Europäischen Union vom 29. Juli 1991 zur Einführung einer einheitlichen Notrufnummer 112 in Europa und der damit verbundenen Verpflichtung zur Umsetzung der Vorgabe in nationales Recht beschäftigten sich auch die Mandatsträger des Bayerischen Landtags mit der Struktur der nicht-polizeilichen Gefahrenabwehr. Aufgrund wirtschaftlicher und insbesondere qualitativer Aspekte der Daseinsvorsorge für die Bürgerinnen und Bürger in Bayern hat der bayerische Landtag am 18. Dezember 1996 daher die Bayerische Staatsregierung aufgefordert, konkrete Vorschläge zur Mitbenutzung der Notrufnummer 112 durch den Rettungsdienst in Bayern vorzulegen. Zur Vorbereitung der politischen Grundsatzentscheidungen zur Einführung einer einheitlichen Not2 · 2013 | 3. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 89
rufnummer 112 in ganz Bayern wurden vom Bayerischen Staatsministerium des Innern ein Vor- und ein Hauptgutachten in Auftrag gegeben. Der Empfehlung des Gutachters im Hauptgutachten folgend, erteilte der Ministerrat in seiner Sitzung am 15. Januar 2001 seine grundsätzliche Zustimmung für die einheitliche Notrufnummer 112 in Bayern sowie zur Einführung Integrierter Leitstellen in Bayern. Der politischen Grundsatzentscheidung hatte die fachliche Vertiefung zu folgen. Aufbauend auf den konzeptionellen Aussagen des vom Innenministerium in Auftrag gegebenen Hauptgutachtens zu Integrierten Leitstellen war nunmehr ein fachliches Gesamtkonzept für Bayern zu entwickeln, das den weiteren Planungen zugrunde gelegt werden konnte. Durch Erarbeitung von Planungsgrundlagen auf Landesebene sollte die spätere Realisierungsplanung in den einzelnen Leitstellenbereichen erleichtert und beschleunigt werden. Am 11. Juli 2002 hat der Bayerische Landtag aufgrund der fachlichen Vorarbeit einstimmig das
Abb. 2: Die Integrierten Leitstellen in Bayern zum Januar 2013. 25 Integrierte Leitstellen sind gegenwärtig bereits in Betrieb. Ausständig ist noch der ZRF-Bereich Amberg mit der ILS in der Stadt Amberg
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PORTRÄT
„Gesetz zur Einführung Integrierter Leitstellen“ (ILSG) beschlossen, das am 1. September 2002 in Kraft trat. Damit hatte der Freistaat Bayern die rechtlichen Grundlagen geschaffen, um Integrierte Leitstellen zu errichten und in diesen künftig unter der vorwahl- und gebührenfreien Notrufnummer 112 Notrufe für Feuerwehr und Rettungsdienst abzufragen und die entsprechenden Einsatzmittel „aus einer Hand“ zu alarmieren. Der bisher bestehende Rettungsdienstbereich ist als räumlicher Wirkungskreis der jeweiligen ILS gut geeignet und hat sich aus Sicht des Rettungsdienstes in der Vergangenheit gut bewährt. Als Grundlage für die Neuordnung der Alarmierungsstruktur von Feuerwehr und Rettungsdienst wurden in Bayern deshalb 26 ILS-Bereiche definiert, die sich mit den im Bayerischen Rettungsdienstgesetz festgelegten Rettungsdienstbereichen deckten. Somit war der Weg hin zu großräumigen und regionalen Strukturen festgelegt. Träger der Aufgabe Feuerwehr- und Rettungsdienstalarmierung sind die „Zweckverbände für Rettungsdienst und Feuerwehralarmierung“ (ZRF), die aus einer Umgründung der bereits bestehenden 26 Rettungszweckverbände in Bayern hervorgegangen sind. Der jeweilige Zweckverband kann dabei die ILS in seinem Bereich selbst errichten und betreiben, eines seiner Mitglieder (Landkreis, kreisfreie Stadt) oder auch einen Dritten (z.B. BRK, kreisangehörige Gemeinde, privater Anbieter) damit beauftragen (Art. 4 ILSG). Die ILLS und das bayerische Landeskonzept Das bayerische Innenministerium beauftragte im Mai 2003 nach einer europaweiten Ausschreibung ein Ingenieurbüro mit der Fachplanung für die Errichtung der Integrierten Lehrleitstelle Geretsried und der Erstellung eines aus der Planung der Lehrleitstelle abgeleiteten Muster-Leistungsverzeichnisses für die weiteren 26 real-operierenden Integrierten Leitstellen in Bayern. Das Muster-Leistungsverzeichnis schafft die Voraussetzung für den wirtschaftlichen Einsatz staatlicher Haushaltsmittel, da dieses Muster-LV nur noch den örtlichen Verhältnissen entsprechend angepasst und ergänzt werden muss. Weiterhin enthält es alle technischen Vorgaben, die für eine reibungslose Zusammenarbeit der Integrierten Leitstellen unter einander über den Leitstellenverbund erforderlich sind. Das Muster-Leistungsverzeichnis wird seit dieser Zeit regelmäßig fortgeschrieben und an aktuelle Entwicklungen angepasst. 38
Im Frühsommer 2004 waren die Ausschreibungsunterlagen fertig gestellt und das Vergabeverfahren wurde europaweit bekannt gemacht. Am 17. Februar 2005 wurde der Auftrag an die Bietergemeinschaft Eurofunk Kappacher erteilt. Damit war auch die einheitliche Einsatzleitsoftware ELDIS III By (Grafik mit GIS, Einsatzbearbeitungsmaske und Statusübersicht) festgelegt, die in allen bayerischen ILS als Einsatzleitsystem eingesetzt wird. Der Rahmenvertrag über die Errichtung und den Betrieb eines Virtual Private Network (VPN) zur Vernetzung der Integrierten Leitstellen in Bayern konnte ebenfalls nach einer europaweiten Ausschreibung am 29. März 2007 mit der T-Systems Business Services GmbH geschlossen werden. Das VPN enthält eine Anbindung an das Bayerische Polizeinetz, um Daten zwischen den Integrierten Leitstellen und den Polizei-Einsatzzentralen auszutauschen, sofern dies für die Einsatzbearbeitung im Einzelfall erforderlich ist. Bestandteil der VPN-Ausschreibung sind auch Funkanschaltesysteme zur routingfähigen Anbindung der analogen Funkinfrastruktur über das VPN. Bis zur Einführung des Digitalfunks und der vollständigen Migration steht für die Übertragung der Funkgespräche eine zukunftssichere Technologie mittels VoIP zur Verfügung. Im Netz der Integrierten Leitstellen in Bayern spielt auch die ILLS eine wichtige und zentrale Rolle. Qualifikation der Disponenten, Aus- und Fortbildung Art. 10 des ILSG ist die Ermächtigungsgrundlage für weitergehende Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften. Damit können u.a. auch die Personalqualifikation sowie die Aus- und Fortbildung des Personals normativ geregelt werden. Das bayerische Innenministerium hat mittlerweile von der Möglichkeit der Festlegung der Personalqualifikation der ILS in Bayern Gebrauch gemacht und dazu in der Ausführungsverordnung zum Bayerischen Feuerwehrgesetz entsprechende Angaben gemacht. Bereits in der gutachterlichen Betrachtung zur Vorbereitung des Gesetzes zur Einführung der Inte grierten Leitstellen in Bayern im Jahr 2001 war man zu dem Ergebnis gekommen, dass ein Disponent in einer Integrierten Leitstelle zwingend über fundiertes feuerwehrtechnisches, über vertieftes rettungsdienstliches Wissen sowie über ausreichende Erfahrungen im Katastrophenschutz verfügen muss. Neben einer langjährigen Einsatzerfahrung in den genannten Bereichen ist auch das entsprechende Führungswissen notwendig. In der Idealvorstellung sollten von den 2 · 2013 | 3. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 90
PORTRÄT
Disponenten zur Bewältigung ihrer umfangreichen Aufgaben zukünftig folgende fachliche Qualifikationen erbracht werden: • Grundausbildung für den mittleren feuerwehrtechnischen Dienst nach Laufbahnrecht, • Grundlehrgang Katastrophenschutz, • Führungsausbildung: Rettungsassistenten ausbildung und Hauptbrandmeisterlehrgang, • Einsatzpraxis bei einer Berufsfeuerwehr/ständigen Wache und im Rettungsdienst, • Fernmeldeausbildung und EDV-Kenntnisse. Kurz- und mittelfristig war und ist dieses Konzept mit all seinen Komponenten natürlich nicht zu realisieren, galt es doch, insbesondere für das Bestandpersonal der bisherigen Rettungsleitstellen und Feuerwehreinsatzzentrale eine Lösung zu finden. Da die Mitarbeiter der bisherigen Rettungsleitstellen und der Feuerwehreinsatzzentralen (von den Berufsfeuerwehren abgesehen) in der Regel jeweils nur auf ihrem Fachgebiet ausgebildet waren, besteht ein hoher Bedarf für Fortbildungsmaßnahmen. Das Innen ministerium hat dafür modular aufgebaute Lehrgänge entwickelt (Rettungsdienstmodule I und II sowie Feuerwehrmodule I und II), die in einer Art Bau kastensystem auf den unterschiedlichen Eingangsqualifikationen aufsetzen. Diese Lehrgänge sind so konzipiert, dass sich ein künftiger Disponent, der keine vollwertige Ausbildung als Rettungsassistent oder Hauptbrandmeister hat, im für ihn fremden Bereich die fachlichen Kenntnisse aneignen kann, die er für eine Tätigkeit in einer Integrierte Leitstelle braucht. Allerdings kann auch dieses Übergangskonzept keine Absenkung der fachlichen Qualifikation unter ein gewisses Mindestniveau zulassen. In der Summe werden je nach den mitgebrachten Voraussetzungen Fortbildungszeiten mit einer Gesamtdauer zwischen 20 und 33 Wochen erreicht. Hinzu kommt ein Leitstellenlehrgang (Teil I und II), der insgesamt 11 Wochen dauern soll. Der Bedarf an qualifizierten Disponenten für die Integrierten Leitstellen in Bayern liegt bei etwa 650 bis 700 Mitarbeitern. Die Lehrgänge für die Modulausbildung werden ausgerichtet an den Möglichkeiten und am Bedarf auf alle in Frage kommenden Fortbildungsstätten verteilt. Dies sind die Schulen der Hilfsorganisationen, die Berufsfeuerwehren, die Freiwilligen Feuerwehren mit hauptamtlichen Kräften und die Staatlichen Feuerwehrschulen. Die dezentrale Organisation der Fortbildung bietet außerdem den Vorteil, dass die Lehrgänge möglichst ortsnah angeboten werden können. 2 · 2013 | 3. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 91
Der Leitstellenlehrgang (Teil 1, 7 Wochen) mit seinen allgemeinen und grundlegenden Inhalten findet in der Lehrleitstelle an der Staatlichen Feuerwehrschule in Geretsried statt. Der Leitstellenlehrgang (Teil 2, 4 Wochen) mit den örtlichen Besonderheiten soll am Standort der jeweiligen ILS durchgeführt werden. Am 22. März 2013 wurde der 24. Leitstellenlehrgang an der Staatlichen Feuerwehrschule Geretsried erfolgreich abgeschlossen. Mit Lehrgangsende haben in Bayern nun über 360 Lehrgangsteilnehmer ihre Ausbildung bis zum Leitstellenlehrgang Teil 1 erfolgreich abgeschlossen.
Abb. 3: Blick in den Technikraum der ILLS. Die gesamte Clienttechnik ist von den jeweiligen Arbeitsplätzen abgesetzt in einem separaten Technikraum untergebracht
Der ILS-Lehrgang an der Feuerwehrschule Geretsried Durch die Einführung eines einheitlichen Einsatzleitsystems, sowohl hinsichtlich der Technik als auch der Software, wurde in Bayern auch der Weg für eine zentrale Disponentenausbildung gelegt. Diese Ausbildung umfasst neben den üblichen gesetzlichen und organisatorischen Grundlagen insbesondere auch die praktische Ausbildung am Einsatzleitsystem. In den sieben Wochen des Lehrgangs lernt und trainiert der angehende Disponent in mehr als 280 Stunden die Grundsätze der Notrufannahme, Disposition und der Alarmierung auf einem einheitlichen Standard, so wie er in allen bayerischen Integrierten Leitstellen Anwendung findet. Für die Ausbildung wurde an der Staatlichen Feuerwehrschule Geretsried eine Integrierte Lehrleitstelle errichtet (ILLS). Sie umfasst insgesamt 22 Einsatzleitplätze. An 12 dieser Einsatzleitplätze werden die Lehrgangsteilnehmer geschult, während die anderen Plätze zur Simulation der Umwelt (Notrufe, Einsatzfahrzeuge, Krankenhäuser, 39
PORTRÄT
geteilte Prüfung dar, die vor einer interdisziplinär besetzten Prüfungskommission abzulegen ist. Inhaltlich werden darin in einem schriftlichen Test als auch in einer mündlichen sowie praktischen Prüfung die erlernten Fähigkeiten über die gesamte Lehrgangsdauer abgefragt. Die Prüfungskommission ist besetzt aus Vertretern der Zweckverbände für Rettungsdienst und Feuerwehralarmierung, den Leitern der bayerischen Leitstellen, Vertretern des Bayerischen Staatsministeriums des Innern und der Feuerwehrschule Geretsried.
Abb. 4: Blick in den Leitstellenbetriebsraum der ILLS. Hinter den verdunkelten Scheiben befinden sich die sog. Regieplätze, von denen aus die Umwelt simuliert und eingespielt wird
Polizeieinsatzzentralen etc.) und zur Datenversorgung genutzt werden. Des Weiteren stehen noch sechs Ausnahmeabfrageplätze zur Ausbildung zur Verfügung, die bei größeren Schadenslagen besetzt werden. Der Grundlehrgang (Leitstellenlehrgang Teil 1) für die Disponenten gliedert sich in folgende 10 Themenblöcke: • Rechtsgrundlagen, • Organisation und Dienstbetrieb, • Notrufabfrage, • Zusammenarbeit mit anderen Organisationen und Dienststellen, • Einsätze der Feuerwehr und deren Besonderheiten, • Einsätze des Rettungsdienstes und deren Besonderheiten, • Kombinierte Einsätze, • Großschadenslagen, • Technik der Integrierten Leitstelle, • Taktik in einer Integrierten Leitstelle. Die Themenblöcke teilen sich wiederum in praktische und theoretische Einheiten auf. Nahezu die Hälfte der Unterrichtsstunden entfällt dabei auf praktische Übungen am Einsatzleitplatz, sodass die Disponenten vollumfänglich für ihren Dienst in der Integrierten Leitstelle vorbereitet werden. In den ersten sechs Wochen des Lehrgangs ist am Wochenende jeweils ein schriftlicher Leistungsnachweis über den in der Woche absolvierten Lehrgangsstoff abzulegen. Diese Leistungsnachweise befinden letztendlich auch darüber, ob der angehende Disponent überhaupt zur Abschlussprüfung am Ende der 7. Lehrgangswoche zugelassen wird. Den Abschluss stellt dann eine drei-
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Ablauf der Ausbildung im ILS-Lehrgang Der ILS-Lehrgang lebt von einer sehr starken Praxis orientierung in Verbindung mit den theoretischen Hintergründen für das Tätigkeitsfeld eines Disponenten in Bayern. Neben den Lehrkräften der Feuerwehrschule, die allesamt selber über langjährige Erfahrungen in unterschiedlichen Leitstellen in ganz Deutschland verfügen, sind zu den einzelnen Themenfeldern auch externe Experten in ihrem jeweiligen Tätigkeitsfeld fest eingebunden. Für die Besonderheit von Einsätzen im Bereich der Deutschen Bahn AG unterstützen z.B. Referenten des Notfallmanagements der Bahn bzw. der Notfallleitstelle der Deutschen Bahn in München den Lehrgang in Theorie und Praxis. Ähnlich verhält es sich auch im Themenfeld der Einsätze mit Gefahrstoffen. Hier unterstützen Experten aus dem Bereich der TUISFeuerwehren der chemischen Industrie in Bayern den Lehrgang. So gibt es viele Schnittstellen zu externen Organisationen und Behörden, die allesamt für das tägliche Arbeitsfeld eines Disponenten relevant sind. All diese Themenfelder finden sich bestmöglich auch im Lehrgang abgebildet. So ist z.B. auch die Einbindung der Bergwacht in Bayern in Bezug auf die Besonderheiten von Einsätzen im alpinen und unwegsamen Gelände ebenso Bestandteil im Lehrgang wie die Schnittstelle der präklinischen Versorgung und der klinischen Versorgung mit den in Bayern vorhandenen und verwendeten Rettungsmitteln. Anhand einer Exkursion in das Krankenhaus MünchenSchwabing und des dort existierenden Konzepts des Schockraummanagements werden exemplarisch die Besonderheiten der Rettungskette in Bezug auf die bestmögliche Versorgung von Notfallpatienten transparent gemacht. Anhand der Lernziele des Lehrgangs sind dann auch die praktischen Sequenzen des Lehrgangs gestaltet und mit den theoretischen Inhalten verschränkt. So werden innerhalb der sieben Wochen alle mög2 · 2013 | 3. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 92
PORTRÄT
lichen Einsatzszenarien vom Krankentransport über den Notarzteinsatz bis hin zu einfachen Feuerwehreinsätzen, kombinierten Einsätzen, MANV-Einsätzen und Katastropheneinsätzen geübt. Die Betreuung der Lehrgangsteilnehmer an den Einsatzleitplätzen wird ausschließlich durch das Lehrpersonal der Feuerwehrschule durchgeführt. Die Darstellung der Umwelt, also die Darstellung der Notrufer, der eingesetzten Rettungsmittel sowie anderer Funktionen wird von einer Unterstützungsgruppe (sog. Regie-ILLS) geleistet. Hierbei handelt es sich um externes Personal, das nebenamtlich für die Feuerwehrschule tätig ist und in der Regel aus selbst ausgebildeten und erfahrenen ILS-Disponenten besteht oder z.B. im Fahrdienst des Rettungsdienstes in Bayern beschäftigt ist. Die Szenarien sind genau anhand vordefinierter Drehbücher von Seiten der Feuerwehrschule vorgegeben und von den Einspielern abzuarbeiten. In den Anfangsjahren wurde der Lehrgang zunächst mit maximal 12 Lehrgangsteilnehmern abgewickelt. Anhand des großen Ausbildungsbedarfs in Bayern musste die Kapazität sukzessive aufgestockt werden. Anfang 2012 konnte die Anzahl der Lehrgangsteilnehmer schließlich auf 24 Teilnehmer erhöht werden. Dazu wird der Lehrgang dann aber in zwei Gruppen geteilt. Nur so können die hohen praktischen Anteile für die Lehrgangsteilnehmer auf gleichem Niveau gehalten werden. Das bedeutet, dass eine der beiden Gruppen z.B. vormittags eine Theoriesequenz im Lehrsaal ableistet, während sich die andere Gruppe im praktischen Ausbildungsbetrieb in der Lehrleitstelle befindet. Anschließend wechseln die Gruppen am Nachmittag dann ihre Rollen. Ausblick und weiteres Vorgehen Nach dem ILS-Lehrgang Teil 1 sieht das Konzept über die Integrierten Leitstellen in Bayern noch eine Anpassungsschulung für das Personal in den Integrierten Leitstellen an die jeweiligen örtlichen Gegebenheiten vor (ILS-Lehrgang Teil 2). Diese Ausbildung ist durch die Betreiber selbst zu leisten. Die Feuerwehrschule Geretsried wird dazu aber durch die Ausbildung von sog. Lehrdisponenten, die dann in ihren jeweiligen ILS federführend für die Ausbildung zuständig sein sollen (Ausbildungsbeauftragte der ILS), einen entsprechenden Beitrag leisten. Damit will man sicherstellen, dass auch die Anpassungsschulung nach einigermaßen gleichen Gesichtspunkten in ganz Bayern ablaufen kann, obgleich es hinsichtlich der Besonderheiten in den einzelnen ILS-Bereichen sicher auch viele örtliche Spezifika geben wird. Zudem sollen die Lehrdisponenten auch 2 · 2013 | 3. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 93
für eine regelmäßige Fortbildung in ihren Leitstellen sorgen. Der Pilotlehrgang für Lehrdisponenten ist für Ende April 2013 vorgesehen. Diese Personen sollen in ihrer Funktion als Ausbildungsbeauftragte die notwendigen Kenntnisse für die Aus- und Fortbildung an den Standorten erhalten und bei jährlichen Workshops für Ausbildungsbeauftragte auffrischen und vertiefen. Darüber hinaus gibt es aber auch noch weitere Lehrgänge und Seminare für Disponenten. Seit Anfang 2013 werden z.B. im Rahmen einer Multiplikatorenschulung für alle Integrierten Leitstellen in Bayern Disponenten in der Telefonreanimation geschult. Die Telefonreanimation und ein zugehöriger Algorithmus gehören für die ILS in Bayern somit zum Stand der Technik und wurden vom Staatsministerium des Innern in einer bayernweiten Arbeitsgruppe aus ÄLRD, ZRF, Leitstellenleitern, dem Institut für Notfallmedizin der LMU München und der Feuerwehrschule Geretsried erarbeitet. Die Multiplikatoren geben ihr Wissen an alle Disponenten der ILS in Bayern weiter, sodass flächendeckend ein Standard vorhanden ist. Darüber hinaus bietet die Staatliche Feuerwehrschule Geretsried neben den Lehrgängen für Alarmierungsplanung und Stammdatenversorgung auch Lehrgänge für die Einsatznachbearbeitung der Feuerwehren an. Für die Systemadministratoren der Inte grierten Leitstellen finden Lehrgänge in Zusammenarbeit mit der Firma Oracle statt. Über die weiteren Konzepte und Inhalte all dieser angesprochenen Aus- und Fortbildungen sowie über weitere Konzepte wird an anderer Stelle zu berichten sein. ❂
Abb. 5: Blick auf einen Einsatzleitplatz in der ILLS
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Abb. 1: Verbrennungen: Wie lauten die aktuellen ErsteHilfe-Empfehlungen?
Notfallmedizinische Leitsymptome – Teil 6: Thermische Schädigungen
Autor:
Hendrik Sudowe Redaktion BOS-LEITSTELLE AKTUELL Richterskamp 9 49078 Osnabrück sudowe.hendrik@ osnanet.de
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Der letzte Teil der Serie Notfallmedizinische Leitsymptome beschäftigt sich genau genommen nicht mit einem Leitsymptom, sondern mit einem Leitmechanismus: mit der Einwirkung von Hitze oder Kälte. Thermische Extrembedingungen können zu verschiedenen Notfallbildern führen, die vom Leitstellendisponenten rasch erkannt werden müssen, um geeignete Rettungsmittel entsenden zu können. Neben der Alarmierung geeigneter Einsatzkräfte kommt der Anleitung des Anrufers besondere Bedeutung zu, denn die sinnvollen Erste-Hilfe-Maßnahmen bei z.B. Verbrennungen oder Unterkühlungen konkurrieren mit zahlreichen Mythen. Und so werden nach wie vor großflächige Brandwunden von wohlmeinenden Laien mit Zahnpasta eingerieben oder mit Mehl bestäubt und schwer hypotherme Patienten warmgerubbelt oder mit hochprozentigen Alkoholika versorgt. Der vorliegende Artikel zeigt anhand von drei Fällen thermischer Schädigung die zugrunde liegenden pathophysiologischen Prozesse sowie sinnvolle und aktuelle Erste-Hilfe-Maßnahmen auf. Versetzen Sie sich in die Lage des Leitstellendisponenten. Hätten Sie genau so entschieden?
Freitag, 13. April 2012, 13 °C Außentemperatur, Anruf über Handy Disponent: „Notruf, Feuerwehr, Rettungsdienst. Wo genau ist der Notfallort?“ Anrufer: „Hier ist Müller, mein Gott, der brennt!“ Disponent: „Wo ist der Notfallort?“
Anrufer: „Lange Straße 12 in Neustadt, im Garten. Man kann direkt von der Straße aus hereinkommen.“ Disponent: „Was ist passiert?“ Anrufer: „Mein Kumpel wollte den Grill anzünden. Mit Brennspiritus. Jetzt brennt sein Arm. Der wälzt sich über den Boden, aber es hört nicht auf. Wir haben hier draußen keinen Wasseranschluss. Ich kann ihn nicht ablöschen. So kommen Sie doch!“
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Verbrennungstiefen
Disponent: „Feuerwehr und Rettungsdienst sind auf dem Weg zu Ihnen. Ich sage Ihnen jetzt, was Sie tun können. Brennt noch etwas anderes oder können Sie sich dem Patienten gefahrlos nähern?“ Anrufer: „Nein, nur sein Arm brennt. Ich kann hin!“ Disponent: „Gut, dann besorgen Sie sich schnell eine Decke oder etwas Ähnliches. Die legen Sie fest über die brennenden Körperstellen. Damit ersticken Sie die Flammen. Machen Sie das jetzt, ich bleibe am Telefon!“ Anrufer: „O.k., das hat geklappt! Was soll ich jetzt tun?“ Disponent: „Reagiert der Patient, wenn Sie ihn ansprechen?“ Anrufer: „Ja, klar, aber der schreit vor Schmerzen!“
I IIa oberflächlich IIb tief
III
Disponent: „Lassen Sie ihn, wenn möglich, die verbrannte Kleidung ausziehen. Ist nur der Arm betroffen?“
Fettgewebe
Anrufer: „Ja, Hand und Arm, bis knapp über dem Ellenbogen. Sieht schlimm aus. Die Nachbarn haben einen Swimmingpool. Soll ich ihn da zum Kühlen reinlegen?“ Disponent: „Nein, kühlen Sie nur den betroffenen Bereich mit lauwarmem Leitungswasser. Sorgen Sie aber dafür, dass der Patient nicht durchnässt wird und hüllen Sie ihn in eine Decke ein. Am besten im Haus.“
IV
Anrufer: „In Ordnung!“ Disponent: „Ich bleibe am Telefon. Wenn sich etwas verändert, sagen Sie bitte sofort Bescheid!“
Unterdessen hat der Schichtführer nach kurzer Rücksprache mit dem Disponenten bereits eine aktuelle Fassung des Bettennachweises der Verbrennungs zentren aufgerufen. Kurz darauf treffen die Rettungskräfte ein. Die vom Ersthelfer vorgenommene Kühlung wird durch eine suffiziente Analgesie und sterile Wundversorgung ersetzt. Laut Rückmeldung hat der Patient zweit- bis drittgradige Verbrennungen mit einer Ausdehnung von ca. 7% der Körperoberfläche am rechten Arm und an der Hand erlitten. Aufgrund der Handbeteiligung besteht die Indikation für eine Aufnahme im Verbrennungszentrum. Das nächstgelegene ist nur 15 km entfernt und nach Anfrage durch die Leitstelle aufnahmebereit. Vitale Störungen wie z.B. Atemwegs- und Belüftungsprobleme, die durch ein begleitendes Inhalationstrauma zu erklären wären, liegen nicht vor und sind auch nicht zu erwarten. Daher erfolgt der bodengebundene Transport in Notarztbegleitung. Soweit das Geschehen vor Ort. Ein strategischer Blick in die Leitstelle: Bevor überhaupt in Erwägung gezogen werden kann, ob Erste-Hilfe-Anweisungen für brandverletzte Patienten gegeben werden können, ist eine Frage zu klären. Besteht Gefahr für den Helfer? Das wird bei Brandentwicklungen nicht selten der Fall sein. Ein Ersthelfer darf nicht in brennende oder stark verqualmte Räume geschickt werden oder explosions2 · 2013 | 3. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 95
gefährdete Bereiche betreten. Auch ein ausreichender Sicherheitsabstand bei Starkstrom-Unfällen muss unbedingt angemahnt werden. Die Anweisungen aus der Leitstelle müssen grundsätzlich primär auf den Eigenschutz des Ersthelfers gerichtet sein. Wenn die Szene sicher erscheint, ist ein beherztes Eingreifen allerdings lebensrettend: Nach Ablöschen noch brennender Kleidung bzw. Ersticken der Flammen mit einer Decke werden vitale Funktionen abgefragt. Reagiert der Patient auf Ansprache? Atmet er normal? Werden beide Fragen mit ja beantwortet, richten sich die nächsten Bemühungen auf die Wundversorgung. Den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Verbrennungsmedizin (DGV) entsprechend, sollen kleinere Verbrennungen nach wie vor für einen begrenzten Zeitraum gekühlt werden. Empfohlen werden ca. 10 Minuten. Ein positiver Effekt auf das „Nachbrennen“ einer Brandwunde durch im Gewebe gespeicherte hohe Temperatur ist wahrscheinlich schon wesentlich früher nicht mehr zu erwarten. Zur Analgesie ist die Kühlung aber auch darüber hinaus wirksam. Geeignet ist lauwarmes Leitungswasser. Vorsicht ist allerdings bei großflächigen Verbrennungen geboten: Auf keinen
Abb. 2: Schematische Darstellung der Verbrennungstiefen (aus: LPN 3)
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Körperkern / Körperschale
Anrufer: „O.k.!“ Kurz darauf: „Hier haben noch ein paar Leute angepackt. Wir haben ihn. Es hat geklappt. Jetzt liegt er hier vor uns auf einer dicken Wolldecke. Was sollen wir jetzt tun?“ Disponent: „Reagiert der Mann, wenn Sie ihn ansprechen?“
Kerntemperatur
Anrufer: „Ja, der ist wach. Aber er wirkt sehr müde und schläfrig. Vorhin hat er noch gezittert. Das hat jetzt aufgehört. Ist das ein gutes Zeichen? Sollen wir ihn warmrubbeln? Hilft ein Schnaps?“
37 ˚C 36 ˚C 34 ˚C 32 ˚C 31 ˚C 28 ˚C Schalentemperatur Außentemperatur: 20 °C
Abb. 3: Temperaturverteilung im Körperkern und in der Körperschale (aus: LPN 3)
Außentemperatur: 35 °C
Fall darf der Patient unterkühlen. Denn dadurch würde die Überlebenswahrscheinlichkeit dramatisch sinken. Daher wird bei großflächigen Verbrennungen – die DGV spricht von 30% verbrannter Körperoberfläche, aktuelle Erste-Hilfe-Leitfäden sogar von wesentlich kleineren Arealen („z.B. ein Finger“) – das Kühlen nicht mehr empfohlen. Im Gegenteil, der Ersthelfer soll für einen Wärmeerhalt sorgen. Und er soll auch nicht Zahnpasta, Mehl, Öl und Ähnliches auf die Wunde auftragen oder Brandblasen öffnen. Besser ist ein steriles Brandwundenverbandtuch. Das findet er zur Not im Verbandkasten seines Pkw. Aber nun zu einem anderen Extrem.
Freitag, 13. Januar 2013, 3 °C Außentemperatur, Notruf über Handy Disponent: „Notruf, Feuerwehr, Rettungsdienst. Wo genau ist der Notfallort?“ Anrufer: „Ja, Müller. Ich stehe hier am Rubbenbruchsee, in Höhe des Cafes. Da ist einer aufs Eis gegangen und eingebrochen. Der hält sich noch am Eisrand fest und zappelt, aber ich glaube, der wird schwächer.“ Disponent: „In Ordnung. Ich alarmiere jetzt die Rettungskräfte. Wie weit ist der Mann vom Ufer entfernt?“ Anrufer: „So ungefähr 10 Meter vielleicht. Ich versuche jetzt hinzukriechen!“ Disponent: „Nein, tun Sie das nicht!“ Anrufer: „Aber ich kann den da doch nicht ertrinken lassen!“ Disponent: „Sie helfen dem Mann nicht, wenn Sie selbst ins Eis einbrechen. In dem Cafe gibt es einen Bootsverleih. Fragen Sie dort nach einem langen Seil. Vielleicht können Sie ihm das vom Ufer aus zuwerfen.“
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Disponent: „Ich sage Ihnen jetzt, was Sie tun müssen. Fassen Sie mit möglichst vielen Helfern die Decke und tragen Sie den Mann darauf in das Cafe. Da legen Sie ihn dann ab und ziehen vorsichtig die nasse Kleidung aus. Vielleicht können Sie sie auch mit der Schere aus einem Verbandkasten aufschneiden. Bewegen Sie den Patienten dabei möglichst wenig. Danach decken Sie ihn mit trockenen Decken zu. Versuchen Sie nicht, ihn durch Abreiben oder Alkohol zu erwärmen. Das wäre gefährlich. Ich bleibe am Telefon. Sagen Sie mir sofort Bescheid, wenn sich der Zustand verändert. Die Rettungskräfte brauchen wegen der Straßenverhältnisse noch ca. 20 Minuten.“
Die Stadieneinteilung der Hypothermie am Telefon und ohne Thermometer vorzunehmen, ist schwierig. Anhand der klinischen Zeichen – sistierendes Kältezittern und herabgesetzte Vigilanz – darf aber angenommen werden, dass im Fall keine milde, sondern zumindest eine moderate Hypothermie bestanden hat. Wenn der Körper seine Bemühungen einstellt, Wärme zu produzieren, und auf „Sparflamme“ schaltet, findet eine Kreislaufzentralisation statt. Warmes Blut wird auf den Körperkern konzentriert, während das kältere Blut in der Peripherie „steht“. Ersthelferversuche, den Körper zu erwärmen („Laufen Sie zweimal um den See!“ oder „warmrubbeln“), wären in diesem Zustand entweder nicht mehr möglich oder zumindest schädlich, weil durch die Kreislaufanregung kaltes Blut aus der Körperschale nach zentral einströmen und somit die Körperkerntemperatur weiter absenken würde. Ein Kreislaufstillstand könnte die Folge sein. Zum Abschluss wird es noch einmal richtig heiß. Es ist Sommer! Der Anrufer berichtet über einen Fall, dem eine Hitzestörung zugrunde liegt. Etwas genauer sollte man das Problem allerdings schon benennen können. Hitzesynkope, Hitzeerschöpfung, Hitzschlag, Sonnenstich – was liegt vor? Entscheiden Sie!
Freitag, 13. August 2013, 31 °C Außentemperatur, Notruf über Handy Disponent: „Notruf, Feuerwehr, Rettungsdienst. Wo genau ist der Notfallort?“ Anrufer: „Hier ist Übungsleiter Schmidt. Ich rufe vom Sportplatz an der Wasserwerkstraße an.“ Disponent: „Guten Tag, Herr Schmidt! Was ist passiert?“
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MEDIZIN
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Anrufer: „Einem von meinen Jungs geht es nicht gut. Der musste sich beim Fußballspielen übergeben und ist so komisch. Kopfschmerzen hat er auch. Können Sie wohl einen Krankenwagen schicken?“ Disponent: „Reagiert der Patient, wenn Sie ihn ansprechen?“ Anrufer: „Ja, schon. Der kann auch noch sprechen, aber irgendwie ist er nicht so richtig klar im Kopf.“ Disponent: „Wie alt ist der Junge?“ Anrufer: „Na, ich schätze 56 Jahre.“ Disponent: „Aha, also kein Junge. Gab es einen Unfall? Hat er sich den Kopf gestoßen?“ Anrufer: „Nein!“ Disponent: „Hat er Alkohol getrunken?“ Anrufer: „Ja, zwei, drei kleine Pilschen zum Aufwärmen, aber wirklich nicht mehr.“ Disponent: „Bitten Sie den Patienten beide Arme hochzuheben und achten Sie darauf, ob ein Arm herabsinkt. Anrufer: „Nee, beide Arme sind gleich kräftig.“ Disponent: „Bitten Sie den Patienten zu lächeln und achten Sie darauf, ob ein Mundwinkel herunterhängt.“ Anrufer: „Fällt mir nicht auf!“ Disponent: „Der Patient soll Ihnen den folgenden Satz nachsprechen: Heute ist ein schöner Tag! Achten Sie darauf, ob er das kann.“ Anrufer: „Ja, schon, aber er wirkt insgesamt sehr müde und schläfrig. Glauben Sie an einen Schlaganfall?“ Disponent: „Nein. Tut ihm nur der Kopf weh oder auch sein Nacken?“ Anrufer: „Nur der Kopf. Den kann er auch ohne weitere Schmerzen bewegen.“ Disponent: „Fühlt er sich besonders warm an?“ Anrufer: „Jau, Mensch, ich glaube der hat Fieber!“ Disponent: „Schwitzt er?“ Anrufer: „Nein, das ist ja komisch. Vor dem Spiel hat er noch geschwitzt. Da habe ich ihm noch gesagt, dass er sich doch den langen Trainingsanzug ausziehen soll, weil es doch heute so heiß ist. Wollte er aber nicht. Jetzt fühlt er sich allerdings ganz trocken an. Hey, jetzt sackt er in sich zusammen.“ Disponent: „Reagiert der Patient, wenn Sie ihn ansprechen?“ Anrufer: „Nein, jetzt nicht mehr.“ Disponent: „Legen Sie ihn hin und kippen Sie seinen Kopf ganz weit nach hinten. Legen Sie dann ihr Ohr über den Mund des Patienten. Atmet er normal?“ Anrufer: „Ja, das klingt normal.“ Disponent: „Sehr gut! Drehen Sie den Patienten nun auf die Seite. Der Mund muss nach unten gerichtet sein. Die Rettungskräfte sind bereits alarmiert und müssten gleich bei Ihnen sein. Ich bleibe am Telefon. Kontrollieren Sie weiterhin die Atmung und sagen Sie mir Bescheid, wenn sich etwas verändert.“
Haben Sie erkannt, woran der Patient leidet? Sonnenstich, Hitzesynkope, Hitzeerschöpfung oder Hitzschlag? Wenn es Ihnen nicht sofort einfällt, die verschiedenen Notfälle der Reihe nach: 2 · 2013 | 3. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 97
Ein Sonnenstich resultiert aus der direkten Einwirkung von Sonnenstrahlen auf den unbedeckten Kopf. Eine Reizung der Hirnhäute kann die Folge sein. Symptome sind ein hochroter Kopf, Übelkeit, Erbrechen, Schwindel, Kopf- und Nackenschmerzen. Manchmal tritt auch eine Nackensteifigkeit auf. Eine Lagerung mit leicht erhöhtem Oberkörper an einem kühlen Ort im Schatten und ggf. ein kühlender Umschlag wären geeignete EH-Maßnahmen. Die Hitzesynkope beschreibt einen Kollaps mit kurzzeitiger (!) Bewusstlosigkeit, ausgelöst durch eine wärmebedingte Weitstellung peripherer Gefäße. Es kommt zur Fehlverteilung des Blutes und zu einer mangelhaften Hirndurchblutung. Die Patienten sollten schnell wieder zu sich kommen, können aber auch im Liegen vorübergehend weiterhin Schwindel und Übelkeit verspüren. Der Ersthelfer soll den Patienten flach, evtl. mit angehobenen Beinen, auf dem Boden lagern. Die Hitzeerschöpfung kann ein Vorläufer des Hitzschlags sein. Wenn ein schwitzender Mensch seine Wasser- und Elektrolytverluste nicht durch ausreichende Flüssigkeitsaufnahme ersetzt, kann es zu Verwirrtheit, Erregung, Bewusstseinstrübungen und Schwindel kommen. Der Ersthelfer soll den Patienten an einem kühlen Ort flach lagern und, wenn keine Bewusstseinsstörungen vorliegen, elektrolythaltige Getränke anbieten. Der Hitzschlag – und der lag in diesem Fall vor – entsteht, wenn die Wärmeabgabe des Körpers scheitert und somit die Kerntemperatur immer weiter ansteigt. Das kann bei heiß-schwülem Wetter, unangepasster Kleidung, unzureichender Flüssigkeitsaufnahme und nach Einnahme bestimmter Medikamente (Diuretika) und Alkohol passieren. Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit, eine sehr hohe Körpertemperatur und eine rote, heiße, aber trockene Haut sind diagnostische Wegweiser. Ein Hitzschlag ist lebensbedrohlich! Der Ersthelfer soll den Patienten an einem kühlen Ort mit erhöhtem Oberkörper lagern und ggf. seine Haut vorsichtig kühlen. Bei einer Bewusstlosigkeit ist natürlich die Seitenlagerung zum Schutz der Atemwege vorrangig. Fazit An den Leitmechanismus „thermische Schädigung“ sollte immer gedacht werden, wenn es besonders heiß oder besonders kalt ist. Eine gezielte Abfrage wird in vielen Fällen Verdachtsmomente für eine hitzeoder kältebedingte Störung ergeben. Gerade bei den potenziell lebensbedrohlichen Bildern Verbrennung und Unterkühlung kann neben der Alarmierung geeigneter Rettungskräfte die Anleitung des Ersthelfers prognostisch entscheidend sein. ❂
Dies ist ein Artikel der Zertifizierten Fortbildung für Leitstellenmitarbeiter. Sie finden dazu fünf Fragen mit jeweils vier Antworten unter www.skverlag.de/zf. Eine kostenlose Fortbildungsmöglichkeit für alle BOS-LEITSTELLE AKTUELL-Abonnenten.
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RECHT
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Abb. 1: Der Disponent bewegt sich auf einem schmalen Grat, wenn er darüber entscheiden muss, wem er worüber Auskunft gibt, geben darf und geben muss
Auskunftsanspruch contra Schweigepflicht: Die Gratwanderung des Leitstellendisponenten Autor:
Tobias Ohr Rechtsanwalt Fachanwalt für Strafrecht und Medizinrecht Rechtsanwälte Dr. Ohr, Winter und Kollegen Westliche Ringstr. 18 67227 Frankenthal kanzlei@ohr-partner.de
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Der Leitstellendisponent ist zumeist die erste Person, an die sich der Hilfesuchende im unmittelbaren Anschluss an ein Unglück wendet. Dabei erhält der Disponent oftmals die ersten Einblicke in einen Geschehensablauf und dessen Hintergründe, die für die Gesundheits- und Strafverfolgungsbehörden sowie für Dritte, seien es Angehörige, Arbeitgeber oder Versicherungsträger, von Interesse sind. Der vorliegende Beitrag widmet sich der Frage, unter welchen Voraussetzungen der Disponent zur Herausgabe dieser Informationen verpflichtet ist.
Auskunftspflicht aufgrund besonderer gesetzlicher Bestimmungen Besondere gesetzliche Regelungen verpflichten den Leitstellendisponenten zur Preisgabe bestimmter Informationen. In diesen Fällen tritt ein etwaiges Geheimhaltungsinteresse des Patienten kraft Gesetzes hinter übergeordnete Interessen, etwa solche des Gemeinwohls, zurück.
1. Infektionsschutzgesetz Gem. § 6 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) haben Ärzte und alle diejenigen, die einen Heilberuf ausüben, der eine staatliche Ausbildung erfordert, wie Rettungsassistenten und Notfallsanitäter, den Verdacht des Vorliegens einer meldepflichtigen Erkrankung gem. § 6 IfSG anzuzeigen, wobei dies für die Rettungskräfte einschränkend nur gilt, sofern kein 2 · 2013 | 3. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 98
RECHT
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Arzt hinzugezogen wurde und sofern der Patient nicht unverzüglich in eine ärztlich geleitete Einrichtung gebracht wird (§ 8 I Nr. 1, 6, II IfSG). Erhält der Leitstellendisponent etwa im Gespräch mit Angehörigen eines Patienten Anhaltspunkte, die auf eine meldepflichtige Krankheit hindeuten, wie etwa Tollwut, Masern, Meningitis oder Tuberkulose, so trifft ihn zum Schutz der Allgemeinheit eine Meldepflicht, wenn der Patient zu erkennen gibt, dass er sich nicht in ärztliche Behandlung begeben möchte. 2. Nichtanzeige geplanter Straftaten Jeder Bürger, der glaubhaft von dem ernstlichen Plan der Begehung eines der in § 138 StGB bezeichneten Delikte wie z.B. einer Brandstiftung, der Begehung eines Mordes oder Totschlags, eines Raubes oder einer räuberischen Erpressung Kenntnis erlangt, ist verpflichtet, dies anzuzeigen. Andernfalls macht er sich selbst gem. § 138 StGB wegen der „Nichtanzeige einer Straftat“ strafbar, was mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit einer Geldstrafe bestraft werden kann. 3. Betriebsunfälle Liegt ein Betriebsunfall im Sinne des § 8 SGB VII vor, so ist der Unternehmer gem. § 193 SGB VII verpflichtet, den Unfall binnen drei Tagen dem Unfallversicherungsträger zu melden, wenn der Versicherte getötet oder derart schwer verletzt wurde, dass er mehr als drei Tage arbeitsunfähig erkrankt ist. Den Unternehmer treffen aufgrund seiner Fürsorgepflicht für die Gesundheit seiner Arbeitnehmer erhebliche Pflichten. Verwiesen wird insoweit auf die Berufsgenossenschaftlichen Vorschriften (BGV). Dabei handelt es sich um die von den Berufsgenossenschaften erlassenen Unfallverhütungsvorschriften. Ärzte, die den Patienten nach einem Betriebsunfall behandeln, sind gem. § 201 SGB VII verpflichtet, dem Unfallversicherungsträger die Behandlungs unterlagen zu übersenden und entsprechende Auskünfte zu erteilen. Auch diejenigen Ärzte, die nicht an der Behandlung des verunfallten Patienten selbst beteiligt waren, sind dem Versicherungsträger gem. § 203 SGB VII etwa hinsichtlich bestehender Vorerkrankungen zur Auskunft verpflichtet, sofern die Auskunftsverlangen der Versicherungsträger mit dem Betriebsunfall in ursächlichem Zusammenhang stehen können. All diese Pflichten adressieren sich jedoch nicht an den Leitstellendisponenten und sie sehen an keiner Stelle die Hinzuziehung der Polizei vor. 2 · 2013 | 3. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 99
Insbesondere die standardisierte Hinzuziehung der Polizei durch die Rettungsleitstelle verbietet sich, denn die Hinzuziehung kann dem Geheimhaltungsinteresse des Patienten im Einzelfall zuwider laufen, etwa wenn der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz betrunken war und seine Verletzung dadurch herbeiführte. Zieht der Disponent gleichwohl die Polizei hinzu, so riskiert er eine eigene Strafbarkeit gem. § 203 StGB. Selbstverständlich hat der Leitstellendisponent immer, unabhängig von einem Arbeitsunfall, die Möglichkeit und gegebenenfalls die Pflicht, die Polizei hinzuzuziehen, wenn eine weitergehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder für das Leben und die Gesundheit der Rettungskräfte besteht. Ist z.B. zu befürchten, dass anlässlich eines Betriebsunfalls bei einem Chemiekonzern giftige Dämpfe ausgetreten sind, die über das Firmengelände in ein Wohngebiet ziehen, so hat der Disponent selbstverständlich die Polizei zu informieren. Er darf aber nur über diejenigen Tatsachen Auskunft geben, die für die Präventivmaßnahmen der Polizei notwendig sind. Der Auskunftsanspruch der Strafverfolgungsbehörden Rettungsleitstellen werden von einer Behörde, einem für diesen Zweck gegründeten Rettungszweckverband oder von einer Hilfsorganisation getragen und nehmen mit ihrer Tätigkeit Aufgaben der Daseinsvorsorge wahr, die grundsätzlich dem Bundesland oder dem jeweiligen Landkreis als Träger des Rettungsdienstes obliegen (exemplarisch §§ 3, 4, 5, 7 LRDG
Abb. 2: Es existiert keine gesetzliche Regelung, die die standardisierte Hinzuziehung der Polizei zu einem Betriebsunfall vorsieht. Vielmehr kann das Geheimhaltungsinteresse des Patienten einer solchen Verständigung im Einzelfall entgegen stehen
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RLP; Art. 18, 19, 20 BayRDG). Der Leitstellendisponent nimmt entsprechend auch als Mitarbeiter einer Hilfsorganisation hoheitliche Aufgaben wahr. Die Landesbrand- und Katastrophenschutzgesetze sehen ebenso wie die einzelnen Landesdatenschutz gesetze vor, dass eine Weitergabe von Daten zur Strafverfolgung und zur Gefahrenabwehr in allen Bundesländern grundsätzlich zulässig ist (exemplarisch §§ 35 VI FwG BW; § 39 III Nr. 1, 4 LBKG RLP, § 13 II d, h LDSG NRW; § 15 II Nr. 5, 8 LDSG BW; § 13 II Nr. 1, 2 LDSG RLP). Diese gesetzlichen Regelungen sind Ausprägungen der in Art. 35 GG niedergelegten Pflicht der Behörden zur gegenseitigen Rechts- und Amtshilfe. Die Befugnis der Leitstelle zur Weitergabe von Informationen an die Polizei muss jedoch in jedem Einzelfall dahingehend überprüft werden, ob Patienteninteressen betroffen sein können.
Beispiel 2: Erkundigt sich die Polizei im Nachgang zu einem Verkehrsunfall mit mehreren Verletzten, die seitens der Rettungskräfte medizinisch versorgt wurden, nach dem Unfallhergang, so können Patienteninteressen tangiert sein. Dann steht der grundsätzlichen Mitwirkungspflicht gegebenenfalls die in § 203 StGB niedergelegte Schweigepflicht des Leitstellendisponenten entgegen.
Die ärztliche Schweigepflicht verpflichtet gem. § 203 I Nr. 1, III StGB Ärzte, die Angehörigen anderer Heilberufe, deren Berufsbezeichnung an den erfolgreichen Abschluss einer staatlichen Ausbildung anknüpft, die berufsmäßig tätigen Gehilfen und diejenigen, die bei ihnen zur Vorbereitung auf den Beruf tätig sind. Dies umfasst alle Mitarbeiter des Rettungsdienstes, die Notärzte, die Rettungsassistenten, die künftigen Notfallsanitäter, die Rettungssanitäter, die Rettungshelfer, ehrenamtliche Kräfte und die Auszubildenden und gilt auch, wenn die Rettungskräfte vor Ort oder etwa auf der Leitstelle selbstständig tätig sind (3). Sie alle unterliegen autonom der Schweigepflicht. Sie leitet sich nicht von derjenigen des Arztes ab (4). Die Schweigepflicht umfasst dabei alle „fremden Geheimnisse“, worunter jede Tatsache zu verstehen ist, die nicht allgemein, sondern nur einem bestimmten Personenkreis bekannt ist und an deren Geheimhaltung der Patient ein sachlich begründetes und damit schutzwürdiges Interesse hat (5). Die Schweigepflicht umfasst bereits den Anruf bei der Leitstelle, die Umstände der Erkrankung und alle Angaben zu den persönlichen Lebensumständen eines Patienten. Sie besteht gegenüber den Strafverfolgungsbehörden, sämtlichen Dritten und natürlich auch gegenüber Berufskollegen, die nicht in die Versorgung des Patienten eingebunden sind (6). Öffentlich bekannte und vollständig anonymisierte Tatsachen werden von der Schweigepflicht nicht erfasst (7). Die Schweigepflicht erstreckt sich nur auf diejenigen Tatsachen, die der Disponent während der Dienstausübung erfährt (8). Der Geheimnisträger kann die Rettungskräfte jederzeit von ihrer Schweigepflicht entbinden. Dies kann ausdrücklich oder konkludent, durch schlüssiges Verhalten, geschehen.
Die Schweigepflicht des Leitstellendisponenten (1) 1. Grundlagen Die Schweigepflicht möchte das aus Art. 1 I, 2 I GG abgeleitete Grundrecht eines jeden Patienten auf Schutz seiner höchstpersönlichen Informationen vor der Preisgabe an unberechtigte Dritte sichern. Damit soll das für jede Behandlung unverzichtbare Vertrauen des Patienten in seinen Arzt sichergestellt werden (2). Die Verletzung der Schweigepflicht kann mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit einer Geldstrafe, in besonders schweren Fällen mit einer Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren, geahndet werden.
Beispiel: Bei einem Verkehrsunfall mit Personenschäden sind stets potenzielle Patienteninteressen betroffen. Es ist dem Disponenten zumeist nicht bekannt, ob der Patient im Einzelfall mit der Weitergabe von Informationen an die Behörden einverstanden ist. Der Disponent teilt der Polizei daher lediglich den Patientennamen mit, denn den darf die Polizei von jedem Unfallbeteiligten ohnehin erheben, und gibt den Verbringungsort bekannt, damit die Behörden ihre eigenen Ermittlungen führen können. Weitere Informationen, insbesondere zum Erkrankungsbild, dem Unfallhergang, einer etwaigen Alkoholisierung oder dergleichen mehr, werden nur herausgegeben, wenn der Polizei eine Entbindung
Beispiel 1: Richten die Strafverfolgungsbehörden eine Anfrage an die Rettungsleitstelle, wie der Anrufer hieß, der den Wohnhausbrand X gemeldet hat, und wurde anlässlich dieses Brandes niemand seitens der Rettungskräfte medizinisch versorgt, so ist nicht ersichtlich, inwieweit bei dieser Frage Patienteninteressen betroffen sein könnten. Die Leitstelle hat daher in gesicherter Form entsprechende Informationen herauszugeben.
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von der Schweigepflicht vorliegt. Diese kann mündlich erfolgen. Auch telefonische Auskünfte an vermeintliche Angehörige oder andere nahe stehende Personen verbieten sich, da zumeist nicht bekannt ist, ob der Patient mit der Weitergabe der Informationen einverstanden ist und da die Identität des Anrufers nicht überprüft werden kann (9). Mehrfach haben sich Reporter wenig sachbezogener Boulevardzeitungen als vermeintliche Angehörige eines Geschädigten ausgegeben. 2. Suizidales Handeln Auch Anhaltspunkte für eine suizidale Handlung begründen nicht generell die Verpflichtung, die Polizei hinzuzuziehen. Eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung, eine Selbstverletzung und auch eine Selbsttötung stellen keine Straftat dar. Vielfach hat der Patient gar ein klar erkennbares Interesse daran, die Polizei nicht hinzuzuziehen. Daran sind die Rettungskräfte grundsätzlich gebunden. Sie haben in diesen Fällen jedoch gewissenhaft zu prüfen, ob Anhaltspunkte vorliegen, die Zweifel an der Einwilligungsfähigkeit des Patienten begründen. Dann muss über eine Zwangseinweisung des Patienten etwa unter den Voraussetzungen des jeweiligen PsychKG nachgedacht werden. Die Hinzuziehung der Polizei ist natürlich immer in den Fällen angezeigt, in denen mit der suizidalen Handlung Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung verbunden sind, etwa wenn damit in den Schienenverkehr eingegriffen wird. 3. Offenbarungsrechte Das Recht des Leitstellendisponenten zur Preisgabe von Informationen kann aus § 34 StGB resultieren. Die Offenbarung bestimmter der Geheimhaltung unterliegender Informationen ist danach ausnahmsweise gerechtfertigt, wenn das Interesse an der Weitergabe der Informationen das Geheimhaltungs interesse des Patienten wesentlich überwiegt und die Weitergabe ein angemessenes Mittel zur Abwendung einer nicht anders abwendbaren Gefahr für Leib und Leben eines anderen darstellt (10). Das ist z.B. der Fall, wenn der Disponent von einer möglichen Kindesmisshandlung Kenntnis erlangt. Die Verletzung des Kindes allein beseitigt die Schweigepflicht noch nicht, denn die Rechtsgutsverletzung ist in diesem Fall bereits eingetreten und kann nicht mehr verhindert werden. So ist es auch im Falle einer Schlägerei, der Fahrerflucht oder einer etwaigen Alkoholisierung. Hier greift die Schweigepflicht grundsätzlich. 2 · 2013 | 3. Jahrgang | BOS-LEITSTELLE AKTUELL | 101
Aber im Falle einer möglichen Kindesmisshandlung muss überdies auf konkrete Anhaltspunkte einer Wiederholungsgefahr abgestellt werden. Sind solche Anhaltspunkte – z.B. Verletzungen unterschiedlichen Alters – erkennbar, so überwiegt das Kindeswohl das elterliche Geheimhaltungsinteresse wesentlich, denn es besteht die konkrete Gefahr weiterer Misshandlungen. Sowohl der Leitstellendisponent als auch die Mitarbeiter vor Ort sind dann zur Anzeige berechtigt, aber nicht verpflichtet (11).
Abb. 3: Vor der Erteilung von Auskünften an die Polizei muss der Disponent immer prüfen, ob im konkreten Fall Patienteninteressen betroffen sein können
4. Auskunftsanspruch des Arbeitgebers Der Arbeitnehmer hat dem Arbeitgeber auf Nachfrage Auskunft über alle dienstlichen Belange zu geben. Stehen jedoch konkrete strafrechtliche Vorwürfe im Raum – etwa der Vorwurf der Körperverletzung durch Unterlassen – so steht dem Auskunftsanspruch des Arbeitgebers das Schweigerecht des Arbeitnehmers im Strafprozess entgegen. Wäre der Arbeitnehmer in diesem Fall sofort zur Abgabe einer Stellungnahme gegenüber dem Arbeitgeber verpflichtet, so könnte das Schweigerecht des Beschuldigten über die Vernehmung des nicht mit einer Schweigepflicht belegten Arbeitgebers – er war ja nicht in die Behandlung des Patienten integriert – ebenso ausgehebelt werden wie über die Beschlagnahme der Personalakten des Mandanten. Damit würde der grundlegende Anspruch eines jeden Beschuldigten auf ein faires Verfahren verletzt. Dieser in Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention niedergelegte Grundsatz des Fair Trial berechtigt den Arbeitnehmer daher dazu, seine Stellungnahme gegenüber dem Arbeit 49
RECHT
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geber bis zum Abschluss des Strafverfahrens zurückzustellen. 5. Aussagegenehmigung Sind Beamte als Leitstellendisponenten tätig, so darf nicht vergessen werden, dass sie, ebenso wie alle Beamte, gem. § 67 III Bundesbeamtengesetz einer Aussagegenehmigung bedürfen, wenn sie bei der Polizei, der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht über Angelegenheiten Auskunft geben wollen, die der Amtsverschwiegenheit unterliegen. Die Aussagegenehmigung erteilt der Dienstvorgesetzte. Sie darf nur unter den strengen Voraussetzungen des § 68 BBG versagt werden. Das Zeugnisverweigerungsrecht Kommt es zu einem Prozess, so setzt sich die Schweigepflicht des Geheimnisträgers gem. §§ 53, 53a StPO prozessual in dessen Zeugnisverweigerungsrecht fort. Es erstreckt sich gem. §§ 53 Abs. 1 Nr. 3, 53a Abs.1 StPO auch auf das gesamte nicht-ärztliche Personal, inklusive der Leitstellendisponenten. In einem Prozess entscheidet der Arzt für sich und zugleich für seine Berufshelfer darüber, ob vom Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht wird (12). Die Berufshelfer sind an diese Entscheidung gebunden (13). Dabei gilt es zu beachten, dass jeder Mitarbeiter des Rettungsdienstes selbstständig der Schweigepflicht unterliegt. Lediglich in einem Prozess entscheidet der Arzt für sich und die Berufshelfer verbindlich darüber, ob vom Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht wird. Dies kann der Arzt natürlich nur tun, wenn er nicht zuvor durch den Patienten von seiner Schweigepflicht entbunden wurde, denn damit entfällt selbstverständlich auch sein Zeugnisverweigerungsrecht und er ist, ebenso wie die Berufshelfer, gem. §§ 53 Abs. 2 Satz 1, 53a Abs. 2 StPO zur Aussage verpflichtet.
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Beschuldigten- und Auskunftsverweigerungsrechte Ist ein Leitstellendisponent selbst Beschuldigter eines Verfahrens, so kann er jederzeit von seinem Schweigerecht Gebrauch machen oder auch zu den Vorwürfen Stellung nehmen, denn die Preisgabe der zur Verteidigung notwendigen Informationen ist dem Beschuldigten unabhängig von einer Entbindung stets gestattet (14). Unabhängig von einem etwaigen Zeugnisverweigerungsrecht steht jedem Zeugen gem. § 55 StPO das Recht zu, auf diejenigen Fragen nicht zu antworten, mit denen er sich selbst belasten würde (Auskunftsverweigerungsrecht).
Zusammenfassung Die Leitstelle nimmt hoheitliche Aufgaben wahr und ist anderen Behörden gegenüber grundsätzlich von Gesetzes wegen zur Mitwirkung und Auskunftserteilung verpflichtet. Vor der Auskunftserteilung muss der Disponent aber in jedem Einzelfall prüfen, ob Patienteninteressen durch die Auskunft betroffen sein können, denn der Leitstellendisponent unterliegt bejahendenfalls zugleich der Schweigepflicht und diese kann einer Auskunftserteilung entgegen stehen. ❂
Literatur: 1. Grundlegend: Ohr T (2005) Die Schweigepflicht der Leitstellendisponenten und der Rettungskräfte vor Ort. Rettungsdienst 36: 906-908 (Teil 1) und 10381040 (Teil 2); Fehn K, Selen S (2010) Rechtshandbuch für Feuerwehr, Rettungs- und Notarztdienst, 3. Auflage, Stumpf + Kossendey, Edewecht, S. 208 ff 2. Ulsenheimer K (2003) Arztstrafrecht in der Praxis. 3. Aufl. C. F. Müller Verlag, München, Rn. 360; Schönke/Schröder-Lenckner (2006), Kommentar zum Strafgesetzbuch. 27. Aufl. Verlag C.H. Beck, München § 203 Rn. 3 (zitiert S/S-Bearbeiter); Tries R (2005) Strafrechtliche Probleme im Rettungsdienst. 3. Aufl. Stumpf + Kossendey, Edewecht, S. 67; Urteil des BGH v. 8. 10. 1968 Az. VI ZR 168/67 (KG) In: NJW 1968, 2288 ff (2289 f) 3. S/S-Lenckner aaO. § 203 Rn. 35; Lissel PM (1998) Rechtsfragen im Rettungswesen. 1. Aufl. Boorberg Verlag, Stuttgart, Rn. 166 f; Spengler B, Eichelbrönner N (2001) Rettungsdienstrecht in der Praxis. Rettungs-Magazin Rn. 382 ff; Tries R aaO. S. 66 f 4. Spengler B, Eichelbrönner N aaO. Rn. 389; Tries R. aaO. S. 70 f – andere Ansicht Lissel PM. aaO. Rn. 143, der im Falle der Anwesenheit eines Arztes immer von einer abgeleiteten Schweigepflicht des nicht-ärztlichen Personals ausgeht. 5. S/S-Lenckner aaO. § 203 Rn. 5 ff; Ulsenheimer K aaO. Rn. 362; Lissel PM aaO. Rn. 162 f 6. Ohr aaO. S. 907 f, Lissel PM aaO. Rn. 163, 167 7. Tries R aaO. S. 67; Spengler B, Eichelbrönner N aaO. Rn. 398 8. Ulsenheimer K aaO. Rn. 365 ff; Lissel PM aaO. Rn. 164 9. Ohr, aaO. S. 908 10. Grundlegend hierzu Urteil des BGH v. 8. 10. 1968 Az. VI ZR 168/67 (KG) In: NJW 1968, 2288 ff (2290); Ulsenheimer K aaO. Rn. 376; S/S-Lenckner aaO. § 203 Rn. 30 ff mwN.; Tries R aaO. S. 72 f; Lissel PM aaO. Rn. 146 11. Ulsenheimer K aaO. Rn. 376; Spengler B, Eichelbrönner N aaO. Rn. 417, 422 ff 12. Ulsenheimer K aaO. Rn. 385; Spengler B, Eichelbrönner N aaO. Rn. 370 13. Tries R aaO. S. 68 f 14. S/S-Lenckner aaO. § 203 Rn. 33 mwN.; Ulsenheimer K aaO. Rn. 379
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