Neumayr · Baubin · Schinnerl
-Ereignis CIRS
führt haben, stehen im Mittelpunkt die-
aus den Niederlanden, offen über Fehler zu
ses Buches. Die Autorinnen und Autoren
sprechen. Sicherheitskultur muss tagtäglich
berichten über „kritische Situationen und
von Neuem gelebt werden. Je früher man
Beinahe-Fehler“ aus der täglichen Praxis
damit beginnt, umso besser!
und stellen ihre Verbesserungsmaßnahmen
Daher setzt der Band bereits bei CIRS in
dazu vor. Diese Herangehensweise ist im
Ausbildungseinrichtungen an und nimmt
deutschsprachigen
von der Leitstelle über den Einsatzbetrieb
Rettungsdienst
ein
Novum.
bis hin zur Klinik und Notaufnahme alle an
Das Innovations- und Lernpotenzial der aus
der präklinischen Versorgung Beteiligten
den CIRS-Fällen umgesetzten Maßnahmen
und deren Schnittstellen in den Blick.
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Österreich, Deutschland, der Schweiz sowie
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unterstreicht die Intention der Autoren aus
Incident Reporting System (CIRS) einge-
CIRS im Rettungsdienst
Rettungsdienste, die bereits ein Critical
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Agnes Neumayr Michael Baubin Adolf Schinnerl
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Herausgeber
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Agnes Neumayr · Michael Baubin · Adolf Schinnerl (Hrsg.)
CIRS im Rettungsdienst
CIRS im Rettungsdienst
Umgesetzte Maßnahmen und Lernpotenziale
ISBN 978-3-96461-018-8
Umgesetzte Maßnahmen und Lernpotenziale www.skverlag.de
CIRS im Rettungsdienst
Umgesetzte Maßnahmen und Lernpotenziale
Herausgeber:
Agnes Neumayr Michael Baubin Adolf Schinnerl
Mit Beiträgen von: Torsten Birkholz Thomas Castner Florian Dax Patrick Andreas Eder Klaus Egger Andreas Estermeier Klaus Filoda Peter Gerstl André Gnirke Patrick Golger Gea Hartman Gesine Hofinger David Holzer Andreas Karl Mario Krammel Kai Kranz Armin Laiminger Sascha Langewand Marc Lüthy
Agnes Neumayr Frank Op Hey Marcus Rall Asarnusch Rashid Helge Regener Günther Schwemberger Daniel Seeböck Romed Stocker Johannes Stommel Christopher Thon Helmut Trimmel Benjamin Walder Markus Wehler Katharina Weibel Sophia Wilk-Vollmann Andreas Zajicek Ilka Zerche-Roch Matthias Zimmer
Verlagsgesellschaft Stumpf + Kossendey mbH, Edewecht 2019
Anmerkungen des Verlags Die Herausgeberin und die Herausgeber sowie die Autorinnen und Autoren und der Verlag haben höchste Sorgfalt hinsichtlich der Angaben von Richtlinien, Verordnungen und Empfehlungen aufgewendet. Für versehentliche falsche Angaben übernehmen sie keine Haftung. Da die gesetzlichen Bestimmungen und wissenschaftlich begründeten Empfehlungen einer ständigen Veränderung unterworfen sind, ist der Benutzer aufgefordert, die aktuell gültigen Richtlinien anhand der Literatur und der medizinischen Fachinformationen zu überprüfen und sich entsprechend zu verhalten. Die Angaben von Handelsnamen, Warenbezeichnungen etc. ohne die besondere Kennzeichnung ®/™/© bedeuten keinesfalls, dass diese im Sinne des Gesetzgebers als frei anzusehen wären und entsprechend benutzt werden könnten. Der Text und/oder das Literaturverzeichnis enthalten Links zu externen Webseiten Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat. Deshalb kann er für diese fremden Inhalte auch keine Gewähr übernehmen. Für die Inhalte der verlinkten Seiten ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber der Seite verantwortlich. Aus Gründen der Lesbarkeit ist in diesem Buch teilweise nur die männliche Sprachform gewählt worden. Alle personenbezogenen Aussagen gelten jedoch stets für Personen beliebigen Geschlechts gleichermaßen.
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© Copyright by Verlagsgesellschaft Stumpf + Kossendey mbH, Edewecht 2019 Satz: Bürger-Verlag GmbH & Co. KG, Edewecht Umschlagfoto (Hintergrund): Rotkreuz Akademie Tirol Druck: mediaprint solutions GmbH, 33100 Paderborn ISBN 978-3-96461-018-8
Inhalt
Inhalt Vorwort
Wegweiser für dieses Buch
Verwendete Abkürzungen
12 14 18
I. Die Theorie zur Praxis 1
CIRS – ein Aspekt einer informativen Sicherheitskultur im Rettungsdienst
22
Gesine Hofinger
1.1 Reporting Culture: Organisationales Lernen aus Patientensicherheitsereignissen
1.2 Underreporting und Barrieren gegen Berichte
1.3 Sicherheitskultur: Was ist das?
1.4 Sicherheitskultur: Stufen und Entwicklungsphasen
1.5 Merkmale reifer Sicherheitskulturen
2
22
23
24
26
28
1.6 Fazit für die Praxis: CIRS und Sicherheitskultur
29
Einführung eines CIRS im Rettungsdienst: Theoretische Grundlagen und praktische Voraussetzungen
32
Frank Op Hey, Marcus Rall
2.1 Voraussetzungen und Charakteristika von effektiven CIRS
2.2 CIRS richtig einführen und gestalten
2.3 CIRS Prozessablauf und Umsetzung
2.4 CIRS konkret: Ein Fallbericht zur Diskussion
2.5 Fazit für die Praxis
3
32
34
36
41
44
Crew Resource Management ist keine Nadel im Heuhaufen mehr 46 Marcus Rall, Frank Op Hey, Sascha Langewand
3.1 CRM in der prähospitalen Notfallmedizin
3.2 Die 15 CRM-Leitsätze
3.3 Die Diagnose steht, therapeutische Maßnahmen sind bekannt
3.4 Das komplette Bild des CRM-Konzeptes
3.5 Schritte zur flächendeckenden Umsetzung von CRM in Organisationen
3.6 Fazit für die Praxis
46
48
52
55
57
60
5
Inhalt
4
Fehlerbewusstsein im Rettungsdienst: Resultate einer Umfrage in der mittleren F ührungsebene
62
Matthias Zimmer
4.1 Der Rettungsdienst als Hochrisikoarbeitsplatz
4.2 Hierarchieebenen, Führungskräfte und Verantwortung
62
63
4.3 Gesetzliche Vorgaben und Sicherheitskultur
64
4.5 Zwischenbilanz Patientensicherheit
65
4.4 Die Einführung von Qualitäts- und Risikomanagementsystemen im R ettungsdienst 4.6 Methode und Studiendesign
4.7 Ergebnisse
4.8 Diskussion
4.9 Fazit für die Praxis
65
66
67
69
70
II. Maßnahmen aus CIRS in Leitstellen 5
CIRS-Fälle und umgesetzte Maßnahmen in den Integrierten Leitstellen in Bayern
74
Andreas Estermeier, Florian Dax
5.1 Hintergrund
5.2 Ablauf einer CIRS-Meldung im Rahmen cirs.bayern für L eitstellen
74
76
5.3 CIRS-Meldungen in Integrierten Leitstellen
77
5.5 Fazit für die Praxis
83
5.4 Evaluation/Diskussion – Status quo des Systems cirs.bayern für Integrierte Leitstellen
6 CIRS – Fehler als Chance der Verbesserung der Leitstellenarbeit
80
85
Ilka Zerche-Roch
6.1 Organisatorische Rahmenbedingungen und praktische Umsetzung
86
6.4 Einbettung ins Qualitätsmanagementsystem der Leitstelle
99
6.3 Störungsmanagement 6.5 Lernpotenzial
6.6 Fazit für die Praxis
6
85
6.2 Verbesserungsmanagement und Korrekturen
88
99
102
Inhalt
III. Maßnahmen aus CIRS in Rettungsdiensten 7 Dran bleiben – es lohnt sich!
104
Katharina Weibel, Marc Lüthy
7.1 Hintergrund
7.2 Ereignismeldungen und umgesetzte Maßnahmen
7.3 Evaluation/Diskussion
7.4 Fazit für die Praxis
8 CIRS-Meldesystem „emris“ im Rettungsdienst REGIO 144 AG
104
108
115
116
117
Peter Gerstl
8.1 Hintergrund
8.2 Umgesetzte Maßnahmen aufgrund konkreter Fallbeispiele
8.3 Umgesetzte Maßnahmen in der Anwendung des CIRS
8.4 Evaluation und Diskussion
8.5 Fazit für die Praxis
9 CIRS-AINS: Dauerbrenner für die Patientensicherheit
117
118
122
123
123
125
Torsten Birkholz
9.1 Hintergrund
9.2 CIRS-AINS – Lösungen mit Rettungsdienstbezug
9.3 Evaluation und Diskussion
9.4 Fazit für die Praxis
10 CIRS in der Rettungsdienst-Kooperation in Schleswig-Holstein (RKiSH): Ein Baustein der Sicherheitskultur
125
126
131
132
134
André Gnirke, Christopher Thon
10.1 Sicherheitskultur in der RKiSH
10.2 Das Critical Incident Reporting System der RKiSH
10.3 Auswertung der CIRS-Fälle in der RKiSH
10.4 Evaluation und Diskussion der ausgewerteten Ergebnisse
10.5 Beispiele umgesetzter Maßnahmen
10.6 Fazit für die Praxis
134
136
137
140
141
149
7
Inhalt
11 Critical Incident Reporting Systeme für Z wischenfälle mit Medizinprodukten
151
Thomas Castner
11.1 Hintergrund
151
11.3 CIRS-Meldungen aus dem Netzwerk Medizinprodukte Sicherheit
155
11.2 Spezielle CIRS-Plattform für Zwischenfälle mit Medizinprodukten 11.4 Effektivität von CIR-Meldesystemen im Bereich der Medizinprodukte
11.5 Fazit für die Praxis
12 Vorschlagswesen und CIRS: eine gemeinsame Quelle zur Risikominimierung
152
162 163
165
Johannes Stommel, Andreas Zajicek, Mario Krammel
12.1 Hintergrund
12.2 Zwölf Schritte zur Fallbearbeitung im CIRS-Arbeitsprozess
12.3 Drei weitere Fallbeispiele aus dem CIRS der Berufsrettung Wien
12.4 Lessons Learned
12.5 Fazit für die Praxis
13 CIRS und Risikomanagement: Chancen, Herausforderungen und I nnovationspotenziale
165
167
170
174 175
177
Agnes Neumayr, Daniel Seeböck, Romed Stocker, Patrick Golger, Andreas Karl
13.1 CIRS Rettungsdienst Tirol: Auswertungen zu zwei Jahren Laufzeit
177
13.3 Die Darstellung der CIRS-Fallbeispiele im RM-Wiki
179
13.2 Entwicklung und Implementierung eines RM-Wiki als Optimierungsmaßnahme
13.4 Diskussion und kritische Anmerkung
13.5 Fazit für die Praxis
14 Maßnahmen aus dem CIRS der ÖAMTC Flugrettung
178
189 190
192
Helmut Trimmel, Klaus Egger
14.1 Meldung von Ereignissen
14.2 Die Aufarbeitung von Reports
14.3 Kritische Ereignisse in der Flugrettung
14.4 Maßnahmen infolge von Reports
14.5 Steigerung der Meldebereitschaft, Grenzen des Systems
14.6 Fazit für die Praxis
8
192
193
195
196
198 199
Inhalt
IV. M aßnahmen aus CIRS in Krankenhäusern und Notaufnahmen 15 Von der „stillen Post“ zur telemedizinischen Übertragung: Strukturierte Voranmeldung an die Zentrale Notaufnahme
202
Markus Wehler, Asarnusch Rashid, Patrick Andreas Eder
15.1 Hintergrund
202
15.2 Die Voranmeldung der Notfallpatienten als kritische Phase in der Notfallversorgung
203
15.4 CIRS und Digitalisierung als sektorenübergreifende F eedbackkultur
211
15.3 Technische Hilfsmittel zur Kommunikations- und Informationsübermittlung
15.5 Fazit für die Praxis: Sektorenübergreifende Qualitätsinitiativen
16 Kommunikationsdefizite an Nahtstellen – Umgesetzte Maßnahmen am Bundeswehrkrankenhaus Berlin
205
212
215
Sophia Wilk-Vollmann
16.1 Hintergrund
215
16.2 Besonderheiten am Bundeswehrkrankenhaus Berlin
219
16.4 Aktuelles Forschungsvorhaben: 9-Line MedEvac Request
224
16.3 Kommunikationsdefizite als systemimmanentes Risiko im BwKrhs Berlin 220
16.5 Evaluation und Diskussion
16.6 Fazit für die Praxis
17 CIRS und Nahtstelle Notaufnahme: das ABS-Briefing
226
226
229
Agnes Neumayr, Günther Schwemberger, Benjamin Walder
17.1 Risiken bei der Patientenübergabe
229
17.2 Das Projekt „Standardisierte Patientenübergabe im Rettungsdienst Tirol“ 231
17.3 Evaluation des Projekts nach Ausrollung in allen Tiroler Fondskrankenanstalten
17.4 Diskussion und Ausblick
17.5 Fazit für die Praxis
18 CIRS heißt hier VIM – Fehlermanagement in den Niederlanden
235
237
238
240
Klaus Filoda, Gea Hartman
18.1 CIRS/VIM im Krankenhaus
240
18.3 Zusammenfassung und Diskussion
248
18.2 Die Notaufnahme und das Fehlermanagement: Fallbeispiele und umgesetzte Maßnahmen
18.4 Fazit für die Praxis
242
249
9
Inhalt
V. Maßnahmen aus CIRS in rettungsdienstlichen Ausbildungseinrichtungen 19 Das können wir besser! Warum Bildungsinstitutionen aus Fehlern lernen müssen
252
Helge Regener, Kai Kranz
19.1 Das Schweizer Institut für Rettungsmedizin: SIRMED
252
19.2 Fehler-, Lern- und Berichtssysteme: Relevanz für eine Bildungsinstitution 253
19.3 Haltung des Unternehmens
19.4 Ein Führungs- und Kulturthema
19.5 Elemente des Lern- und Erfassungstools bei SIRMED
19.6 Beispiele aus der Bildungsorganisation SIRMED
19.7 Wirksamkeit des Verbesserungsportals
19.8 Verbesserungspotenziale des Erfassungstools
19.9 Fazit für die Praxis
20 Implementierung von Crew Resource Management im Rettungsdienst Tirol
253
254
255
260
261
262
262
264
Armin Laiminger
20.1 Der Rettungsdienst Tirol
20.2 Risikomanagement und CIRS
20.3 Crew Resource Management (CRM)
20.4 Braucht es Crew Resource Management wirklich?
20.5 Implementierung von CRM im Rettungsdienst Tirol
20.6 Fazit für die Praxis
21 Sicherer Umgang mit Fahrtrage und T ragstuhl – ein Erfolgsprojekt durch CIRS
264
265
265
266
271
274
277
David Holzer
21.1 Hintergrund CIRS Rettungsdienst Tirol
21.2 Neues Ausbildungskonzept zu Fahrtrage und Tragstuhl
21.3 Ergebnisse nach Ablauf des Schulungszeitraumes
21.4 Diskussion
21.5 Fazit für die Praxis
10
277
279
284
285
286
Inhalt
22 CIRS und Atemwegsmanagement: Intubations-Geräteunterlage „IN-GE“
288
Armin Laiminger, Agnes Neumayr
22.1 CIRS-Risikopotenziale beim Atemwegsmanagement
22.2 Umgesetzte Maßnahmen
22.3 Roll-out und Preise zur Intubations-Geräteunterlage
288
289
295
22.4 Fazit für die Praxis
295
Autorenverzeichnis
297
Abbildungsnachweis
302
11
Wegweiser für dieses Buch
Wegweiser für dieses Buch Ideengeber dieses Buches war der Rettungsdienst Tirol, der zum 1. Januar 2017 ein CIRS auf regionaler Ebene implementierte. Innerhalb weniger Monate der Bearbeitung von CIRS-Fällen wurde klar: Einerseits besitzen zahlreiche der eingetragenen CIRS-Fälle das Potenzial, innovative Maßnahmen anzudenken und umzusetzen. Andererseits ist das Expertenteam in der Beurteilung der CIRS-Fälle gefordert, die Spreu vom Weizen zu trennen. Nach zwei Jahren Erfahrung mit dem CIRS Rettungsdienst Tirol können nun fünf Lern- und Erkenntnisschritte im Umgang mit CIRS formuliert werden: Erstens: Erst die Anonymisierung der CIRS-Fälle schaffte es, dass die Frage nach der bzw. dem Schuldigen, die anfänglich immer und sofort im Raum stand, irrelevant wurde. Weiß man nicht mehr, wer die oder der Meldende ist, konzentriert sich das Denken auf den eigentlichen Sachgehalt der Information, also auf die Ursachen des geschilderten Risikos sowie auf deren Behebung. Diese Erkenntnis eröffnet den Freiraum, CIRS-Fälle objektiver, d.h. zu einem höheren Prozentsatz auf der Sach- und nicht mehr auf der emotionalen Subjektebene zu beurteilen. Wird man sich dieses Unterschieds im Zugang zur Beurteilung von CIRS-Meldeberichten bewusst, ist der erste Erkenntnisschritt in der Etablierung einer umfassenden Sicherheitskultur im Denken und Handeln der Beteiligten getan. Der zweite Erkenntnisschritt ist schwieriger: Immer wieder führten CIRS-Fälle in der ersten Reaktion zum spontanen, unbewussten, aber meist mit einem Lachen formulierten Vorwurf der Inkompetenz der Meldenden, wie zum Beispiel: „Welcher ‚Vollkoffer‘ war denn das schon wieder?“ Führt die Schuldzuweisung zur Beschämung der Beschuldigten (name – blame – shame), so impliziert der unreflektierte und nicht etwa böse gemeinte Verwurf der Inkompetenz letztlich immer auch eine Abwertung des Gegenübers. Beides ist destruktiv. Schuldzuweisungen und Abwertungen lähmen die Fähigkeit, kreative Freiräume für Lösungsstrategien zu schaffen, und entbindet die Schuldzuweiser von ihrer Verantwortung sich einzugestehen, dass auch sie jederzeit Fehler machen können. Dieses Denkmuster zu ändern, ist gerade für Führungskräfte wesentlich, um den Mitarbeitenden das Gefühl zu geben, ernst genommen zu werden. Hierzu ist es wichtig, derartige spontane Aussagen zu hinterfragen und zu unterlassen. Führungskräfte müssen sich bewusst sein, dass sie zur Etablierung einer Sicherheitskultur eine zentrale Vorbildwirkung haben. Sie beginnt immer in den eigenen Reihen. Nicht minder lehrreich ist der dritte Erkenntnisschritt auf dem Weg zur „gelebten“ Sicherheitskultur. Er bezieht sich auf die implementierten Organisationsstrukturen und -abläufe und weniger auf individuelle Denk- und Handlungsmuster. Spätestens nach ein bis zwei Jahren CIRS-Laufzeit rückt das organisationale Lernen in den Mittelpunkt. Zeigen CIRS-Fälle zunehmend Risiken und Mängel zu organisationsinternen Abläufen auf, geht nun der Blick zurück zur Führungsebene und spiegelt deren tatsächlichen Willen wider, Optimierungen vorzuneh-
14
Wegweiser für dieses Buch
men. Dieser Schritt ist der eigentliche Prüfstein in der Verwendung eines CIRS. Jetzt kommt es darauf an, ob Führungskräfte über ihren Schatten springen können, um gegenüber ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern jene Versäumnisse im System einzugestehen, deren Behebung sie selbst durchführen müssen. „Reife Sicherheitskulturen“ sind nicht kompatibel mit hierarchisch-autoritären Führungsstrukturen. In reifen Sicherheitskulturen wird das Feedback der Mitarbeitenden, zum Beispiel bei Problemen und Risiken in operativen Prozessen, von den Führungskräften als Chance gesehen, auch innerhalb der Organisation ständig dazuzulernen. Ein wichtiger Indikator für eine derartige Entwicklung ist folgende Frage: Gibt es zu diesem Problem etwas, das wir in unseren eigenen Reihen, Strukturen und Abläufen ändern können und müssen, um das Problem zu beheben? Wird diese Frage unmittelbar bei Bearbeitung der CIRS-Meldung gestellt, ist Sicherheitskultur gegenwärtig. Wird hingegen bei der Nennung eines Strukturproblems sofort der „Sündenbock“ auf andere abgeschoben, zum Beispiel auf Systempartner wie das Krankenhaus, die Leitstelle, die Ärzteschaft, die Politik, dann widerspricht dies einer „reifen Sicherheitskultur“. Der vierte Erkenntnisschritt betont folglich: Das Fundament jeder Sicherheitskultur ist Wertschätzung sowie die Begegnung auf Augenhöhe. Dies gilt für Mitarbeitende und Führungskräfte gleichermaßen. Das kritische Aufzeigen von Problemen unter Beibehaltung der gegenseitigen Fairness ist in der Anwendung eines CIRS unabdingbar. Mitarbeitende, die ggf. ein CIRS ausnützen, um im Schutz der Anonymität den Führungskräften „Versäumnisse“ vorzuwerfen, indem sie zum Beispiel die Eingabe von CIRS-Meldungen zu bestimmten Themen unnötig forcieren, handeln genauso kontraproduktiv wie Führungskräfte, die infolgedessen das CIRS ggf. generell in Frage stellen und damit all jenen Mitarbeitenden Unrecht tun, die mit ihrer CIRS-Meldung das Beste für die Organisation wollen. Der fünfte Erkenntnisschritt fasst zusammen: Ein CIRS zu implementieren, stellt eine Herausforderung für Mitarbeitende und Führungskräfte dar, denn CIR-Systeme stellen immer auch die gelebte Arbeitskultur einer Organisation in Frage. Dies ist für die Betroffenen – unabhängig ob Mitarbeitende oder Führungskräfte – schmerzlich. Wichtig ist deshalb, die Ergebnisse eines CIRS stets richtig zuzuordnen: Im positiven Sinn ist ein CIRS ein Seismograf einer Organisation, der allen Führungskräften und Mitarbeitenden jene Richtung aufzeigt, in welche sich „ihre“ Sicherheitskultur gerade bewegt. Zudem zeigen CIR-Systeme tendenziell auf, in welchen Organisationseinheiten gerade die meisten Probleme, Risiken und Verbesserungspotenziale liegen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Über allen Lern- und Erkenntnisschritten steht: CIR-Systeme sind eines von vielen praxisorientierten Bausteinen im Risikomanagement, um aus Fehlern zu lernen. Sie bewirken keine Wunder. Für die kritische Bewusstseinsbildung aller Beteiligten und als Ideengeber für innovative Verbesserungs- und Lernpotenziale im Rettungsdienst sind CIR-Systeme jedoch wichtig, äußerst empfehlenswert, „gesund“ und notwendig.
15
Wegweiser für dieses Buch
Kapitel I: Die Theorie zur Praxis Gesine Hofinger stellt in ihrem Artikel die wichtigsten Aspekte einer informativen Sicherheitskultur vor. Frank Op Hey und Marcus Rall erklären die theoretischen Grundlagen und praktischen Voraussetzungen zur Einführung eines CIRS im Rettungsdienst. Als ein Resultat vieler aufgezeigter CIRS-Fallbeispiele führen sie, gemeinsam mit Sascha Langewand, in die Methode des Crew Resource Managements ein. Der Artikel von Matthias Zimmer zum Fehlerbewusstsein im Rettungsdienst rundet dieses Kapitel ab. Kapitel II: Maßnahmen aus CIRS in Leitstellen Andreas Estermeier und Florian Dax verbildlichen umgesetzte Maßnahmen aus CIRS-Fallbeispielen in den Integrierten Leitstellen in Bayern. Ilka Zerche-Roch begründet, weshalb das in der Integrierten Regionalleitstelle NordOst (IRLS NO) in Brandenburg integrierte elektronische Verbesserungs- und Störungsmanagement eine Chance zur Verbesserung der Leitstellenarbeit ist. Kapitel III: Maßnahmen aus CIRS in Rettungsdiensten Autorinnen und Autoren aus Österreich, Deutschland und der Schweiz beschreiben in diesem Kapitel ihre jeweiligen CIR-Systeme und die daraus abgeleiteten Maßnahmen. Vielfältige CIRS-Fälle aus sechs bodengebundenen Rettungsdiensten werden hier genauso vorgestellt wie jene aus der Christophorus Flugrettung Österreich. Die dargestellten und umgesetzten Maßnahmen reichen von kritischen Zwischenfällen mit Medizinprodukten wie Beatmungsgeräten und Beatmungsbeuteln, Sauerstoff- und Monitoring-Geräten, defekten Einmalmaterialien oder Fixierungsgurten, Risiken bei Infusionsbestecken und Druckreglern, Akkuproblemen bei Fahrtragen, defekten Spineboards, Alarmregulierungen bei CO-Warnern, Risiken durch zerschnittene Kühlmappen usw. (Thomas Castner; Johannes Stommel, Andreas Zajicek, Mario Krammel; Torsten Birkholz; Peter Gerstl; Katharina Weibel, Marc Lüthy) über Maßnahmen zu Medikationsfehlern, Medikamentenverwechslungen und -dosierungen sowie erkannten Therapierisiken bei hypertensiver Krise oder beim Schlaganfall (Peter Gerstl; Thorsten Birkholz; Katharina Weibel, Marc Lüthy; André Gnirke, Christopher Thon; Helmut Trimmel, Klaus Egger) bis hin zu Risiken und Optimierungen bei der Einsatzkleidung, im Rahmen der Einsatzfahrt, beim Checkwesen, beim Informationsmanagement und bei Einsatznach besprechungen (Agnes Neumayr, Daniel Seeböck, Romed Stocker, Patrick Golger, Andreas Karl; André Gnirke, Christopher Thon) genauso wie beim Atemwegs management (Katharina Weibel, Marc Lüthy; André Gnirke, Christopher Thon). Kapitel IV: Maßnahmen aus CIRS in Krankenhäusern und Notaufnahmen Markus Wehler, Asarnusch Rashid, Patrick Andreas Eder erläutern in ihrem Artikel die Notwendigkeit zur Einführung einer telemedizinischen Datenübertragung
16
Wegweiser für dieses Buch
zur Risikoreduktion bei der Voranmeldung präklinischer Patientinnen und Patienten in Zentralen Notaufnahmen. Auch Sophia Wilk-Vollmann verweist auf das hohe Risikopotenzial durch Kommunikations- und Informationsdefizite an der Nahtstelle Rettungsdienst – Krankenhaus. Agnes Neumayr, Günther Schwemberger und Benjamin Walder stellen aus demselben Grund ihre umgesetzten Maßnahmen zur Optimierung der Patientenübergabe vor. Aus den Niederlanden berichten Klaus Filoda und Gea Hartman vom Fehlermanagement im Ommelander Ziekenhuis (Krankenhaus) Groningen und informieren u.a. über umgesetzte Maßnahmen zur Vermeidung von Wundinfektionen. Kapitel V: Maßnahmen aus CIRS in rettungsdienstlichen Ausbildungseinrichtungen Helge Regener und Kai Kranz analysieren, weshalb auch rettungsdienstliche Bildungsinstitutionen unbedingt ein Fehlermelde- und Lernsystem betreiben sollten. Armin Laiminger stellt CIRS-Fälle vor, die zur Entwicklung und Implemen tierung eines neuen Aus- und Fortbildungsmodells im Bereich Crew Resource Management geführt haben, ebenso wie die von ihm entwickelte IntubationsGeräteunterlage „IN-GE“, welche die Vorbereitung aller Geräte zur Intubation sichern soll. Schließlich berichtet David Holzer, wie CIRS-Fälle und Patientenschadensmeldungen zur Erarbeitung von Schulungsunterlagen zum „Sicheren Umgang mit Fahrtrage und Tragstuhl“ führten. Darüber hinaus inkludieren und beschreiben viele Artikel eine Reihe von unterschiedlichen Risikomanagement-Methoden, wie zum Beipsiel die Root Cause Analysis, die 6-R-Regel, das 10-für-10-Prinzip, „Stop – Inject: Check“, ISBAR, FOR-DEC, das Contributing-Factor-Framework, die Risikoanalyse und Risikomatrix, das Vier-Augen-Prinzip oder den Medikamenten-Doppelcheck. Ebenso finden sich zahlreiche statistische (Jahres-)Auswertungen zur Anzahl und inhaltlichen Kategorisierung eingegebener CIRS-Fälle, zur Risikobewertung sowie zum Aufbau von regionalen CIR-Systemen und deren unterschiedlichen strategischen Zielsetzungen und Ausrichtungen. Das Team des Ärztlichen Leiters Rettungsdienst des Landes Tirol (Hrsg.) wünscht allen Leserinnen und Lesern eine spannende, ideenreiche und interessante Lektüre. Dr. Agnes Neumayr QM-Referentin im ÄLRD-Team des Landes Tirol Dr. Adolf Schinnerl Ärztlicher Leiter Rettungsdienst des Landes Tirol Univ. Prof. Dr. Michael Baubin QM-Beauftragter im ÄLRD-Team des Landes Tirol
17
2 ˘ Einführung eines CIRS im Rettungsdienst: Theoretische Grundlagen und praktische Voraussetzungen
2
Einführung eines CIRS im Rettungsdienst: Theoretische Grundlagen und praktische Voraussetzungen
Frank Op Hey, Marcus Rall Alle Hochrisiko-Hochsicherheitsindustrien haben Critical Incident Reporting Systeme (CIRS) als Teil ihres Sicherheits- und Risikomanagements integriert. CIRS gilt dort als unverzichtbarer Bestandteil einer positiven und konstruktiven Sicherheitskultur. In der Medizin verbreiten sich CIRS seit knapp 20 Jahren, zunächst mühsam, inzwischen in den meisten Bereichen verpflichtend. Die Autoren haben seit 2005 in über 100 Einrichtungen CIRS eingeführt und kontinuierlich bei der Anonymisierung und Fallanalyse betreut. Von dieser Erfahrung und den daraus abgeleiteten Erkenntnissen wird in diesem Kapitel berichtet.
2.1
Voraussetzungen und Charakteristika von effektiven CIRS
„Reagieren, bevor etwas Ernsthaftes passiert“ – das ist der Sinn eines modernen CIRS. Oft passieren Dinge, die theoretisch zu einem schweren Patientenschaden hätten führen können. Meist ist es aber noch einmal gut gegangen, weil ein Teammitglied besonders wachsam war oder weil man Glück hatte. Aus solchen „kritischen Ereignissen“ zu lernen, bevor es das nächste Mal doch zu einem Schaden kommt, ist die Aufgabe von CIRS. Vor jedem schweren Patientenschaden gab es meist viele Ereignisse, die ähnlich waren, die den Schaden fast angekündigt hatten, Ereignisse, auf die leider nicht entschlossen genug reagiert wurde und durch die sich der Zwischenfall ereignen konnte. Ein gutes, effektives CIRS identifiziert solche kritischen, zum Lernen wichtigen Ereignisse und führt positive Veränderungen herbei, um den (drohenden) Schaden zu verhindern. Die wichtigste Voraussetzung für effektive CIR-Systeme ist die positive Sicherheitskultur. Dabei ist es zunächst von großer Bedeutung, kritische Ereignisse oder Zwischenfälle nicht mit „schuldhaftem Tun“ gleichzusetzen. Menschen, die sich für einen Gesundheitsberuf entscheiden, möchten Patienten helfen, Krankheiten heilen und Beschwerden lindern (Aktionsbündnis Patientensicherheit 2008). Dies wird in althergebrachten sanktionsbetonten Schuldkulturen leider oft ignoriert. Es werden „Schuldige“ statt Ursachen gesucht – und es wird personenbezogen sanktioniert, statt das System zu verbessern. Damit bleibt die Gefahr, dass sich ein solches Ereignis wiederholt, nach wie vor groß (Rall 2016). Neben der im Denken und Handeln notwendigen Sicherheitskultur bedarf es aber noch weiterer Rahmenbedingungen, um die Implementierung eines CIRS erfolgreich durchzuführen, dazu zählen:
32
2 ˘ Einführung eines CIRS im Rettungsdienst: Theoretische Grundlagen und praktische Voraussetzungen
Organisationale Rahmenbedingungen ˘ hoher Stellenwert von CIRS auf der Führungsebene, ˘ schriftliche Zusicherung einer Sanktionsfreiheit für Meldende und Beteiligte durch die Leitungsebenen, ˘ unabhängiges System außerhalb der Institutionshierarchie, d.h. Meldungen werden nicht direkt an die Führungsebene geschickt, ˘ keine Suche nach dem „Wer war beteiligt?“, sondern nach dem „Warum konnte es dazu kommen?“, ˘ absolut anonyme, freiwillige und einfache Meldemöglichkeit: „Für Jeden. Überall. Jederzeit.“, ˘ Freitext-basierte Meldungen, ˘ Zugänglichkeit für alle relevanten Berufsgruppen, ˘ Rechtsschutz der Daten sowie Transparenz (Was passiert mit den Daten?) und Datensicherheit, ˘ sichere Löschung der Ursprungsmeldung nach Anonymisierung, ˘ CIRS-Aus-/Weiterbildung des Personals sowie Schulung in Human Factors & Crew Resource Management (CRM), ˘ Einbindung der Mitarbeiter (CIRS-Beauftragte etc.), ˘ institutionsübergreifende Möglichkeit der Vernetzung: Austausch von Problemsituationen und systematischen Verbesserungen. Lernen von und mit anderen. Umgang mit Meldungen ˘ organisationale Förderung von Meldungen durch Integration in die Arbeitszeit, Schaffen von Anreizen und Motivation durch die Geschäftsführung, ˘ zeitnahes Feedback an Meldende! Das CIRS darf keine „Black Box“ sein, d.h. jeweils Rückmeldung über den Berichteingang, das Analyseergebnis sowie (geplante) Verbesserungsmaßnahmen. ˘ systemorientierte Analyse der Fälle unter Einbezug von Mitarbeitenden aller involvierten Abteilungen (partizipative Analyse). Komplexe und schwere Fälle profitieren von einer extern moderierten oder assistierten Analyse mit erfahrenen Fallanalyseexperten. Oberflächliche Analysen lassen nur einen „Teil des Eisbergs“ der Ursachen erkennen und führen dann auch zu flachen, wenig effektiven Maßnahmen! ˘ bei Bedarf nachgeschaltete Analysen vor Ort unter Verwendung etablierter Systeme, wie z.B. Root Cause Analysis (RCA) oder Failure Mode Effects Analysis (FMEA) (Bagian et al. 2002), ˘ kompromissloser Einsatz für die Patientensicherheit. Diese sollte als oberstes Ziel einer Abteilung hochgehalten und gegenüber anderen Interessenträgern vehement vertreten werden.
33
2 ˘ Einführung eines CIRS im Rettungsdienst: Theoretische Grundlagen und praktische Voraussetzungen
Umsetzung von Verbesserungen ˘ Ziel eines CIRS ist nicht die Anhäufung von Meldungen! Jede Meldung enthält einen potenziellen (Patientensicherheits-)Schatz, der ausgegraben werden muss. Lieber 10 gute, relevante Meldungen als 100 banale Mitteilungen. ˘ eingehende systemorientierte Analyse: Vermeidung von oberflächlichen Scheinverbesserungen, sogenannten Schnellschüssen („Quick Fixes“); ˘ Warnungen, Hinweise, Maßnahmen als Folge der Meldungen. Die Maßnahmen müssen wie die Analysen partizipativ erfolgen, d.h. alle von einer Maßnahme betroffenen Abteilungen sollten an der Ausarbeitung von Verbesserungen (und damit auch der Vermeidung von „Verschlimmbesserungen“) beteiligt sein. „Unsere“ Maßnahme wird deutlich besser umgesetzt als „die Maßnahme vom Qualitätsmanagement (QM)“! ˘ Reaktionen müssen zeitnah und entschlossen umgesetzt werden. Ein CIRS muss reaktionsfreudig sein! Bewährt hat sich auch die Genehmigung eines angemessenen Budgets für CIRS-Verbesserungen, damit nicht immer alles lang beantragt und genehmigt werden muss. ˘ Vor der Umsetzung von Maßnahmen sollte im Sinne eines „Change Control“ aktiv geprüft werden, ob es Nachteile und unerwartete Negativeffekte geben könnte. ˘ Einbau der CIRS-Problemsituationen in realitätsnahe Simulator-Team-Trainings zeigt die Relevanz von beiden Aktivitäten (Rall & Dieckmann 2005); ˘ die eingeführten Verbesserungen auf Effektivität und nicht antizipierte negative Nebeneffekte („Verschlimmbesserung“) überwachen.
2.2
CIRS richtig einführen und gestalten
2.2.1
CIRS und Führungskräfte
Um CIRS-Abläufe bestmöglich zu gewährleisten, braucht es zunächst das Verständnis für CIRS vonseiten der Führungskräfte. Aus deren Sicht ist jedes kritische Ereignis „eines zu viel“, liegt es doch letztlich in ihrem Verantwortungsbereich, sichere Abläufe zu organisieren. Nicht selten entsteht daher bei Führungskräften der Wunsch, initiale CIRS-Berichte als erstes zu lesen, um das „Übel“ an der Wurzel zu packen und ehestmöglich mit den Beteiligten ins Gespräch zu kommen, also den „Schuldigen“ zu finden. Dies ist nicht der Zweck von CIRS! In den Analysen entdeckt man oft Ursachen, Umstände und beitragende Faktoren, die die Handelnden austauschbar erscheinen lassen. Soll heißen, nicht der Kollege oder die Kollegin hatte direkt Schuld am Ereignis, sondern das Ereignis wurde durch organisationale Strukturen und Prozesse getriggert. Tiefe und gute Analysen fördern diese Systemfaktoren zutage. Ebenso zeigen Analysen kritischer Ereignisse immer wieder, dass in ca. 70% der Ereignisse die Ursache des Handelns nicht im Bereich mangelnder medizinischer Kenntnisse oder Fähigkeiten liegt, sondern im Bereich der „menschlichen
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2 ˘ Einführung eines CIRS im Rettungsdienst: Theoretische Grundlagen und praktische Voraussetzungen
Faktoren“ (Rall et al. 2002). Dies noch stärker zu berücksichtigen und entsprechende Maßnahmen einzuleiten, wie z.B. CRM- und Simulationstrainings, ist eine wichtige Aufgabe für effektive CIRS (Rall & Langewand 2016, Koppenberg 2016). Kurz zusammengefasst: „Wir machen alle die gleichen Fehler!“ Es kommt darauf an, die Umstände praxisstabiler zu gestalten. MERKE Die Sanktionsfreiheitserklärung Um eine angstfreie Berichtsfreudigkeit zu erreichen, müssen die Mitarbeitenden eine psychologische Sicherheit spüren. Dazu sollte die Führungsebene der Organisation schriftlich erklären, dass sich aus einer aktiven Beteiligung der Mitarbeitenden am CIR-System für diese keinerlei negative Konsequenzen ergeben und nicht nach den im speziellen Fall berichteten Beteiligten „gesucht“ wird. Dies sollte schriftlich von allen Führungskräften unterzeichnet werden. Ideal ist es, diese Sanktionsfreiheitserklärung als Dokument gescannt im Intranet verfügbar zu machen.
2.2.2
CIRS und die Motivation der Mitarbeitenden als Melder
Ein weiterer wesentlicher Faktor für den Erfolg von CIRS ist die Motivation der meldenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Dafür braucht es ein Mindestmaß an Schulung über die Abläufe im CIRS, sodass die Mitarbeitenden den Zweck und die daraus zu erzielenden Lerneffekte als wertvoll für sich selbst erfahren. Dabei kann es auch helfen, die Terminologie zurechtzurücken. Die Abkürzung CIRS steht für „Critical Incident Reporting System“, im deutschen Sprachraum oft fälschlicherweise mit „Fehler-Meldesystem“ übersetzt und nicht mit Meldung „kritischer Ereignisse“. In der Realität haben nämlich die wenigsten Meldungen mit „Fehlern“ im eigentlichen Sinne zu tun. Die Beiträge weisen meist auf kritische Ereignisse, sogenannte Critical Incidents, also auf ungünstige Arbeitskonditionen, schädliche Begleitfaktoren oder optimierbare Prozesse und Verfahren hin, welche ein Fehlerpotenzial besitzen. Kritische Ereignisse können sich mit und ohne Schadensfolge zutragen und sind oftmals Vorläufer von Zwischenfällen. Ziel ist daher, diese rechtzeitig zu erkennen, daraus zu lernen und durch geeignete Maßnahmen systematisch zu reduzieren, um folgenschwere Zwischenfälle zu minimieren. Diese Art der Critical-Incident-Analyse ermöglicht die Erkennung latenter Systemfehler und leistet einen präventiven Beitrag zur systematischen sowie nachhaltigen Verbesserung der Patientensicherheit. Erik Hollnagel hat mit seinem Buch „Safety-I and Safety-II“ eine große Welle in den Sicherheitsindustrien losgetreten (Hollnagel 2014). Versteht man unter Safety-I vor allem die Meldung und Abarbeitung kritischer Ereignisse, so bedeutet Safety-II, dass man auch aus guten bzw. sehr guten Ereignissen viel lernen kann. Wichtig ist, dass man die positiven Ereignisse genauso analysieren muss, wie
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2 ˘ Einführung eines CIRS im Rettungsdienst: Theoretische Grundlagen und praktische Voraussetzungen
man dies von negativen Ereignissen kennt. Der Fokus muss auf dem „Warum war das so gut?“ liegen. Die aufgedeckten Ursachen für das Gute kann man verbreiten, systematisieren und dazu nutzen, sie systemisch und damit der Patientensicherheit dienlich, einer größeren Anzahl von Kolleginnen und Kollegen zugänglich und nutzbar zu machen.
2.3
CIRS Prozessablauf und Umsetzung
2.3.1
Die Meldung von relevanten Fallberichten im CIRS
Die wichtigste Basis für jedes CIRS sind relevante Fallberichte von allen Mitarbeitenden. Diese können und sollten alle Arten von unerwünschten Ereignissen beinhalten. In Abbildung 2.1 symbolisiert dies der blaue Eisberg links, wobei die kritischen Ereignisse, ohne direkte Folgen, also sog. Sicherheitsrelevante Ereignisse, den höchsten Anteil haben (es passiert jeden Tag überall). Wichtig ist es
Incident Reporting Maßnahmenumsetzung
Meldungen (relevant) Todesfälle
Besonders gute Lösungen
Schwere Zwischenfälle
Change control (inkl. Effektivität)
Leichte Zwischenfälle „Critical Incidents“
Gelungene Rettungsaktionen
Beinahe-Zwischenfälle und Probleme ohne direkte Folgen „Sicherheitsrelevante Ereignisse“
Tipps und Tricks
Anonymisierung
Routine- oder Normalbetrieb ohne relevante Störungen
Bekanntmachung und Planung
Analyse
Incident Analyse Abb. 2.1 ˘ Übersicht über die Abläufe innerhalb von aktiven, modernen CIRS (Quelle: TüPASS/InPASS)
36
II. Maßnahmen aus II. CIRS CIRS in Leitstellen in Leitstellen
5 ˘ CIRS-Fälle und umgesetzte Maßnahmen in den Integrierten Leitstellen in Bayern
5
CIRS-Fälle und umgesetzte Maßnahmen in den Integrierten Leitstellen in Bayern
Andreas Estermeier, Florian Dax In Integrierten Leitstellen (ILS) sind zahlreiche Arbeitsabläufe durch rechtliche bzw. gesetzliche Vorgaben geregelt. Dies ist notwendig, um allen Beteiligten Prozesssicherheit zu gewähren. Die Konsequenz daraus ist, dass den operativen Betrieb betreffende Entscheidungen oftmals auf einer Ebene getroffen werden, die entsprechende Zusammenhänge und Auswirkungen nicht mehr überblickt. Der landesweit für alle ILS verpflichtende Lizenzvertrag für Einsatzleitsoftware in Bayern führt dazu, dass der jeweilige Leitstellenbetreiber seine Betriebsabläufe oftmals nicht eigenständig und vor allem kurzfristig anpassen kann. Dies macht es notwendig, Methoden und Prozesse zu implementieren, welche den PDCA-Zyklus über alle Systembeteiligten hinweg ermöglichen. Ein Werkzeug dazu kann ein übergreifendes CIRS sein. In diesem Beitrag werden exemplarische CIRS-Fälle und hierzu umgesetzte Maßnahmen beschrieben. Ferner wird der Bekanntheitsund Durchdringungsgrad des CIRS ILS Bayern dargestellt.
5.1
Hintergrund
Die Integrierte Leitstelle oder Integrierte Regionalleitstelle (IRLS) ist die in der Bundesrepublik Deutschland mittlerweile am häufigsten realisierte Leitstellenform für die nichtpolizeiliche Gefahrenabwehr bzw. im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge (Bandlow 2017: 9). Basierend auf dem Gesetz über die Errichtung und den Betrieb Integrierter Leitstellen (Integrierte Leitstellen-Gesetz, ILSG) vom 25. Juli 2002 wurden in den Folgejahren in Bayern 26 Integrierte Leitstellen errichtet. 18 Leitstellen werden von kommunalen Trägern, acht durch das Bayerische Rote Kreuz (BRK) betrieben. Die Arbeit in einer ILS ist bei vielen Einsatzlagen von einem hohen Entscheidungsdruck und einer hohen Entscheidungsdichte geprägt (Rall et al. 2013: 8). Gerade in den Integrierten Leitstellen als Nahtstelle zwischen verschiedenen Systemen besteht dabei ein großer Überblick über Zusammenhänge und Prozessabläufe. Insofern ist es an dieser Stelle besonders wichtig, dass ein Klima des Fehlerbewusstseins herrscht, um für die Folgesysteme vorausschauend agieren zu können. Grundbedingung hierfür ist es, dass sich die Unternehmenskultur innerhalb der Integrierten Leitstelle zu einer Verantwortungskultur wandelt. Führungsverhalten alter Schule stellte diesbezüglich oft darauf ab, dass Fehler rigoros geahndet und Mitarbeitende für die vorgefallenen Fehler mittels Abmahnungen oder Disziplinarverfahren bestraft wurden. Durch diese Führungsmethode wurde jedoch ein Klima der Angst erzeugt und Fehler wurden – wo immer möglich – tunlichst verheimlicht oder sogar zu vertu-
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5 ˘ CIRS-Fälle und umgesetzte Maßnahmen in den Integrierten Leitstellen in Bayern
Abb. 5.1 ˘ Eingabemaske des CIRS Bayern
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5 ˘ CIRS-Fälle und umgesetzte Maßnahmen in den Integrierten Leitstellen in Bayern
schen versucht. Damit wird jedoch den anderen Mitarbeitenden die Chance genommen, aus diesen Fehlern zu lernen. Mit der Einführung eines CIR-Systems in der ILS muss sich somit auch das Führungsverständnis verändern, da sonst gegensätzliche Aussagen zur maximalen Verunsicherung bei den Mitarbeitenden führen. Die Einführung des bayernweiten CIRS fordert für sämtliche Prozessbeteiligte die Notwendigkeit des Umdenkens und Hinterfragens von über Jahrzehnten gewachsenen Unternehmenskulturen. Das Ahnden von personenbezogenen Pflichtverletzungen ist dabei dem Grunde nach nicht als obsolet anzusehen. Ein CIR-System muss daher dringend vollständig neutral und anonym gehalten werden. Seit dem Jahr 2016 steht allen Betreibern Integrierter Leitstellen in Bayern die Teilnahme am bayernweiten CIRS Rettungsdienst offen. Über die Homepage https://www.cirs.bayern/ können kritische Ereignisse gemeldet und Ergeb-nisse verfolgt werden. cirs.bayern ist eine gemeinsame Aktion aller im Rettungsdienstausschuss Bayern vertretenen Organisationen und Institutionen, dazu zählen die Ärztlichen Leiter Rettungsdienst Bayern, die Bayerische Krankenhausgesellschaft, das Bayerische Staatsministerium des Innern, die Durchführenden des Rettungsdienstes (Land-, Luft-, Berg- und Wasserrettung), die Integrierten Leitstellen, die Kassenärztliche Vereinigung Bayern, die Sozialversicherungsträger und die Zweckverbände für Rettungsdienst und Feuerwehralarmierung (Rettungsdienstausschuss Bayern 2018a).
5.2
Ablauf einer CIRS-Meldung im Rahmen cirs.bayern für Leitstellen
Kerngedanke des cirs.bayern für Leitstellen ist der Grundgedanke von CIRS: das Berichten von eigenen oder beobachteten sicherheitsrelevanten Ereignissen bzw. Beinahe-Ereignissen, sodass diese systematisch analysiert werden können und man selbst – aber auch andere – daraus lernen kann (Thomeczek et al. 2012: 25). Ein CIRS soll einen geschützten Raum zum (inter-)professionellen Austausch sowie zur Qualitäts- und Risikoanalyse schaffen (Thüß 2012: 109). Die Meldung eines Ereignisses über die Internetplattform erfolgt komplett anonym. Ein zuvor bestimmtes Anonymisierungs- und Auswerteteam (AAT) sichtet die eingegangenen Meldungen und beseitigt eventuell noch vorhandene personen- oder objektbezogene Hinweise wie zum Beispiel Hinweise auf die meldende ILS aufgrund von Ortsangaben oder Klinikdaten. Von den AAT werden auch Irrläufer oder Doppelmeldungen gesichtet, bewertet und ggf. aussortiert. In dieser nun völlig anonymisierten Form wird die Meldung mit einem sogenannten Interventionsvorschlag an die Steuerungsgruppe cirs.bayern (SG) weitergeleitet. Diese berät über den CIRS-Fall und involviert bei Bedarf Vertreter der ILS-Betreiber in Bayern. Über die entsprechenden Gremien werden Lösungs- und Verbesserungsvorschläge erarbeitet und zur landesweiten Umsetzung über den Rettungsdienstausschuss
76
III. Maßnahmen II. Maßnahmenaus aus CIRS CIRSin inRettungsdiensten Leitstellen
7 ˘ Dran bleiben – es lohnt sich!
7
Dran bleiben – es lohnt sich!
Katharina Weibel, Marc Lüthy Die Sanität Basel betreibt seit 2012 ein Ereignismeldesystem. Im Gegensatz zum klassischen Critical Incident Reporting System (CIRS) ist das Ereignismeldesystem nicht anonym. Dies hat Vor- und auch Nachteile, welche in diesem Kapitel besprochen werden. Anhand von sechs exemplarischen Fällen werden der Ablauf im Ereignismeldesystem inklusive der gesetzten Maßnahmen und der daraus resultierende Benefit aufgezeigt. Dargestellt werden Materialprobleme, Teamund Rollenkonflikte, Medikamenten(neben)wirkungen sowie die Zusammenarbeit mit Partnern und Schnittstellenprobleme. Gewisse Beispiele zeigen auch, wie manchmal naheliegende Lösungen konkretes Handeln erschweren und man dadurch in die falsche Richtung geführt wird. Als Quintessenz lässt sich sagen, dass keine Ereignismeldung überflüssig ist, aber auch, dass die Meldungen gut aufgearbeitet werden müssen. Dies braucht Ressourcen; aber es lohnt sich!
7.1
Hintergrund
7.1.1
Rettung Basel-Stadt, Sanität
Die Rettung Basel-Stadt ist ein operativer Bereich innerhalb des Justiz- und Sicherheitsdepartements des Kantons Basel-Stadt. Die Rettung Basel-Stadt besteht aus den Abteilungen Feuerwehr, Sanität sowie Militär und Zivilschutz. Die beiden Stabsressorts Einsatzkoordination und Führungsunterstützung stellen die operative und administrative Koordination der Abteilungen sicher. Zur Abteilung Sanität gehört der Rettungsdienst sowie die Sanitätsnotrufzentrale beider Basel (SNZ bB). Die Sanität hat rund 130 Mitarbeitende und leistet etwas mehr als 21.000 Einsätze pro Jahr, davon rund 1.600 Notarzteinsätze. Auf einem Rettungswagen (RTW) sind normalerweise zwei diplomierte Rettungssanitäter HF (Höhere Fachschule) eingeteilt. Zusätzlich ist die Sanität Basel ein Ausbildungsbetrieb, sodass auch Studierende, im Dreier- oder im Zweierteam, ausrücken. Jederzeit kann entweder primär ein Notarzt aufgeboten oder durch das Team vor Ort nachgefordert werden. Der Notarzt bzw. die Notärztin wird aus dem Universitätsspital Basel abgeholt und ist ein Arzt der Fachrichtung Anästhesie. Das in der Schweiz bei Rettungsdiensten übliche System der algorithmenbasierten Leitlinien kommt auch bei der Sanität Basel zum Einsatz. Die Algorithmen werden von der Ärztlichen Leitung verantwortet und sind für die Rettungssanitäter im Einsatz verpflichtend. Abweichungen sind nur gut begründet statthaft und müssen im Anschluss gemeldet werden.
104
7 ˘ Dran bleiben – es lohnt sich!
Abb. 7.1 ˘ Formular für den Ereignisbericht der Sanität Basel
7.1.2
Kontinuierlicher Verbesserungsprozess (KVP) – System der Ereignisberichte
Die Sanität Basel kennt seit 2012 das System der Ereignisberichte. Ereignisberichte sind Teil des kontinuierlichen Verbesserungsprozesses. Mit ihnen werden die Ereignisse gemeldet. Als Ereignisse sind sowohl Beinahe-Zwischenfälle wie auch effektive Zwischenfälle und auch Unfälle zu verstehen. Mit dem Formular „Ereignisbericht“ werden die Rahmenbedingungen, die Beteiligten und vor allem der Sachverhalt beschrieben (s. Abb. 7.1). Im Gegensatz zum CIRS ist dieser Prozess nicht anonymisiert. Dies hat Vor- wie auch Nachteile. Als Vorteil ist die Nachverfolgbarkeit zu nennen. Damit ist nicht die Verfolgung im juristischen Sinn gemeint, sondern dass der effektive Sachverhalt nachverfolgt und ggfs. mit den Beteiligten rekonstruiert werden kann; so kann zum Beispiel nachgefragt werden, um welches Gerät es sich genau handelt. Dies erlaubt eine detailliertere und rasche Ursachenforschung und ermöglicht wiederum konkrete Korrekturen und Verbesserungen für die Zukunft.
105
7 ˘ Dran bleiben – es lohnt sich!
Abb. 7.2 ˘ Laufweg und Klassifizierung des Ereignisberichtes Als relevanter Nachteil dieser fehlenden Anonymisierung ist die Angst vor Gesichtsverlust oder Sanktionierung zu nennen. Gerade in den Anfängen dieser Ereignisberichte musste Vertrauen aufgebaut werden. Die Melder mussten Gewissheit bekommen, dass der Sinn hinter dem Ereignisbericht das Lernen aus Ereignissen und Fehlern ist und nicht das Sanktionieren. Dies liest sich relativ einfach, ist in Tat und Wahrheit aber ein langer, schwieriger Prozess, der auch immer wieder Rückschläge erfährt. Trotzdem muss von einer relevanten Dunkelziffer von nicht gemeldeten Ereignissen ausgegangen werden, die, sei es aus Angst vor Sanktionen oder Gesichtsverlust, aber auch aufgrund der notwendigen Administration nicht gemeldet werden (s. Abb. 7.2).
106
7 ˘ Dran bleiben – es lohnt sich!
Die Hauptunterschiede zwischen KVP und CIRS sind folgende: Im Gegensatz zum CIRS strebt der KVP danach, nicht lediglich (Beinahe-)Ereignisse zu erfassen, zu analysieren und zu korrigieren, sondern bewusst auch das Proaktive zu fördern. Inbegriffen sind dabei insbesondere Auditierungen von Prozessen und Bearbeitungen von Verbesserungsvorschlägen. Hierbei steht im Fokus, nicht abzuwarten, bis ein Ereignis beinahe eingetroffen oder eingetroffen ist, sondern durch das Einbeziehen von Mitarbeitenden (Verbesserungsvorschläge und Ereignisberichte) und das Monitorisieren durch interne und externe Fachpersonen (Audits) zukünftige potenzielle Ereignisse abzuwenden sowie Verbesserungen und Weiterentwicklungen herbeizuführen. Somit kann festgehalten werden, dass CIRS ein Teil des KVP ausmacht. Beide Systeme sind ein wesentlicher Bestandteil eines gut etablierten Wissensmanagements.
7.1.3
Übersicht über gemeldete Ereignisse bzw. deren Kategorien
Abbildung 7.3 gibt eine Übersicht über die Anzahl der Ereignisberichte in den Jahren 2012 bis 2017. Hierbei ist eine stetige Zunahme von gemeldeten Ereignissen ersichtlich. Tabelle 7.1 gibt Aufschluss über die Kategorien der gemeldeten Ereignisse. Nicht überraschend sind die Themen „Fahrzeug/Technik“ und „Schaden Eigenver-schulden“ Spitzenreiter. Dies ist darauf zurückzuführen, dass sämtliche Schäden an Fahrzeugen, welche während der Einsätze passiert sind, mittels Ereignisbe-richt gemeldet werden sollen. Auch für Fehlfunktionen von Geräten, inbegriffen sind beispielsweise auch Funkgeräte oder die Telemetrie, wird der Ereignisbericht genutzt. Unter „Diverses“ werden beispielweise alle Fälle von möglichen Anste250 200 150 100 50 0
2012
2013
2014
2015
2016
2017
Abb. 7.3 ˘ Ereignisberichte im KVP der Rettung Basel-Stadt 2012 bis 2017
107
7 ˘ Dran bleiben – es lohnt sich!
Algorithmeninkonformität
Unfreundlichkeit Mitarbeitende
Schnittstellenproblematik
Teamperformance
Sanitätsnotrufzentrale
Fahrzeug / Technik
Schaden Eigenverschulden
Schaden Fremdverschulden
Diverses
Kategorien
Tab. 7.1 ˘ Kategorien und gemeldete Ereignisse im KVP der Rettung Basel-Stadt 2017
28
1
31
2
19
42
34
2
42
ckungen mit potenziell gefährlichen Erregern (z.B. Meningitis, Tuberkulose) zusammengefasst, welche weitere Abklärungen über eine mögliche Postexpositionsprophylaxe erfordern.
7.2
Ereignismeldungen und umgesetzte Maßnahmen
Nachfolgend werden exemplarisch sechs Ereignismeldungen, deren Ablauf in der Aufarbeitung und schlussendlich deren Benefit für die Organisation dargestellt. Die Ereignisse basieren auf realen Meldungen bei der Sanität Basel.
7.2.1
Nicht-invasive Ventilation (NIV) ➜ leere O2-Flasche, Notarzt holt Material, AutoPulse®-Fehler, zu kurzer O2-Schlauch
Fallbeschreibung Bei einem Einsatz mit Rettungssanitätern HF und Notarzt musste bei einem polymorbiden Patienten eine NIV-Therapie eingesetzt werden. Im Verlauf des Einsatzes realisiert das Team, dass die Sauerstoffflasche bald leer sein wird. Da die Rettungssanitäter HF die NIV-Therapie schon erfolgreich gestartet haben, holte der Notarzt die neue Sauerstoffflasche, der Patient wurde in Begleitung eines Rettungssanitäters HF mit dem Lift heruntergebracht. Unten angekommen war die Flasche bereits leer. Wenn auch nur kurz, blieb die Maske auf dem Patienten, obwohl das Gerät bei fehlendem Druck keine Ventilation ermöglichte. Der Notarzt hätte dies mit Sicherheit schneller realisiert, aber er holte ja die neue Sauerstoffflasche. Beim Wechseln der Flasche wurde erkannt, dass das Beatmungsgerät einen sehr kurzen Sauerstoff-Verbindungsschlauch aufwies. Mühsam wurde die neue Sauerstoffflasche angeschlossen. Leider verschlechterte sich der Patientenzustand, sodass es schlussendlich zu einer Reanimationssituation kam. Beim Inbetriebnehmen des elektromechanischen Reanimationsgerätes (AutoPulse®) kam es zu einer Gerätestörung. Das Gerät zeigte eine entsprechende Fehlermeldung an. Das Team führte die Reanimation manuell durch. Leider konnte kein Kreislauf mehr etabliert werden und der Patient verstarb etwas später.
108
7 ˘ Dran bleiben – es lohnt sich!
Das Team nahm das Reanimationsgerät außer Betrieb und verfasste einen detaillierten Ereignisbericht (mit den Themen: Notarzt holt Material, zu kurzer Sauerstoffschlauch, Fehlermeldung Reanimationsgerät). Ablauf/Maßnahmen Die Verantwortlichen nahmen sich der drei Themenfelder an. Der kurze Sauer-stoffschlauch wurde durch einen längeren ersetzt. Leider konnte nicht mehr nach-vollzogen werden, warum überhaupt in diesem Gerät (im Gegensatz zu allen anderen) ein solch kurzer Sauerstoffschlauch verbaut wurde. Dies wurde auch der Betreiberfirma mitgeteilt (s. Abb. 7.4 – 7.6). Das Reanimationsgerät wurde einge-schickt und dort entsprechend ausgewertet. Die Firma sendete das revidierte Gerät wieder zurück. Das umfangreichere Themenfeld „Notarzt holt Material“ wurde zuerst mit verschiedenen Gesprächen verifiziert. Anschließend kam es zu einer Nachbespre-chung, in dem auch die Erwartungshaltung vonseiten der Ärztlichen Leitung gegenüber dem Notarzt formuliert wurde: Der Notarzt ist primär für die medizi-nische Betreuung des Patienten zuständig und nicht für die Organisation des Materials. Als mögliche Erklärung ergab sich, dass der Notarzt früher lange als Rettungssanitäter im Einsatz war. Dementsprechend war er es durchaus gewohnt, Material selbst zu holen. In diesem Einsatz übernahm er diese alte Rolle und
Abb. 7.4 ˘ Zu kurzer O2-Schlauch zw. Sauerstoffflasche und Beatmungsgerät 109
14 ˘ Maßnahmen aus dem CIRS der ÖAMTC Flugrettung
14 Maßnahmen aus dem CIRS der ÖAMTC Flugrettung Helmut Trimmel, Klaus Egger Patient im Rettungsdienst oder Passagier einer Airline: In wenigen Branchen wird der Sicherheit wohl mehr Bedeutung beigemessen als in der Luftfahrt. Passagiere sind auch in Zeiten von „Low Cost Carriern“ nahezu immer bereit, mehr zu bezahlen, um mit der „sicheren“ Fluglinie zu fliegen – unsichere Unternehmen sind weniger geschäftsfähig. Die über die letzten Jahrzehnte erreichte hohe Sicherheit in der kommerziellen Luftfahrt wurde vor allem durch eine sog. Just Culture möglich: also eine konstruktive Vertrauenskultur, die geprägt ist von der offenen Betrachtung kritischer Ereignisse und der Bereitschaft, über Fehler ehrlich zu berichten (s. dazu z.B. Rascher 2019). Die ÖAMTC Flugrettung (Österreichischer Automobil-, Motorrad- und Touring Club), größtes österreichisches Luftrettungsunternehmen mit aktuell 16 Standorten und über 577 Mitarbeitenden, davon 506 direkt im Flugbetrieb, setzt Critical Incident Reporting (CIRS) seit den späten 1990er-Jahren ein. Lag die Motivation zu Anfang vor allem in der Information anderer Piloten über mögliche schadensbringende Situationen und deren Vermeidung, entwickelte sich das CIRS über wenige Jahre zur Basis eines fachübergreifenden, tiefgehenden Risikomanagements. Trotz der frühen Anfänge stellt das darauf aufbauende Risikomanagement auch heute noch einen im Aufbzw. Ausbau befindlichen Prozess dar – schließlich ist Sicherheit niemals etwas, das man hat, sondern etwas, das man tut ...
14.1 Meldung von Ereignissen Das webbasierte Meldesystem der ÖAMTC Flugrettung Q-Pulse® (der britischen Firma Ideagen PLC, s. www.ideagen.com) baut auf einem gemeinsamen Formular auf, welches von Ärzten, Flugrettern wie auch Piloten benutzt wird. Der primäre Impuls entstammte dem Bedürfnis, Ereignisse des Flugbetriebs strukturiert zu erfassen und die entsprechenden Informationen bzw. Erkenntnisse anderen Kolleginnen und Kollegen rasch zugänglich zu machen. Seitens der Medizin wurde zunächst eine Anbindung an bestehende Meldesysteme, konkret PASIS (Rall et al. 2007) bzw. CIRSmedical® (https://www.roteskreuz.at/site/cirs/ueber-das-cirs/) diskutiert. Aufgrund der spezifischen Erfordernisse der Luftrettung und der Interaktion aller Bereiche wurde jedoch einem integralen System der Vorzug gegeben. Noch während der letzten Überarbeitung des Systems im Jahr 2015 wurden wieder drei verschiedene Meldeformulare mit hohem fachlichen Detailierungsgrad für die einzelnen Fachbereiche in Erwägung gezogen: Da aber nahezu jeder Vorfall oder jedes Beinahe-Ereignis, welches durch ein Mitglied des Flugrettungsteams verursacht bzw. gemeldet wurde, immer auch unmittelbare Auswirkun-
192
14 ˘ Maßnahmen aus dem CIRS der ÖAMTC Flugrettung
Abb. 14.1 ˘ Eingabemaske Q-Pulse® gen auf die anderen Bereiche hatte, fiel die Entscheidung wieder zugunsten eines gemeinsamen Meldeformulars aus. Mittels einer App, die auf dem privaten Handy ebenso verfügbar ist wie auf dem im Dienstbetrieb zur Verfügung stehenden Tablet, können CIRS-Meldungen übermittelt werden. Die Software ist auch mit dem Crew-Informationssystem der ÖAMTC Flugrettung verlinkt und kann so von jedem PC mit Internetzugang erreicht werden. Nach einer Anmeldung im System gelangt der Nutzer im Menü über den Punkt „Occurences“ zur eigentlichen Eingabemaske (s. Abb. 14.1). Hier wird eine in drei Sprachen (Deutsch, Englisch und Tschechisch) verfügbare einfa-che Maske ausgefüllt, in der grundsätzliche Daten wie die Hubschrauberregistrie-rung, der Name des Meldenden oder des Stützpunkts erfasst werden können. Die Formulare sollen die Abbildung fachlicher Details, medizinischer Interventionen oder Flugdaten ermöglichen. Nicht nur aufgrund einer entsprechenden Verpflich-tung des österreichischen Luftfahrtgesetzes, sondern auch um die Hemmschwelle bei individuellen Fehlern zu mindern, kann jeder Report auch anonym ausgefüllt werden. Mit Ausnahme des Feldes „Beschreibung des Ereignisses“ sind alle Felder optional. In den letzten vier Jahren wurden allerdings weniger als 1% aller Mel-dungen anonym abgegeben.
14.2
Die Aufarbeitung von Reports
Einer der interessantesten Aspekte in der Sicherheitsarbeit der Flugrettung ist, dass hier Informationen aus drei Professionen zusammenfließen. Die unter-
193
14 ˘ Maßnahmen aus dem CIRS der ÖAMTC Flugrettung
schiedlichen Betrachtungs- und Herangehensweisen von Medizinern, Flugrettern und Piloten an kritische Ereignisse sowie die zweifellos sehr anspruchsvolle Arbeitsumgebung machen es notwendig, verschiedene Wege der Meldungslegung anzubieten. Neben der (ggf. anonymen) Meldung via Internet gibt es daher zur Vermittlung sicherheitsrelevanter Informationen auch die Möglichkeit der direkten Kontaktaufnahme mit den Sicherheitsbeauftragten der drei Disziplinen über ein persönliches, vertrauliches Gespräch oder via Telefon oder E-Mail. Damit können Fragen unmittelbar geklärt werden, um den Lerneffekt durch die jeweilige Meldung zu maximieren. Auf diesen Wegen eingegangene Meldungen werden ebenfalls in die Meldesoftware übertragen, da hier die weitere Aufarbeitung erfolgt. In Q-Pulse® werden in einem ersten Schritt ggf. auch Mehrfachmeldungen zusammengefasst und unsachliche Äußerungen dokumentiert abgelegt. Nach dieser ersten Sichtung erfährt jede einzelne Meldung eine Klassifizierung. Diese richtet sich nach den Hauptrisikogruppen und dient der leichteren Analyse von Safety Performance Indikatoren (Reiman & Pietikäinen 2012) sowie dem Zweck des schnellen Erkennens von Problemfeldern. Da über 80% der Vorfälle in sog. High Risk Environments (Luftfahrt, Industrie, aber eben auch akutmedizinische Behandlung) mit menschlichem Handeln im Zusammenhang stehen, kommt in der ÖAMTC Flugrettung auch das Human Factors Analysis and Classification System (HFACS) zur Anwendung (Wiegmann 2007, Wiegmann & Shappell 2001). Dieses System ist ein Schema, welches die Auswirkungen menschlicher Faktoren im Umfeld der Luftfahrt standardisiert analysieren und klassifizieren lässt. Es lässt sich auch zur Analyse kritischer Ereignisse in den verschiedenen Bereichen der Akutmedizin einsetzen (Diller et al. 2014, Cline 2018). Der starke Bezug zum Schweizer-Käse-Modell von James Reason mit seinem Fokus auf dem systemischen statt dem individuellen Ansatz unterstützt die Untersuchung von Vorfällen (Reason 2000). Als erste Tätigkeit im Bereich der Risikobewertung wird jeder Report auf seine Grundursache im Rahmen einer Root Cause Analysis (Taylor-Adams & Vincent 2004) unter Einbindung aller Bereiche untersucht. Die Ursachenanalyse (Root Cause Analysis, RCA) stellt einen systematischen Prozess zur Ermittlung der Ursachen von Problemen oder Ereignissen dar sowie gleichzeitig einen Ansatz, um darauf zu reagieren (s. Abb. 14.2). Sie ist für eine Ursachenanalyse in der Luftfahrt ebenso geeignet wie in der Medizin (Wu et al. 2008). In der anschließenden Risi-koanalyse werden die Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines gemeldeten Ereig-nisses und mögliche Auswirkungen untersucht. Dabei wird auch evaluiert, ob und wie oft ein ähnlicher Vorfall im eigenen Betrieb oder bei anderen Unterneh-men der Branche aufgetreten ist. Die Bewertung möglicher Auswirkungen richtet sich immer nach dem maximal möglichen Schaden. Die aktuellen Beurteilungs-felder für Auswirkungen sind Schäden an Personen, Gütern, der Umwelt sowie dem Image des Unternehmens. Die Beurteilung finanzieller Auswirkungen wird derzeit methodisch noch nicht für alle Meldungen angewandt. In komplexen Fäl194
14 ˘ Maßnahmen aus dem CIRS der ÖAMTC Flugrettung
Mensch
Material
Methode
Qualifikation
Information
Organisationskultur
Logistik
Arbeitsmittel Prozesse
Betriebliche Gesundheit
Technologie
Organisation
Problem Defekte Geräte
Dokumentation
Arbeitsschutz
Wartung
Evaluation
Employer Brand
Ersatzgeräte
Kennzahlen
Strat. Entwicklung
Messung
Mitwelt
Maschine
Abb. 14.2 ˘ Fehler-Ursachen-Analyse (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Masing W. [Hrsg.] Handbuch Qualitätsmanagement, München, Wien: Hanser Verlag 1999, S. 393) len, oder bei Gefahr im Verzug, wird stets auch nach der Implementierung sicherheitsfördernder Maßnahmen eine weitere Risikoanalyse angeschlossen, um die Effektivität gesetzter Maßnahmen zu evaluieren. Diese Analysen beschreiben dann explizit das Risiko vor und nach den gesetzten Maßnahmen (sog. Safety Barriers). Eine Möglichkeit, unmittelbaren Handlungsbedarf für das gesamte Flugrettungsteam aufzuzeigen, bieten „Flight Safety Notes“, die eine schnelle Information gewährleisten. Diese werden elektronisch verteilt und an den Stützpunkten zusätzlich in Papierform ausgehängt. Je nach Eskalationsstufe kann über das Crew-Informationssystem auch eine Lese- oder Umsetzungsbestätigung eingefordert werden.
14.3 Kritische Ereignisse in der Flugrettung Diese betreffen nahezu immer mehrere Bereiche: So können unvorhergesehene medizinische Probleme eine Zwischenlandung in der Nacht erfordern oder die Wahl der Flughöhe beeinflussen. Der Arbeitsplatz des Flugretters während des Patiententransports wird – zumindest tagsüber – je nach Erfordernis zwischen Cockpit und Kabine variieren müssen. Auch dies kann Einfluss auf einen sicheren Einsatzablauf nehmen. Ebenso können äußere Gegebenheiten wie starker Wind mit der medizinischen Versorgung interferieren bzw. sogar direkte Auswirkungen auf Patienten haben. In gleicher Weise nimmt das Wetter Einfluss auf die
195
14 ˘ Maßnahmen aus dem CIRS der ÖAMTC Flugrettung
Auswahl des Bergeverfahrens durch den Flugretter. Beispiele dazu finden sich in den CIRS-Meldungen häufig. Die Intention sollte idealerweise sein, eine ganzheitliche Betrachtung des jeweiligen Vorfalls durch die gesamte Crew sicherzustellen. Es muss aber auch möglich sein, dass einzelne Crewmitglieder Beobachtungen oder Kenntnisse zu kritischem Verhalten melden, um die Sicherheit des Gesamtsystems zu erhöhen.
14.4 Maßnahmen infolge von Reports Bei der Analyse einzelner Meldungen finden sich Ursachen und ggf. notwendige Konsequenzen häufig in den Bereichen Kommunikation, technische Ausrüstung, Aufgabenorientierung, Ergonomie oder Trainingserfordernis. Dazu im Folgenden einige (stark verkürzte) Beispiele. Fall 1 Im Rahmen eines Sekundäreinsatzes (Transferierung eines Patienten mit STEMI – ST-Elevation Myocardial Infarction, also akutem transmuralem Herzinfarkt) zum Katheterlabor bereitet das Klinikpersonal auf Bitte des Flugrettungsarztes (FLRA) eine Heparin-Medikation von 5.000 I.E. vor. Übergeben werden schließlich 5 Spritzen à 10 ml mit dem Hinweis, dass leider nur Heparin mit „1.000 I.E. in 10 ml“ verfügbar sei. Der FLRA, dem dies eigenartig vorkommt, lässt sich vom (diplomierten) Pflegepersonal die Ampullen zeigen – tatsächlich handelt es sich um eine Konzen tration von 1.000 I.E./ml. Wäre hier vom FLRA nicht sichere Kommunikation eingefordert worden („Readback“ sowie die 5-R-Regel: „Richtiges Medikament – Richtige Dosis – Richtiger Patient – Richtiger Zeitpunkt – Richtiger Zugangsweg“), hätte der Patient wohl eine 10-fach überdosierte Gerinnungsinaktivierung erhalten und während des Flugs mit hoher Wahrscheinlichkeit entsprechende Blutungskomplikationen erfahren ... Fall 2 Nach Abschluss der TÜV-Überprüfung (jährliche Routineprüfung) informiert der Techniker die Crew, dass ein falsches Schlauchsystem am Beatmungsgerät konnektiert ist. Dies führt zur Anzeige falsch hoher Messwerte am Gerät. Bei der gemeinsamen Inspektion zeigt sich, dass ein optisch nahezu identisches System, das allerdings nur für Geräte späterer Baumuster zulässig ist, angeschlossen war. Ein weiteres derartiges System fand sich im Lager unter den anderen (korrekten) Beatmungsschläuchen. Die Herkunft blieb unklar, vermutlich handelte es sich um ein gut gemeintes „Geschenk“ einer patientenübernehmenden Klinik. Hier war zwar (vermutlich) noch kein Patientenschaden aufgetreten, dieser wäre aber etwa durch (falsch) adaptierte Beatmungseinstellung, etwa bei
196
IV. Maßnahmen II. Maßnahmen aus aus CIRS CIRSininKrankenhäusern Leitstellen und Notaufnahmen
18 ˘ CIRS heißt hier VIM – Fehlermanagement in den Niederlanden
18
CIRS heißt hier VIM – Fehlermanagement in den Niederlanden
Klaus Filoda, Gea Hartman Bereits seit den frühen 1990er-Jahren nutzen niederländische Industrieunternehmen Systeme mit dem Ziel, Fehlerquellen aufzuspüren und die Sicherheit zu erhöhen. 2004 erwies eine Studie, erstellt durch den Geschäftsführer des Shell-Konzerns, eine Übertragbarkeit solcher Sicherheitssysteme auf das Gesundheitswesen. Damit sollte eine massive Reduktion von fehlerhaften Vorkommnissen sowie eine deutliche Verbesserung der Patientensicherheit möglich gemacht werden. Wenige Jahre später wurde es für alle Krankenhäuser in den Niederlanden gesetzliche Pflicht, ein umfangreiches, normiertes Sicherheitsmanagement-System einzuführen – ein veiligheidsmanagementsysteem (VMS) (www.vmszorg.nl). Die Möglichkeit, Fehler zu melden, zu analysieren und die internen Arbeitsprozesse als Resultat zu verbessern, wurde hiermit in Form eines CIRS zur Verfügung gestellt. Der nachfolgende Artikel schildert Beispiele aus einem regionalen niederländischen Krankenhaus, fokussiert auf den Bereich der Notaufnahme als wichtiges Bindeglied zwischen der präklinischen und der klinischen Patientenversorgung.
18.1 CIRS / VIM im Krankenhaus Die Abkürzung VIM steht für „Veilig Incidenten Melden“ und bedeutet übersetzt „Sicher Vorfälle Melden“; das entspricht inhaltlich dem im Zusammenhang mit einem Fehlermanagement international gebräuchlichen Begriff „CIRS“ (Critical Incident Reporting System). Das Ommelander Ziekenhuis Groningen (OZG), ein regionales Krankenhaus mit ca. 200 Betten im Nordosten der Niederlande (www. ommelanderziekenhuis.nl), arbeitet seit Jahren mit einem digitalen Fehlermeldesystem. Für alle 1.300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Hauses, darunter 100 Fachärztinnen und -ärzte, besteht über das Intranet ein einfacher Zugang zum Meldeformular. Pro Jahr werden im gesamten Krankenhaus etwa 1.500 Meldungen abgegeben und bearbeitet. Hierfür sind 21 abteilungsgebundene Fehlerkommissionen und eine übergeordnete, zentrale Fehlerkommission zuständig. Durch diese breite Verteilung ist dafür gesorgt, dass alle Abteilungen des Hauses sowie alle Mitarbeitenden aktiv am Fehlermanagement beteiligt sind und eine Analyse und Bearbeitung der Fehler in den Bereichen stattfinden kann, in denen sie aufgetreten sind. Dies wiederum erleichtert die Umsetzung von Verbesserungsvorschlägen, wodurch schlussendlich für eine Erhöhung der Patientensicherheit gesorgt wird. Es muss klar herausgestellt werden, dass Vorfälle und Fehler, die über das oben beschriebene Meldesystem und in den genannten Kommissionen behandelt wer-
240
18 ˘ CIRS heißt hier VIM – Fehlermanagement in den Niederlanden
Tab. 18.1 ˘ Informationen aus dem digitalen Meldeformular •
Name des Meldenden
•
Abteilung, in der ein Vorfall oder Fehler aufgetreten ist
•
Tag und Zeitpunkt des Vorfalles
•
Betroffener Patient, identifiziert durch Geburtsdatum und Patientennummer
•
Beschreibung des Vorfalles oder Fehlers im freien Text
•
Kategorisierung nach Schwere des Fehlers – eingeschätzt durch den Meldenden
•
direkte Konsequenzen aus dem Vorfall (Wer wurde bisher informiert? Wurde im Patientendossier eine Notiz vermerkt?)
den, deutlich von Komplikationen einer medizinischen Behandlung und von schwersten Fehlern mit bleibenden Schäden am Patienten oder sogar Todesfolge abgegrenzt werden. Letztere Vorfälle werden durch eine speziell hierfür zuständige Untersuchungskommission bearbeitet und müssen einer landesweiten Aufsichtsbehörde des Gesundheitswesens gemeldet werden. Jede Fehlermeldung enthält eine Anzahl von Informationen, die durch das digitale Meldeformular vorgegeben ist, wodurch die Analyse und die Bearbeitung des jeweiligen Falles erheblich vereinfacht wird (s. Tab. 18.1). Bereits die bzw. der Meldende muss im digitalen Meldeformular eine Einschätzung zur Schwere des Vorfalles abgeben. Hierbei hilft ein Auswahlmenü, das die Tab. 18.2 ˘ Klassifizierung der Vorfälle oder Fehler nach Schweregrad Klassifizierung
Definition
Konsequenzen
1)
Beinah-Vorfall oder -Fehler
keine Folgen; Fehler wurde frühzeitig entdeckt und hat den Patienten nicht erreicht
Meldung an die dezentrale Fehlerkommission der betreffenden Abteilung
2)
Leichter Vorfall oder Fehler
leichte Folgen für Patienten oder Behandlung; Beispiele: um einige Stunden verlängerte Aufnahmedauer, geplante OP verschoben, verkehrte Medikation gegeben ohne Folgen
Meldung an zuständigen Arzt sowie die dezentrale Fehlerkommission der Abteilung
3)
Schwerer Vorfall oder Fehler
vorübergehende, schwerwiegende Folgen für Patienten; Beispiele: falsche Medikation oder Dosierung mit merkbaren Folgen, gebrochener Arm, deutlich verlängerte Aufnahmedauer (> 1 Tag)
Meldung an zuständigen Arzt, Vorgesetzten, dezentrale Fehlerkommission; die zentrale Fehlerkommission wird automatisch in Kenntnis gesetzt
241
18 ˘ CIRS heißt hier VIM – Fehlermanagement in den Niederlanden
Definitionen der drei wählbaren Klassifizierungen anzeigt, unterstützt durch die Angabe von Beispielen (s. Tab. 18.2). Abhängig von der Zuordnung des Vorfalles in eine der Klassen sind weitere Schritte notwendig und im Formular deutlich ersichtlich, zum Beispiel die Benachrichtigung von Vorgesetzten. Im Falle eines schwereren Vorfalles oder Fehlers (Klasse 3) wird automatisch die übergeordnete, zentrale Fehlerkommission informiert, welche dann das Fehlermanagement auf Abteilungsniveau begleitet und überwacht.
18.2 Die Notaufnahme und das Fehlermanagement: Fallbeispiele und umgesetzte Maßnahmen Für den Bereich der Notaufnahme werden im folgenden Abschnitt konkrete Beispiele von Fehlern oder Vorfällen, ihrer Aufarbeitung sowie der Implementierung von Verbesserungsprozessen dargestellt. Eine retrospektive Analyse hat gezeigt, dass im Zeitraum eines Jahres (2017) durch die Mitarbeitenden der Notaufnahme insgesamt 65 Meldungen abgegeben wurden. Hiervon fallen 35 Meldungen in die Klasse 1 (Beinah-Vorfall), 23 werden der zweiten Klasse (leichter Vorfall) und 7 der dritten Klasse (schwerer Vorfall) zugeordnet.
30
28
25 20 15 11
10 5
5
4
2
1
0 Ernährung
Verwechslung
Fallen
Untersuchung
Medizinische Geräte
Medikamente
1 Material/Hilfsmittel
Blutprodukte
1 Datensicherheit
1 Infektionsprävention
1 Erreichbarkeit
Behandlung
0
10
Abb. 18.1 ˘ Anzahl der Meldungen pro Kategorie 2017 für die Notaufnahme
242
18 ˘ CIRS heißt hier VIM – Fehlermanagement in den Niederlanden
Tab. 18.3 ˘ 11 Schwerpunktthemen des Sicherheitsmanagementsystems 1.
Verwechslung von oder am Patienten
2.
Sensible, verwundbare Ältere
3.
Vermeiden von Katheter-assoziierten Infektionen und schwerer Sepsis
4.
Optimale Versorgung des akuten Koronarsyndroms
5.
Hochrisikomedikamente – Vorbereiten und Gabe von i.v. Medikation
6.
Nierenschwäche
7.
Verifikation von Medikamenten bei Aufnahme und Entlassung
8.
Frühzeitiges Erkennen und Behandeln von Schmerzen
9.
Frühzeitiges Erkennen und Behandeln von Patienten mit lebensbedrohlichen Erkrankungen
10.
Vermeiden von Wundinfektionen nach Operationen
11.
Sichere Versorgung kranker Kinder
Alle Meldungen werden noch während der Dokumentation einer bestimmten Themenkategorie zugeordnet. Die initiale Auswahl trifft der Mitarbeitende der die Meldung abgibt; eine Anpassung ist im späteren Verlauf durch die Mitglieder der zuständigen Fehlerkommission möglich. Abbildung 18.1 zeigt die Zuordnung der 65 Meldungen aus der Notaufnahme in die wählbaren Kategorien. Eine Kategorisierung der Meldungen ermöglicht es zu einem späteren Zeitpunkt, Fälle aus einem Themenbereich zu analysieren und abteilungsübergreifend Trends und Zunahmen von Vorfällen zu erkennen. Im normierten Sicherheitsmanagementsystem des Krankenhauses (www. vmszorg.nl) sind 11 Schwerpunktthemen formuliert (s. Tab. 18.3). Landesweite Untersuchungen haben ergeben, dass Verbesserungen gerade in diesen Bereichen der Patientenversorgung einen äußerst positiven Einfluss auf die Sicherheit im Gesundheitswesen haben können. Alle aufgeführten Beispiele aus der Notaufnahme lassen sich einem dieser Schwerpunktthemen zuordnen. Fallbeispiel 1: Verwechslung von oder am Patienten Vorfall: Eine 59-jährige Patientin mit akuter Luftnot wird vom Rettungsdienst in der Notaufnahme des Krankenhauses an das pflegerische und ärztliche Team übergeben. Im weiteren Verlauf werden erste diagnostische Schritte eingeleitet; es erfolgt neben der Röntgendiagnostik eine Blutentnahme. Das krankenhauseigene Labor übernimmt die Blutproben; jedoch erscheinen die Ergebnisse nicht – wie gewöhnlich für eine Notfalldiagnostik– zügig in der elektronischen Patientenakte. Erst nach ausführlichen Recherchen und mehreren Telefonaten wird deutlich, dass
243
Neumayr · Baubin · Schinnerl
-Ereignis CIRS
führt haben, stehen im Mittelpunkt die-
aus den Niederlanden, offen über Fehler zu
ses Buches. Die Autorinnen und Autoren
sprechen. Sicherheitskultur muss tagtäglich
berichten über „kritische Situationen und
von Neuem gelebt werden. Je früher man
Beinahe-Fehler“ aus der täglichen Praxis
damit beginnt, umso besser!
und stellen ihre Verbesserungsmaßnahmen
Daher setzt der Band bereits bei CIRS in
dazu vor. Diese Herangehensweise ist im
Ausbildungseinrichtungen an und nimmt
deutschsprachigen
von der Leitstelle über den Einsatzbetrieb
Rettungsdienst
ein
Novum.
bis hin zur Klinik und Notaufnahme alle an
Das Innovations- und Lernpotenzial der aus
der präklinischen Versorgung Beteiligten
den CIRS-Fällen umgesetzten Maßnahmen
und deren Schnittstellen in den Blick.
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Österreich, Deutschland, der Schweiz sowie
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unterstreicht die Intention der Autoren aus
Incident Reporting System (CIRS) einge-
CIRS im Rettungsdienst
Rettungsdienste, die bereits ein Critical
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Repor
n ldu
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Agnes Neumayr Michael Baubin Adolf Schinnerl
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Herausgeber
n
Agnes Neumayr · Michael Baubin · Adolf Schinnerl (Hrsg.)
CIRS im Rettungsdienst
CIRS im Rettungsdienst
Umgesetzte Maßnahmen und Lernpotenziale
ISBN 978-3-96461-018-8
Umgesetzte Maßnahmen und Lernpotenziale www.skverlag.de