CAM P U S Rettungsassistenten sind aktuell nicht befugt, eigenverantwortlich medizinisch zu handeln; dies ist dem Arzt vorbehalten. Über eine Novellierung des Rettungsassistentengesetzes wird auch auf politischer Ebene seit langem diskutiert und gefordert, dass der Rettungsassistent neben der bestehenden Notkompetenz auch eigenverantwortlich im Sinne einer Regelkompetenz handeln solle. Im Rahmen der Überlegungen stellt sich die Frage: Wie sind eigentlich Rettungsdienstsysteme in anderen europäischen Ländern angelegt?
Die Autorin hat die Ausbildungsmodule und den Einsatz des ärztlichen und nicht-ärztlichen Personals EU-weit verglichen. Dazu hat sie ein systematisches Forschungsdesign entwickelt, mit dessen Hilfe das Berufsbild des Rettungsassistenten nach wissenschaftlichen Kriterien entwickelt werden könnte. Das vorliegende Buch richtet sich vor allem an Berufsgruppen im Gesundheitsbereich, an Ämter und Ministerien, die in dieses Thema involviert sind, sowie an Rettungsdienstschulen und Hilfsorganisationen.
V. A. Meyer
Eine Dissertation aus dem Universitätsklinikum für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin Münster, Direktor: Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Hugo Van Aken
Eine mögliche Abgrenzung eines notärztlichen von einem nicht-notärztlichen Rettungseinsatz
V. A. Meyer
Verena A. Meyer
Eine mögliche Abgrenzung eines notärztlichen von einem nicht-notärztlichen Rettungseinsatz
Eine mögliche Abgrenzung eines notärztlichen von einem nicht-notärztlichen Rettungseinsatz und die Formulierung eines wissenschaftlichen Forschungsansatzes als Grundlage für die Ausbildung zum regelkompetenten Rettungsassistenten – auf dem Boden einer EU-weiten Analyse der Rettungsdienstsysteme –
ISBN 978-3-938179-83-3 · www.skverlag.de
Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. med. Thomas P. Weber
Eine mÜgliche Abgrenzung eines notärztlichen von einem nicht-notärztlichen Rettungseinsatz
Meinen Eltern gewidmet
»Fortschritt ist ein schönes Wort. Seine Triebkraft aber heißt Wandel. Und der Wandel hat seine Feinde.« (Robert F. Kennedy)
© Copyright by Verlagsgesellschaft Stumpf + Kossendey mbH, Edewecht 2010 Satz: Bürger Verlag Oldenburg GmbH & Co. KG Umschlagfoto: Heiko Rebsch Druck: Druck-Service Lamken, Oldenburg ISBN 978-3-938179-83-3
Verlagsgesellschaft Stumpf + Kossendey mbH, Edewecht 2010
Aus dem Universitätsklinikum Münster Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin - Direktor: Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Hugo Van Aken -
Eine mögliche Abgrenzung eines notärztlichen von einem nicht-notärztlichen Rettungseinsatz und die Formulierung eines wissenschaftlichen Forschungsansatzes als Grundlage für die Ausbildung zum regelkompetenten Rettungsassistenten – auf dem Boden einer EU-weiten Analyse der Rettungsdienstsysteme –
INAUGURAL – DISSERTATION zur Erlangung des doctor medicinae der Medizinischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
vorgelegt von Meyer, Verena Alexandra aus Beckum 2010
˘ Inhalt
Inhalt 1
Einleitung 1.1 Geschichtlicher Rückblick/Historische Entwicklung des Rettungsdienstes 1.1.1 Die Anfänge der Notfallmedizin 1.1.2 Notfallmedizin ab Mitte des 19. Jahrhunderts 1.1.3 Moderne Notfallmedizin nach dem Zweiten Weltkrieg 1.1.4 Entwicklung des heutigen Rettungswesens 1.2 Aktuelle Struktur des Rettungsdienstes in Deutschland 1.2.1 Gesetzliche Grundlagen 1.2.1.1 Bundesebene 1.2.1.2 Länderebene 1.2.2 Träger und Leistungserbringer des Rettungsdienstes 1.2.3 Einrichtungen des Rettungsdienstes 1.2.4 Medizinisches Fachpersonal 1.2.4.1 Ärztliches Personal 1.2.4.2 Nicht-ärztliches Personal 1.2.4.2.1 Rettungshelfer 1.2.4.2.2 Rettungssanitäter 1.2.4.2.3 Rettungsassistenten 1.2.5 Rettungsmittel und ihre Besetzung mit medizinischem Personal 1.3 Problemstellung 1.4 Lösungsansätze 1.5 Hypothesen 2 Material und Methoden 2.1 Vorgehensweise zur Informationsbeschaffung 2.2 Definition des angewendeten System-Vergleichs 2.3 Einteilung der Länder in Analogie zur evidence based medicine 2.4 Qualitätsmerkmale und Grade der Relevanz 3 Ergebnisse/eigene Untersuchungen 3.1 Alphabetische Darstellung der einzelnen untersuchten Länder 3.1.1 Belgien 3.1.2 Dänemark 3.1.3 Estland 3.1.4 Finnland 3.1.5 Frankreich 3.1.6 Griechenland 3.1.7 Großbritannien 3.1.8 Irland 3.1.9 Italien 3.1.10 Lettland
11 11 11 12 14 17 20 20 20 21 21 22 22 23 25 25 26 26 28 29 32 32 33 33 34 34 35 39 39 39 41 42 42 43 47 47 50 50 52
9
˘ Inhalt
3.1.11 Litauen 3.1.12 Luxemburg 3.1.13 Malta 3.1.14 Niederlande 3.1.15 Österreich 3.1.16 Polen 3.1.17 Portugal 3.1.18 Schweden 3.1.19 Slowakei 3.1.20 Slowenien 3.1.21 Spanien 3.1.22 Tschechische Republik 3.1.23 Ungarn 3.1.24 Zypern 3.2 Einteilung der Länder nach Qualitätsmerkmalen 3.3 Einteilung der Länder nach dem Grad der Relevanz 3.4 Graphische Zusammenfassung der Analyse 4 Diskussion 4.1 Einführung 4.2 Diskussion der Methodik 4.3 Diskussion der Ergebnisse 4.3.1 Allgemein 4.3.2 »Grad 1« Länder 4.3.3 »Grad 2-4« Länder 4.3.4 Fazit 4.4 Schlussfolgerung 4.4.1 Rechtliche Aspekte in Deutschland 4.4.2 Das Problem Notkompetenz 4.4.3 Probleme in der Realität 4.4.4 Was ist ein Notarzteinsatz? 4.4.5 Ist ein regelkompetenter Rettungsassistent ein deutscher Paramedic? 4.4.6 Ein Ansatz für die praktische Etablierung einer Regelkompetenz 5 Zusammenfassung und Ausblick 6 Literaturverzeichnis 7 Abbildungsverzeichnis 8 Tabellenverzeichnis 9 Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen/Begriffe 10 Danksagung 11 Lebenslauf 12 Anhang
10
53 54 56 56 60 66 66 67 67 67 68 69 71 73 73 76 77 79 79 82 84 84 89 91 93 94 94 99 103 105 106 107 110 111 126 126 127 130 131 134
1 ˘ Einleitung
1.3
Problemstellung
Trotz aller Probleme muss zunächst festgehalten werden, dass der Notarztdienst – also ein Rettungsdienst mit Notarzt – nicht zur Disposition steht [35, 113]. Diese Aussage basiert auf eindeutigen rechtlichen (z.B. BGH, 09.01.2003, III ZR 217/01) und politischen Vorgaben. Bisher und auch zukünftig wird also die adäquate Versorgung von Notfallpatienten in Deutschland immer eine gemeinsame Aufgabe von Notarzt und nichtärztlichem Rettungsdienstpersonal sein und bleiben. Ein notarztfreies System, wie dies z. B. in den USA der Fall ist, steht trotz des bevorstehenden Ärztemangels – und somit auch des Notärztemangels [55] – in Deutschland nicht zur Debatte [13, 29, 120]. Bei einfachen akuten Erkrankungen hat jeder Bürger ein Anrecht auf ärztliche Versorgung, z. B. durch niedergelassene Ärzte. Im Krankenhaus ist sogar ein »Facharztstandard« zu gewährleisten. Aufgrund dieser Tatsachen und den bereits geschilderten gesellschaftlichen und historischen Entwicklungen in Deutschland, wäre es dem Bürger kaum verständlich zu machen, dass bei einem schweren – unter Umständen sogar lebensbedrohlichen – Notfall/Unfall ihm nur das Recht auf eine Behandlung durch medizinisches Assistenzpersonal (wie Rettungssanitäter oder ‑assistenten) zustünde [130]. Da es aber nicht sinnvoll sein kann, in jeder Notfallsituation einen Notarzt einzusetzen, ist eine genaue Abgrenzung zwischen einem nicht-notärztlichen Notfall (= Rettungsassistenteneinsatz) und einem notärztlichen Notfall dringend notwendig. Denn keine Gesellschaft verfügt über unbegrenzte Ressourcen. Diese Aussage wird ein zentraler Punkt dieser Arbeit sein. Um auch weiterhin die Versorgung von Notfallpatienten auf einem hohen Niveau zu sichern, ist eine ständig, den neuen Anforderungen an Wissenschaft und Technik, angepasste Aus-, Fort- und Weiterbildung des betreffenden Personals unerlässlich. Daher ist es besonders wichtig, vor allem die Ausbildung und Qualifikation des nicht-ärztlichen Personals zu verbessern, da dieses meist zuerst am Einsatzort eintrifft [83, 129]. Somit nimmt das nicht-ärztliche Personal eine besondere Schlüsselrolle im Bereich der optimalen Versorgung der Patienten ein. Deutschland bekennt sich zum Notarztsystem als wesentlichen Bestandteil des deutschen Rettungswesens. Dennoch nimmt der Rettungsassistent als notfallmedizinische Fachkraft eine sehr wichtige und zentrale Rolle in der präklinischen Versorgung von Notfallpatienten ein. Da die präklinische Notfallversorgung neben der klassischen Ersten Hilfe am Notfallort auch schon die intensivmedizinische Akutversorgung mittels gerätemedizinischer und medikamentöser Behandlung beinhaltet, kommt der effektiven und effizienten Aus- und ständigen Fortbildung der Rettungsassistenten eine bedeutende Stellung zu.
29
1 ˘ Einleitung
Der Rettungsassistent ist der erste Helfer vor Ort und der Anspruch der Notfallpatienten auf fachgerechte Versorgung beginnt schon mit Eintritt des Notfallereignisses und nicht erst mit Eintreffen des am höchsten qualifizierten Helfers – sprich des Arztes. Eine Verbesserung der präklinischen Versorgung der Bevölkerung kann im Wesentlichen über eine Qualitätssteigerung der Ausbildung der Rettungsassistenten erreicht werden. So könnte auch der Zeitraum bis zum Eintreffen des Notarztes optimal von Rettungsassistenten überbrückt und genutzt werden um so auch ohne Notarzt eine optimale Versorgung der Patienten sicherstellen zu können. Nur durch eine hohe Qualifikation des Personals ist ein aufwendiges Rettungssystem, wie es in Deutschland der Fall ist, von adäquatem Nutzen. Das nicht-ärztliche Rettungsdienstpersonal braucht in Zukunft genaue definierte Kompetenzen und Einsatzbereiche, als es jetzt der Fall ist, um bestmöglich handeln zu können. Gleichzeitig müssen sie entscheiden können und dürfen, wann ein Notarzt hinzugezogen werden muss und wann nicht. Denn nur so ist eine optimale Versorgung der Patienten möglich. Daher ist die Weiterentwicklung in diesem Bereich ebenfalls ein zentraler Bestandteil dieser Arbeit. Dies sind keine neuen Forderungen. Entscheidend ist an dieser Stelle aber die Tatsache, dass es bis dato noch nicht gelungen ist, eine eigenständige Kompetenz des Rettungsassistenten gesetzlich zu verifizieren. Eigenverantwortliches Handeln ist dem Rettungsassistenten bei der derzeitigen Rechtslage streng genommen nicht möglich. Somit ist kein definierter Aufgabenbereich für den Rettungsassistenten vorhanden, in dem dieser vor Ort eigenverantwortlich handeln kann. Auch ist nicht konkret geregelt, welche Erkrankungen und Verletzungen er – im Rahmen seiner Kompetenz – selbstständig versorgen kann und bei welchen genau definierten Situationen er einen Notarzt hinzuziehen muss. Diese Entscheidungen setzten eine gewisse Befähigung voraus, bestimmte Symptome zu erkennen, Diagnosen zu stellen und folglich therapeutische Maßnahmen einzuleiten – wie z. B. einen Notarzt nachzufordern. Die Entscheidung – einen Notarzt nachzufordern oder nicht – ist gleichermaßen bedeutsam, ob ein bestimmtes Medikament verabreicht werden kann oder nicht; also eine Therapieentscheidung. Da in Deutschland aber nur dem Arzt eine Diagnosebefähigung und eigenständige Therapieentscheidung erlaubt sind, entsteht hier folglich ein gewisser Widerspruch. Eine Therapieentscheidung setzt voraus, dass der Rettungsassistent bestimmte Symptome erkennen kann bzw. eine Art »Arbeitsdiagnose« stellen darf und entscheiden kann, ob die Symptome/Arbeitsdiagnose eine anschließende Therapie erforderlich machen. Diese Entscheidung steht dem Rettungsassistenten aber nicht zu. Folglich fehlt es hier an einer geregelten Kompetenz – also einer Regelkompetenz.
30
1 ˘ Einleitung
Die Folge ist Unsicherheit des Personals auf der einen Seite und Übereifer auf der anderen Seite. Die dadurch geradezu provozierten Einzelfälle haben dazu geführt, dass die Ärzteschaft eine stark polarisierende Einstellung zum Thema »Regelkompetenz des Rettungsassistenten« einnimmt. Aufgrund der geschilderten historischen Entwicklungen im deutschen Rettungs dienst wird klar, dass objektive Kriterien fehlen, die es ermöglichen einen Not arzteinsatz von einem Rettungsassistenteneinsatz deutlich abzugrenzen. Die Gründe hierfür sind, dass 1. es keine bundesweit einheitlich verbindlichen Lehrpläne gibt. Damit fehlt ein bundeseinheitlicher Standard. 2. nur der Arzt diagnostizieren und somit auch therapieren darf (Arztvorbehalt nach § 1 Heilpraktikergesetzes (HeilprG)); daher kann ein Rettungsassistent formal-juristisch nichts eigenverantwortlich entscheiden. 3. es keinen Rettungsassistenten-Beruf gibt, sondern lediglich eine Berufsschutzbezeichnung. Dadurch fehlt es dem Rettungsassistenten an Eigenverantwortlichkeit für sein Handeln. Er hat keinen genau definierten Aufgabenbereich, wo sein Kompetenzbereich endet und der des Notarztes beginnt. Der Übergang ist fließend und stark subjektiven Einschätzungen unterworfen. Liegt eine vitale Bedrohung vor, so wird seine Arbeitsdiagnosestellung akzeptiert (im Rahmen der Notkompetenz) und maximale Kompetenz des Rettungs assistenten gefordert. 4. die Entscheidung nach Vorgaben der Notkompetenz zu arbeiten, d. h. eine vitale Bedrohung zu erkennen und zu behandeln, eine diagnostische Tätigkeit des Rettungsassistenten ist, die ihm aber aktuell regelhaft nicht zugestanden wird. Die Bemühungen und die Diskussion um die Regelkompetenz entstehen nur deshalb, da der Begriff »Beruf« gleichbedeutend ist mit eigenverantwortlichem Handeln. Mit der Einführung des Berufs Rettungsassistent – und nicht einer Berufsschutzbezeichnung – wäre der Begriff Regelkompetenz redundant und überflüssig.
31
2 ˘ Material und Methoden
2.2
Definition des angewendeten System-Vergleichs
Der Vergleich der teilweise sehr unterschiedlichen Systeme beruht im Kern auf einer Gegenüberstellung der bedeutenden Strukturelemente oder der zentralen Aspekte der jeweiligen Rettungsdienstsysteme. Das Ziel war eine Gegenüberstellung einer überschaubaren Zahl zentraler Aspekte, um relevante Unterschiede und Gemeinsamkeiten erkennen zu können. Diese Erkenntnisse sollen dann bei der Neuformulierung zu einem regelkompetenten Rettungsassistenten genutzt werden. Die Schwerpunkte des Vergleichs lagen bei der vorhandenen gesetzlichen Grundlage, dem Vorhandensein von Notärzten und dem Vorhandensein von definitiven Ausbildungsstrukturen. Es wurden alle Länder der EU – die zum Zeitpunkt des Jahres 2005 Mitglied waren – untersucht. Folgende zentrale Strukturelemente wurden im Einzelnen miteinander verglichen: • gesetzliche Grundlage der Struktur des Rettungsdienstes, • ärztliche Einbindung in das Rettungsdienstsystem, • gesetzlich geregelte oder sonstige geregelte Struktur zur Ausbildung des Rettungsdienstpersonals und • Regelungen zur Fortbildung und Rezertifizierung des Rettungsdienstpersonals. Weitergehende Informationen neben den genannten Untersuchungsaspekten wurden berücksichtigt, soweit sie wichtige Hintergrundinformationen oder interessante und relevante Aspekte beinhalten, die möglicherweise für die Fragestellung nützlich sind.
2.3
Einteilung der Länder in Analogie zur evidence based medicine
Grundlage für die nachfolgende Einteilung der einzelnen Länder in verschiedene Grade war das Prinzip des so genannten Level of Evidence. Der »Level of Evidence« wird für die Bewertung medizinischer Studien nach den Grundlagen der »evidence based medicine« (EBM, evidenz-basierte Medizin) angewandt (nähere Informationen siehe 4.2). Ein schon vorherrschendes System – analog zur EBM – ist in der Literatur für einen wissenschaftlichen Ländervergleich – wie er in dieser Dissertation erfolgt – noch nicht beschrieben worden. Daher wurde in Analogie zum »Level of Evidence« im Rahmen der EBM in dieser Arbeit ein vergleichbares System selbst entwickelt.
34
2 ˘ Material und Methoden
2.4
Qualitätsmerkmale und Grade der Relevanz
Von zentraler und besonderer Bedeutung im Hinblick auf die Fragestellung sind folgende Punkte berücksichtigt worden: 1. Grundvoraussetzung für eine Vergleichbarkeit verschiedener Rettungsdienstsysteme ist eine vorhandene gesetzliche Grundlage eines Rettungsdienstsystems oder wenigstens das Vorhandensein von vergleichbaren strukturellen Eigenschaften des Rettungsdienstes eines bestimmten Landes. Da ohne gesetzliche Grundlagen oder vergleichbare Strukturelemente die Fragestellung im Sinne einer möglichen Vergleichbarkeit zum deutschen Rettungsdienstsystem als nicht sinnvoll erscheint (Merkmal A/Grad 4). Die Länder, von denen keine Informationen – nach den oben aufgeführten Methoden – erhalten werden konnten, fallen ebenfalls unter Merkmal A. 2. Wenn eine gesetzliche Grundlage für den Rettungsdienst im jeweiligen Land vorhanden ist, ist für einen Vergleich zum deutschen Rettungsdienst weiter von Bedeutung, welches Personal im jeweiligen Land eingesetzt wird. Besondere Bedeutung kommt dabei den im Rettungsdienst tätigen Ärzten zu. Werden sie im Rettungsdienst eingesetzt, hat dies Folgen für die Qualifikation des nicht-ärztlichen Personals. Diese erhalten dann zumeist weniger Kompetenzen und eine geringere Ausbildung, da dem Arzt im Rettungsdienst dann die größere Bedeutung und Verantwortung zukommt. Von Nutzen bezüglich eines Rettungsdienstsystem-Vergleichs – besonders im Hinblick auf die Ausbildung und die Kompetenzen des nicht-ärztlichen Personals – stellen sich die Länder dar, die sowohl ärztliches, als auch nicht-ärztliches Personal haben (Merkmal D). Als Beispiel ist hier Deutschland zu nennen. Wird kein Arzt im Rettungsdienst eingebunden (Merkmal C), dann ist das nicht-ärztliche Personal oft besser und qualifizierter ausgebildet. Wenn ein Arzt im Rettungsdienst immer an der Notfallrettung teilnimmt (Merkmal B), werden dem nicht-ärztlichen Personal meist weniger Kompetenzen zugerechnet. 3. Bei Ländern, in denen eine gesetzliche Struktur für den Rettungsdienst vorherrscht und die Einbindung von Ärzten erfasst wurde (Merkmal B-D), ist des Weiteren von Bedeutung für die Fragestellung, ob eine gesetzliche Ausbildungsstruktur für das nicht-ärztliche Personal besteht. Da dies einen zentralen Punkt der Vergleichbarkeit darstellt (Merkmal E). 4. Wenn in Ländern eine Ausbildungsstruktur für das nicht-ärztliche Personal zu erkennen ist, ist weiter von Interesse, ob auch eine Fortbildung und/oder Rezertifizierung gesetzlich in den Ländern geregelt ist (Merkmal F).
35
2 ˘ Material und Methoden
Das entwickelte System beinhaltet sechs Qualitätsmerkmale (analog zum EBM: Level 1-5):
Tab. 4 ˘ Qualitätsmerkmale des System-Vergleichs Merkmal A:
Länder ohne erkennbare gesetzliche Struktur für den Rettungsdienst und das Rettungsdienstpersonal, bzw. ohne erhaltene Informationen
Merkmal B:
Länder mit gesetzlicher Struktur, die in jedem Fall Notärzte einsetzen (arztzentriertes System)
Merkmal C:
Länder mit gesetzlicher Struktur, die in jedem Fall nur nicht-ärztliches Personal einsetzen (Paramedic-System)
Merkmal D:
Länder mit gesetzlicher Struktur, bei denen Notärzte und nicht-ärztliches Personal eingesetzt werden (Mischsystem)
Merkmal E:
Länder mit dem Merkmal B, C oder D, in denen zusätzlich eine gesetzlich determinierte Ausbildungsstruktur (einheitlich gesetzliche Vorgaben) für das nicht-ärztliche Rettungsdienstpersonal existiert
Merkmal F:
Länder mit dem Merkmal B, C oder D und zusätzlich E, in denen außer dem eine gesetzlich vorgeschriebene Fortbildungsverpflichtung und/oder Rezertifizierung für das nicht-ärztliche Personal existiert
Definition des Merkmals A: Der Rettungsdienst in diesen Ländern hat keine erkennbare gesetzliche Grundlage und somit ist auch keine gesetzliche Struktur für das nicht-ärztliche Personal zu erkennen. Ebenfalls hierunter fallen die Länder, bei denen keine Informationen – nach dem im Material und Methodenteil beschriebenen Maßnahmen – gewonnen werden konnten. Definition des Merkmals B: Diese Länder besitzen eine gesetzliche Grundlage für den Rettungsdienst ihres Landes und verfügen des Weiteren über ein arztzentriertes System. Das bedeutet, dass das System grundsätzlich ärztliches Personal im Rettungsdienst direkt operativ am Patienten einsetzt. Definition des Merkmals C: Diese Länder besitzen eine gesetzliche Grundlage für den Rettungsdienst ihres Landes und verfügen des Weiteren über ein reines Paramedic-System. Das bedeutet, dass das System in der Regel ohne operative Beteiligung von Ärzten organisiert ist. Definition des Merkmals D: Diese Länder besitzen eine gesetzliche Grundlage für den Rettungsdienst ihres Landes und verfügen des Weiteren über ein Mischsystem. Das bedeutet,
36
2 ˘ Material und Methoden
dass in diesem System sowohl Ärzte als auch nichtärztliches Rettungsfachpersonal allein operativ am Patienten zum Einsatz kommen. Definition des Merkmals E:
Länder, die unter das Merkmal B-D fallen und in denen eine gesetzlich determinierte Ausbildungsstruktur (d. h. einheitlich gesetzliche Vorgaben) für das nicht-ärztliche Rettungsdienstpersonal zu erkennen ist.
Definition des Merkmals F:
Länder, die unter das Merkmal B-D und E fallen und in denen eine gesetzlich vorgeschriebene Fortbildung und/oder Rezertifizierung für das nichtärztliche Personal stattfindet.
Abhängig von den Qualitätsmerkmalen wurden verschiedene Grade der Relevanz für die Fragestellung entwickelt, nach denen die Länder eingeteilt wurden:
Tab. 5 ˘ Relevanzgrade mit Qualitätsmerkmalen Grad 1 (= hohe Bedeutung für die Fragestellung)
D und eventuell E und/oder F
Grad 2 (= mittlere Bedeutung für die Fragestellung)
C und eventuell E und/oder F
Grad 3 (= niedrige Bedeutung für die Fragestellung)
B und eventuell E und/oder F
Grad 4 (= keine Bedeutung für die Fragestellung)
A
Anhand dieser Gradeinteilung (= Relevanz für unsere Fragestellung) konnte jedes EU-Land einer Kategorie zugeordnet werden (siehe 3.2 bis 3.4). Die Relevanzgrade werden zur besseren Übersicht folgendermaßen schematisch noch einmal dargestellt:
Tab. 6 ˘ Relevanzgrade mit zugehörigen Merkmalen Grad/Merkmal
A
B
C
1 2
*
3 4
*
D
E
F
*
(*)
(*)
(*)
(*)
(*)
(*)
*
(X) = Jedes Land – welches nicht unter Merkmal A fällt – kann fakultativ noch Merkmal E oder F enthalten.
37
3 ˘ Ergebnisse / eigene Untersuchungen
Alle Medikamente dürfen nur laut »Protokoll« gegeben werden. Diese Protokolle stellen eine große Ansammlung von Algorithmen dar. Eine Abweichung von diesen Algorithmen muss dokumentiert und ggf. gegenüber dem Vorgesetzten erläutert werden, sonst drohen arbeitsrechtliche Maßnahmen. Ebenfalls wird durch die zentrale Ausbildung und Prüfung eine permanente Überprüfung seitens der Ärzte sichergestellt. Ärztliche Einbindung in den Rettungsdienst Es gibt kein Notarztsystem in den Niederlanden, es handelt sich um ein Paramedic-System. Ärzte sind lediglich bei Großschadensereignissen, als medizinische Berater, Leiter auf der Leitstelle oder bei besonderen Fällen im Rettungsdienst – in Form eines mobilen Ärzteteams – tätig. Der Ärztliche Leiter als medizinisch Verantwortlicher und Auftraggeber agiert im Hintergrund. Seine Rolle ist durch gesetzliche Rahmenbedingungen festgelegt. Niederländische Ärzte sind insbesondere in Zusammenarbeit mit dem Rettungsdienst und den regionalen Krankenhäusern für die Erstellung von Ablaufplänen/ Protokollen (standing orders) zuständig. Diese Protokolle sind nicht gesetzlich vorgeschrieben, haben sich jedoch als Leitfaden für die Hilfestellung der Ambulance-Pfleger vor Ort sehr bewährt. Einheitliche Ausbildungsvorschriften für ärztliches Personal im Rettungsdienst gibt es nicht.
3.1.15 Österreich Gesetzliche Grundlagen und Organisation des Rettungswesens Im föderal strukturierten Österreich fällt das Rettungswesen als Teil des Gesundheitswesens nach dem Bundesverfassungsgesetz (BV-G Art. 10 Abs. 1 Ziff. 12) in die Gesetzgebungskompetenz der neun Bundesländer. Daher bestehen neun Landesrettungsgesetze. Die einzelnen Bundesländer verpflichten ihrerseits die Gemeinden/Kommunen die rettungsdienstliche Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Die Gesetzgebung und Organisation des Rettungsdienstes erfolgt somit auf Länderebene. Die Ausbildung des nicht-ärztlichen Personals wird auf Bundesebene geregelt. Hier besteht das »Bundesgesetz über Ausbildung, Tätigkeit und Beruf der Sanitäter« (Sanitätergesetz – SanG), welches erstmals die Ausbildung der ehrenamtlichen, zivildienstleistenden und hauptamtlichen Sanitäter regelt. Dieses Gesetz ist ein noch sehr neues Gesetz, welches erst am 01.07.2002 in Kraft getreten ist. Der Gesetzestext wurde gemeinsam von den vier Hilfsorganisationen – Österreichisches Rotes Kreuz, Arbeiter-Samariter-Bund Österreich, Malteser Hospital-
60
3 ˘ Ergebnisse / eigene Untersuchungen
dienst Austria, Johanniter-Unfall-Hilfe Österreich – und dem Österreichischen Bundesheer erarbeitet. Er regelt neben der Ausbildung der Sanitäter auch die Fortbildung und Rezertifizierung. Durch das SanG wird in Österreich erstmals eine originäre Notfallkompetenz per Gesetz für das Rettungsfachpersonal geregelt. Vor Inkrafttreten dieses Gesetzes war die Ausbildung der im Rettungsdienst tätigen Personen nur unzureichend gesetzlich geregelt. Der Rettungs- und Krankentransportdienst wird – mit der Ausnahme der Hauptstadt Wien – von in Österreich tätigen Rettungsdienstorganisationen durchgeführt, die von den Gemeinden mit dieser Aufgabe beauftragt worden sind. Diese schließen mit den Gemeinden vertragliche Vereinbarungen und werden so von den jeweiligen Gemeinden mit der Sicherstellung dieser Aufgabe verpflichtet. Die Rettungsorganisationen bedürfen aufgrund der Rettungsgesetze in den einzelnen Ländern einer Anerkennung. Zu den Aufgaben des Rettungs- und Krankentransportdienstes (RKT) zählen: • • •
die ständige Einsatzbereitschaft, die Leistung Erster Hilfe und der Transport Kranker oder Verletzter sowie die sanitätsdienstliche bzw. notärztliche Versorgung der Patienten.
Ziel jedes Einsatzes ist es, die Transportfähigkeit des Patienten durch Erste Hilfe bzw. notfallmedizinische Maßnahmen herzustellen und ihm schnellstmöglich qualifizierte ärztliche Behandlung in einer Klinik zukommen zu lassen. Nicht-ärztliches Personal und deren Ausbildung Seit dem 01.07.2002 ist in Österreich das SanG in Kraft getreten, welches die Ausbildung des nicht-ärztlichen Personals auf Bundesebene gesetzlich regelt. Dieses Gesetz sieht für das Rettungsfachpersonal eine Stufenausbildung vor, wobei die höchste Qualifikationsstufe insgesamt 1640 Stunden Ausbildung umfasst. Mit steigenden Qualifikationsstufen steigen die definierten Kompetenzen und die Aufgaben des Personals. Das im Rettungsdienst eingesetzte Personal besteht aus zwei verschiedenen Berufsgruppen: Rettungssanitätern (RS) und Notfallsanitätern (NFS). Der Rettungssanitäter stellt den ausreichend qualifizierten Fahrer dar und der Notfallsanitäter den besser qualifizierten Beifahrer. Die Ausbildung erfolgt stufenweise, wobei die Ausbildung zum Rettungssanitäter den Eingang in das modulare Ausbildungssystem darstellt. Die modulare Ausbildung umfasst vier Module:
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CAM P U S Rettungsassistenten sind aktuell nicht befugt, eigenverantwortlich medizinisch zu handeln; dies ist dem Arzt vorbehalten. Über eine Novellierung des Rettungsassistentengesetzes wird auch auf politischer Ebene seit langem diskutiert und gefordert, dass der Rettungsassistent neben der bestehenden Notkompetenz auch eigenverantwortlich im Sinne einer Regelkompetenz handeln solle. Im Rahmen der Überlegungen stellt sich die Frage: Wie sind eigentlich Rettungsdienstsysteme in anderen europäischen Ländern angelegt?
Die Autorin hat die Ausbildungsmodule und den Einsatz des ärztlichen und nicht-ärztlichen Personals EU-weit verglichen. Dazu hat sie ein systematisches Forschungsdesign entwickelt, mit dessen Hilfe das Berufsbild des Rettungsassistenten nach wissenschaftlichen Kriterien entwickelt werden könnte. Das vorliegende Buch richtet sich vor allem an Berufsgruppen im Gesundheitsbereich, an Ämter und Ministerien, die in dieses Thema involviert sind, sowie an Rettungsdienstschulen und Hilfsorganisationen.
V. A. Meyer
Eine Dissertation aus dem Universitätsklinikum für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin Münster, Direktor: Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Hugo Van Aken
Eine mögliche Abgrenzung eines notärztlichen von einem nicht-notärztlichen Rettungseinsatz
V. A. Meyer
Verena A. Meyer
Eine mögliche Abgrenzung eines notärztlichen von einem nicht-notärztlichen Rettungseinsatz
Eine mögliche Abgrenzung eines notärztlichen von einem nicht-notärztlichen Rettungseinsatz und die Formulierung eines wissenschaftlichen Forschungsansatzes als Grundlage für die Ausbildung zum regelkompetenten Rettungsassistenten – auf dem Boden einer EU-weiten Analyse der Rettungsdienstsysteme –
ISBN 978-3-938179-83-3 · www.skverlag.de
Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. med. Thomas P. Weber