Frauensport in Oldenburg

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Gleichwohl gibt es bis in die unmittelbare Gegenwart hinein noch keine

gung, über die Teilhabe von Frauen im Betriebssport, über das Sportan-

geschriebene Geschichte des Oldenburger Frauen- und Mädchensports.

gebot für behinderte Frauen und Mädchen, über Turnen, Spiel und Sport

Der für seine glänzend recherchierten, gut lesbar geschriebenen und

für Migrantinnen, über Frauen im Hochschulsport, über die besonders

vielfach ausgezeichneten sporthistorischen Arbeiten bekannte Oldenbur-

spannende Geschichte der Turn- und Sportkleidung von Frauen und Mäd-

ger Autor Matthias Schachtschneider hat in der nunmehr vorliegenden

chen, über das ehrenamtliche Engagement von Frauen im Oldenburger

Geschichte des Oldenburger Frauen- und Mädchensports, die ihm nach

Sport und über den Frauensport in der Sportberichterstattung. Im zwei-

eigenen Aussagen besonders am Herzen lag, versucht, diesem Mangel

ten Teil des mit 400 Bildern ausgestatteten Werkes wird die Geschichte

abzuhelfen und die Geschichte des Oldenburger Frauen- und Mädchen-

des Frauen- und Mädchensports in einzelnen Sportarten dargestellt. Ein

sports von ihren Anfängen in den 1820er Jahren bis in die unmittelbare

eigenes Kapitel erhalten die Sportarten Turnen, Wandern, Gymnastik,

Gegenwart hinein dargestellt.

Rhönradturnen, Trampolinturnen, Tanzsport, Leichtathletik, Turnspiele,

Die interessierte Leserschaft wird in einem ersten Teil, vorwiegend am

Fußball, Handball, Hockey, Basketball, Volleyball, Tennis, Tischtennis,

Beispiel der Cäcilienschule, etwas lesen können über Gymnastik, Turnen,

Badminton, Squash, Kugelspiele, Schießsport, Radsport, Rollsport, Pfer-

Spiel und Sport der Mädchen an Oldenburgs Schulen vom 19. Jahrhun-

desport, Motorsport, Flugsport, Bootssport, Schwimmsport, Triathlon,

dert bis in die Gegenwart, des Weiteren über Frauen in der Oldenburger

Ringen, Boxen, Fechten, Budosport und Gesundheitssport.

M at t h i a s S c h a c h t s c h n e i d e r

Die Geschichte des Oldenburger Frauen- und Mädchensports ISBN 978-3-00-044919-2

Die Geschichte des Oldenburger Frauen- und Mädchensports

Turnbewegung, über Mädchen und Frauen in der Arbeitersportbewe-

M at t h i a s S c h a c h t s c h n e i d e r

44% aller Mitglieder des organisierten Oldenburger Sports sind weiblich.

M at t h i a s S c h a c h t s c h n e i d e r

Die Geschichte des Oldenburger Frauen- und Mädchensports



Die Geschichte des Oldenburger Frauen- und M盲dchensports Matthias Schachtschneider

B眉rger Verlag GmbH & Co. KG 路 Edewecht 路 2014


Titelfoto Die Frauenturnabteilung des Turnvereins Jahn Oldenburg (heute VfL) vor der Turnhalle der Heiligengeisttorschule mit ihrem Leiter O ­ berturnwart Carl Busch im Jahr 1908 – Bild: VfL

Impressum

Herausgeber: Autor: Matthias Schachtschneider ISBN 978-3-00-044919-2 Gesamtherstellung: Bürger Verlag GmbH & Co KG, Edewecht Edewecht 2014


Die Herausgabe der Oldenburger Frauensportgeschichte ist mit erheblichen Kosten verbunden. Die Oldenburgische Landschaft als Herausgeber und der Autor sind dankbar, dass die Landessparkasse zu Oldenburg, der Stadtsportbund und die DWG Deutsche Wärme GmbH durch finanzielle Unterstützung das Erscheinen der Schrift ermöglicht haben.

Stadtsportbund Oldenburg e.V.

DWG DEUTScHE WÄRME GMBH


Inhaltsverzeichnis

Inhalt Vorwort

9

Die Geschichte des Frauen- und Mädchensports in einzelnen Sportarten

183

Turnen - Vielfalt von Spiel und Bewegung

185

21

Wandern - Gesund und kommunikativ

187

Frauenabteilungen in der Oldenburger Turnbewegung

57

Gymnastik – Sport für Frauen

195

62

Rhönradturnen – Ein Sport mit vielfältigen Möglichkeiten

203

Trampolinturnen – Anspruchsvoll, spannend und faszinierend 206

Gymnastik, Turnen, Spiel und Sport der Mädchen an Oldenburger Schulen vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart 11

Turnen, Spiel und Sport an der Oldenburger Cäcilienschule

Das Beispiel des Oldenburger Turnerbundes

Exkurs: Mädchen- und Frauensport in der nationalsozialistischen Diktatur

79

Tanzsport – Vom Kulttanz zum Leistungssport

208

Die Einrichtung von Frauenabteilungen in den übrigen Oldenburger Turn- und Sportvereinen

95

Leichtathletik – Von den volkstümlichen Übungen zur technisch perfektionierten Individualsportart

215

Die Turnspiele – Schlagball, Schleuderball, Trommelball, Korbball, Tamburinball,Faustball und Prellball

232

Die Gründung von Mädchenabteilungen

102

Mädchen- und Frauenabteilungen in der Arbeitersportbewegung

111

Frauen- und Mädchenfußball – Oldenburg als Vorbild

242

Die Teilhabe von Frauen im Betriebssport

117

Handball – Vom Experiment zum Spitzensport

252

Vielfältiges Sportangebot für behinderte Frauen und Mädchen

119

Hockey – Der schwierige Weg von Pionieren und Idealisten 275

Turnen, Spiel und Sport für Migrantinnen

121

Basketball – Oldenburger Erfolgsgeschichte

283

Frauen im Oldenburger Hochschulsport

123

Volleyball – Zwischen Spaß und Wettkampf

288

Die Turn- und Sportkleidung der Mädchen und Frauen

131

Tennis – Vom Zeitvertreib für die höfische Gesellschaft zum Volkssport

290

Das ehrenamtliche Engagement von Frauen im Oldenburger Sport

147

Tischtennis – Populärer Freizeit- und Breitensport

299

Frauensport in der Sportberichterstattung

170

Badminton – Vom Federballspiel zum Leistungssport

303

7


8

Inhaltsverzeichnis

Squash – Artistik im Schwitzkasten

307

Kugelspiele – Kegeln, Bowling, Boßeln, Pétanque, Billard, Golf

308

315

Schießsport – Die Schützen und das „schöne Geschlecht“

Radsport – Radlerinnen als Vorboten einer allgemeinen Emanzipation

319

Rollsport – Vom Rollschuhsport der „besseren“ Gesellschaft zum Inline-Skating als Massenbewegung

329

Pferdesport – Weiblich und der Tradition verbunden

333

Motorsport – Immer noch eine Männerdomäne

336

Flugsport – Ein Sport auch für Frauen

339

Bootssport – Ruderer, Segler, Kanuten

341

Schwimmsport – Oldenburger Frauenpower

351

Triathlon – Ausdauersport für Männer und Frauen

357

Ringen – Randsportart in ehemaliger Ringerhochburg

359

Boxen – Zwei Frauen durchbrechen männliches Rollendenken

361

Fechten – Von der Zweckübung in der Militärschule zum Sportfechten

364

Budosport – Kampfsport, Kampfkunst und Selbstverteidigung

367

375

Gesundheitssport – Angebote und Ziele

Der Autor

379

Literaturverzeichnis

380

Bildnachweis

391


Vorwort

Vorwort Die Absicht, Gymnastik, Turnen und Sport nicht den Männern als gleichsam „angeborenes“ Privileg zu überlassen, sondern für Mädchen und Frauen ebenso intensiv zu fördern wie für Jungen und Männer, geht in Oldenburg bis auf das Jahr 1820 zurück. Ja, Gymnastik und Turnen als Bestandteile der Sozialisation der Gesellschaft sind in Oldenburg anders als anderswo zuerst für Mädchen propagiert und auch praktiziert worden. In Oldenburg hat nämlich Johannes Ramsauer (1780-1848), ein Schüler, Mitarbeiter und Freund des Schweizer Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi, schon in den 1820er Jahren mit systematischen Übungen in der Gymnastik für Mädchen begonnen. Obwohl mittlerweile 44% aller Mitglieder des organisierten Oldenburger Sports weiblich sind, gibt es bis in die unmittelbare Gegenwart hinein bis auf einen exzellenten Aufsatz von Gertrud Pfister, der wohl besten Kennerin des Frauensports, in dem 1995 erschienenen Sammelband „Oldenburgerinnen“ („Turnriegen, Tischspringen, Turmballspielen. Die Anfänge des Turnens, Spielens und Sports“) und einem Beitrag des Verfassers in seiner 2006 vorgelegten „Oldenburger Sportgeschichte“ („Turnen für Mädchen und

Frauen“) noch keine umfassende Geschichte des Oldenburger Frauensports. Im Folgenden wird nun versucht, diesem Mangel abzuhelfen und die Geschichte des Oldenburger Frauen- und Mädchensports von ihren Anfängen bis in die Gegenwart hinein darzustellen. Dabei muss die Geschichte von Turnen, Gymnastik, Spiel und Sport der weiblichen Bevölkerung Oldenburgs immer im Lichte der jeweils herrschenden politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Verhältnisse gesehen und veranschaulicht werden. Besonders zu berücksichtigen ist darüber hinaus sowohl bei der Analyse als auch bei der Bewertung der Entwicklung des Mädchen- und Frauensports die jeweilige soziale Lage der Frau in der von Männern beherrschten Gesellschaft. Bei der Sichtung aller Materialien, also der Zeitungen, Zeitschriften, Festschriften, Vereinsmitteilungen, Programme, Protokolle, Lehrpläne, Jahresberichte, Verfügungen, Reden etc. war und ist zu bedenken, dass nahezu alle Informationen über den Mädchen- und Frauensport der Vergangenheit von Männern verfasst worden sind, die gewissermaßen ein Deutungsmonopol über die jeweiligen Zustände hatten und selbstredend auch „wussten“, was für

Frauen und Mädchen gut bzw. schädlich sei. Authentische weibliche Stimmen über Nutzen und Nachteil der für sie geeigneten bzw. von ihnen angestrebten Formen der Bewegungskultur sind bis in die nahe Vergangenheit hinein äußerst selten. Erst in den 1970er Jahren setzte durch die neue Frauenforschung ein Umdenken ein. Die Darstellung ist thematisch strukturiert und setzt Schwerpunkte. Die interessierte Leserschaft wird in einem ersten Teil etwas lesen können über Gymnastik, Turnen, Spiel und Sport der Mädchen an Oldenburgs Schulen vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, über Frauen in der Oldenburger Turnbewegung, über Mädchen und Frauen in der Arbeitersportbewegung, über die Teilhabe von Frauen im Betriebssport, über das Sportangebot für behinderte Frauen und Mädchen, über Turnen, Spiel und Sport für Migrantinnen, über Frauen im Hochschulsport, über die Geschichte der Turn- und Sportkleidung von Frauen und Mädchen, über das ehrenamtliche Engagement von Frauen im Oldenburger Sport und über den Frauensport in der Sportberichterstattung. Im zweiten Teil wird die Geschichte des Frauenund Mädchensports in den einzelnen Sportarten dargestellt.

Diese erste umfassende Geschichte des Mädchen- und Frauensports ist ganz wesentlich durch die Oldenburgische Landschaft gefördert worden, die dankenswerter Weise nicht nur die Herausgabe übernommen hat, sondern sich auch mit einem namhaften Zuschuss an den Herstellungskosten beteiligt hat. Sehr zu danken hat der Verfasser darüber hinaus der Landessparkasse zu Oldenburg, der DWG Deutsche Wärme GmbH und dem Stadtsportbund, die ihrerseits durch finanzielle Zuschüsse den Druck des Werkes bedeutend gefördert haben. Ein besonderer persönlicher Dank gilt Monika Reckemeyer vom Stadtsportbund Oldenburg. Sie hat sich ebenso unermüdlich wie leidenschaftlich dafür eingesetzt, dass die Finanzierung dieser Frauensportgeschichte überhaupt möglich wurde. Schließlich hat der Verfasser Frank Lemkemeyer vom Bürger Verlag herzlich zu danken. Frank Lemkemeyer hat wie bei vielen Projekten zuvor auch diesmal mit seiner ihm eigenen hohen Sach- und Fachkompetenz sowie großer Geduld die Herstellung dieses Buches besorgt. Oldenburg, im Januar 2014 Matthias Schachtschneider

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Gymnastik, Turnen, Spiel und Sport der Mädchen an Oldenburger Schulen vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart

Turnen, Spiel und Sport an der ­Oldenburger Cäcilienschule

Einzig an der neuen städtischen Cäcilienschule, die bei ihrer Gründung 1867 von Anfang an Turnen als „ein notwendiges, allgemeines Erziehungsmittel“ in ihren Unterrichtsplan aufgenommen hatte, hat Turnen eine bis in die Gegenwart andauernde erfolgreiche Entwicklung erfahren, vielfach in engstem Kontakt zum Oldenburger Turnerbund. Die städtische Cäcilienschule, 1848 erstmals, allerdings ergebnislos, von Magistrat und Stadtrat auf Initiative des Stadtdirektors Wöbcken beim Großherzoglichen Konsistorium beantragt, nach weiteren erfolglosen Anträgen 1859 und 1860 schließlich im Dezember 1865 beschlossen, vom Juli 1866 bis zum Mai 1867 erbaut, ist am 6. Mai 1867 eröffnet worden. Erster Rektor war der am 20. April 1866 berufene Karl Wöbcken, Sohn des äußerst tatkräftigen und erfolgreichen Stadtdirektors Johann Heinrich Karl Wöbcken, eines im Übrigen engagierten Förderers des Turnens in Oldenburg. Rektor Karl Wöbcken hat von Anfang an größten Wert darauf gelegt, dass Turnen in das Unterrichtsprogramm der neu gegründe-

ten Schule aufgenommen wird, und zwar als verbindliches Unterrichtsfach. Eine Studienreise des desig­ nierten Rektors an bedeutende Mädchenschulen Deutschlands führte ihn 1866 auch nach Leipzig, der „Hauptstadt“ in der Entwicklung des Turnens. Der Aufenthalt in Leipzig gab ihm besonderen Einblick in das Mädchenturnen, das sich dort unter der Leitung J.C. Lions, eines turnhistorisch namhaften Förderers des Schulturnens, besonders gut entwickelt hatte. In der Schrift „Die städtische Cäcilienschule in 25 Jahren des Lehrens und Lernens“, Oldenburg 1892, einem sehr lesenswerten Bericht über die Anfänge der Cäcilienschule, hebt Wöbcken die Leistungen im Turnunterricht besonders hervor. Wörtlich schreibt er: Den Lehrern in diesem Fache bleibt das Verdienst, ohne persönliche Erfahrung auf dem Gebiete des Mädchenturnens, sich mit großer Hingabe in dasselbe hineingelebt zu haben. Der Turnunterricht an der Cäcilienschule verpflichtete die Schülerinnen der beteiligten Klassen von Anfang an zur Teilnahme. Im ersten Jahre turnten die Klassen V-II in 2 Abteilungen;

Lehrkräfte der Cäcilienschule im Jahr 1892: Fräulein Grovermann, Direktor Wöbcken, Fräulein Hullmann und Herr Barelmann – Bild: 125 Jahre Cäcilienschule, Oldenburg 1992, S. 32

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Gymnastik, Turnen, Spiel und Sport der Mädchen an Oldenburger Schulen vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart

Die Cäcilienschule am Theaterwall – Bild: Nachrichten für Stadt und Land vom 15. April 1936

1869/71 VII-III in 4 Abteilungen; von 1871/79 VII-III in 5 Abteilungen; von 1879/85 Vorklasse I-III in 6 Abteilungen; von Ostern 1885 an wurde der Turnunterricht durch alle zehn Klassen durchgeführt; nur die beiden obersten Klassen bildeten eine Abteilung. Der Unterricht ist jetzt fast ganz in weibliche Hände gelegt. Die Schule hat bei diesem Unterricht von je nicht nur Kraft, Gewandtheit und Sicherheit erstrebt, sondern auch Anmut und edle Sitte. In einem Brief „an die wohllöbliche Schulcommission“ vom 14. Februar 1871 (StA 262 – 1 A Nr. 1204), in dem Wöbcken für den Lehrer Bücking um die Genehmigung einer „Instructionsreise“ nach Leipzig und Dresden bittet, damit dieser das Turnwesen dort studiere, bekennt sich Wöbcken mit folgenden Worten zum Mädchenturnen: Sage man

Die Cäcilienschule am Haarenufer – Bild: Nachrichten für Stadt und Land vom 15. April 1936

nicht: Es kommt bei Mädchen wenig darauf an, ob sie etwas besser oder schlechter turnen lernen. Wir erziehen in der weiblichen Jugend eine künftige Generation und wünschen, dass dieselbe einst ebenso rüstig und tüchtig werde wie das gegenwärtige Geschlecht, um neue Gefahren dereinst gleicherweise von dem bedrohten Vaterlande abwehren zu können. Da liegt es nahe genug, wie wichtig es ist, dass auch die weibliche Jugend an Seele und Leib gekräftigt werde. Auf Grund dieser offensichtlich unter dem Eindruck des DeutschFranzösischen Krieges 1870/71 verfassten Eingabe wurde dem Lehrer Martin Friedrich Bücking die Summe von 60 Talern für die Reise nach Leipzig bewilligt. Bücking (18381905), Lehrer in Religion, Rechnen, Deutsch, Naturkunde, Geographie,

Die Cäcilienschule 1992 – Bild: Cäcilienschule

Schreiben und Turnen, 1857 Lehrer in Tossens, 1859 in Langwarden, ebenfalls noch 1859 an der Knabenvolksschule in Oldenburg, 1867 bis 1890 an der Cäcilienschule, 1890 bis zu seiner Pensionierung 1899 Leiter der Volksmädchenschule in Oldenburg, sprach den löblichen städtischen Behörden für die freundliche Bewilligung der Mittel für die Reise aufrichtigen Dank aus und verfasste unter dem 2. Februar 1872 einen 30seitigen Bericht mit dem Titel „Ein Wort über den Turnunterricht der Cäcilienschule nebst Bericht über eine Turnreise nach Leipzig und Dresden“. Diese Darstellung, erschienen 1872 im „4. Bericht über die Cäcilienschule zu Oldenburg“, ist eine Quelle ersten Ranges über die Anfänge des Mädchenturnens an der Cäcilienschule. Bücking stellt u. a. fest:

Für die Stadt Oldenburg war die Einführung des Turnens, als eines zur Theilnahme verpflichtenden Lehrfachs einer öffentlichen Töchterschule, im wesentlichen etwas durchaus Neues. Für manche Eltern war der Gegenstand nicht nur neu, sondern seinem Wesen und seiner Weise nach auch ganz unbekannt. Bis dahin war das Mädchenturnen nur für die beiden obersten Classen (eine Turnabtheilung) der Stadtmädchenschule obligatorischer Unterrichtsgegenstand; die Karstensche Privatschule freilich hatte für mehrere Classen das Turnen aufgenommen, die Lasiussche Schule war damit über einen bloßen Versuch wohl nicht weit hinausgekommen, die Krusesche Schule hat unsers Wissens nie Turnunterricht ertheilen lassen; ebensowenig haben bis jetzt (was vielleicht am meisten zu beklagen ist)


Gymnastik, Turnen, Spiel und Sport der Mädchen an Oldenburger Schulen vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart

die Mädchen der Heiligengeistschule und die der Volksschule geturnt. Mit ziemlicher Gewißheit ließ sich annehmen, daß aus dieser Unbekanntschaft des betreffenden Lehrobjects der Schule manches Hindernis in der Entwicklung der Sache erwachsen würde, und diese Annahme hat sich auch zum Theil bestätigt; gab es doch ängstliche Mütter, die ihre Töchter von vornherein vom Turnen wollten dispensiert haben, weil sie schon wild genug seien. Vor einigen zwanzig Jahren muß es hinsichtlich der Bekanntschaft mit dem Turnen in den Kreisen unserer städtischen Bevölkerung aber schon besser bestellt gewesen sein (S. 4).

Ziele des Turnens für Mädchen Über die Ziele des Turnens für Mädchen äußert sich ­Bücking wie folgt: Das Turnen aber will und kann erziehlich im allgemeinen sein, es will und kann mehr sein als bloßes Correctiv einer Erziehung, die die rechte Bahn verfehlt hat; es kann und muß für die richtige und naturgemäße Erziehung eins ihrer Hauptmittel sein, durch welche sie ihrem Erziehungsideale sich näher arbeitet. Freilich wäre wohl nichts zu nennen, was so geeignet wäre, der Zerrissenheit, der Unsicherheit, der Genußsucht und den krankhaften Ansprüchen einer verwöhnten Jugend mit Erfolg

zu begegnen, als das Turnen, denn dies will und soll nicht nur körperliche Gewandtheit, sondern vor allen Dingen Zucht und Ordnung begründen und sichern. [...] Darum kann und muß auch die rechte Erziehung des Leibes zugleich eine Schule für den Geist sein. [...] Für Knaben und Mädchen soll, wenn die Schule die Pflege der körperlichen Entwicklung in die Hand nimmt, hinsichtlich des Warums kein Unterschied sein; es kann der treibende Grund nur ein allgemein erziehlicher sein. Damit fällt aber noch nicht zusammen, daß das Was und das Wie keinen wesentlichen Unterschied zuließe oder einen solchen nicht ausdrücklich bedingte. Die Eigenartigkeit des Mädchenturnens, seinem Wesen und seiner Weise nach, kann hier nicht dargelegt werden; der geneigte Leser wird sie aus vielen kleinen Zügen des berichtenden Theils dieser Arbeit wohl hervorschimmern sehen. Die Schule kann es aber nicht klar genug aussprechen, daß sie das Turnen auffaßt als ein reines Erziehungsmittel, das nicht ihrem allgemeinen Erziehungsplan als ein apartes Ding angehängt sein will, sondern daß sie es auffaßt und aufgefaßt haben möchte, als einen kräftigen Factor, der das allgemeine Erziehungsideal der Schule kräftigst mit erstreben hilft. [...] Auch wir dürfen einzelne Zwecke und Wünsche des Turnens nicht weiter verfolgen; im Gegenteil

wollen wir den Gesammtzweck noch einmal concentrieren in dem Satze: Die Jugend soll mit durch das Turnen geschickt werden, ihre ganze irdische Bestimmung sicherer erreichen zu können (S. 12 bis 16, Auszüge). Bücking resümiert Seite 16: Als bei Eröffnung der Cäcilienschule, vor 5 Jahren, der Berichterstatter mit der Leitung des Turnens an dieser Anstalt betraut wurde, geschah dies nicht etwa in der Vor­aussetzung, als hätte derselbe für das Turnen von vornherein eine besondere Befähigung aufzuweisen gehabt, sondern einfach aus dem Grunde, weil sich zufällig fürs Turnen kein Geeigneterer im damaligen Lehrerpersonal der Anstalt fand. Ich übernahm dieses Lehrfach, das mir im wesentlichen neu, wenn auch nicht gänzlich unbekannt war, dennoch gern, weil ich schon damals von der hohen Bedeutung des Mädchenturnens überzeugt war und weil ich hoffte, „Lust und Liebe zum Dinge“ würden mir über alle Schwierigkeiten hinweghelfen. War doch der Zweck des Turnens, wie die Schule ihn damals in ihrem Lehrplan mit folgenden Worten fixierte, meines Erachtens wohl der redlichsten Anstrengung werth. Der Turnunterricht soll ein Gegengewicht bilden gegen äußere und innere Schwerfälligkeit und Langsamkeit. Wie bei anderm Unterricht von innen nach außen, so soll hier von außen nach innen, von der kör-

perlichen Seite her, Zerfahrenheit, Launenhaftigkeit und Flatterhaftigkeit bekämpft, Geistesgegenwart und Raschheit in der Auffassung und Ausführung des Gebotenen gefördert werden. In den Uebungen soll, in steter Unterordnung des Einzelnen unter das gemeinsame Thun der ganzen Abteilung, nicht so sehr auf Körperstärke hingearbeitet werden als vielmehr auf freie, wohlgefällige Haltung des Körpers in mannigfaltigsten Bewegungen.

Freunde und Gönner in der Bevölkerung Voller Genugtuung bemerkt Bücking am Schluss seines Berichtes, daß sämmtliche Lehrer und Lehrerinnen der Anstalt das Turnen als ein unentbehrliches Erziehungsmittel schätzen gelernt haben (S. 17), dass „die Sache“ in der Bevölkerung mehr und mehr Freunde und Gönner gewonnen hat und in der ganzen Zahl der Aerzte wohl kein einziger zu nennen wäre, der nicht dem Turnen hold wäre und ihm nicht nach Kräften direct und indirect allen möglichen Vorschub leiste (S. 26). Als einen großen Beweis des Vertrauens zu der Sache gilt Bücking ferner die Herstellung und Ausrüstung unsers großen schönen Turnsaals [Cäcilienstraße, heute Probenraum des Staatstheaters] und die Bereitwilligkeit überhaupt, mit welcher die städtischen

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Gymnastik, Turnen, Spiel und Sport der Mädchen an Oldenburger Schulen vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart

Behörden stets alle Geldmittel für das Turnen gewährten (S. 26). Diese positive Einstellung ist nach Bücking auch auf „die frische, fröhliche Entwicklung“ des „Oldenburger Turnerbundes“ zurückzuführen, der es in Wahrheit versteht, zum Segen der reifern Jugend zu wirken und durch die Früchte seines reinen edlen Strebens von Jahr zu Jahr mehr begeisterte Freunde zu gewinnen. Die neue Cäcilienschule besuchten Mädchen vom 6. bis zum 16. Lebensjahr in zehn Klassen, und zwar eine Unterstufe, auch Vorstufe genannt, mit den Klassen IX, VIII, VII, einer Mittelstufe mit den Klassen VI, V, IV sowie einer Oberstufe mit den Klassen III, II und I. Die Klasse II war in eine Unter-II und eine Ober-II unterteilt. Der Start des Turnunterrichts erfolgte im Schuljahr 1867/68 zunächst in zwei Abteilungen. In einer Abteilung turnten 50 bis 60 Schülerinnen im Alter von 12 bis 15 Jahren (Klassen III und II), in der anderen Abteilung 60 bis 70 Schülerinnen im Alter von 10 bis 12 Jahren (Klassen V und IV). Schon im Schuljahr 1868/69 wurde das Turnen auf die Klasse VII ausgedehnt. Vom Schuljahr 1869/70 an turnten die Schülerinnen in vier Abteilungen (VII. Klasse; VI. und V. Klasse; IV. Klasse; III. und II. Klasse). Alle Abteilungen hatten wöchentlich zwei Turnstunden, eine vormittags und eine nach-

mittags. Für die Klasse II, also die 15-jährigen Schülerinnen, war der Turnunterricht zunächst „zwanglos“, also freiwillig. Für Schülerinnen der Klasse I wurde Turnunterricht erst seit Mitte der 1880er Jahre angeboten. Seit Ostern 1885 wurde in allen zehn Schuljahren, also auch in den drei Klassen der Vorschule (V 3, V 2, V 1) Turnunterricht erteilt, und zwar wöchentlich zwei Stunden. Der Turnunterricht fand in der 1867 errichteten, 163 m² kleinen Turnhalle am Theaterwall statt. Sie diente der Schule zugleich als Aula. Die nach der Turnhalle an der Peterstraße, errichtet 1863, zweitälteste Turnhalle in der Stadt Oldenburg, ist bis 1968 als Turnhalle genutzt worden. Am 23. Januar 1969 ist das unter Denkmalschutz stehende Gebäude am Theaterwall an das Land Niedersachsen verkauft worden. Heute ist die ehemalige Cäcilienschule, die von 1925 bis 1933 auch Helene-Lange-Schule hieß, Probenhaus des Oldenburgischen Staatstheaters. Die Halle, die wegen ihrer geringen Größe gegenwärtig als Gymnastikraum klassifiziert würde, wies allerdings einige Besonderheiten auf, die für den Unterricht nicht eben förderlich waren. Erstens lag sie, ungewöhnlich für eine Turnhalle, im oberen Stockwerk des Schulgebäudes. Zweitens befand sich in der Mitte des Raumes ein Stützpfeiler, der insbesondere die Möglichkeiten von Frei- und Ord-

nungsübungen sowie Übungen mit Handgeräten erheblich einschränkte. Als äußerst problematisch erwies sich drittens, dass der Raum nicht nur für das Turnen, sondern auch für den Gesangsunterricht und als Aula für Schulveranstaltungen genutzt wurde. Schon 1885 ist im 17. Bericht der Cäcilienschule zu lesen: Will die Stadt den Forderungen der Gesundheitspflege nachkommen, so tritt immer entschiedener das Bedürfnis nach einer besonderen Turnhalle für die Cäcilienschule hervor. Erhebliche Kritik an den äußeren Rahmenbedingungen des Turnunterrichts äußerte anlässlich der Generalvisitation im November 1904 auch das Evangelische Oberschulkollegium als die für die Schulen zuständige Aufsichtsbehörde. In dem vom Geheimen Schulrat Dr. Menge unterzeichneten Bericht vom 19. November 1904 ist unter anderem zu lesen, dass der Gesangunterricht in einem Raume erteilt wird, der sonst zum Turnen dient. Um den Staub zu meiden, der für die Sänger bedenklich ist, hat man die Turnhalle mit dem sonst trefflichen Stauböl eingerieben. Davon ist nun die Folge, daß wegen der Glätte und der dadurch hervorgerufenen Gefahr die für Mädchen so schon beschränkten Geräteübungen noch weiter vermindert worden sind. […] Daß der mit Turngeräten und Schränken ausgestattete Raum nun obendrein auch noch als Festraum dienen

muß, ist mit einer höheren Schule wenig verträglich. Weiter heißt es: Die Turngeräte sind größtenteils in zu geringer Anzahl vorhanden, so daß die Kinder während der Turnstunde nicht genügend beschäftigt werden können, sondern untätig herumsitzen. Ein für kleinere Mädchen passender Barren ist überhaupt nicht vorhanden, sondern nur 2 solche mit weit voneinander stehenden Holmen. Ein Reck habe ich nicht gesehen. Die Form der Turnleiter ist unzweckmäßig, auch fehlt ein Gestell, um sie schräg zu legen. Die Turnhalle muß möglichst bald wieder entölt werden, damit ordentlich geturnt werden kann. (Stadtarchiv Best. 262,1 – Nr. 4680) Obwohl einige der angezeigten Mängel von der Stadt behoben worden waren, wird nur fünf Jahre später im 41. Bericht über die Cäcilienschule, erschienen 1909, der Zustand der Turnhalle erneut beklagt. Wörtlich heißt es: Der Gesangunterricht muß sich mit dem Turnunterricht in einen Raum teilen. Zu welchen Unzuträglichkeiten das führen muß, wird erst klar werden, wenn man bedenkt, dass dieser Raum zu gleicher Zeit als Aula bei den Morgenandachten und Schulfeierlichkeiten benutzt werden muß und so für keinen der drei ­Zwecke, denen er dient, entsprechend ausgestattet sein kann, abgesehen davon, dass er sowohl als Turnsaal wie als Aula bei seiner der


Gymnastik, Turnen, Spiel und Sport der Mädchen an Oldenburger Schulen vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart

Schülerzahl durchaus nicht entsprechenden Größe zu den allerlästigsten Beschränkungen des Turnunterrichts und der gemeinsamen Feiern zwingt. Trotzdem er von 8 – 1 Uhr besetzt ist, wobei nicht zu vermeiden ist, dass einer Singstunde etwa 3 Turnstunden voraufgehen – gewiß auch in gesundheitlicher Beziehung kein wünschenswerter Zustand – hat ein Teil des Singunterrichts in die Klassenräume und ein Teil des Turnunterrichts in die von der Stadt zu diesem Zwecke gemietete große Turnhalle am Haarenufer verlegt werden müssen. Gegenüber diesem Notstand, gegen den es auch im nächsten Schuljahre keine Abhilfe gibt, begrüßt es die Schule mit Freuden, dass die von den Behörden beabsichtigte Errichtung einer Vorschule für beide Geschlechter uns die Aussicht auf eine Besserung, wenn auch nicht völlige Beseitigung der in dem Raummangel begründeten Unzulänglichkeiten eröffnet. Die durch die räumliche Enge bedingten Erschwernisse des Turnunterrichts wurden noch dadurch verstärkt, dass insbesondere in den unteren Klassen gelegentlich Parallelklassen im Turnunterricht zusammengelegt werden mussten, so dass Turnabteilungen von bis zu 60 Schülerinnen gebildet wurden – für einen Turnunterricht in einem Raum, der kaum 120 qm umfasste, wenn man bedenkt, dass sämtliche Geräte an den Wänden

standen, weil die heute selbstverständlichen Geräteräume noch nicht vorhanden waren. Eine spürbare Minderung der beklagten Unzulänglichkeiten trat mit der Trennung der drei Vorklassen von der Cäcilienschule und der Bildung einer selbstständigen Vorschule für das gesamte höhere Schulwesen der Stadt und der damit verbundenen Errichtung eines eigenen neu erbauten Schulgebäudes am Haarenufer ein. Zum Gebäudekomplex der Vorschule gehörte auch die bis in die Gegenwart hinein von der Cäcilienschule genutzte 1910 errichtete 242 qm große Turnhalle. In den Sommermonaten fand der Turnunterricht vielfach auf dem 2.100 qm großen mit Turnund Spielgeräten hinreichend ausgestatteten Spielplatz der Schule statt. Verglichen mit heutigen, für den Turnunterricht geeigneten Freianlagen war der Turn- und Spielplatz der frühen Cäcilienschule allerdings dem einen großen Ziel des Turnunterrichts, nämlich der Förderung der Gesundheit, alles andere als zuträglich. Am 19. August 1879 gaben die „Nachrichten für Stadt und Land“ der Klage von Schülerinnen der Cäcilienschule über ihren Spielplatz Raum. Von Schülerinnen der Cäcilienschule, hieß es, wird geklagt, dass ihr Spielplatz jetzt so sandig und staubig sei und dass sich dieser Staub oft in unerträglichem Maße durch Thüren und Fenster in die Räume des Schul-

hauses fortsetze. – Man hat dort nämlich den ganzen Platz, weil er zu niedrig und zu naß war, mit Erde, Sand und Schlacken aufgefahren, und zwar so, dass der Sand oben aufliegt. Derselbe ist ganz fein und wird daher bei trockenem Wetter von jedem Winde und beim Gehen und Laufen der Kinder in ganzen Wolken in die Luft gewirbelt. Es ist vielleicht übersehen worden, wie höchst nachtheilig und gefährlich , wie mineralischer Staub überhaupt, für die Gesundheit, speziell für die Gesundheit der Respirationsorgane ist. […] Sollte es also nicht möglich und wohlgethan sein, dass durch irgendein Mittel, vielleicht durch eine Schicht grobkörnigen Sandes oder brockiger Schlacken der knöcheltiefe Sand auf dem Spielplatze unserer Mädchen festgelegt würde? Sollte es nicht möglich sein, den Spielplätzen eine Oberfläche und Beschaffenheit zu geben, wie sie z B. die Wege im Schloßgarten haben? Soviel aber ist gewiß, die Sorge für die Gesundheit unserer Kinder erfordert, dass dem Uebelstande baldmöglichst abgeholfen werde. Die für den Turnunterricht vor dem Ersten Weltkrieg angeschafften Geräte sind ein Beleg dafür, dass neben den Gang-, Lauf- und Hüpfübungen sowie den Frei- und Ordnungsübungen dem Gerätturnen ein hoher Stellenwert zukam. Angeschafft wurden für die Turnhalle und

den Spielplatz u. a. je zwei Recke und Barren, ein Streckschaukelgerüst mit drei Streckschaukeln, ein Klettergerüst, ein Rundlauf, je eine waagerechte Leiter für die Turnhalle und den Spielplatz, zwei Balanciergestelle, ein Schwebebaum, ein Doppelsturmlaufbock, ein Springgestell mit Sprungbrett für den Spielplatz, 50 Weidenstäbe, 12 Rohrstäbe, 12 Eschenstäbe, 30 Eisenstäbe, 18 Reife aus Rohr und 45 Hanteln. Diese Geräte reichten zwar in der Menge nur bedingt aus, ermöglichten aber die Durchführung des in den Stoffverteilungsplänen vorgesehenen und in diversen Leitfäden beschriebenen Turnunterrichts für Mädchen. Durchaus auf der Höhe der Zeit befand sich die schon 1868 eingerichtete Bibliothek mit einschlägigen Lehrbüchern für den Turnunterricht. Nahezu alle maßgebenden zeitgenössischen Turnpädagogen waren mit Turnbüchern vertreten, u. a. Adolf Spieß (Turnbuch für Schulen, Kleine Schriften über Turnen), Moritz Kloß (Die weibliche Turnkunst) , Karl Waßmannsdorf (Ordnungsübungen des Schulturnens), Justus Carl Lion (Bemerkungen über den Turnunterricht in Mädchenschulen), Wilhelm Jenny (Buch der Reigen, Schwungseilübungen) und August Hermann (Zwanzig Reigen für das Schulturnen). Die ersten Schülerinnen der 1867 eröffneten neuen Cäcilienschule hatten nicht nur das Glück und vielleicht

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Gymnastik, Turnen, Spiel und Sport der Mädchen an Oldenburger Schulen vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart

Freiübungen für Mädchen – Aus: Leitfaden für das Mädchenturnen in den preußischen Schulen, Berlin 1913


Gymnastik, Turnen, Spiel und Sport der Mädchen an Oldenburger Schulen vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart

Geräteübungen für Mädchen – Aus: Leitfaden für das Mädchenturnen in den preußischen Schulen, Berlin 1913

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auch das Vergnügen, zumindest aber, historisch betrachtet, das Privileg, vom ersten Tag ihrer Schullaufbahn an auf der Stundentafel das Fach „Turnen“ zu sehen, zweimal wöchentlich – sowohl im Großherzogtum Oldenburg als auch im Vergleich mit anderen deutschen Staaten ein bemerkenswerter Fortschritt. Noch in der 1904 erhobenen, 1908 veröffentlichten „Zweiten Statistik des Schulturnens in Deutschland“, herausgegeben von Carl Rossow, ist die Cäcilienschule die einzige Mädchenschule im Großherzogtum Oldenburg, die in allen zehn Klassen obligatorischen Turnunterricht hat. Ein gesellschaftlicher Fortschritt war es auch, dass die Schülerinnen nicht nur von männlichen Lehrern in die Grundzüge des Turnens eingeführt wurden, sondern auch von Frauen. Das war insofern bemerkenswert, als sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts in der veröffentlichten Meinung nahezu ausschließlich Männer – vorwiegend Lehrer und Ärzte – zu Wort meldeten, wenn es um das Turnen von Mädchen und Frauen ging. In der Cäcilienschule, geleitet von dem für Reformen in der Mädchenbildung höchst aufgeschlossenen Rektor Karl Wöbcken, kamen von Anfang an neben den Lehrern, den „Herren“ Bücking und Barelmann, auch die Lehrerinnen „Fräulein“ Grovermann und „Fräulein“ von Cölln im Turnunterricht zum Einsatz. An dieser

Stelle sei darauf hingewiesen, dass es Lehrerinnen untersagt war zu heiraten, daher die Bezeichnung „Fräulein“ auch für betagtere Lehrerinnen. Nichtbeachtung hatte eine Kündigung zur Folge. Dieses so genannte „Lehrerinnenzölibat“ ist zwar 1919 auf Antrag der SPD abgeschafft , jedoch 1923 aus arbeitsmarktpolitischen Gründen durch die „Personalabbauverordnung“ wieder eingeführt worden. Diese Verordnung erlaubte die Entlassung verheirateter Beamtinnen, um in wirtschaftlich schwierigen Zeiten Stellen für die Männer zu sichern. Die Personalabbauverordnung galt in der Bundesrepublik bis 1951. Erst seit dieser Zeit konnten Lehrerinnen eine Familie gründen und gleichzeitig in ihrem Lehrerinnenberuf tätig sein (vgl. Wikipedia, Lehrerinnenzölibat). Anzumerken ist darüber hinaus, dass auch der soziale Status der Lehrkräfte, die den Turnunterricht erteilten, sehr heterogen war. Der soziale Rang hing vom Bildungsweg ab, den der Lehrer/die Lehrerin durchlaufen hatte. Den obersten Rang nahmen die akademisch gebildeten Lehrer ein, diejenigen also, die ein Universitätsstudium absolviert hatten. Lehrerinnen konnten bis etwa zum Ersten Weltkrieg deshalb nicht zu der ersten Kategorie gehören, weil in Preußen, das für Oldenburg Vorbildfunktion hatte, Frauen erst ab 1908 zu einem wissenschaftlichen Studium zugelassen wurden. Die

zweite Gruppe bildeten die seminaristisch gebildeten Lehrer und Lehrerinnen. Die Mehrzahl der männlichen Lehrer war im Großherzoglichen Lehrerseminar in Oldenburg ausgebildet worden. An dritter Stelle rangierten die Fachlehrer, die später auch als technische Lehrer bzw. Lehrerinnen bezeichnet wurden. Zu dieser Kategorie gehörten vornehmlich Zeichenlehrer/innen, Gesangslehrer/innen, Turnlehrer/innen und Handarbeitslehrerinnen. Schließlich gab es noch „Nicht-Lehrer“, Turner/innen oder ehemalige Militärs, die Turnunterricht erteilten. Der soziale Status der Lehrer/innen wirkte sich vor allem im Diensteinkommen aus. Am Beispiel des jährlichen Diensteinkommens der städtischen Lehrer und Lehrerinnen für das Jahr 1873, das zu dieser Zeit vom Magistrat und Stadtrat der Stadt Oldenburg festgelegt wurde, seien die Unterschiede in der Besoldung exemplarisch aufgezeigt. Rektor Wöbcken bekam jährlich 3.800 Mark, sein Stellvertreter Dr. Lampe 3.100 Mark, Lehrer Dr. Fiedler 2.300 Mark, die seminaristisch ausgebildeten Lehrer Bücking, Barelmann und Drieling wurden unterschiedlich besoldet. Bücking bekam 1.900, Barelmann 1.300 und Drieling 1.150 Mark. Die ebenfalls seminaristisch ausgebildeten Lehrerinnen – bevorzugtes Ausbildungsseminar war das Lehrerinnenseminar in Wolfenbüttel – erhielten 1.300 Mark (Grovermann,

von Cölln) bzw. 1.150 Mark (Hempel, Deegener) jährlich. Die Fachlehrer für Turnen, Zeichnen, Gesang und Handarbeit, also Lehrer bzw. Lehrerinnen, die weder akademisch noch seminaristisch ausgebildet worden waren, wurden nicht nach dem „NormalEtat“ der Stadt Oldenburg besoldet. Sie erhielten – schlecht dotierte – individuelle Verträge. Bei gleicher Jahresstundenzahl wie die höher bewerteten Kollegen/Kolleginnen kamen sie auf ca. 600 Mark jährlich.Noch 1940 erhielt der Direktor Dr. Poppendiek ein jährliches Grundgehalt von 9.700 RM, während die hoch qualifizierten Turnlehrerinnen Bräuning, Möhlenbrock und Köppen als technische Lehrerinnen 3.420. 2.970 und 3.645 RM bekamen. Das änderte sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst nicht. Die Direktorin Ziehen erhielt 1951 ein monatliches Grundgehalt von 808 DM, während die nun Oberschullehrerinnen genannten Turnlehrerinnen Bräuning (390 DM) und Möhlenbrock (352) mit weniger als der Hälfte auskommen mußten. Frau Köppen bekam 412 DM. Bis etwa zum Ende des Ersten Weltkriegs hing die Qualität des Turnunterrichts allerdings schon deswegen nicht vom jeweiligen Bildungsweg und den damit verbundenen Einkommensverhältnissen der Lehrkraft ab, weil bis in die Anfänge der Weimarer Republik hinein weder Turnlehrer noch Turnlehrerinnen der


Gymnastik, Turnen, Spiel und Sport der Mädchen an Oldenburger Schulen vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart

Cäcilienschule eine fachspezifische Ausbildung für das Fach Turnen absolviert hatten. Turnen war 1867 für alle Lehrkräfte der Schule Neuland, worauf sowohl Rektor Wöbcken (Den Lehrern in diesem Fache bleibt das Verdienst, ohne persönliche Erfahrung auf dem Gebiete des Mädchenturnens, sich mit großer Hingabe in dasselbe hineingelebt zu haben.) als auch Lehrer Bücking nachdrücklich hingewiesen haben. Bücking schreibt in seinem schon mehrfach zitierten Bericht: Als bei Eröffnung der Cäcilienschule, vor 5 Jahren, der Berichterstatter mit der Leitung des Turnens an dieser Anstalt betraut wurde, geschah dies nicht etwa in der Voraussetzung, als hätte derselbe für das Turnen von vornherein eine besondere Befähigung aufzuweisen gehabt, sondern einfach aus dem Grunde, weil sich zufällig fürs Turnen kein Geeigneterer im damaligen Lehrerpersonal der Anstalt fand. Ich übernahm dieses Lehrfach, das mir im wesentlichen neu, wenn auch nicht gänzlich unbekannt war, dennoch gern, weil ich schon damals von der hohen Bedeutung des Mädchenturnens überzeugt war und weil ich hoffte, ‚Lust und Liebe zum Dinge’ würden mir über alle Schwierigkeiten des neuen Gegenstandes hinweghelfen. (Bücking, 1872, S. 16) Die im Fach Turnen eingesetzten Lehrer und Lehrerinnen waren in den ersten Jahrzehnten ihres Wirkens also

weitgehend darauf angewiesen, in privaten oder staatlichen Kursen bzw. durch Selbststudium die für den Turnunterricht notwendigen Fähigkeiten zu erwerben. Sehr hilfreich waren zudem einschlägige Handreichungen mit detaillierten Anleitungen für einzelne Übungseinheiten. Auf den Erwerb fachspezischer Kompe-

tenzen waren übrigens anfangs alle Lehrer und Lehrerinnen der Cäcilienschule angewiesen – ohne jede Ausnahme. Wenn die Cäcilienschule nicht den am Gymnasium, an der Realschule (heute Herbartgymnasium), der Stadtknabenschule und der Stadtmädchenschule (vergleichbar mit der heutigen Realschule)

Korbballspiel auf dem Spielplatz der Kgl. Landesturnanstalt zu Berlin-Spandau – Aus: Leitfaden für das Mädchenturnen, Berlin 1913, S. 177

sowie am Lehrerseminar erfolgreich wirkenden städtischen und staatlichen Turnlehrer Salomon Mendelssohn für den Turnunterricht zu gewinnen versuchte, so lag das nicht nur daran, dass Mendelssohn „ausgebucht“ war, sondern am pädagogisch begründeten Selbstverständnis der Cäcilienschule. Das Kollegium legte

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Stabweitsprung – Aus: Leitfaden für das Mädchenturnen, Berlin 1913, S. 13

„großes Gewicht“ darauf, dass der Unterricht von ordentlichen Lehrern der Anstalt ertheilt wird. Für die Schülerinnen gewinnen die Stunden dadurch an Bedeutung; den Lehrern wird die Handhabung der Disciplin leichter als bloßen Fachlehrern und dem ganzen Unterricht wird eine tiefer greifende pädagogische Wirksamkeit gesichert (1. Bericht, 1868, 35). Bereits bei der Vorstellung seines Schulplanes für die zu errichtende Cäcilienschule vor dem Magistrat und dem Stadtrat von Oldenburg am 2. November 1866 hatte der designierte Rektor Karl Wöbcken erklärt: Mit dem Prinzip, nach welchem der

erziehende Einfluß Hauptaufgabe der Schule ist, steht im engsten Zusammenhang, dem zufolge die Verwendung von bloßen Fachlehrern als z. B. in Handarbeiten, im Zeichnen und Turnen wo möglich ausgeschlossen oder doch möglichst beschränkt werden soll; denn es ist klar, daß Lehrer, die nur in wenigen Stunden mit den Schülerinnen in Berührung kommen, nicht den erziehenden Einfluß ausüben können wie solche Lehrer und Lehrerinnen, welche aufs engste mit dem ganzen Organismus der Anstalt verwachsen sind. Ich würde diesen Einfluß der ordentlichen Lehrkräfte stets besonders hoch anschlagen,

sollten selbst ihre technischen Leistungen nicht ganz denen der ausschließlichen Fachmänner gleichkomme. (Gemeinde-Blatt Nr. 45 vom 7. Nov. 1866, Stadtarchiv Best. 262,1 – Nr. 4689). „Ordentlich“ ist hier kein moralisches Werturteil über bestimmte Lehrkräfte, sondern die in dieser Zeit übliche Bezeichnung für Lehrer bzw. Lehrerinnen, die an höheren Schulen als Klassenlehrer fungierten. Dass der Turnunterricht nicht nur von Lehrerinnen, sondern auch von Lehrern erteilt wurde, scheint an der Cäcilienschule anfangs kein besonderes Problem gewesen zu sein, jedenfalls ist diese Frage in den Jahresberichten nicht thematisiert worden. Gleichwohl wurde die „sittliche Gefährdung“ der Mädchen durch männliche Turnlehrer in Verbänden und Behörden diskutiert. Vor allem die bürgerliche Frauenbewegung forderte den ausschließlichen Einsatz von Turnlehrerinnen. Das führte dazu, dass Rektor Wöbcken schon 1887 den Turnunterricht „ganz in weibliche Hände legen wollte“, die realen Verhältnisse an der Cäcilienschule ließen das jedoch noch nicht zu. Das änderte sich, als 1894 in Preußen festgelegt wurde, dass in den höheren Töchterschulen im Fach Turnen nur weibliche Lehrkräfte eingesetzt werden sollten (Pfister/Langenfeld, 1980, 503). In den von Robert Bosse, dem preußischen Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-

Angelegenheiten (Kultusminister) am 31. Mai 1894 herausgegebenen „Bestimmungen über das Mädchenschulwesen, die Lehrerinnenbildung und die Lehrerinnenprüfungen“ heißt es im Abschnitt „Turnen“ u.a.: Der Unterricht ist durch Lehrerinnen zu ertheilen. Die Oldenburger Behörden schlossen sich der preußischen Regelung an. Das hatte für die Cäcilienschule zur Folge, dass vom Schuljahr 1894/95 an von insgesamt 18 zu erteilenden Turnstunden nur 2 Stunden von einem Mann gegeben wurden. Vom Schuljahr 1905/06 bis zur Einführung der Koedukation im Schuljahr 1976/77 haben ausschließlich Lehrerinnen den Turnund Sportunterricht erteilt. Bis zum Schuljahr 1894/95 wurden die Turnstunden je zur Hälfte von Frauen und Männern gegeben, namentlich vor allem von den Lehrerinnen Grovermann, von Cölln, Hempel, Deegener, Presuhn und Drees sowie den Lehrern Bücking, Barelmann und Bäker. Technische Lehrerinnen, Lehrerinnen also, die in den Fächern Zeichnen, Nadelarbeit, Hauswirtschaft und eben Turnen eingesetzt wurden und ihre Qualifikation in unterschiedlichen staatlichen oder privaten Institutionen, nicht zuletzt auch in der Praxis, etwa als Vereinsturnlehrerin, erworben hatten, übernahmen noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs einen großen Teil des Unterrichts in den technischen Fächern. Die ers-


Gymnastik, Turnen, Spiel und Sport der Mädchen an Oldenburger Schulen vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart

Cäcilienschülerinnen um 1907 – Bild: OTB-Archiv

ten technischen Lehrerinnen für das Fach Turnen waren Gertrud Hartung (ab 1893/94) und Elisabeth Henze. Beide unterrichteten neben Turnen auch das Fach Nadelarbeit. Elisabeth Henze hatte beispielsweise im Jahr ihres Eintritts in die Cäcilienschule (Schuljahr 1912/13) 16 von insgesamt 28 Turnstunden zu übernehmen. Die Inhalte der Turnstunden, die sich stark an den von Adolf Spieß entwickelten Übungsformen orientierten, gliederten sich in Frei- und Ordnungsübungen, Gerätübungen und gelegentliche Turnspiele. Die Übungen setzten in der Klasse VII bei den 10-Jährigen mit „leichteren Gangund Laufarten“ und ersten Ordnungsund Freiübungen ein. In der Klasse

VI standen neben den „leichteren Gangarten“ erstmals „leichte Übungen“ am Barren, am Balanciergestell und mit Stäben auf dem Programm. Die 12-jährigen Mädchen in der V. Klasse wurden neben der Einübung verschiedener Geh- und Laufarten zu ersten Marsch- und Ordnungsübungen angehalten. In der Klasse IV waren „schwierigere Gangarten“ in Verbindung mit Reigen sowie Freiund Ordnungsübungen, Übungen an Geräten – Barren, Streckschaukel, Balanciergestell, Stabübungen – vorgesehen. Erstmals wurden auch Turnspiele eingeübt. Bis zum Jahre 1880 änderten sich die Inhalte der Turnstunden nur unwesentlich. Ab 1880 kamen Reigen und Ballübun-

gen und verstärkt Übungen an Geräten hinzu. Die Spießchen Frei- und Ordnungsübungen gingen zurück. Einen guten Einblick in das gesamte Unterrichtsprogramm des Faches Turnen an der Cäcilienschule von den Anfängen bis zum Ersten Weltkrieg vermittelt der im 19. Bericht der Schule abgedruckte detaillierte Stoffverteilungsplan für das Jahr 1887 im Fach Turnen. Er wird hier als Faksimile vollständig wiedergegeben. Bis in die 1920er Jahre hinein gab es zwar partielle, aber keine grundsätzlichen Veränderungen im Programm der Turnstunden, am nachhaltigsten noch bei den Ballübungen zur Förderung der Spiele, die im Rahmen der Spielbewegung an den in Oldenburg eingeführten Spielnachmittagen

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Stoffverteilungsplan Turnen aus dem Jahr 1887, 19. Jahresbericht der C채cilienschule, 1887


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gespielt wurden. Diese Spielnachmittage waren von dem OTBer Wilhelm Braungardt eingeführt worden. Braungardt war einer der maßgebenden Förderer der Spielbewegung in Deutschland, u. a. war er 1921 bis 1934 Spielwart der Deutschen Turnerschaft für ganz Deutschland und Verfasser eines seit 1906 in insgesamt 12 Auflagen erschienenen Lehrbuchs „Bewegungsspiele“. Am 12. März 1909 erschien in der „Nordwestdeutschen Morgen-Zeitung“ unter der Überschrift „Das Bewegungsspiel in unserm Schulleben“ von Braungardt eine mehrseitige Expertise, die mit folgenden Sätzen endet: Man gesteht heutzutage erfreulicher Weise in der körperlichen Erziehung unserer Jugend den Mädchen dieselben Rechte zu wie den Knaben, und man geht soweit, ihnen auch fast alle, Fußball allgemein ausgeschlossen, zu geben. Der moderne Geist hat hier Wunder geschaffen – leider noch zu viel in der Theorie – und das neue Turnkleid, die schwedische Rockhose, hat den Spielplatz erobert. Es wird nur einer gut geleiteten Schulgeneration bedürfen, um bei 12-14jährigen Schülerinnen annähernd denselben Wurf und Fang, denselben schnellen Lauf, dieselbe Umsicht beim Zusammenspiel zu beobachten wie heute bei gleichaltrigen Knaben, ohne frische Mädchenhaftigkeit entbehren zu müssen.

Neue Ziele und Aufgaben des Schulsports nach dem Ersten Weltkrieg Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurden Ziele und Aufgaben von Turnen und Sport neu formuliert, auch für den Schulsport. Eine in den Kriegsjahren von den Sozialdemokraten geforderte „Reichsschulkonfe-

renz“ sollte die schon vor dem Ersten Weltkrieg entwickelten Reformansätze bilanzieren und Empfehlungen für ein neues Bildungs- und Schulsystem formulieren. Diese Konferenz fand vom 11. bis 19. Juni 1920 in Berlin statt. Ein „in letzter Stunde“ in die Tagesordnung eingeschobener „Unterausschuß für körperliche Erziehung“ einigte sich auf die folgenden

Leitsätze: Die Stellung der Leibesübungen im Rahmen des gesamten Erziehungsplanes ergibt sich aus ihren hohen hygienischen, ethischen und sozialen Werten. Die Leibesübungen sollen in Gemeinschaft mit der Geistesbildung die Jugend zu gesunden, lebensfrohen und willensstarken, ihren Körper bewußt, im künstlerischen Sinne selbstgestaltenden Per-

Schulsport des Einschulungsjahrgangs 1927 auf dem Schulhof der Schule Drielake – Bild: GVO

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sönlichkeiten erziehen. Letztes Ziel der körperlichen Erziehung muß sein, den regelmäßigen Betrieb von Leibesübungen für beide Geschlechter auch über das schulpflichtige Alter hinaus zu einer lieben Gewohnheit und selbstverständlichen Volkssitte werden zu lassen (zitiert nach: Oldenburgische Landeszeitung vom 29. Juni 1920). Aus den Leitsätzen leitete der Ausschuss Forderungen ab, die er in die Abschnitte Schüler, Turnlehrer, Turnstätten, Vereine für Leibesübungen und Organisation untergliederte. Im Abschnitt „Schüler“ forderte er u. a. die Anerkennung der Leibesübungen als Hauptfach und die entsprechende Wertung in den Zeugnissen, eine Mindestunterrichtszeit von drei Wochenstunden, die tägliche Turnstunde als Ziel, je nach örtlichen Verhältnissen die pflichtgemäße Pflege von Rodeln, Schwimmen, Rudern, Eislauf, Schneelauf; bei vorhandener Schwimmgelegenheit die Einführung des Schwimmens als Pflichtunterricht, einmal monatlich eine Halbtags- oder Ganztagswanderung, den Turnunterricht als Klassenunterricht, die Behandlung der Übungsgebiete anhand eines geordneten Lehrplanes, die Einbeziehung einer Turnprüfung in die Abgangsprüfung, die vorurteilslose Förderung der Vereine für Leibesübungen, Nachweis der regelmäßigen Betätigung irgendeiner Leibesübung bei der Ablegung von Hochschulprüfungen. Im Abschnitt

„Turnlehrer“ hieß es, jeder Lehrer solle in seiner Ausbildung einen Lehrgang für Leibesübungen durchmachen, Leibesübungen seien vollwertiges Prüfungsfach aller Lehrprüfungen, in allen mehrstufigen Schulen sollten Fachturnlehrer mit der körperlichen Erziehung beauftragt werden. Im Abschnitt „Turnstätten“ wurde die Vermehrung der Turnhallen und Turnplätze gefordert. Per Reichsgesetz sollten Spielplätze und Schwimmanstalten geschaffen werden. Systematisch seien über das ganze Reich hinweg Jugendherbergen anzulegen. Unter „Vereine für Leibesübungen“ wurde die Pflege der Leibesübungen außerhalb der Schulen als vaterländische Aufgabe gesehen. Die Turn- und Sportvereine seien daher durch unentgeltliche Bereitstellung der staatlichen und kommunalen Übungsstätten zu fördern. Die Ausbildung von Turn- und Sportwarten der Vereine solle von Staats wegen unterstützt werden. Im Bereich der „Organisation“ sollten hauptamtliche Turninspektoren, Stadtturnräte, Landesturnräte, Stadtoder Kreisämter für Leibesübungen geschaffen werden. Die „Oldenburgische Landeszeitung“ fügte im Nachsatz an: Wir selbst werden in Zukunft wohl des öfteren auf einzelne dieser Punkte einzugehen haben. Das wird nun umso leichter sein, als durch diese Anerbietung im geschlossenen Rahmen eine Vorstellung von der gesamten Sachlage gegeben ist, die

alle weiteren Ausführungen erleichtern wird. Für die praktische Umsetzung der Leitsätze und Forderungen der Reichsschulkonferenz hatten die Pädagogen, die Schulaufsichtsbehörden und die Kommunen in der kurzen Periode der Weimarer Republik, die von manchen Historikern als Zwischenkriegszeit bezeichnet wird, in Oldenburg und anderswo nur wenig Zeit. In Oldenburg kamen die Nationalsozialisten mit völlig neuen Vorstellungen bekanntlich schon 1932 an die Macht. Die Praxis des Turn- und Sportunterrichts in Stadt und Land Oldenburg, die wie überall auch stark von den äußeren Rahmenbedingungen abhing, wurde wesentlich von den Turn- und Sportlehrern Nikolaus Bernett, Hermann Böning, Fritz Blum, Wilhelm Braungardt, Karl Fissen und Wilhelm Ohlhoff beeinflusst. Bernett war Seminaroberlehrer, Landesturnrat und Vorsitzender des Landesturnlehrervereins, Hermann Böning Seminarlehrer und Referent für Leibesübungen im Ministerium für Kirchen und Schulen, Wilhelm Braungardt Spielwart der Deutschen Turnerschaft und Leiter des Stadtausschusses für Leibesübungen, Fritz Blum Vorstandsmitglied des Oldenburger Bundes für Leibesübungen, Karl Fissen Gymnasiallehrer mit Erfahrungen als militärischer Erzieher und Wilhelm Ohlhoff Kreisfrauen-

turnwart. Vorwiegend diese Männer, 1920 zwischen 35 und 45 Jahre alt, organisierten und leiteten Fachtagungen und Lehrgänge für Turnlehrerinnen und Turnlehrer, gründeten und führten Turnlehrervereine, vertraten der Stadt und dem Staat gegenüber die Interessen ihres Faches, veröffentlichten in der örtlichen Presse Grundsatzartikel über Turnen, Spiel und Sport, verfassten Lehrpläne und Lehrbücher, arrangierten Wettkämpfe und Spieltage der Schulen und förderten die Zusammenarbeit von Schulen und Vereinen.

Das Landesamt für Leibesübungen und die Turnlehrervereine Zur Förderung der körperlichen Erziehung wurden im Freistaat Oldenburg sowohl für den Vereinssport als auch für das Schulturnen nachhaltig wirkende Organisationen geschaffen, und zwar erstens am 1. September 1920 ein Landesamt für Leibesübungen, angesiedelt beim Ministerium der sozialen Fürsorge. Das Landesamt sollte in Verbindung mit dem Ministerium der Kirchen und Schulen, dem die Aufsichtspflicht über die Schulen oblag, dem Gesamtgebiete der Leibesübungen die seiner Bedeutung entsprechende Pflege angedeihen lassen. Leiter dieses Amtes mit dem Titel „Landesturnrat“ war Niko-


Gymnastik, Turnen, Spiel und Sport der Mädchen an Oldenburger Schulen vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart

laus Bernett. Zweitens wurde am 24. März 1923 der Oldenburgische Landesturnlehrerverein gegründet, der sich 1926 in „Landesverein zur Förderung der Leibesübungen an den Oldenburger Schulen“ umbenannte. Vorsitzender war wiederum Nikolaus Bernett. Der Vereinszweck war laut § 2 der Satzung die Förderung des Schulturnens, die eigene Fortbildung der Mitglieder und die Vertretung der Standesinteressen (StAO Best. 160,1 Nr. 161 IV). In der Stadt Oldenburg wurde drittens ein eigener Ortsturnlehrerverein gebildet, dem ebenfalls Bernett vorstand.

dert, regelmäßig über die Verwirklichung der Ziele zu berichten. Für die höheren Schulen war bereits am 6. Dezember 1920 eine Verfügung herausgegeben worden, wonach für die männliche Jugend drei Turnstunden anzusetzen waren und für die Mädchen im Sommerhalbjahr zwei, im Winterhalbjahr eine. Die dritte Turnstunde bei den Jungen bzw. die zweite bei den Mädchen war für die

Pflege des Spiels zu verwenden. Diese Stunde konnte auch in einen Spielnachmittag von eineinhalb- bis zweistündiger Dauer umgewandelt werden. In der 8. Klasse war in den Turnstunden Schwimmunterricht zu erteilen. Um das Interesse der Lehrer und Lehrerinnen an den Leibesübungen zu wecken und ihre Fertigkeit zu verbessern, Turnunterricht zu erteilen, wurden sowohl vom Landesturn-

lehrerverein als auch vom Landesamt für Leibesübungen Lehrgänge organisiert, die jeweils mit praktischen Vorführungen verbunden waren. Neue organisatorische Einheiten im Rahmen des Turnunterrichts waren an allen Schulen Spielnachmittage und monatliche Halbtags- oder Ganztagswanderungen. Hinzu kamen Schulturnfeste einzelner Schulen oder aller Schulen, zum Beispiel der

Die Organisation des Turnunterrichts an den Schulen Oldenburgs während der Weimarer Republik Grundlage für die Organisation des Turnunterrichts in den Schulen war eine Verfügung des Oldenburger Ministeriums für Kirchen und Schulen vom 12. Januar 1921. In dieser Verfügung stellte das Ministerium für das Turnen in der Volksschule fünf Ziele auf: 1. Gleiche Fürsorge für Knaben und Mädchen, 2. Turnunterricht vom dritten Schuljahr an, 3. wöchentlich drei Turnstunden, 4. planmäßige Pflege des Wanderns, 5. verbindlicher Schwimmunterricht. Die Schulbehörden wurden aufgefor-

Turnen auf dem Hof der Schule Drielakermoor (heute Paul-Maar-Schule an der Bremer Heerstraße) 1929 – Bild: GVO

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Gleichwohl gibt es bis in die unmittelbare Gegenwart hinein noch keine

gung, über die Teilhabe von Frauen im Betriebssport, über das Sportan-

geschriebene Geschichte des Oldenburger Frauen- und Mädchensports.

gebot für behinderte Frauen und Mädchen, über Turnen, Spiel und Sport

Der für seine glänzend recherchierten, gut lesbar geschriebenen und

für Migrantinnen, über Frauen im Hochschulsport, über die besonders

vielfach ausgezeichneten sporthistorischen Arbeiten bekannte Oldenbur-

spannende Geschichte der Turn- und Sportkleidung von Frauen und Mäd-

ger Autor Matthias Schachtschneider hat in der nunmehr vorliegenden

chen, über das ehrenamtliche Engagement von Frauen im Oldenburger

Geschichte des Oldenburger Frauen- und Mädchensports, die ihm nach

Sport und über den Frauensport in der Sportberichterstattung. Im zwei-

eigenen Aussagen besonders am Herzen lag, versucht, diesem Mangel

ten Teil des mit 400 Bildern ausgestatteten Werkes wird die Geschichte

abzuhelfen und die Geschichte des Oldenburger Frauen- und Mädchen-

des Frauen- und Mädchensports in einzelnen Sportarten dargestellt. Ein

sports von ihren Anfängen in den 1820er Jahren bis in die unmittelbare

eigenes Kapitel erhalten die Sportarten Turnen, Wandern, Gymnastik,

Gegenwart hinein dargestellt.

Rhönradturnen, Trampolinturnen, Tanzsport, Leichtathletik, Turnspiele,

Die interessierte Leserschaft wird in einem ersten Teil, vorwiegend am

Fußball, Handball, Hockey, Basketball, Volleyball, Tennis, Tischtennis,

Beispiel der Cäcilienschule, etwas lesen können über Gymnastik, Turnen,

Badminton, Squash, Kugelspiele, Schießsport, Radsport, Rollsport, Pfer-

Spiel und Sport der Mädchen an Oldenburgs Schulen vom 19. Jahrhun-

desport, Motorsport, Flugsport, Bootssport, Schwimmsport, Triathlon,

dert bis in die Gegenwart, des Weiteren über Frauen in der Oldenburger

Ringen, Boxen, Fechten, Budosport und Gesundheitssport.

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Die Geschichte des Oldenburger Frauen- und Mädchensports ISBN 978-3-00-044919-2

Die Geschichte des Oldenburger Frauen- und Mädchensports

Turnbewegung, über Mädchen und Frauen in der Arbeitersportbewe-

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44% aller Mitglieder des organisierten Oldenburger Sports sind weiblich.

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Die Geschichte des Oldenburger Frauen- und Mädchensports


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