Notfallseelsorge ist Seelsorge in extremen Situationen. Dabei müssen sich Notfallseelsorger auf Menschen in außergewöhnlichen Gefühlslagen einstellen wie auf grausame Bilder. Sie begegnen Menschen, deren Biografie sich urplötzlich gravierend verändert – etwa durch einen Unfall oder eine Naturkatastrophe. Als Vorbereitung auf solche Situationen ist dieses Handbuch gedacht. Auf der Basis von Fallbeispielen, Merksätzen und eines umfassenden Regelwerkes ermutigt das Buch zu einer geistigen und geistlichen Auseinandersetzung mit dem Thema der Notfallseelsorge. Es gibt konkrete Handlungsempfehlungen für den Einsatz und eröffnet Wege für die Einsatznachsorge.
Die Notfallseelsorge hat sich in den vergangenen Jahren professionalisiert und auf neue Herausforderungen reagiert. Die 3. Auflage des Handbuches Notfallseelsorge greift diese Entwicklung auf und nimmt neue Themen in den Blick: ˘ Organisation und Qualitätssicherung ˘ Aus- und Fortbildungskonzepte ˘ Dienstpläne und Ausstattung ˘ Öffentlichkeitsarbeit, Finanzierung und Kooperation ˘ ehrenamtliche Helfer und staatliche Anerkennung ˘ muslimische Notfallbegleitung u.v.m.
Handbuch Notfallseelsorge
Joachim Müller-Lange, Uwe Rieske, Jutta Unruh (Hrsg.)
Herausgeber Joachim Müller-Lange Uwe Rieske Jutta Unruh
Das Handbuch richtet sich an Haupt- und Ehrenamtliche, die sich auf die Aufgaben der Notfallseelsorge fundiert vorbereiten möchten.
Handbuch Notfallseelsorge isbn 978-3-943174-23-6 www.skverlag.de
Handbuch Notfallseelsorge 3., vollständig überarbeitete Auflage
Handbuch Notfallseelsorge Herausgeber Joachim Müller-Lange Dr. Uwe Rieske Jutta Unruh
Unter Mitarbeit von Martin Autschbach Verena Blank-Gorki Michael Clauss Johannes Duven † Frank Ertel Knuth Fischer Christoph Fleck Claudia Geese Joachim Häcker Prof. Eberhard Hauschildt Dr. Jutta Helmerichs Jens Peter Iven Hildegard Jorch Prof. Harald Karutz Hartmut Krabs-Höhler Ludwig Kroner Dr. Thomas Lemmen Dr. Karsten Christoph Lindenstromberg
Bernhard Ludwig Erneli Martens Joachim Müller-Lange Christoph Pompe Dr. Uwe Rieske Christine Scholl Jürgen Schramm Heiner Seidlitz Dr. Lars Tutt Jutta Unruh Bianca van der Heyden Ingo Vigneron Kristiane Voll Frank Waterstraat Hanjo von Wietersheim Joachim Wolff Prof. Thomas Zippert
Verlagsgesellschaft Stumpf + Kossendey mbH, Edewecht 2013
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© Copyright by Verlagsgesellschaft Stumpf + Kossendey mbH, Edewecht 2013 Umschlagfoto: Dr. Lars Tutt, Düsseldorf Druck: M.P. Media-Print Informationstechnologie GmbH, 33100 Paderborn ISBN 978-3-943174-23-6
˘ Inhalt
Inhalt Abkürzungen............................................................................................................................................... 11 Vorwort zur 3. Auflage............................................................................................................................. 15 Vorwort zur 1. Auflage............................................................................................................................. 17
1 Einführung in die Notfallseelsorge............................................................................ 19 Joachim Müller-Lange
2 Zur Theologie der Notfallseelsorge ........................................................................... 29 2.1 Notfallseelsorge als kirchliche Aufgabe.................................................................................... 30 Thomas Zippert
2.1.1 Zur Vorgeschichte der Notfallseelsorge ............................................................................. 30 2.1.2 Gegenwärtige Bedingungen der Notfallseelsorge ........................................................ 32
2.2 Möglichkeiten des theologischen Umgangs – Meditation des Vaterunsers............... 37
2.2.1 Die Anrede: »Vater unser im Himmel« oder: Wer oder was ist Gott?........................ 38 2.2.2 Die erste Bitte: »Geheiligt werde dein Name« oder: Was bewegt mich wirklich?.......................................................................................... 39 2.2.3 Die zweite Bitte: »Dein Reich komme« oder: Von der Kraft der Vorläufigkeit........ 41 2.2.4 Die dritte Bitte: »Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden« oder: Vom Willensstreit in Gott und in mir ....................................................................... 42 2.2.5 Die vierte Bitte: »Unser tägliches Brot gib uns heute« oder: Von der Kraft des Beistehens....................................................................................... 44 2.2.6 Die fünfte Bitte: »Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern« oder: Von der Lust an der Schuldverleugnung...................... 46 2.2.7 Die sechste Bitte: »Führe uns nicht in Versuchung« oder: Von den besonderen Versuchungen der Notfallseelsorge . .............................. 49 2.2.8 Die siebte Bitte: »Sondern erlöse uns von dem Bösen« oder: Von der Schwierigkeit zu trösten................................................................................ 50 2.2.9 Der Schluss: »Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.« Oder: Von der Kraft der guten Bilder.................... 56
2.3 Zur Pastoraltheologie der Notfallseelsorge . .......................................................................... 58 2.3.1 Prinzip der Kooperation............................................................................................................ 58 2.3.2 Prinzipien der Kollegialität und Regionalität zur Sicherstellung zuverlässiger Erreichbarkeit....................................................................... 58 2.3.3 Prinzipien der Gemeindebezogenheit und Ökumenizität............................................ 58 2.3.4 Prinzip der Freiwilligkeit .......................................................................................................... 59 2.3.5 Prinzip der Professionalität der Notfallseelsorge ........................................................... 59
2.4 Notfallseelsorge als Gestalt des Christentums – zwischen Zivilreligion und Auftrag der Kirche ........................................................................................................................... 60 Eberhard Hauschildt
2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4 2.4.5
Die Funktion von Notfallseelsorge im Kontext von Zivilreligion................................ 60 Die Inhalte der Notfallseelsorge aus der Sicht der Kirchen.......................................... 61 Wo liegt die Mitte der Notfallseelsorge?............................................................................ 62 Notfallseelsorge als diakonische Gestalt des öffentlichen Christentums.............. 64 Herausforderungen durch Religionspluralität.................................................................. 66
5
˘ Inhalt
3 Verhalten von Menschen in Extremsituationen.................................................... 73 Joachim Müller-Lange
3.1 Trauer.................................................................................................................................................... 74 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5
Trauerphasen................................................................................................................................ 75 Traueraufgaben........................................................................................................................... 77 Notfallseelsorge und Trauer.................................................................................................... 79 Trauerschockreaktionen........................................................................................................... 80 Trauerschock und Trauer im Volksmund ............................................................................ 82
3.2 Akute Belastungsreaktionen / posttraumatische Belastungsstörungen..................... 83 3.2.1 Geschichte der Psychotraumatologie.................................................................................. 84 3.2.2 Psychotraumatologie heute.................................................................................................... 86
3.3 Folgerungen für die Notfallseelsorge........................................................................................ 95
4 Seelsorge in Extremsituationen.................................................................................. 99 Joachim Müller-lange
4.1 Die individuellen Katastrophen / Häufige Indikationen................................................... 101 4.1.1 Erfolglose Reanimation........................................................................................................... 101 Frank Waterstraat
4.1.2 Überbringen von Todesnachrichten – vom Umgang mit schmerzlichen Wahrheiten................................................................................................................................. 110 Bianca van der Heyden
4.1.3 Verkehrsunfall............................................................................................................................ 120 Joachim Müller-Lange
4.1.4 Plötzlicher Säuglingstod (SID).............................................................................................. 125 Hildegard Jorch
4.1.5 Gewaltopfer................................................................................................................................ 137 Ludwig Kroner
4.1.6 Person droht zu springen ... Talk-down.............................................................................. 153 Jürgen Schramm, Heiner Seidlitz
4.1.7 Unfälle mit Schienenfahrzeugen......................................................................................... 160 Christoph Pompe
4.1.8 Notfallseelsorge und gehörlose Menschen..................................................................... 167 Michael Clauss
4.2 Notfallseelsorge in der Betreuung von Kindern und Jugendlichen.............................. 172 4.2.1 Grundsätzliche Hinweise für Kinder und Jugendliche................................................. 172 Harald Karutz
4.2.2 Notfallseelsorge im Lebensraum Schule........................................................................... 193 Martin Autschbach
4.2.3 Vermisste Person – eine Orientierungshilfe.................................................................... 200 Jutta Unruh
4.3 Vom Umgang mit dem toten Menschen................................................................................ 218 Joachim Müller-Lange, Thomas Zippert
4.4 Nach dem Einsatz – Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit einer nachfolgenden Trauerbegleitung.................................................................................. 228 Kristiane Voll
6
˘ Inhalt
4.5 Vom Umgang mit eigenen Belastungen................................................................................ 236 Joachim Müller-Lange
5 Seelsorge unter den Bedingungen einer Katastrophe...................................... 245 Joachim Müller-Lange
5.1 Zum Ablauf einer Katastrophe................................................................................................... 248 5.2 Die psychosoziale Bewältigung einer Katastrophe............................................................. 257 5.3 Katastrophen und Großschadensereignisse im Rahmen der zivilen Gefahrenabwehr........................................................................................................ 266 Joachim Häcker
5.3.1 Definition der Begriffe Katastrophe und Großschadensereignis.................................268 5.3.2 Führung und Leitung bei Großschadensereignissen und Katastrophen............... 270 5.3.3 Schadensgebiet und Einsatzstelle...................................................................................... 283
5.4 Notfallseelsorge als Element der Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV) im Großschadensfall – Funktionen und Einsatzabschnitte............................................. 296 Joachim Müller-Lange, Joachim Häcker, Jutta Unruh, Johannes Duven †
5.4.1 Die Funktionen in der Psychosozialen Notfallversorgung.......................................... 298 5.4.2 Aufgaben des Stabes für das Arbeitsgebiet Psychosoziale Notfallversorgung..................................................................................................................... 301 5.4.3 Funktionen unter dem Dach der PSNV im Rahmen der zivilen Gefahrenabwehr....................................................................................................................... 306
5.5 Katastrophennachsorge: Mittel- und langfristige Nachsorge für Opfer und Angehörige nach einer Katastrophe................................................................... 313 Joachim Müller-lange
5.5.1 Das Projekt »hoffen bis zuletzt«.......................................................................................... 315 Joachim Müller-Lange, Jutta Unruh, Uwe Rieske, Hartmut Krabs-Höhler, Christine Scholl
5.5.2 Folgerungen für die mittel- und langfristige Nachsorge für Opfer und Angehörige nach einer Katastrophe............................................................. 331 5.5.3 Ökumenischer Gedenkgottesdienst für die Opfer des Tsunami vom 26.12.2004 im Hohen Dom zu Köln (Samstag, 15. Januar 2005)..................................................... 332 Joachim Müller-Lange
5.5.4 Zur Gestaltung zivilreligiöser Gedenkfeiern: Der erste Jahrestag der Loveparade-Tragödie................................................................. 336 Uwe Rieske
6 Einsatznachsorge............................................................................................................ 349 Joachim Müller-Lange, Karsten Christoph Lindenstromberg
6.1 Critical Incident Stress Management...................................................................................... 351 6.2 Einsatzbericht: Psychosoziale Notfallversorgung nach dem Einsatz in Haiti 2010..................................................................................................................................... 369 Joachim Müller-Lange
6.3 Informationen und Empfehlungen für Einsatzkräfte......................................................... 378 Jutta Unruh
7
˘ Inhalt
6.4 Folgerungen für die Notfallseelsorge...................................................................................... 381 Karsten Christoph Lindenstromberg
6.5 Feuerwehrseelsorge – ein neues Aufgabenfeld: Seelsorge in der Feuerwehr Hamburg..................................................................................... 382 Erneli Martens
6.5.1 Der gesellschaftliche Kontext............................................................................................... 382 6.5.2 Die Professionalisierung der Einsatzorganisationen führt zur Zusammenarbeit mit Seelsorgern der Kirchen.............................................................. 383 6.5.3 Themen- und Aufgabenfelder.............................................................................................. 386 6.5.4 Feuerwehrseelsorge – Kirche an anderem Ort: Ausblick, Chancen und Grenzen........................................................................................... 391
7 Organisation und Qualitätssicherung in der Notfallseelsorge....................... 395 Joachim Müller-Lange
7.1 Bundeseinheitliche Qualitätsstandards in der Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV)............................................................................................................ 398 Jutta Helmerichs, Verena Blank-Gorki
7.1.1 7.1.2 7.1.3 7.1.4
Einleitung.................................................................................................................................... 398 Qualitätssicherung über Konsensus-Konferenzen........................................................ 398 Erzielte Konsense...................................................................................................................... 400 Perspektive.................................................................................................................................. 403
7.2 Qualitätsentwicklung in der Notfallseelsorge...................................................................... 403 Frank Ertel
7.2.1 Qualität in der Notfallseelsorge........................................................................................... 403 7.2.2 Exkurs: Verschwiegenheit und Aussageverweigerungsrecht als besondere Qualitäten....................................................................................................... 405 7.2.3 Qualitäten auf verschiedenen Ebenen.............................................................................. 406 7.2.4 Entwicklung von Qualität...................................................................................................... 409 7.2.5 Inhaltliche Entwicklung der Qualität für den Prozess der Seelsorge in der Notfallseelsorge............................................................................................................ 410
7.3 Konzeption für die Notfallseelsorge – exemplarisch für die Evangelische Kirche im Rheinland.................................................................................................................................... 414 Joachim Müller-Lange, Jutta Unruh
7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.3.4
Einleitung.................................................................................................................................... 414 Grundlagen der Arbeit der Notfallseelsorge................................................................... 415 Organisation und Qualitätssicherung............................................................................... 418 Handlungsempfehlungen...................................................................................................... 423
7.4 PSNV im Saarland – ein Notfallseelsorgesystem mit staatlicher Anerkennung und hoheitlichem Auftrag........................................................................................................... 425 Christoph Fleck, Ingo Vigneron
7.5 Empfehlung zur Aus-, Fort- und Weiterbildung (KEN) und Themen für örtliche Fortbildungen.................................................................................................................................. 430 Uwe Rieske
7.6 Gefährdungsanalyse für die Tätigkeit in der Notfallseelsorge....................................... 441 Hanjo von Wietersheim
7.6.1 Gesetzliche Grundlagen......................................................................................................... 441 7.6.2 Beschreibung der einzelnen Gefahren und der Gegenmaßnahmen...................... 443
8
˘ Inhalt
7.6.3 Zusammenfassung der notwendigen Sicherheitsmaßnahmen.............................. 453 7.6.4 Aktueller Handlungsbedarf................................................................................................... 455
7.7 Notfallseelsorge und Presse- bzw. Öffentlichkeitsarbeit.................................................. 456 Jens Peter Iven
7.7.1 Leitlinien zur Presse- und Öffentlichkeitsarbeit............................................................. 456 7.7.2 Einsatzbezogene Presse- bzw. Öffentlichkeitsarbeit.................................................... 458 7.7.3 Presse- bzw. Öffentlichkeitsarbeit außerhalb des akuten Einsatzgeschehens................................................................................................................... 461 7.7.4 Publizistische Grundsätze (Pressekodex).......................................................................... 462 7.7.5 Merchandising in der Notfallseelsorge............................................................................. 465 Lars Tutt
7.8 Dienstplangestaltung in der Notfallseelsorge..................................................................... 468 Uwe Rieske
7.9 Finanzierungsmodelle für die Notfallseelsorge................................................................... 471 Uwe Rieske
7.10 Ausstattungsbedarf für die Notfallseelsorge...................................................................... 473 Uwe Rieske, Lars Tutt
7.10.1 Rucksack / Koffer....................................................................................................................... 473 7.10.2 Teddybären und Kerzen........................................................................................................... 475
7.11 Stiftung Notfallseelsorge............................................................................................................ 476 Jutta Unruh
8 Neue Arbeitsfelder und Perspektiven...................................................................... 481 Uwe Rieske
8.1 Ausbildung von ehrenamtlichen Notfallseelsorgenden (ENFS)..................................... 483 Bernhard Ludwig, Joachim Wolff
8.1.1 Die Intention der Ausbildung von Ehrenamtlichen für die Notfallseelsorge....... 483 8.1.2 Standards für die Ausbildung von ehrenamtlichen Notfallseelsorgenden in NRW.......................................................................................................................................... 484 8.1.3 Seelsorgeverständnis und landeskirchliche Ausbildungsrichtlinien...................... 485 8.1.4 Ausbildungsvoraussetzungen und Auswahl der Lerngruppe.................................... 486 8.1.5 Organisatorische Struktur, Kooperationspartner und Kosten der Ausbildung........................................................................................................................... 487 8.1.6 Lernfelder und Praktika........................................................................................................... 490 8.1.7 Die Abschlussgespräche......................................................................................................... 493 8.1.8 Kirchliche Beauftragung und Gottesdienst..................................................................... 495 8.1.9 Einbindung der ehrenamtlichen Notfallseelsorgenden in das bestehende System..................................................................................................... 497 8.1.10 Erfahrungen und Ausblicke................................................................................................... 498
8.2 Muslimische Notfallbegleitung................................................................................................. 500 Thomas Lemmen
8.3 Kooperationsvereinbarungen (am Beispiel von KEN und JUH)....................................... 505 Knuth Fischer
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˘ Inhalt
9 Praxisvorlagen................................................................................................................. 517 Uwe Rieske
9.1 Liturgische Vorlagen...................................................................................................................... 519 Claudia Geese
9.1.1 Überlegungen und Anregungen für ein Verabschiedungsritual im Rahmen der Notfallseelsorge......................................................................................... 519 9.1.2 Abschied und Segen bei plötzlichem Tod im häuslichen Bereich............................. 520 9.1.3 Abschied und Segen bei einem Suizid............................................................................... 523 9.1.4 Abschied und Segen bei einem Unfalltod........................................................................ 526 9.1.5 Abschied und Segen beim Tod eines Kindes.................................................................... 528 9.1.6 Abschied und Segen beim Tod eines lang erkrankten Menschen............................ 531 9.1.7 Anregungen für ein eigenes Abschiedsritual.................................................................. 534 9.1.8 Psalmen und Psalmparagrafen............................................................................................ 537 9.1.9 Gebete.......................................................................................................................................... 542 9.1.10 Texte.............................................................................................................................................. 546
9.2 Entwurf einer Dienstanweisung............................................................................................... 549 Joachim Müller-Lange
9.3 Protokolle und Jahresauswertungen....................................................................................... 551 Uwe Rieske
9.4 Informationen und Empfehlungen für Betroffene............................................................. 558 Joachim Müller-Lange
9.5 Dienstausweise für Notfallseelsorger..................................................................................... 562 Jutta Unruh
9.6 Adressenverzeichnis...................................................................................................................... 564
Anhang....................................................................................................................................... 571 Literatur ..................................................................................................................................................... 572 Abbildungsnachweis.............................................................................................................................. 587 Herausgeber und Autoren.................................................................................................................... 588 Index............................................................................................................................................................ 593
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˘ Abkürzungen
Abkürzungen AA AAO ABR ACK AGBF AGS Apk ArbSchG ASB AWMF BAO BBK BefKw BENS BF BGG BGR BGI BGV BKA BOS BPol CISM DFV DGL DGS DIN EN DRK DSM IV Dtn DV EA EAL EG EK EKD EKiR
Auswärtiges Amt Alarm- und Ausrückordnung akute Belastungsreaktion(en) Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Berufsfeuerwehren in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitsgemeinschaft Seelsorge in Feuerwehr und Rettungsdienst Offenbarung des Johannes (Johannesapokalypse) Arbeitsschutzgesetz Arbeiter-Samariter-Bund Deutschland e.V. Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. besondere Aufbauorganisation Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe Befehlskraftwagen Beirat Notfallseelsorge (Bayern) Berufsfeuerwehr Berufsgenossenschaftliche Grundsätze Berufsgenossenschaftliche Regeln Berufsgenossenschaftliche Informationen Berufsgenossenschaftliche Vorschriften Bundeskriminalamt Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben Bundespolizei Critical Incident Stress Management Deutscher Feuerwehrverband e.V. Dienstgruppenleiter Deutsche Gebärdensprache Deutsches Institut für Normung, Europäische Norm Deutsche Rotes Kreuz e.V. Diagnostisches und Statistisches Manual, 4 . Auflage 5. Buch Mose (Deuteronomium) Datenverarbeitung Einsatzabschnitt Einsatzabschnittsleiter Evangelisches Gesangbuch Einsatzkräfte Evangelische Kirche in Deutschland Evangelische Kirche im Rheinland
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2 ˘ Zur Theologie der Notfallseelsorge
2.1 Notfallseelsorge als kirchliche Aufgabe Thomas Zippert Notfallseelsorge als »Erste Hilfe für die Seele« ist Seelsorge und damit »Grundbestandteil des Seelsorgeauftrages der Kirchen«.1 Konstitutiv ist, dass Notfallseelsorge in Zusammenarbeit mit Rettungsdienst, Feuerwehr und Polizei geschieht.2 Auf beides ist zu achten: die uralte christliche Tradition, Menschen in Not beizustehen (vgl. Kap. 2.1.1), und die Rahmenbedingungen, unter denen Notfallseelsorge heute stattfindet (vgl. Kap. 2.1.2).
2.1.1 Zur Vorgeschichte der Notfallseelsorge Verschiedene biblische Traditionen stehen im Hintergrund des seelsorglich-diakonischen Auftrags der Kirchen. Sie gelten auch für die Notfallseelsorge. Es lohnt sich, an sie zu erinnern und sich selbst darüber klar zu werden, welchen Stellenwert sie für die eigene Person haben und inwiefern sie das eigene Engagement begründen: ˘ die Beispielerzählung vom Barmherzigen Samariter (Lk 10, 25 – 37): »Gehe hin und tue desgleichen!« ˘ die Heilungsgeschichten Jesu als Aufforderung zu ähnlichem Handeln, die zugleich auch immer zeigten, dass Leiden welcher Art auch immer nach Gottes Willen nicht sein soll ˘ diverse Traditionen zum Hirtenamt und zur Suche nach dem Verlorenen (Hes 343; Sach 11, 16; Joh 10; Lk 15, 19, 10) ˘ das Gleichnis vom Weltgericht (Mt 25, 31 – 46). In der Wirkungsgeschichte des letzten Textes entstand die Rede von den sog. »Werken der Barmherzigkeit«. Sechs werden im Text genannt: Hungernde speisen, Durstigen zu trinken geben, Nackte kleiden, Fremde aufnehmen, Gefangene und Kranke besuchen. Zu den bei Matthäus genannten Werken kamen im Laufe der Zeit weitere hinzu: die Bestattung der Toten (Tob 1, 16f), der Besuch Trauernder (Sir 7, 34f) sowie die »geistlichen Werke der Barmherzigkeit«: belehren, raten, trösten, ermutigen, vergeben und Unrecht geduldig ertragen.4 In diesen Traditionen steht das seelsorgliche Engagement der Kirche, seien es die Klöster, Spitäler und Hospitalorden, wie die 700 Jahre alten Johanniter und Malteser, seien es die beispielgebenden Heiligen, wie der hl. Martin und der hl. Franziskus, die hl. Hildegard und die hl. Elisabeth, seien es heute Diakonie und Caritas. Ihre Zuwendung galt immer leiblichen und seelischen Nöten. Diese Tradition der Leidensbekämpfung (bis hin zur Leidensverneinung) reicht bis in heutige säkulare Institutionen im medizinischen Bereich. Neben und in diesen Traditionen gab es im Rückgang auf das Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu Christi eine Tradition der Leidensnachfolge, des Mit-Leidens und der Leidensmystik. Dies konnte im Extremfall das Martyrium sein, zum Beispiel noch bei Dietrich Bonhoeffer,5 aber ebenso das persönliche Sterben und Trauern, ja der Alltag insgesamt, in dem jeder und jede sein bzw. ihr »Kreuz« auf sich zu nehmen habe (Mt 16, 24).
30
2 ˘ Zur Theologie der Notfallseelsorge
Beide Traditionen, die der Leidensbekämpfung und die der Leidensnachfolge, bestimmen in dialektischer, nicht auflösbarer Spannung das Christentum von Anfang an: »Vater, willst du, so nimm diesen Kelch von mir; doch nicht mein, sondern dein Wille gesche he!« (Lk 22, 42). Die Erfahrungen der Jünger an Karfreitag und Ostern, wie Jesus leiden konnte (!), starb und wie Gott ihn dennoch durch den Tod hindurch bewahrte, sind und bleiben die Wurzel und die Hauptquelle christlichen Glaubens und christlicher Frömmigkeit. Was im Leiden letztlich trägt und was nicht, welche Möglichkeiten des persönlichen Umgangs und welche Reflexionsdimensionen es gibt, das wurde und wird in christlicher Frömmigkeit, Theologie und Philosophie seit Jahrtausenden bedacht.6 Angesichts der gegenwärtig meist üblichen Leidensvermeidung und -bekämpfung hält dieser Erfahrungsschatz wieder einiges an Entdeckungen bereit. In schwerer Krankheit und im Angesicht des Todes war es jahrhundertelang Sitte und ist hier und dort bis in unsere Tage üblich, den Priester zur Letzten Ölung (heute: »Krankensalbung«) und zur letzten Eucharistie bzw. später den Pfarrer zum letzten Abendmahl zu rufen. Es war nicht nur Konvention und lästige Pflicht, sondern wohl oft auch dringend ersehnter Trost, nach der Bitte um Vergebung der Sünden und ausgesprochener Absolu tion mit dem Segen der Kirche zu sterben oder Angehörige und sich selbst der Barmherzigkeit Gottes zu versichern.7 Etwas davon lebt weiter im Bedürfnis nach einem »Abschied in Würde«. Dafür zu sorgen gilt als humane bzw. humanitäre Pflicht. Auch Feuerwehren und Rettungsdienste spüren heute immer deutlicher, dass eine Bergung der Toten in Würde zu geschehen hat, auch wenn dies wahrscheinlich eine ihrer schwersten Aufgaben ist. Dass der Beistand für Sterbende und Trauernde eine normale, wenn auch nicht immer zufriedenstellend ausgeübte Grundpflicht von Pfarrern war, zeigen die Visitationsfragen und -protokolle der Reformationszeit. Die zuhauf in dieser Zeit neu entstandenen Kirchenordnungen halten diese Pflicht regelmäßig als Grundaufgabe fest: »Derhalben sollen alle kirchendiener fleißig warten und jederzeit willig und bereit sein, wann sie zu kranken und sterbenden berufen werden, sie mit Gottes Wort und überreichung des heiligen nachtmals zu sterken und zu trösten.« Oder: »So sollen sich die kirchendiener der kranken, bedes, so ihres kirchendiensts begert wird und dann für sich selbsten, mit allem ernst und fleiß annemen und denselben vermög ires beruffs zu tag und zu nacht bereit sein.«8 Es gab sogar Ansätze einer organisierten »Notfallseelsorge«. Die »Generalartikel« des Herzogtums Pfalz-Neuburg von 1576 enthalten folgenden aufschlussreichen Passus, der zeigt, dass Erreichbarkeit, Arbeitsüberlastung und Konzentration auf die Person des Pfarrers nicht erst heute ein Problem sind. Laien haben selbstverständlich mitgearbeitet, wie ja auch Seelsorge nie allein ein Privileg oder eine Aufgabe allein des Klerus war:9 »Damit die pfarrer und kirchendiener in besuchung der kranken bei nacht und sterbensleuften alle stund nit also gespannen steen muessen, sonder derselben, damit si vermittlst der gnaden Gottes lange zeit der kirchen vorsteen möchten, billich, sovil
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2 ˘ Zur Theologie der Notfallseelsorge
immer muglich, verschont werden möchten, sollen die ambtleut sambt den superintendenten diese anordnung an allen orten verfuegen, damit krankentröster, seelwarter oder -warterin von mann- oder weibspersonen dermaßen bestellt [werden], daß si zu sterbnuszeiten den kranken nit allain auswarten, sonder auch, wo not, mit Gottes wort zuesprechen und si trösten künten, welche dann, nachdem si bestellt, von den pfarrern underrichtet, wie si den kranken nach gelegenhait der personen zuesprechen sollen. Doch sollen die personen allain in den notfällen gebraucht, zu andern zeiten aber, wann die sterbende leuf nachlassen, die kirchendiener arme leut sowol als die reichen auch unerfordert besuchen und sich uf solche seelwarter nicht verlassen.«10 Umstritten war die Frage, ob Seelsorger unaufgefordert oder nur aufgefordert zu Hausbesuchen aufbrechen sollten. Die oft bis in das 20. Jahrhundert hinein in reformierten Kirchen geübte Sitte, zusammen mit Kirchenältesten jedes Haus in der Gemeinde einmal im Jahr aufzusuchen und dort »Kirchenzucht«, also Kontrolle und Gemeindeerziehung, zu üben, hat sicher nicht ausschließlich positive Effekte gehabt. Lutherische Kirchenordnungen beharrten im Gegensatz dazu lieber darauf, dass es besser sei, zur Seelsorge gerufen zu werden. Heute ist man sich einig, dass die Initiative auch vom Pfarrer oder der Pfarrerin auszugehen hat.11 Entsprechend der den klassischen Menschenbildern zugrunde liegenden Unterscheidung von Wille, Verstand und Herz wurde unterteilt in Seelsorge an sündigen, irrenden und leidenden Menschen. Bei letzteren waren bisweilen schon die heutigen Indikationen von Notfallseelsorge im Blick. Hier war es schon früher selbstverständlich, dass die Initiative auch vom Pfarrer ausgehen konnte.12
2.1.2 Gegenwärtige Bedingungen der Notfallseelsorge Seelsorge im Angesicht des Todes ist also keine neue Aufgabe der Kirchen. Aber so wie sich gesellschaftlich der Umgang mit den Sterbenden und Trauernden, dem Tod und den Toten verändert hat, so hat sich auch die Wahrnehmung dieser kirchlichen Grundaufgabe an die gewandelten Bedingungen angepasst und muss dies auch weiterhin tun. Sie hat es getan, indem sie schon seit längerem an Krankenhäusern und anderen staatlichen »Anstalten« Stellen für Seelsorgerinnen und Seelsorger eingerichtet hat. Die Notfallseelsorge tut dies in einem Bereich, der bis vor kurzem nicht so viel kirchliche Auf merksamkeit gefunden hat.13 Typisch für den gegenwärtigen Umgang mit dem Tod ist weniger seine Verdrängung als seine immer noch weitergehende Institutionalisierung und Professionalisierung. Das ist keinesfalls selbstverständlich, sondern ein Kennzeichen neuzeitlicher (westlichabendländischer) Gesellschaften. In anderen Kulturen und zu anderen Zeiten ist bzw. war dies nicht so. Diese Entwicklung kann hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden, aber im Blick auf den Bereich, in dem die Notfallseelsorge tätig ist, sollen wenigstens einige Hinweise gegeben werden, damit die besonderen Bedingungen heutiger Notfallseelsorge besser verständlich sind.
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2 ˘ Zur Theologie der Notfallseelsorge
˘ Der neuzeitliche Kampf gegen das Risiko und das Entstehen neuer Risiken
Abgesehen von den Hospitalorden sind die Rettungsdienste und Feuerwehren in ihrer heutigen Form fast alle Kinder des 19. Jahrhunderts. Das zeigen die Gründungsdaten der freiwilligen Feuerwehren und des Roten Kreuzes.14 Einen besonderen Schub der Professionalisierung haben – vor allem im Bereich der Rettungsdienste – dann noch einmal die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts gebracht. Und es ist kein Ende abzusehen. Dieser Prozess der Institutionalisierung und Professionalisierung selbst ist zurück zuführen auf eine Lebenseinstellung, die nicht mehr geneigt ist, Tod, Unfälle und Katastrophen einfach als natur-, gott- oder schicksalsgegeben hinzunehmen. Gefahren aller Art sind nicht zum Aushalten oder zur Bewährung da, sondern sie müssen bekämpft werden, und zwar an allen Fronten und mit allen Mitteln. Man kann diese Form aktiver Kontingenz- und Risikobewältigung als geheimen Zweck unserer Gesellschaften ansehen.15 Es geht um Wohlstand und Sicherheit, um immer weitere Verbesserung der vorhandenen Welt, um Absicherung gegen natürliche und kreatürliche Unbill und Zufälle jeder Art oder wenigstens die Versicherung gegen deren finanzielle Folgen.16 Unseren Gesellschaften in Europa ist das im Gegensatz zu anderen Gegenden der Welt auch in einem erstaunlich weitgehenden Maß gelungen. Kaum ein Mensch in Westeuropa stirbt mehr an Hunger, Kälte, Feuer, Infektionskrankheiten oder fällt auf Reisen unter die Räuber. Und wenn einmal ein Obdachloser unter einer Brücke erfriert oder ein Toter nach Wochen in seiner Wohnung gefunden wird, findet das größte mediale Aufmerksamkeit. Galt bis vor etwa 100 bis 150 Jahren Kindersterblichkeit – auch bei uns! – als etwas Normales, ist heute ein tödlicher Unfall mit Kindern das Schlimmste, was Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Rettungsdiensten geschehen kann.17 Harnacks Wort vom »unendlichen Wert der Menschenseele«18 wurde erst vor hundert Jahren geprägt und scheint fast nur in unseren Breiten zu gelten, trotz – das darf man nicht verdrängen – inflationärer Abwertung des Wertes eines Menschenlebens in den Weltkriegen des letzten Jahrhunderts in unserem Teil der Welt und der beinahe regelmäßigen Hungerkatastrophen auf der Südhalbkugel. In einer Gesellschaft, in der so ziemlich alles plan- und machbar erscheint, in der für nahezu alle Notfälle spezielle Rettungsdienste und Hilfsorganisationen vorhanden und einsatzbereit sind, in der für alle Katastrophen Katastrophenschutzpläne erstellt und Katastrophenschutzstäbe aktivierbar sind, sind schon kleinere Unregelmäßigkeiten sowohl Herausforderung zum Handeln als auch Irritation, dass so etwas noch geschieht und noch nicht geregelt ist. Dennoch produziert unsere Gesellschaft selbst ständig neue Unsicherheiten und Risiken. Für den Bereich der Ökologie, der Folgen der Großtechnologie und der neuen Risiken im privaten Bereich (Patchwork-Biografien und -Familien) wird das ausgiebig diskutiert.19 Für den Umgang mit den politischen und ökonomischen Risiken neuzeitlicher Gesellschaften ist die Debatte nach einem Jahrhundert kriegerischer Katastrophen erst zuletzt durch die Wirtschafts- und Finanzkrise in Gang gekommen.20 Die soziologischen und historischen Debatten laufen merkwürdigerweise vollkommen unverbunden nebeneinander her. Das Individuum ist weniger denn je eingebunden und in seiner Entfaltung ein geschränkt durch ständische, schichtenspezifische, geschlechtliche oder religiöse Gren-
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voraussichtlich wie lange man noch an der Einsatzstelle benötigt wird und ob man sich hinterher zum Beispiel auf der Wache noch einmal trifft – oder sofort einen Kollegen vom Notfallseelsorgeteam um Verstärkung bitten. 17. Die eigene Verarbeitung des Einsatzes sicherstellen, z.B. durch eine Reflexion des Erlebten im unmittelbaren Anschluss an das Ereignis oder durch ein geregeltes Nachgespräch in den Tagen danach.
4.1.2 Überbringen von Todesnachrichten – vom Umgang mit schmerzlichen Wahrheiten Bianca van der Heyden Es klingelt. Frau Z., die an diesem Vormittag die Bügelwäsche erledigt, schaltet das Bügeleisen aus und öffnet die Tür. Draußen stehen zwei Fremde. Der eine stellt sich als Oberkommissar M. vor und zeigt seinen Dienstausweis. Den Namen des anderen versteht sie schon nicht mehr. »Sind Sie Frau Z., die Frau von Bernd Z.?« »Ja, das bin ich.« Frau Z. spürt, wie sich sofort ein ungutes Gefühl in ihrem Körper ausbreitet. Das Herz rast, der Mund ist trocken, ihr wird heiß, die Knie werden weich. »Ist etwas mit meinem Mann?« Frau Z. ist alarmiert. »Dürfen wir reinkommen?« »Ja bitte, kommen Sie rein. Ist etwas passiert?« »Wir würden uns gerne mit Ihnen hier an den Tisch setzen.« Frau Z. registriert nur am Rande, wie sie sich mit den beiden Männern an den Küchentisch setzt. Ihr kommt das alles unwirklich vor. Alles läuft ab wie in einem Film. »Frau Z., wir kommen mit einer schlechten Nachricht. Ihr Mann hat heute Morgen an seiner Arbeitsstelle einen Herzinfarkt erlitten. Er ist tot.« Was sich in diesem Moment in Frau Z. abspielt, lässt sich, wenn überhaupt, nur schwer ermessen. Vermutlich wird Frau Z. selbst erst viel später erfassen, welche Dimensionen die Nachricht vom Tod ihres Mannes für ihr eigenes Leben haben wird. Die emotionalen Strapazen, die der Verlust mit sich bringt, der Eintritt in den Trauerprozess, die durch den Tod völlig veränderte Zukunft, die Auseinandersetzung mit den sozialen und den existenziellen Auswirkungen des Verlustes – das alles steht Frau Z. noch bevor. In diesem Moment wird sie wahrscheinlich große Mühe haben, überhaupt zu begreifen, dass ihr Mann, der sich am Morgen wie immer verabschiedet hatte und zur Arbeit gegangen war, nie mehr nach Hause kommen wird. Fassungslosigkeit, Ungläubigkeit und Erstarren sind häufig erste Reaktionen auf die Nachricht vom plötzlichen Tod eines nahen Angehörigen. Meist war der oder die Verstorbene ein für die Hinterbliebenen sehr bedeutsamer Mensch: der Partner, die Partnerin, ein Elternteil oder ein Kind. Plötzlich zu hören, wie ein Fremder sagt: »Ihr Mann ist tot.«, löst
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bei den Adressaten der Nachricht verständlicherweise Widerstände und oft auch eine erste, typische Reaktion aus: »Nein! Das kann nicht sein!«
˘ Der Auftrag der Seelsorge und das Ziel der Überbringung
Wer als Notfallseelsorgerin oder als Polizeiseelsorger die Überbringung einer Todesnachricht begleitet, macht die Erfahrung, dass sich diese Einsätze durch ein wesentliches Faktum von anderen Einsätzen unterscheiden. Normalerweise finden wir als Seelsorgende ein bereits geschehenes Unglück vor, wenn wir am Einsatzort eintreffen. Wir arbeiten mit den Betroffenen an einer bereits vorhandenen Katastrophe. Im Fall einer Überbringung ist das anders. Auch wenn wir mit dem Tod des Angehörigen und seiner Ursache natürlich nichts zu tun haben: Im Moment der Überbringung der Todesnachricht sind wir diejenigen, die für die Hinterbliebenen eine Katastrophe lostreten. Wir erleben die Bandbreite möglicher Reaktionen, die diese Nachricht auslösen kann, unmittelbar und ungefiltert. Und das ist auch für professionelle Helferinnen und Helfer keine alltägliche Situation. Ganz gleich, wie gut auch immer wir uns vorbereiten, wie professionell auch immer sowohl die Lebensumstände des Verstorbenen als auch die Umstände seines Todes von der Polizei ermittelt wurden. Wenn wir an der Tür der Hinterbliebenen klingeln, wissen wir so gut wie nichts über die Qualität ihrer Beziehung zum Verstorbenen. Wir wissen nicht, ob beide friedlich oder im Streit auseinandergegangen sind, ob der oder die Hinterbliebene tieftraurig oder schockiert sein wird oder ob hinter dieser Tür vielleicht eine Flasche Champagner geöffnet wird, um erleichtert den Tod des Verstorbenen zu feiern (was durchaus schon vorgekommen ist). Wir wissen auch nur in seltenen Fällen etwas über die körperliche, seelische oder geistige Verfassung der Person, der wir eine so gravierende Nachricht übermitteln müssen. Kurz: Wir wissen nicht, wer oder was uns erwartet. Gerade angesichts dieser Unsicherheiten ist es geboten, sich so gut wie möglich auf das vorzubereiten, was letztendlich nicht wirklich vorbereitet werden kann. Es gilt, diesen Widerspruch, genau wie die Unkontrollierbarkeit der Situation, auszuhalten und dennoch die notwendige innere Sicherheit zu erlangen. Der vorliegende Artikel möchte gerade den in diesem Einsatzbereich noch unerfahrenen Kolleginnen und Kollegen helfen, Strukturen zu entwickeln, die ihnen Handlungssicherheit vermitteln können.3 Die im Folgenden einfließenden Erfahrungen von Kolleginnen und Kollegen der Polizei- und Notfallseelsorge können dabei eine wichtige Stütze sein. Mit dem Begriff der »Sicherheit« ist zugleich das Ziel benannt, das wie eine Überschrift über dem gesamten Einsatz steht. Wir werden die Hinterbliebenen in der Situation der Überbringung einer Todesnachricht weder trösten noch wirklich entlasten können. Dazu ist es zum Zeitpunkt der Überbringung noch zu früh. Wir können und sollten die Betroffenen jedoch darin unterstützen, den Tod ihres Verstorbenen zu begreifen. Die Sicherheit, dass der Verstorbene wirklich tot ist, ist für Hinterbliebene genauso wichtig wie die Sicherheit, in dieser Ausnahmesituation verlässliche Menschen an ihrer Seite zu haben, die ihre Reaktionen aushalten, sie stabilisieren, ihnen Zuwendung, Schutz und Halt anbieten. Beides, das Begreifen zu fördern und das solidarische Sorgen für Stabilität, gibt Sicherheit und ist unser Auftrag als Seelsorgerinnen und Seelsorger vor Ort.
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˘ Die Überbringung der Todesnachricht als Aufgabe der Polizei
Der polizeiliche Auftrag bei der Überbringung einer Todesnachricht lautet, einen nahen Angehörigen offiziell und auf angemessene Weise vom Tod des Verstorbenen zu informieren. Aus seelsorglicher Sicht ist das absolut sinnvoll. Die Überbringung von Todesnachrichten ist und bleibt die Aufgabe der Polizei. In seinem öffentlichen Amt dient der Polizist als Garant für den Wahrheitsgehalt der Nachricht. Er hat vor allen anderen Institutionen und Personen die Möglichkeiten, sich professionell über die Todesumstände und die Personalien des Verstorbenen zu erkundigen. Auch hat er als Amtsperson keinerlei Interesse daran, eine falsche Information weiterzugeben. All das macht ihn zu einem glaubwürdigen Überbringer einer Nachricht, die keiner gerne glauben möchte. Es ist jedoch aus den o.g. Gründen ebenso sinnvoll, eine Todesnachricht in Begleitung eines Polizeiseelsorgers oder einer Notfallseelsorgerin zu überbringen. Polizeiseelsorge und Notfallseelsorge kooperieren dahingehend, dass die Betreuung der Angehörigen von der Notfallseelsorge geleistet wird. Lediglich, wenn es um den Tod eines Polizisten und entsprechend um die Todesbenachrichtigung für die Familie geht, übernimmt die Polizeiseelsorge die Aufgabe. Inzwischen gibt es in fast allen Polizeibehörden für die Überbringung von Todesnachrichten geschulte Polizisten. Oft werden diese Schulungen von der Polizeiseelsorge organisiert und zusammen mit dem Koordinator oder der Koordinatorin der Notfallseelsorge durchgeführt. Neben grundlegenden Informationen zum Ablauf einer Überbringung, dem Gesprächsverlauf und den zu erwartenden Reaktionen der Betroffenen ist auch die Zusammenarbeit mit dem Seelsorger oder der Seelsorgerin Bestandteil der Seminare. Die Erwartungen der Polizisten an die Seelsorge sind vielschichtig und können, je nach Situation und Persönlichkeit, sehr unterschiedlich sein. Neben den seesorglichen Grundkompetenzen und Kenntnissen über polizeiliche Abläufe, wird jedoch durchgängig die Entlastung des Polizisten oder der Polizistin erwartet. Viele Polizisten schildern in den Seminaren den inneren Konflikt, in dem sie sich bei einer Überbringung befinden. Auf der einen Seite haben sie das Bedürfnis, sich intensiv um die Hinterbliebenen zu kümmern. Auf der anderen Seite stehen sie unter dem Druck, den Einsatz recht bald beenden zu müssen, um für den nächsten Einsatz frei zu sein. Für Polizistinnen und Polizisten ist es gut zu wissen, dass der Seelsorger bzw. die Seelsorgerin bei dem oder der Angehörigen bleiben kann. Neben der eigenen Entlastung nennen Polizisten oft noch einen weiteren Grund, Abb. 4 ˘ Überbringen von Todesnachrichten: Aufgabe der Polizei die Notfall- oder Polizeiseelsorge zu alar-
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mieren. Sie nehmen uns als Fachleute für spirituelle Fragen mit zur Überbringung. Gerade angesichts eines plötzlichen und vielleicht grausamen Todes werden die Fragen nach Gott, nach Schuld oder dem Leben nach dem Tod oder auch nach einem Gebet gestellt. Polizistinnen und Polizisten nehmen uns hier aufgrund unserer Profession als Vertreter des christlichen Glaubens in die Verantwortung.
˘ Alarmierung der Seelsorge und Vorbereitung der Überbringung
In vielen Behörden gehört die Alarmierung der Polizei- oder Notfallseelsorge bereits zum Standard bei der Überbringung einer Todesnachricht. Sie erfolgt normalerweise über die Leitstelle der Polizei. Todesnachrichten werden möglichst zeitnah überbracht. Auf diese Weise soll vermieden werden, dass die Betroffenen durch die Medien oder durch flüchtige Bekannte, die sich zufällig am Unglücksort aufhalten, über den Tod des Verstorbenen informiert werden. Deshalb ist es günstig, wenn der Seelsorger oder die Seelsorgerin schon zu einem möglichst frühen Zeitpunkt alarmiert wird. So bleibt noch Zeit, sich zusammen mit dem überbringenden Polizisten oder der überbringenden Polizistin auf den Einsatz vorzubereiten. Die Möglichkeit eines Treffens auf einer Wache in der Nähe des Einsatzortes hat sich bewährt, um sich kennen zu lernen, Informationen auszutauschen und Absprachen zu treffen. Bei der Überbringung einer Todesnachricht handeln Polizist und Seelsorger gemeinsam als Team für die Hinterbliebenen. Für die Polizei wird es zunächst darum gehen, möglichst viele gesicherte Informationen zu sammeln. Solange z.B. die Identität der Verstorbenen und die Personalien der Hinterbliebenen nicht absolut sicher geklärt sind, kann die Todesnachricht nicht überbracht werden. Ebenso wie die W-Fragen (Wer? Wann? Wo? Auf welche Weise? Wer war noch dabei?) besprochen werden, kann in der Vorbereitung des Einsatzes überlegt werden, mit welchem Setting bei der Überbringung zu rechnen ist bzw. wie man dieses gestalten könnte. Wer kümmert sich z.B. um anwesende Kinder? Ist es ratsam, für einen alten und gebrechlichen Menschen vorsorglich einen Arzt zu informieren? Welche Fragestellungen und Probleme können sich für den Hinterbliebenen aus den Todesumständen ergeben? Sind Personen ermittelt worden, die dem Sterbenden beigestanden haben und seine letzten Worte gehört haben? Wo befindet sich der Verstorbene jetzt und was geschieht mit seinen persönlichen Gegenständen und seiner Kleidung? Sollten Polizist und Seelsorger noch nicht zusammengearbeitet haben, kann es sinnvoll sein, den eigenen Arbeitsstil in aller Kürze zu beschreiben und sich darüber zu verständigen, wer voraussichtlich welche Anteile im Gespräch übernehmen wird. Die Tatsache, dass der Polizist oder die Polizistin die eigentliche Todesnachricht überbringt, ist hingegen nicht verhandelbar.
˘ Auf dem Weg zum Einsatzort
Da der Seelsorger oder die Seelsorgerin meist länger beim Hinterbliebenen bleibt, empfiehlt sich die Anfahrt zum Einsatzort in getrennten Fahrzeugen. Ob und wie man diese Fahrzeit zur inneren Vorbereitung auf den Einsatz nutzt, ist eine Sache des persönlichen Bedürfnisses. Es gibt Kollegen, denen es guttut, sich im Vorfeld intensiv mit ihren eigenen Gefühlen auseinanderzusetzen, und solche, die dies gerade in dieser Situation gar
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nicht gebrauchen können. Ich möchte an dieser Stelle Mut machen, zumindest die eigenen Grenzen wahrzunehmen und zu respektieren. Wer vielleicht gerade selbst um einen nahestehenden Menschen trauert, kann ein sehr guter Seelsorger sein. Es kann aber auch sein, dass er momentan besser andere Aufgaben übernimmt als ausgerechnet die Überbringung einer Todesnachricht zu begleiten. Wie gut, wenn es Kolleginnen und Kollegen im Hintergrund gibt, die in einem solchen Fall einspringen können. Auch vermeintliche Äußerlichkeiten spielen bei der Vorbereitung auf dem Weg zum Einsatzort eine Rolle: Es macht z.B. einen Unterschied, ob ich das auffällige Einsatzfahrzeug gleich vor der Haustür des Hinterbliebenen oder um die Ecke parke. Ebenso verhält es sich mit der Einsatzjacke. Habe ich diese Jacke vor der Tür an, bin ich schon von Weitem deutlich als Notfallseelsorger oder Polizeiseelsorger erkennbar. Wenn das Tragen der Einsatzjacke ein Stück Schutz bedeutet, Identität und Rollensicherheit verleiht, ist es gut, die Jacke anzulassen. Zugleich ist durch die Jacke jedoch auch für die achtjährige Tochter, die die Tür öffnet, weil ihre Mutter nicht da ist, offenkundig erkennbar, dass ein Notfallseelsorger oder ein Polizeiseelsorger mit der Mutter sprechen wollte. Was wird das Mädchen seiner Mutter erzählen, wenn sie nach Hause kommt? Vielleicht kann hier die dezent über den Arm gehängte Einsatzjacke einen Kompromiss darstellen. Jetzt wäre außerdem ein guter Zeitpunkt, das Handy auf lautlos zu stellen. Die (reale) Erfahrung zeigt, dass Klingeltöne wie »Pippi Langstrumpf« bei der Überbringung einer Todesnachricht nicht wirklich gut ankommen.
˘ An der Tür
An der Tür gilt die Regel: Geklingelt wird gemeinsam. Wer zuerst am Einsatzort eintrifft, wartet vor dem Haus oder im Fahrzeug auf den anderen. Es sind schon sehr peinliche Situationen dadurch entstanden, dass einer der beiden Überbringenden einfach schon mal zum Hinterbliebenen »vorgegangen« ist. Wie will man die Zeit bis zum Eintreffen des anderen überbrücken? Mit Kaffee und Gebäck sicherlich nicht. Bevor die Tür geöffnet wird, kann es sinnvoll sein, sich über seinen eigenen Gesichtsausdruck im Klaren zu sein. Wer sich unwohl fühlt oder angespannt ist, neigt häufig dazu zu lächeln. Bei einer Überbringung ist das jedoch fehl am Platz. Wird die Tür geöffnet, stellt man sich vor. Der Polizist wird seinen Dienstausweis zeigen. Zugleich wird er sich vergewissern, ob er die richtige Person vor sich hat: »Sind Sie die Frau von…?« Todesnachrichten werden weder an der Tür noch im Hausflur und erst recht nicht an der Sprechanlage überbracht. Normalerweise ist es kein Problem, auf die Bitte »wir würden gerne reinkommen« eingelassen zu werden. In Ausnahmefällen wird der Polizist oder die Polizistin wissen, wie man sich auf freundliche, aber bestimmte Art Eintritt verschafft. Auch wenn bei der Überbringung an der ein- oder anderen Stelle direktiv vorgegangen wird, sollte nicht vergessen werden, dass Polizist und Seelsorger zu jedem Zeitpunkt des Einsatzes beim Hinterbliebenen zu Gast sind. Zwang und Bevormundung sind hier fehl am Platz. Nicht selten kommt es vor, dass der oder die Hinterbliebene nicht zu Hause ist. Falls nicht zu ermitteln sein sollte, wo er oder sie sich befindet, kann die Nachricht nicht überbracht werden, es sei denn, ein weiterer naher Angehöriger wird ausfindig gemacht. Auf
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keinen Fall sollte eine Todesnachricht an Nachbarn oder andere Unbeteiligte überbracht werden. Es ist auch schon vorgekommen, dass die Nachricht vom Tod eines Elternteils an das zu Hause gebliebene minderjährige Kind überbracht wurde. Dass sich so etwas verbietet, braucht wohl nicht erklärt zu werden.
˘ In der Wohnung
In der Wohnung angekommen, ist es sinnvoll, das Umfeld wahrzunehmen. Ist noch jemand anwesend oder ist der Betreffende allein? Wenn Kinder im Raum sind, stellt sich die Frage, ob sie bei der Überbringung der Nachricht dabei sind bzw. wer sie betreut, wenn sie den Raum verlassen. Über die Anwesenheit von Kindern bei einer Überbringung gibt es unterschiedliche Ansichten. Eine optimale Lösung gibt es auch hier nicht. Meiner Erfahrung nach besteht nicht immer die Möglichkeit, dass die Kinder sich während der Überbringung der Nachricht im Kinderzimmer oder einem anderen Raum aufhalten. Aus meiner Sicht ist dies jedoch die günstigere Lösung, denn die Überbringungssituation stellt schon für Erwachsene eine extreme Situation emotionaler Überforderung dar. Wie verstörend muss es aus der kindlichen Perspektive wirken, wenn wie aus dem Nichts zwei Fremde in der vertrauten Wohnung erscheinen und den Vater bzw. die Mutter in eine emotionale Ausnahmesituation versetzen. Zwar werden die Kinder wahrscheinlich von sich aus spüren, dass etwas passiert ist, dennoch ist es aus meiner Sicht Sache der Eltern oder einer anderen vertrauten Bezugsperson, den Kindern die Nachricht vom Tod des Angehörigen zu vermitteln. Die Eltern sollten – als kompetente Fachleute für ihre eigenen Kinder – am besten entscheiden können, wann, von wem und wie ihre Kinder davon erfahren. Die kindgemäße Weitergabe der Nachricht kann den Eltern wiederum helfen, das Geschehene selbst zu begreifen. Alles in allem bleibt nicht viel Zeit zur Klärung des Settings. Zu groß ist die Anspannung, zu sehr drängt die Nachricht danach, ausgesprochen zu werden. Auf jeden Fall sollte man sich jetzt jedoch die Zeit nehmen, den Hinterbliebenen dazu zu bewegen, sich zu setzen. Wir wissen nicht, wie es um seine Gesundheit bestellt ist. Wer schon sitzt, kann nicht mehr fallen. Oft sind die Betroffenen zu aufgeregt, um sich zu setzen. Dann kann es helfen, wenn sich der Überbringer und sein Begleiter mit den Worten »Wir würden uns gerne mit Ihnen an den Tisch setzen.« oder »Bitte setzen Sie sich zu uns!« zuerst setzen.
˘ Die Überbringung der Nachricht
Die Todesnachricht wird nun ohne Umschweife überbracht. Jedes weitere Nachfragen oder Ausschmücken wäre eine zusätzliche Qual für den Betroffenen. Ebenso quälend wäre es, den oder die Hinterbliebenen raten zu lassen (»Sie können sich vielleicht schon denken, warum wir hier sind.«). Der Polizist oder die Polizistin überbringt die Nachricht in klaren und einfachen Worten, eventuell mit einer kurzen Einleitung: »Wir haben eine schlechte Nachricht… Ihr Mann ist heute Morgen mit dem Auto verunglückt. Er ist tot.« Es erfordert einige Disziplin, diese harten Worte zunächst so stehen und wirken zu lassen. Doch genau darum geht es jetzt. Die Worte wirken zu lassen. Zu gravierend ist ihre Bedeutung, zu einschneidend sind ihre Auswirkungen, als dass sie der oder die Hinterbliebene gleich erfassen könnte. Jede weitere Erklärung wäre entweder überflüssig, weil sie nicht ankäme oder
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7.8 Dienstplangestaltung in der Notfallseelsorge Uwe Rieske Es ist der Anspruch und die besondere Herausforderung der Notfallseelsorge, mit einem regionalen Team eine verlässliche Einsatzbereitschaft und die damit verbundene Kompetenz an 365 Tagen im Jahr zu gewährleisten. Während in vielen Landeskirchen ausschließlich Pfarrerinnen und Pfarrer die Einsätze übernehmen, werden andernorts ehrenamtlich Mitarbeitende in die Notfallseelsorgeteams integriert. Wie die jeweilige Dienstbereitschaft zu gewährleisten ist, kann nur in regionalen Verabredungen und Abstimmungen in den jeweiligen kirchlichen und politischen Strukturen und von und mit den regionalen Akteuren entschieden werden. Dabei sind rechtliche Rahmenbedingungen und -vorgaben ebenso zu berücksichtigen wie Kooperationsmöglichkeiten mit den Hilfsorganisationen vor Ort. Die Verlässlichkeit des Dienstes der Notfallseelsorge ist daran gebunden, dass diese Aspekte in ein regional gereiftes, vor Ort tragfähiges Konzept münden. Diesen Anspruch einzulösen, fällt in vielen Regionen angesichts steigender Anforderungen für viele Pfarrer schwerer als noch vor einigen Jahren. Umso mehr gilt es, tragfähige Konzeptionen insbesondere zur Gewährleistung der Bereitschafts- und Hintergrunddienste zu erstellen und zukunftweisende Überlegungen anzustellen, wie sich Dienstpläne füllen lassen, ohne dass die Koordinatoren selbst die freien Wochen übernehmen (müssen). Diese Aufgabe stellt besonders ländliche Regionen vor Herausforderungen. Auch deswegen ist auf die ursprüngliche Intention der Einrichtung des Notfallseelsorgerlichen Dienstes hinzuweisen: Er ist und bleibt Teil der gemeindlichen Seelsorge und soll den pfarramtlichen Dienst vom unmittelbaren Bedarf bei akuten Notfällen entlasten. In der Evangelischen Kirche im Rheinland, aber auch in anderen Landeskirchen wie in der Ev. Kirche in Norddeutschland werden für die Koordinatoren der Notfallseelsorge eigene pfarramtliche Stellenanteile bei entsprechenden Beauftragungen vorgesehen. Im Rheinland wurde mit einem Beschluss der Landessynode vom Januar 2012 empfohlen, dass mindestens 25% (Basisausbaustufe), möglichst aber 50% eines pfarramtlichen Dienstumfanges für die Koordination eines regionalen Notfallseelsorgeteams vorzusehen sind (vgl. Kap. 7.3). Die höhere Ausbaustufe der Notfallseelsorge, die berufsethische Unterrichte in der Feuerwehr und in den Hilfsorganisationen, die mögliche Mitwirkung als Fachberater PSNV im taktisch-operativen Stab des Kreises oder der kreisfreien Stadt, die regelmäßige Mitwirkung bei Katastrophenschutzübungen, regelmäßige Seminarangebote und Gottesdienste umfasst, verlangt eine volle Stelle.
˘ Dienstmodelle
Zudem sollen mindestens 26 Mitarbeitende in einem Notfallseelsorgeteam die Dienstbereitschaft gewährleisten. Um diese aufzuteilen, gibt es folgende regionale Dienstmodelle: ˘ Tandemdienst (NFS fahren im Zweierteam an den Einsatzort) ˘ Tandem/Hintergrunddienst (zwei NFS werden alarmiert, zusätzlich bleibt ein NFS im Bereitschaftsdienst)
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7 ˘ Organisation und Qualitätssicherung in der Notfallseelsorge
˘ Einzeldienst ˘ Einzeldienst/Hintergrunddienst (ein NFS wird alarmiert und fährt an den Ein-
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satzort, ein weiterer bleibt in Bereitschaft, um bei Bedarf weitere Unterstützung anzufordern) Aufteilung innerhäusliche/außerhäusliche Einsätze (erfahrene und besonders ausgebildete NFS bilden ein Team und übernehmen die außerhäuslichen Einsätze – z.B. Unfallsituationen –, während die NFS-Dienstbereitschaft sich auf die häuslichen Notfälle konzentriert) SvD übernimmt (der diensthabende Seelsorger übernimmt den Einsatz selbst) SvD sucht Gemeindepfarrerin/-pfarrer binnen 15 Minuten Kath./Ev. Wochen (Aufteilung der Dienstbereitschaft) Listenmodell für die Leitstelle (bei der Leitstelle liegt eine – evtl. regional und zeitlich gestaffelte – Liste mit alarmierbaren NFS, die bei Bedarf angerufen werden; diese müssen aber tatsächlich erreichbar und sofort abrufbar sein und die Leitstelle muss zu diesem »Service« bereit sein) innerkirchliches Listenmodell (beim Koordinator liegt eine Liste mit alarmierbaren NFS, die bei Bedarf angerufen werden) technische Lösung: »Durchklingeln« (die Leitstelle wählt eine Mobilnummer, unter dieser sind fünf Handys hintereinander geschaltet; sofern der erste SvD nicht annehmen kann, übernimmt der jeweils nachfolgende).
˘ Dienstwahrnehmung
Im Blick auf die Wahrnehmung der Dienste empfiehlt es sich, im Pfarrkonvent oder in den jeweiligen örtlichen Strukturen regionale Verabredungen zur Regelung der Notfallseelsorge-Dienstbereitschaften zu treffen und die jeweils praktikable Regelung zu suchen – und verlässlich umzusetzen. Es kann dabei sinnvoll sein, den Leitstellenbezirk regional zu gliedern und Dienstbereitschaften lokal zu verteilen und festzulegen. Dabei können während der Dienstbereitschaft für die Notfallseelsorge keine anderen dienstlichen Aufgaben (bei Ehrenamtlichen) oder pastoralen Verpflichtungen wahrgenommen werden, bei denen Unterbrechungen oder kurzfristige Absagen nicht möglich sind (z.B. Beerdigungen, Gottesdienste, Unterricht, Seelsorgegespräche). Aufteilungsformen für die Dienstwahrnehmung sind: ˘ NFS allein durch Pfarrer: Aufteilung evangelisch/katholisch/ökumenisch/ andere ˘ NFS-Bereitschaft wird von allen Pfarrern eines Kirchenkreises erwartet (steht in der Dienstanweisung), wer diesen Dienst nicht wahrnehmen kann, hat »Ersatzdienste« zu übernehmen. ˘ Kombination Geistliche/Ehrenamtliche: Die NFS eines Kirchenkreises bilden gemeinsam ein Team und teilen die Dienste unter den ausgebildeten und beauftragten Ehrenamtlichen und den pastoralen NFS auf. ˘ Kooperation mit Kriseninterventionskräften von Hilfsorganisationen vor Ort.
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7 ˘ Organisation und Qualitätssicherung in der Notfallseelsorge
˘ Dienstpläne und Bereitschaftszeiten
Eine für die Bereitschaft zur Übernahme von NFS-Diensten zentrale Frage ist, welchen Zeitraum jeweils der Bereitschaftsdienst umfasst. Der Trend geht dahin, überschaubare Zeitfenster für den NFS-Dienst zu reservieren, diese dann aber auch verlässlich freizuhalten. Nachteil: Je kleinteiliger die Dienstpläne, desto höher ist der Aufwand für die Koordinatoren. Mögliche Modelle sind: ˘ 7 Tage: Montag 8.00 Uhr bis Montag 8.00 Uhr ˘ 4 bzw. 3 Tage: Montag 12.00 Uhr bis Freitag 12.00 Uhr Freitag 12.00 bis Montag 12.00 Uhr ˘ 5 bzw. 2 Tage: Sonntag 23.00 Uhr bis Freitag 18.00 Uhr Freitag 18.00 Uhr bis Sonntag 23.00 Uhr ˘ 1 Tag: 24-Stunden-Dienst ˘ V Tag bzw. Nacht: Aufteilung der Dienste in drei Schichten von 7.30 bis 14.00, von 14.00 bis 20.00 und von 20.00 bis 7.30 Uhr. Als »Faustregel« für die zu gewährleistenden Dienstwochen/-tage pro Jahr gilt: Bei Beteiligung von 26 Seelsorgern im NFS-Team soll die NFS-Bereitschaft zwei Wochen, bzw. 14 Tage im Jahr umfassen. In vielen Regionen hat sich als unterstützende, flankierende Maßnahme für die Notfallseelsorge die Einrichtung eines Fahrdienstes – z.B. durch Kooperation mit einer Hilfs organisation oder Feuerwehr – etabliert, der entweder rund um die Uhr oder zumindest nachts von 18.00 bis 6.00 Uhr die NFS-Einsatzkraft zum Einsatzort fährt und während des Einsatzes auch einen logistischen Hintergrunddienst anbietet. Empfohlen wird, dass beim Wechsel der Dienstbereitschaft nicht auch die Notfallseelsorge-Ausrüstung übergeben werden muss, sondern jeder Notfallseelsorger über eine eigene Grundausrüstung für Einsatzkräfte verfügt. Sofern für die Gewährleistung der Notfallseelsorge Mittel für die Anschaffung des Ausstattungsbedarfs benötigt werden, lassen sich auch regionale Sponsoren gewinnen und/ oder der jeweilige Landkreis anfragen (vgl. Kap. 7.9). Auch dies ist Aspekt des Dienstes der Notfallseelsorge-Koordination, für den es entsprechende zeitliche Ressourcen braucht.
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7.9 Finanzierungsmodelle für die Notfallseelsorge Uwe Rieske In den meisten evangelischen Landeskirchen und katholischen Bistümern wird der Dienst der Notfallseelsorge bislang nahezu ausschließlich von kirchlichen Anbietern (Bistum/ Landeskirche/Kirchenkreis/Kirchengemeinde) verantwortet und finanziert. Dieses verlässliche Angebot lässt sich angesichts zurückgehender Finanzmittel in vielen Regionen nicht mehr ohne Anstrengungen vorhalten. Gleichzeitig ist das öffentliche Ansehen der Notfallseelsorge weiterhin hoch und – unbeschadet oder vielleicht gerade wegen der Tatsache, dass die Notfallseelsorge unentgeltlich und nicht missionarisch arbeitet – besonders öffentlichkeitswirksam. Auf und nach der bundesweiten Konsensus-Konferenz der Jahre 2007 – 2010 haben sich die Kommunen, kreisfreien Städte und Bundesländer bislang nicht bereitgefunden, die Psychosoziale Notfallversorgung flächendeckend als unabdingbaren Bestandteil der Gefahrenabwehr und des Katastrophenschutzes in die regionalen Rettungsketten aufzunehmen und entsprechend zu refinanzieren. So stellt sich in vielen Regionen die Aufgabe, Ressourcen und Quellen zu erschließen, die den Dienst der Notfallseelsorge auch künftig finanziell ermöglichen und abstützen. Folgende Ideen und Vorschläge erweisen sich als Erfolg versprechend: ˘ Refinanzierung durch einen Kreis/eine kreisfreie Stadt nach regionalen Möglichkeiten und Abstimmungen: In einigen Regionen gibt es eine kommunale Refinanzierung der Koordinationsaufgaben in der PSNV oder der Einsatznachsorge für Einsatzkräfte in Feuerwehren und Rettungsdiensten. ˘ Kooperation mit einer Hilfsorganisation, die das Notfallseelsorgeteam mit Einsatzkräften, Alarmierungshilfen, Fahrdienst und/oder Ausrüstung unterstützt. ˘ Gezieltes Fundraising für das Notfallseelsorgeteam, etwa bei der Ausrüstung (Einsatzjacken, Alarmierungsmittel, Rucksäcke), der Ausbildung von Ehrenamtlichen oder für Einsatzfahrzeuge. ˘ Einrichtung einer Stiftung für die kontinuierliche Refundierung und Unterstützung der Arbeit in der Notfallseelsorge (vgl. Kap. 7.11). ˘ Mehrere kirchliche Körperschaften (Kirchenkreise) finanzieren eine/n Koordinator/in in der Region mit einem bestimmten Stellenanteil (z.B. 25%), sodass diese/r für die Koordinationsaufgaben in der Region verlässlich von anderen Aufgaben freigestellt werden kann. ˘ Kooperation mit (Berufs)-Feuerwehren in der Region, die für das Notfallseelsorgeteam Räumlichkeiten und Ausstattung für Koordinationsaufgaben und Ausund Fortbildungen zur Verfügung stellen. ˘ Kooperationen mit anderen kirchlichen Seelsorgefeldern (Telefonseelsorge, Hospizseelsorge etc.) bei der Ausbildung von Ehrenamtlichen, der Nutzung von Räumlichkeiten für Koordinationsaufgaben oder Gruppentreffen und bei Fundraisingprojekten.
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˘ Kooperationen mit örtlichen Unternehmen/Organisationen/Schulen, für die
Fortbildung von Mitarbeitenden in Krisenintervention/Notfallseelsorge und für die Nachsorge und Beratung von Mitarbeitenden nach belastenden Einsätzen.
Diese Liste ist erweiterbar. Bei Überlegungen, die eine Unterstützung und Finanzierung des notfallseelsorgerlichen Angebotes zum Ziel haben, ist deutlich, dass Ansehen und Vertrauensschutz der Arbeit der Notfallseelsorge Basis und Ausgangspunkt aller entsprechenden Bemühungen sind und dass Überlegungen zu einer Refinanzierung die regionalen Gegebenheiten realistisch prüfen sollten. Nicht selten finden sich regionale Bündnispartner oder Unterstützer, die mit der Notfallseelsorge positive Erfahrungen gemacht haben und sich anschließend für sie einsetzen. Die Kriterien der Nachhaltigkeit und Kontinuität sollten bei Refinanzierungskonzepten möglichst beachtet werden.
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7 ˘ Organisation und Qualitätssicherung in der Notfallseelsorge
7.10 Ausstattungsbedarf für die Notfallseelsorge Uwe Rieske, Lars Tutt
7.10.1 Rucksack / Koffer Die (Mindest-)Ausrüstung für Mitarbeitende in der Notfallseelsorge umfasst: ˘ NFS-Weste/-Jacke ˘ Handy ˘ Adresslisten ˘ ggf. Funkmeldeempfänger ˘ Navigationsgerät ˘ Rucksack. In verschiedenen Notfallseelsorgesystemen gab es in den vergangenen Jahren Anstrengungen, für das Einsatzgeschehen Notfallmaterialien zusammenzustellen. Dabei hat sich gezeigt, dass neben regionalen und systemspezifischen Unterschieden – insbesondere bei den mitzuführenden Protokollen, Broschüren und Unterlagen – große Überschneidungen bei der Materialauswahl bestehen. Denkbar ist folgender Rucksackinhalt: ˘ Notfallordner mit Telefonlisten aller Seelsorgekräfte im Kreisgebiet und den Nachbarbereichen; der Krankenhäuser, Polizei- und Feuerwachen sowie Hilfs organisationen; von Psychologen, Neurologen und Therapeuten; von Frauenhäusern, Sozialen Hilfsdiensten, Selbsthilfegruppen und -organisationen und der Telefonseelsorge; des Weiteren Checklisten, Hinweise für das Verhalten in bestimmten Einsatzsituationen, Vordrucke für Einsatzprotokolle, Einsatzlisten und Straßenlisten etc. ˘ Flyer des eigenen Notfallseelsorge systems ˘ eigene Visitenkarten ˘ Landkarte ˘ Taschenlampe ˘ Einsatz-Taschenbücher wie »Wenn die Not Worte verschlingt« o.Ä. ˘ Taschenplan der Gefahrenabwehr des Kommunalkreises ˘ taktische Zeichen am Einsatzort ˘ Hinweise zum Verhalten beim Sprechfunk ˘ Teddy (s. Kap. 4.2.1 u. 7.10.2) ˘ Taschentücher Abb. 58 ˘ Ausführungsbeispiel für Rucksäcke Notfallnachsorge ˘ Bonbons, Kaugummi
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9 ˘ Praxisvorlagen
Uwe Rieske Die Notfallseelsorge differenziert ihr Angebot nach dem Bedarf, der in Einsätzen deutlich wird und passt ihre Standards und Kompetenzen entsprechend an. Für diese ständige Weiterentwicklung von bewährten Arbeitsformen bietet die Einsatzpraxis vor Ort ein unerschöpfliches Reservoir an Anregungen. Entsprechend ist die Anfertigung von Protokollen in Einsätzen oder unmittelbar danach nicht nur eine zuweilen als leidig empfundene Obliegenheit, die zu einer korrekten Statistik verhilft. Mit ihr gilt es auch, die seelsorgerliche Verschwiegenheit in Bezug auf persönliche Daten zu wahren – und zugleich zielgenau zu überprüfen, ob die Netzwerkarbeit in einem Team im Blick auf die Informationen zu Folgeangeboten bei bestimmten Notfallseelsorgeeinsätzen (Suizid, Gewalttat, Plötzlicher Säuglingstod etc.) ausgebaut werden muss. Nur durch Auswertung von Einsatzerfahrungen und -häufigkeiten lässt sich entscheiden, ob bestimmte Kompetenzen in einem NFS-Team durch Fortbildungen gestärkt werden können oder müssen oder das Adressenverzeichnis im Flyer eines regionalen Notfallseelsorgeteams zu aktualisieren ist. Zum »Materialpool«, aus dem die Teams für ihre Arbeit schöpfen können, gehören zudem nicht allein der geeignete Inhalt eines Notfallseelsorge-Rucksacks (vgl. Kap. 7.10.1) oder einer Einsatzjacke, sondern auch liturgische Empfehlungen und Erfahrungen von der Aussegnung beim häuslichen Tod bis zu einer öffentlichen Gedenkfeier. Praxisanregungen sind ebenso vielfältig wie die Einsatzbedingungen der Notfallseelsorge und können auch für regional bereits bewährte Verabredungen etwa zur Aufteilung der Dienstpläne und zur Gestaltung von Dienstanweisungen hilfreiche Impulse geben.
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9.1 Liturgische Vorlagen Claudia Geese
9.1.1 Überlegungen und Anregungen für ein Verabschiedungs ritual im Rahmen der Notfallseelsorge Rituale zeichnen sich durch eine klare, vergewissernde Struktur und einen Rückgriff auf Vertrautes aus. Besonders in einer als chaotisch oder beängstigend erlebten Situation können sie Halt und Schutz bieten.1 Sie können zu »Stützmauern der Seele« werden.2 In der Notfallseelsorge begleiten wir Menschen, die durch den plötzlichen Verlust eines Angehörigen von einer Minute auf die andere in ihrer Lebensgewissheit erschüttert sind. Das Angebot eines Verabschiedungsrituals von der/dem Verstorbenen kann ihnen helfen, ˘ ihren aufbrechenden Gefühlen im Gebet, Psalmen oder Texten einen Ort zu geben, ˘ sich im Empfang des Segens der Gegenwart Gottes zu vergewissern – für den geliebten Menschen sowie für sich selbst, ˘ den Verlust durch einen persönlichen Abschied ansatzweise zu realisieren und (durch Berührung, Streicheln der/des Verstorbenen) konkret zu »be-greifen«. Die vorliegenden Verabschiedungsrituale für Situationen, in denen die Notfallseelsorge Menschen begleitet (Plötzlicher Tod, Suizid, Unfalltod, Tod eines Kindes, Tod eines lang erkrankten Menschen), können als liturgische Vorlagen dienen, in erster Linie sind sie jedoch als eine Anregung und Arbeitshilfe gedacht: Jede/r Seelsorgende kann sich aus den verschiedenen Bausteinen sowie den Psalmen, Gebeten und Texten im Anhang ein Abschiedsritual zusammenstellen, das der eigenen Person, Sprache und Theologie entspricht. Die formulierten Gebete versuchen, die unterschiedlichen Gefühle und Reaktionen der Hinterbliebenen aufzunehmen und behutsam anzusprechen. Da jede Trauersituation jedoch anders ist, sind sie bewusst sehr offen gehalten, sodass sie individuell ausgestaltet werden können. Als Problem erschient hier vor allem eine adäquate Gebetssprache: ˘ Das generalisierende »Wir« z.B. (»Wir hoffen, dass Gott ...« oder »Wir können nicht begreifen«), das die Seelsorgerin/den Seelsorger mit einschließt, kann von den Hinterbliebenen als eine Vereinnahmung oder ein Übergriff in ihre Welt empfunden werden. ˘ Eine persönliche Glaubensaussage der Seelsorgerin/des Seelsorgers dagegen (»Ich vertraue darauf, dass...«) kann die Situation der Hinterbliebenen weniger mit einbeziehen. ˘ Eine rein unpersönliche Aussage wiederum (»Es ist nicht zu begreifen ...«) schafft unter Umständen eine zu große Distanz. Diese Problematik ist für die eigene Gebetspraxis wahrzunehmen und kritisch zu überprüfen.
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Möglicher Ablauf eines Verabschiedungsrituals
˘ Vorbereitung (Raum herrichten; Einladung an die Hinterbliebenen und Erläuterung des Ablaufs)
˘ einleitende Worte ˘ Anrufung und Votum ˘ Psalmlesung oder Text, besonders bei »natürlicher« Todesursache, wenn genügend ˘ ˘ ˘ ˘ ˘
Zeit für den Abschied bleibt freies Gebet Vaterunser
Segen für die/den Verstorbene/n Segen für die Angehörigen
Ermutigung an die Angehörigen zum persönlichen Abschied.
9.1.2 Abschied und Segen bei plötzlichem Tod im häuslichen Bereich Vorbereitung: 1. Angehörigen einen Abschied von der/ dem Verstorbenen anbieten, bei ungeklärter Todesursache (s.u.) mit Kriminalpolizei Zeitpunkt des Abschiedsrituals besprechen. 2. Verstorbene/n zudecken, falls nötig ein wenig zurechtmachen (Haare ordnen, Gesicht waschen; Augen schließen); Raum herrichten, Kerze anzünden; Angehörigen den Ablauf kurz schildern. 3. Gemeinsam mit Angehörigen den Raum betreten, sich einen geeigneten Platz neben der/dem Verstorbenen suchen, dabei Blickkontakt zu den Angehörigen halten. Besonderheiten bei »ungeklärter« Todesursache. Wenn der Notarzt die Todesursache nicht genau bestimmen kann, ruft er aufgrund dieser »ungeklärten Todesursache« die Polizei hinzu. Der »Leichensachbearbeiter« versucht noch vor Ort, die Todesursache zu ermitteln (genaue Untersuchung der/des Verstorbenen und der häuslichen Umstände) und »beschlagnahmt« schließlich nach den ersten Untersuchungen die/den Verstorbene/n (d.h. Abtransport zum Friedhof; der Staatsanwalt entscheidet, ob eine Obduktion veranlasst wird; erst danach kann eine »Freigabe« der/des Verstorbenen erfolgen). Für einen visuellen Abschied von der/dem Verstorbene/n gemeinsam mit den Angehörigen bedeutet dies, dass dafür nur der kurze Zeitraum zwischen Abschluss der Untersuchungen des Leichensachbearbeiters und Eintreffen des Vertragsbestatters der Polizei zum Abtransport bleibt.
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Zudem ist mit der Polizei abzuklären, ob die Angehörigen die/den Verstorbene/n beim Abschied berühren dürfen oder nicht. Wichtig ist, die Polizeibeamten rechtzeitig über den Wunsch eines Abschiedsrituals zu informieren und Zeitpunkt und Zeitraum (maximal 10 Minuten) mit den Beamten abzusprechen.
Eingangsvotum Im Namen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen Einleitende Worte Alles in Ihnen sagt: »Es kann und darf nicht wahr sein«; es ist, als wäre Ihnen der Boden plötzlich unter den Füßen weggezogen. Nur langsam werden Sie begreifen: _________________ ist tot. Es wird Zeit brauchen, bis Sie Ihre/Ihren _________________ loslassen können. Bevor er/sie aus dem Haus getragen wird, möchte ich jetzt mit Ihnen Abschied nehmen von _________________, mit Ihnen zu Gott sprechen, möchte Ihrer/Ihrem _________________ Gottes Segen zusprechen. Anrufung Gott, wir wenden uns an dich, obwohl wir dich gerade jetzt nicht verstehen, du uns verborgen und fremd erscheinst... Weil uns eigene Worte fehlen, rufen wir zu dir mit Worten aus der Bibel. Dort haben Menschen wie wir Tod und Abschied erlebt, halten trotz allem an dir fest und glauben: Du begleitest uns auch in den tiefsten Tiefen. Nach Psalm 69 (Klaus Bastian, in Auszügen) Gott, hilf mir, wie soll ich meine Not beschreiben? Was mir lieb war, ist nicht mehr, und von mir gerissen wurde, woran ich hing. Der Schreck ist mir in die Glieder gefahren, und mein Leben kommt aus dem Rhythmus. Es ist, als versänke ich in tiefem Morast, denn meine Gedanken finden keinen Grund; wie Füße im Treibsand werde ich nach unten gezogen.
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Notfallseelsorge ist Seelsorge in extremen Situationen. Dabei müssen sich Notfallseelsorger auf Menschen in außergewöhnlichen Gefühlslagen einstellen wie auf grausame Bilder. Sie begegnen Menschen, deren Biografie sich urplötzlich gravierend verändert – etwa durch einen Unfall oder eine Naturkatastrophe. Als Vorbereitung auf solche Situationen ist dieses Handbuch gedacht. Auf der Basis von Fallbeispielen, Merksätzen und eines umfassenden Regelwerkes ermutigt das Buch zu einer geistigen und geistlichen Auseinandersetzung mit dem Thema der Notfallseelsorge. Es gibt konkrete Handlungsempfehlungen für den Einsatz und eröffnet Wege für die Einsatznachsorge.
Die Notfallseelsorge hat sich in den vergangenen Jahren professionalisiert und auf neue Herausforderungen reagiert. Die 3. Auflage des Handbuches Notfallseelsorge greift diese Entwicklung auf und nimmt neue Themen in den Blick: ˘ Organisation und Qualitätssicherung ˘ Aus- und Fortbildungskonzepte ˘ Dienstpläne und Ausstattung ˘ Öffentlichkeitsarbeit, Finanzierung und Kooperation ˘ ehrenamtliche Helfer und staatliche Anerkennung ˘ muslimische Notfallbegleitung u.v.m.
Handbuch Notfallseelsorge
Joachim Müller-Lange, Uwe Rieske, Jutta Unruh (Hrsg.)
Herausgeber Joachim Müller-Lange Uwe Rieske Jutta Unruh
Das Handbuch richtet sich an Haupt- und Ehrenamtliche, die sich auf die Aufgaben der Notfallseelsorge fundiert vorbereiten möchten.
Handbuch Notfallseelsorge isbn 978-3-943174-23-6 www.skverlag.de
Handbuch Notfallseelsorge 3., vollständig überarbeitete Auflage