Notfälle und Krisen in Schulen - Prävention, Nachsorge, Psychosoziales Management

Page 1

Leitfaden für • Lehrkräfte • psychosoziale Akuthelfer • Schulpsychologie, -seelsorge und -sozialarbeit

Wie Lehrer, Psychologen und Sozialarbeiter, aber auch Notfallseelsorger und Mitarbeiter von Kriseninterventionsteams in solchen Situationen angemessen

reagieren, erläutert dieses Buch ausführlich. Der Autor, selbst psychosozialer Akuthelfer, beschreibt die Notfallvorsorge, Maßnahmen der psychischen Ersten Hilfe und die längerfristige Notfallnachsorge. Auch die besondere Situation der betroffenen Lehrkräfte ist ein Thema. Wissenschaftlich fundiert und gleichzeitig praxisorientiert, enthält dieser Leitfaden zahlreiche konkrete Handlungsanweisungen. So bietet sich ein umfassender Blick auf die Hilfeleistung im System Schule.

Notfälle und Krisen in Schulen

Die »School Shootings« an den Schulen in Erfurt, Emsdetten, ­Winnenden und Ansbach stellten für alle Betroffenen eine große ­Belastung dar. Psychologische Intervention ist aber auch notwendig beim plötzlichen Tod eines Lehrers, beim Suizid eines Schülers, bei der Entführung eines Kindes, bei Schulbusunfällen und Sportverletzungen.

Harald Karutz

Harald Karutz

Harald Karutz

Notfälle und Krisen in Schulen Prävention, Nachsorge, Psychosoziales Management

Notfälle und Krisen in Schulen Prävention, Nachsorge, Psychosoziales Management

ISBN 978-3-96461-017-1 · www.skverlag.de

2., komplett überarbeitete Auflage



Notfälle und Krisen in Schulen Prävention – Nachsorge – Psychosoziales Management 2., komplett überarbeitete Auflage Harald Karutz

Verlagsgesellschaft Stumpf + Kossendey mbH, Edewecht · 2020


Anmerkungen des Verlags Der Autor und der Verlag haben höchste Sorgfalt hinsichtlich der Angaben von Richtlinien, Verordnungen und Empfehlungen aufgewendet. Für versehentliche falsche Angaben übernehmen sie keine Haftung. Da die gesetzlichen Bestimmungen und wissenschaftlich begründeten Empfehlungen einer ständigen Veränderung unterworfen sind, ist der Benutzer aufgefordert, die aktuell gültigen Richtlinien anhand der Literatur und der Fachinformationen zu überprüfen und sich entsprechend zu verhalten. Die Angaben von Handelsnamen, Warenbezeichnungen etc. ohne die besondere Kennzeichnung ®/™/© bedeuten keinesfalls, dass diese im Sinne des Gesetzgebers als frei anzusehen wären und entsprechend benutzt werden könnten. Der Text und/oder das Literaturverzeichnis enthalten Links zu externen Webseiten Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat. Deshalb kann er für diese fremden Inhalte auch keine Gewähr übernehmen. Für die Inhalte der verlinkten Seiten ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber der Seite verantwortlich. Aus Gründen der Lesbarkeit ist in diesem Buch meist die männliche Sprachform gewählt worden. Alle personenbezogenen Aussagen gelten jedoch stets für Personen beliebigen Geschlechts gleichermaßen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen ­Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Notfälle und Krisen in Schulen Harald Karutz ISBN 978-3-96461-017-1 © Copyright by Verlagsgesellschaft Stumpf + Kossendey mbH, Edewecht 2020 Satz: Bürger Verlag GmbH & Co. KG, Edewecht Umschlagbild: Boris Vidovic, Medical Illustrations, Köln Druck: Alfa print, s.r.o., Martin, Slowakei


Inhalt

Abkürzungsverzeichnis

11

1

Einleitung

13

1.1 Die aktuelle Situation

13

1.2 Zu diesem Buch

18

1.3 Forschungsstand und Erkenntnisquellen

22

2

25

Thematischer Überblick

2.1 Allgemeine Notfallmerkmale

26

2.2 Notfalltypen

30

2.2.1 Zwischenmenschliche Notfälle

31

2.2.2 Medizinische Notfälle

36

2.2.4 Technisch bedingte Notfälle bzw. Unfälle

40

2.2.3 Naturbedingte Notfälle

38

2.3 Beteiligte und ihre Betroffenheit

45

2.4 Helfer und ihre Hilfsangebote

49

2.5 Hilfsangebote im zeitlichen Verlauf

55

2.6 Institutioneller und lokaler Kontext

57

2.7 Gesellschaftlich-kultureller Kontext

58

3

59

Betroffene

3.1 Schüler

3.1.1 Belastungen

3.1.1.1 Psychologische Belastungen 3.1.1.2 Physiologische Belastungen

3.1.2 Moderatorvariablen

3.1.2.1 Biologische Moderatorvariablen

59

59 61 68

72 74

5


˘ Inhalt

3.1.2.2 Soziografische Moderatorvariablen 3.1.2.3 Psychologische Moderatorvariablen

3.1.3 Situative Variablen

3.1.3.1 Präsituative Variablen 3.1.3.2 Perisituative Variablen 3.1.3.3 Postsituative Variablen

3.1.4 Reaktionen und Folgen

3.1.4.1 Kurzfristige Notfallfolgen 3.1.4.2 Mittel- und langfristige Notfallfolgen 3.1.4.3 Positive Folgen

3.2 Lehrkräfte

3.2.1 Belastungen

3.2.1.1 Psychologische Belastungen 3.2.1.2 Physiologische Belastungen

3.2.2 Moderatorvariablen

3.2.3 Reaktionen und Folgen

4

6

Prävention

76 80

88 89 92 96

98 101 112 124

125

126 126 130 131 141

143

4.1 Psychologische Prävention

144

4.2 Organisatorische Prävention

160

4.3 Technische Prävention

178

4.4 Kritische Aspekte von Prävention

185

5

187

Intervention

5.1 Ruhe bewahren

188

5.2 Überblick verschaffen

191

5.3 Einsatzkräfte alarmieren

192

5.4 Erste Hilfe leisten, Schüler in die Hilfeleistung ­einbeziehen

193

5.5 Mit Augenzeugen und Zuschauern umgehen

194

5.6 Informationen vermitteln

196


˘ Inhalt

5.7 Schüler nicht allein lassen, Bezugspersonen ­einbeziehen

198

5.8 Schutz und Sicherheit vermitteln

199

5.9 Angemessen auf die Nutzung von Mobiltelefonen reagieren

200

5.10 Merkhilfe

203

6

207

Nachsorge

6.1 Nachsorge für Schüler

6.1.1 Professionelle Unterstützung einbeziehen 6.1.2 Ergänzende Informationen vermitteln 6.1.3 Psychoedukation

6.1.4 Aktivität ermöglichen

207

218 223 224

226

6.1.5 Gespräche

229

6.1.6 Rückzugsraum einrichten

248

6.1.8 Religiöse Bedürfnisse beachten

254

6.1.10 Mit Medienvertretern umgehen

258

6.1.5.1 Setting 231 6.1.5.2 Gesprächsbeginn 233 6.1.5.3 Verhalten während des Gesprächs 234 6.1.5.4 Abschluss 237 6.1.5.5 Ergänzende Hinweise für 238 Gruppengespräche 6.1.5.6 Kurze Nachbesprechung 242 6.1.5.7 Längere Nachbesprechung 242 6.1.5.8 Critical Incident Stress Debriefing (CISD) 244 6.1.5.9 Gespräche in differenzierten 245 ­„Neigungsgruppen“

6.1.7 Rituale entwickeln

6.1.9 Auf Schuldgefühle reagieren 6.1.11 Soziale Medien beachten

250 256 262

6.1.12 Notfallspuren beseitigen

264

6.1.14 Rückkehr zum Schulalltag organisieren

265

6.1.13 Dank

264

7


˘ Inhalt

6.1.15 Reaktivierende Ereignisse beachten 6.1.16 Bei Bedarf weitere Hilfe vermitteln

269

6.2 Nachsorge für Eltern

271

6.3 Nachsorge für Lehrkräfte

273

6.4 Fehler

277

6.4.3 Vorwürfe, Anklagen

278

6.4.4 Gegeneinander arbeiten 6.4.5 Anspruch

6.5 Evaluation

7

276

6.4.1 Nichts tun

6.4.2 Bagatellisieren, dramatisieren

Ergänzende Hinweise für ­ spezielle Situationen

278

279

279

280

285

7.1 Medizinischer Notfall

286

7.2 Entführung

289

7.3 Tod

293

7.3.1 Tod eines Kindes (außerhalb der Schule)

293 7.3.1.1 Phase des Nicht-wahrhaben-Wollens 294 7.3.1.2 Phase der aufbrechenden Emotionen 299 7.3.1.3 Phase des Suchens und Sich-Trennens 300 7.3.1.4 Phase des neuen Selbst- und Weltbezugs

7.3.2 Tod eines Kindes (innerhalb der Schule)

7.3.3 Tod einer Lehrkraft (außerhalb der Schule) 7.3.4 Tod eines Angehörigen (außerhalb der Schule)

7.4 Suizidalität und Suizid 7.4.1 Suizidalität 7.4.2 Suizid

7.5 Feuer

8

268

304

305

306 307 309 310

316 317


˘ Inhalt

7.6 Körperverletzung 7.7 Amoklauf bzw. School Shooting

320 327

7.7.1 Risikofaktoren

330

7.7.3 Tatausführung

347

7.7.2 Bedrohungssituation

339

7.8 Notfall auf einer Klassenfahrt

350

7.9 Notfall im Umfeld der Schule

351

7.10 Umgang mit Flüchtlingskindern

353

8

Nachwort

361

9

Anhang

363

9.1 Musterbriefe

363

9.1.1 Beispiel für einen Informationsbrief an Kinder 9.1.2 Beispiel für einen Informationsbrief an ­Jugendliche 9.1.3 Beispiel für einen Informationsbrief an ­Eltern

9.2 Checklisten

365 367 369 371

9.2.1 Prävention

372

9.2.3 Nachsorge

375

9.2.2 Intervention 9.2.4 Telefonliste für Notfälle

9.3 Informationsquellen im Internet

9.3.1 Internetseiten mit allgemeinen Informationen zum Thema 9.3.2 Internetseiten mit Beratungsangeboten für Kinder und Jugendliche 9.3.3 Internetseiten mit Informationen zur ­Notfallvorsorge 9.3.4 Internetseiten mit Informationen zur ­Notfallnachsorge

374

376

378 378 380 381 383 9


˘ Inhalt

9.4 Materialien

9.4.1 Arbeitsmaterialien für den Unterricht 9.4.2 Bücher für Kinder und Jugendliche 9.4.3 Filme und Videos 9.4.4 Musik

9.4.5 Verbandkasten nach DIN 13157

9.4.6 Ausstattung Psychologischer Notfallkoffer

10

385

385

388

391

392

395

396

10 Verwendete Literatur

397

11 Register

429

Hinweise zum Autor

437

Notizen

438

Online-Material

440


1 ˘ Einleitung

1

Einleitung

1.1 Die aktuelle Situation Keine Schulform und -stufe bleibt von Notfällen und Krisen verschont. Unglücke, akute Erkrankungen, plötzliche Todesfälle und Gewaltakte treten in allgemeinbildenden Schulen ebenso auf wie in berufsbildenden; in Grundschulen ebenso wie in den Sekundarstufen I und II. Besonders im Fokus stehen natürlich Extremsituationen wie Amokläufe bzw. „School Shootings“. Daneben sind aber auch noch andere, weitaus häufigere Notfälle zu beachten. Fast täglich ereignen sich an Schulen zum Beispiel mehr oder weniger schwere Unfälle. Konflikte eskalieren und enden in körperlichen Auseinandersetzungen. Bei Schülern oder Lehrern treten akute Erkrankungen auf, oder ein Mitglied der Schulgemeinde verstirbt völlig überraschend. Von solchen Ereignissen ist in Schulen fast immer ein relativ großer Personenkreis betroffen. Augenzeugen, Zuschauer, Lehrkräfte, Freunde, Klassenkameraden und

Notfälle und Krisen sind Alltagsphäno­ mene

Abb. 1 ˘ Die öffentliche Anteilnahme ist bei Notfällen in Schulen besonders groß (Foto: Harald Karutz) 13


1 ˘ Einleitung

Wahrnehmng emotional aufgeladen

viele andere mehr: Bei ihnen allen kann das (Mit-)Erlebte vielfältige psychische Folgen verursachen. In der Öffentlichkeit und in der Politik rufen Notfälle in Schulen zudem heftige Reaktionen hervor (s. Abb. 1). Auch von den Medien werden sie besonders aufmerksam wahrgenommen, und über mögliche Ursachen und Konsequenzen von Unglücksfällen in einer Schule wird in der Regel emotional stark aufgeladen diskutiert. Weil jeder Erwachsene selbst einmal zur Schule gegangen ist, hat auch jeder zu schulischen Notfällen einen persönlichen Bezug. Gewissermaßen kann jeder mit eigenen Erfahrungen anknüpfen und mitreden. Tatsächlich haben Notfälle in Schulen gesellschaftliche Relevanz, denn nicht nur Kinder gelten als „das höchst zu schützende Gut einer Gesellschaft“, sondern ebenso jene „Einrichtungen, die für die Reproduktion der Gesellschaft sorgen“ (Röthlein 2007, S. 100).

Defizit in Lehramts­ ausbildung

In der Ausbildung von Lehrkräften werden Notfallsituationen allerdings kaum thematisiert; in den meisten Lehramtsstudiengängen ist das schulische Notfallmanagement überhaupt kein Thema. Daher überrascht es auch nicht, dass viele Lehrer in entsprechenden Befragungen (z. B. Stum 2014; Lang 2019) angeben, sich in Notfällen überfordert zu fühlen und verunsichert zu sein. In der Regel reagieren sie instinktiv oder sie improvisieren, d. h. sie handeln ganz einfach so, wie es ihnen gerade sinnvoll erscheint. Das kann durchaus hilfreich sein – aber nicht alles, was gut gemeint ist, ist auch wirklich gut. Zudem sollte beachtet werden, dass Lehrkräfte sich bei einem Notfall an ihrer Schule in einer außerordentlich schwierigen Lage befinden: ˘ Einerseits sind sie auch selbst vom jeweiligen Geschehen betroffen.

14


1 ˘ Einleitung

˘ Andererseits wird von ihnen erwartet, dass sie hoch professionell reagieren, obwohl sie auf diese Aufgabe meist nicht ausreichend vorbereitet worden sind. Zwar haben fast alle Bundesländer – basierend auf den Ergebnissen zahlreicher Expertenarbeitskreise – inzwischen Erlasse herausgegeben, mit denen das schulische Notfallmanagement geregelt und rechtlich abgesichert werden soll. Vielerorts stehen auch bereits spezialisierte Fachkräfte zur Verfügung. So wurde in Bayern bereits 2002 das „Kriseninterventions- und Bewältigungsteam Bayerischer Schulpsychologinnen und Schulpsychologen“ (KIBBS) aufgebaut. Parallel gibt es dort seit 2004 die „Krisenseelsorge im Schulbereich“ (KiS), die von der katholischen Kirche verantwortet wird, sowie seit 2012 die „Notfallseelsorge in Schulen“ (NOSIS) als ein Angebot der evangelisch-lutherischen Kirche. In Hessen besteht seit 2006 das „Schulpsychologische Kriseninterventionsteam“ (SKIT). In Nordrhein-Westfalen gibt es in jedem Kreis und jeder kreisfreien Stadt einen „schulpsychologischen Krisenbeauftragten“ sowie ein Landesteam für „schulpsychologische Krisenintervention“ usw. (s. Kap. 2.4). Die Sektion „Schulpsychologie“ im Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) hat dementsprechend auch bereits ein eigenes, 124 Unterrichtseinheiten umfassendes Curriculum zur schulpsychologischen Krisenprävention und -intervention vorgelegt (BdP 2011). In den letzten Jahren sind zudem zahlreiche Bücher publiziert worden, in denen Hinweise zum schulischen Notfallmanagement gegeben werden. Allein mit den seit 2010 neu erschienenen Publikationen lassen sich problemlos mehrere Regale füllen. Eine unüberschaubare Anzahl an Online-Materialien im Internet kommt noch hinzu. Basierend auf reflektierter Praxis wurden unterschiedlichste Konzepte entwickelt, um Notfallnachsorge für

vielerorts Fachkräfte verfügbar

Literatur inzwischen umfangeich

15


1 ˘ Einleitung

keine verbindlichen Regeln zum Umgang mit Notfällen

Kinder und Jugendliche bestmöglich zu organisieren, so beispielsweise das Konzept der „Strukturellen Interdiszi­ plinären Nachsorge“ (SIN; Weber und Kirmes 2018) und das Konzept der „Aufsuchenden Psychosozial-Systemischen Notfallversorgung“ (APSN; Kern und Finkeldei 2017). Sogar der regelmäßig in Erfurt stattfindende Bundeskongress „Notfallseelsorge und Krisenintervention“ war 2019 „Einsätzen in Schulen“ gewidmet. Insgesamt hat sich in den letzten Jahren somit viel getan; die Sensibilität für mögliche psychische Notfallfolgen und die Notwendigkeit professioneller Unterstützungsangebote nach Unglücken und Gewalttaten im Schulkontext ist zweifellos deutlich gestiegen. Die konkrete Situation in den einzelnen Schulen ist aber weiterhin sehr unterschiedlich. Dazu trägt auch das föderale System der Bundesrepublik Deutschland bei: Bundesweit einheitliche und vor allem verbindliche Regelungen für Notfälle in Schulen gibt es bislang eben nicht. Auch im „Konsensusprozess“ zur Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV), der von 2007 bis 2010 durch das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe in Bonn moderiert worden ist (BBK 2012), wurden spezielle Aspekte des schulischen Notfallmanagements kaum bzw. nur indirekt berücksichtigt. Daher hängt es oftmals von einzelnen Akteuren vor Ort ab, wie „offizielle“ Notfallpläne umgesetzt werden bzw. welche Reaktion auf einen Notfall erfolgt: ˘ In einigen Schulen liegen Notfallpläne nicht nur in Schubladen, sondern werden tatsächlich bereits „gelebt“. Die gesamte Schulgemeinde beschäftigt sich ganz selbstverständlich mit Fragen der Notfallvorsorge, und die Etablierung eines psychosozialen Notfallmanagements ist dort sogar in das Schulprogramm integriert. ˘ Viele Lehrkräfte und Schulleitungen engagieren sich zwar enorm, um den Bedarfen und Bedürfnis-

16


1 ˘ Einleitung

sen von Betroffenen in Notfällen gerecht zu werden. Teilweise sind sie jedoch gezwungen, sich in ihrer Freizeit und auf eigene Kosten fortzubilden, weil längst nicht alle Schulträger die erforderliche Finanzierung sicherstellen. ˘ Gelegentlich ist „blinder Aktionismus“ zu beobachten (Eikenbusch 2005, S. 6), d. h. es wird „irgendetwas“ getan, ohne die tatsächliche Notwendigkeit und die Angemessenheit von Nachsorgemaßnahmen zu reflektieren. ˘ Mitunter wird ein besonderes Engagement im schulischen Notfallmanagement auch im Kollegenkreis oder von Vorgesetzten „ausgebremst“ bzw. von vornherein als „unnötig“ abgetan, und ˘ gelegentlich wird von resignativem oder in anderer Weise unangebrachtem Verhalten berichtet. Beispiel In einer Befragung von Karutz (2004a, S. 103) zu einem tödlichen Unfall vor einer Schule äußerten sich mehrere Schüler z. B. bestürzt darüber, dass eine Lehrerin, „ohne weitere Notiz vom Notfallgeschehen zu nehmen oder auch nur ansatzweise Interesse zu zeigen, zu ihrem Auto ging und nach Hause fuhr“. Eine andere Situation schildert Fässler-Weibel (2005, S. 226): „Ein Gymnasiallehrer hat die Klasse über den Suizid eines Mitschülers informiert mit der Bemerkung: ‚K. war schon länger etwas komisch. Jetzt ist er tot.‘ Danach wendete er sich dem allgemeinen Schulstoff zu und ließ eine Mathematikprüfung schreiben.“

Die Art und Weise, wie in den einzelnen Schulen mit Notfällen umgegangen wird, variiert enorm. Einige Lehrkräfte und Schulleitungen vertreten im Hinblick auf die Durchführung von Nachsorgemaßnahmen sogar die Auffassung, dass man lieber nichts tun sollte, als womöglich „schlafende Hunde zu wecken“ (Wackerow und Prudlo 2001, S. 17). Häu-

Umgang mit Notfällen vari­ iert enorm

17


1 ˘ Einleitung

„nichts tun“ oder ignorieren sind unange­ bracht

fig soll nach einem Notfall in Schulen so rasch wie möglich „zur Tagesordnung übergegangen“ und „ein Schlussstrich gezogen“ werden. Das gelingt in der Regel aber nicht – und es ist aus fachlicher Sicht auch einfach nicht angebracht. Durch unterlassene Nachsorgemaßnahmen können Schüler sich unverstanden, in ihrer Bedürfnislage nicht ernst genommen oder übergangen fühlen. Oftmals wird die psychische Belastung durch Notfälle erwiesenermaßen unterschätzt (Yule und Williams 1990, Landolt 2000). Zugleich kann es sehr wohl auch ein „Zuviel des Guten“ geben!

1.2 Zu diesem Buch

Hilfe für Ein­ zelne vs. Hilfe im System Schule

Das Buch „Notfälle und Krisen in Schulen“ ergänzt den Titel „Kinder in Notfällen“ (Karutz und Lasogga 2016) – und umgekehrt. Selbstverständlich können beide Veröffentlichungen als eigenständige Werke gelesen werden und setzen nicht zwingend die Kenntnis des jeweils anderen Buchs voraus. In „Kinder in Notfällen“ steht der Umgang mit einzelnen notfallbetroffenen Kindern im Vordergrund, während nachfolgend vorrangig die Hilfeleistung im Kontext des Systems Schule thematisiert wird. Zu den Inhalten gehören daher auch gruppendynamische Auswirkungen von Notfällen, organisatorische Aspekte der Hilfe sowie Maßnahmen bei schulspezifischen Notfallsituationen, etwa einem „School Shooting“ oder einem Unglück während einer Klassenfahrt. Als kompaktes Taschenbuch und als zusammenfassendes Nachschlagewerk soll dieses Buch bei der Vorbereitung auf Notfälle in Schulen und bei deren Bewältigung hilfreich sein. Dabei sind die in diesem Buch enthaltenen Handlungsanweisungen soweit wie möglich – wissenschaftlich fundiert,

– kompakt zusammengefasst, 18


1 ˘ Einleitung

– didaktisch aufbereitet sowie

– konkret und „operationalisiert“ beschrieben. Zielgruppe der Veröffentlichung sind zunächst einmal alle interessierten Lehrkräfte und Schulleitungen, darüber hinaus aber auch psychosoziale Akuthelfer wie zum Beispiel Notfallseelsorger und Mitglieder von Kriseninterventionsteams sowie Schulpsychologen, Schulseelsorger, Schulsozialarbeiter und die Mitarbeiter in Familien- und Erziehungsberatungsstellen. Die inhaltliche Gliederung des Buches gestaltet sich dabei folgendermaßen: Zunächst werden Notfälle in Schulen mit ihren Besonderheiten dargestellt und kategorisiert. Auch wird erläutert, welche Personenkreise in welcher Weise betroffen sind. Anschließend werden die Belastungen beschrieben, mit denen Schüler und Lehrer bei Notfällen in Schulen konfrontiert werden: Das Verständnis der psychischen Situation der Betroffenen ist die Voraussetzung für eine angemessene Hilfeleistung. Die nächsten drei Kapitel sind chronologisch angeordnet. In ihnen werden konkrete Hinweise zur Prävention, d. h. zu Maßnahmen vor einem Notfall, zur Intervention während des Ereignisses sowie zur Nachsorge gegeben. Es folgen ergänzende Hinweise zu speziellen Situationen und im Anhang Checklisten, Hinweise auf Arbeitsmaterialien und weiterführende Literatur. Eine Differenzierung der Darstellung nach einzelnen Schulformen und -stufen sowie speziellen Gruppen von Betroffenen (z. B. Jungen und Mädchen) wurde bewusst nur dort vorgenommen, wo sie unbedingt geboten schien:

Notfall­ management in chono­ logischer Anordnung

˘ Durch einen Unfall in der Schule werden beispielsweise andere Belastungen verursacht als durch den Suizidversuch eines Schülers. ˘ Bei der Begleitung von Kindern, die um einen verstorbenen Angehörigen trauern, ist eine andere 19


1 ˘ Einleitung

Vorgehensweise angebracht als bei der Intervention während eines School Shooting usw.

einfache und rasch anwend­ bare HInweise

Ansonsten wird – wenn überhaupt – nur zwischen Lehrkräften, jüngeren Schülern (in Grundschulen) sowie älteren Schülern bzw. Jugendlichen (in weiterführenden Schulen) unterschieden. Auf diese Weise soll einer zu starken Zergliederung des Textes entgegengewirkt werden. Außerdem sind in Notfällen vorrangig Handlungsanweisungen angebracht, die möglichst rasch angewendet werden können, leicht zu handhaben und in möglichst vielen Fällen hilfreich sind – vergleichbar mit der Gabe eines Breitspektrumantibiotikums bei einer akuten Erkrankung. Im Notfall analysiert ein Arzt auch nicht erst zeitaufwendig den genauen Erregertyp, der für die jeweiligen Krankheitssymptome verantwortlich ist, und gibt dann ein spezielles Medikament. Vielmehr wird – zumindest zu Beginn der Therapie – stets eine Medizin verordnet, die schnell und gegen möglichst viele schädigende Bakterien wirkt. Sinngemäß lässt sich dies auch auf Notfälle in Schulen übertragen: Wenn man aus einer Vielzahl sehr differenzierter Regeln immer erst diejenigen auswählen müsste, die für einen ganz speziellen Einzelfall konzipiert worden sind, würde dies eine Hilfeleistung erschweren, verzögern und unnötig verkomplizieren. Zudem gelten Hinweise, die hier für eine bestimmte Situation oder Personengruppe beschrieben werden, in sehr ähnlicher Weise sicherlich auch für andere Ereignisse und Betroffene. Die Ausführungen zu Nachsorgeangeboten für Lehrkräfte gelten zum Beispiel ebenso für andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer Schule, auch wenn diese – wie Hausmeister und Sekretärinnen – nicht immer explizit mitgenannt sind. Um die Ausführungen in diesem Buch zu verdeutlichen, wurden an vielen Stellen sowohl positive als auch negative Beispiele eingefügt. Einige dieser Beispiele sind wissen-

20


1 ˘ Einleitung

schaftlichen Studien oder anderen Publikationen entnommen und werden hier zitiert. Bei anderen handelt es sich um reale Schilderungen aus der Praxis, die zum Schutz der Beteiligten ggf. verfremdet worden sind, ohne den inhaltlichen Kern der Darstellung zu verfälschen. Begriffsklärungen, Merksätze, Zahlen, Daten und Fakten sowie besonders wichtige Hinweise sind zusätzlich hervorgehoben. Zum didaktischen Konzept des Buches gehören außerdem zahlreiche Abbildungen. Für die zweite Auflage wurde das Buch komplett überarbeitet und deutlich ergänzt. Dennoch kann dieses einführende und Orientierung bietende Buch keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben: Gegebenenfalls wird daher auf weiterführende Literatur hingewiesen. Zudem berührt die Auseinandersetzung mit Notfällen in Schulen auch einige

Notfallpädagogik

Schulentwicklung Notfallpsychologie Schulisches Notfallmanagement

Gesundheitsförderung für Schüler und Lehrer

Pädagogische Professionalität

Abb. 2 ˘ Einbettung der Thematik in übergeordnete Themenbereiche 21


1 ˘ Einleitung

übergeordnete Themenbereiche, zum Beispiel die Schulentwicklung im Allgemeinen, die Arbeit an pädagogischer Haltung und Professionalität, die generelle Gesundheitsförderung von Schülern und Lehrern sowie die Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (s. Abb. 2). Diese Bezüge werden in den entsprechenden Passagen ebenfalls aufgezeigt, sodass bei einer vertiefenden Recherche daran weiter angeknüpft werden kann.

1.3 Forschungsstand und Erkenntnisquellen

bisherige Publi­ kationen meist monothema­ tisch oder nicht empirisch

Für dieses Buch wurde zunächst die zur Verfügung stehende Fachliteratur ausgewertet. So wurde in Veröffentlichungen aus den Bereichen der Notfallpsychologie, der Psycho­ traumatologie, der Schulpsychologie und der Schulseelsorge sowie der Notfall-, Trauma-, Schul- und Gesundheitspädagogik nach relevanten Inhalten recherchiert. Im deutschsprachigen Raum gibt es inzwischen zwar eine enorme Vielfalt von Publikationen, in denen es um Notfälle in Schulen geht (s. a. Kap. 1.1). Die überwiegende Mehrheit der vorhandenen Arbeiten bezieht sich allerdings ausschließlich auf Amoklagen bzw. School Shootings oder auf den Umgang mit trauernden Kindern, also lediglich auf sehr spezielle, ausgewählte Aspekte der Notfallnachsorge. Zudem sind längst nicht alle Veröffentlichungen empirisch begründet. Vielmehr bleibt festzustellen, dass zum Notfallmanagement an Schulen – von den sehr umfangreichen Untersuchungen zur Gewalt- bzw. Amokprävention (z. B. Scheithauer et al. 2015) einmal abgesehen – in Deutschland noch relativ wenig geforscht worden ist. Wissenschaftlichen Untersuchungen zur Amokprävention können zwar definitiv wichtige Hinweise für das schulische Notfallmanagement insgesamt entnommen werden. Vieles

22


3 ˘ Betroffene

3

Betroffene

3.1 Schüler

Nachfolgend wird beschrieben, wie Schüler Notfälle erleben: Darüber informiert zu sein, ist eine wichtige Voraussetzung für die Organisation einer angemessenen Hilfeleistung. Thematisiert wird sowohl die Situation von Schülern als Patienten im medizinischen Sinne als auch die Situation von unverletzt betroffenen Schülern, die einen Notfall als Augenzeuge oder Zuschauer miterlebt haben. Dabei entspricht die objektive Notfallschwere (wie z. B. die Beurteilung von Verletzungen eines Unfallopfers aus medizinischer Sicht) nicht immer der subjektiv empfundenen Belastung: „Nicht das (physikalische) Ereignis zählt, sondern das (psychische) Erlebnis“ (Rabenschlag 2002, S. 143).

objektive Schwere ≠ subjektiv empfundene Schwere

Notfälle, die einem Erwachsenen eher harmlos erscheinen, können Schüler sehr belastend erleben. Umgekehrt gilt: Notfälle, die aus Erwachsenensicht besonders „schlimm“ oder „heftig“ erscheinen, müssen dies für Kinder und Jugendliche nicht unbedingt sein!

3.1.1 Belastungen Grundsätzlich ergibt sich die psychische Situation von Schülern in Notfällen aus einem komplexen Zusammenwirken von Belastungsfaktoren, Moderatorvariablen und situativen Variablen. Die schematische Darstellungsform folgt im Wesentlichen der von Lasogga und Gasch (2011) eingeführten Systematik zur Beschreibung der psychischen Situation erwachsener Notfallbetroffener. Bei Kindern und Jugendlichen müssen jedoch zahlreiche Besonderheiten der kognitiven, emotionalen und sozialen Entwicklung berücksichtigt werden (s. Abb. 8, ausführlicher Karutz 2017a). Zunächst einmal können psychologische und physiologische (körperliche) Belastungen voneinander unterschieden

kognitive, emotionale und soziale Besonder­ heiten von Kindern

59


3 ˘ Betroffene

werden (s. Tab. 8). Hierbei handelt es sich um Faktoren, die in unmittelbarem Zusammenhang mit einem Notfall aufgetreten sind und in der Regel eindeutig negativ empfunden werden. Bei den psychologischen Belastungen lässt sich noch zwischen individualpsychologischen und sozialpsychologischen Belastungsfaktoren differenzieren: ˘ Individualpsychologische Belastungen resultieren aus dem betroffenen Kind oder Jugendlichen. Sie hängen von individuellen Merkmalen der Persönlichkeit, Gedanken, Vorerfahrungen, Befürchtungen und Erwartungen ab. ˘ Sozialpsychologische Belastungen werden demgegenüber durch die Interaktion mit anderen Menschen verursacht.

t

Psychologische und physiologische Belastungsfaktoren

Reaktionen und Folgen

Abb. 8 ˘ Erleben einer Notfallsituation

60

Präsituative, perisituative und postsituative Variablen

Biologische, psychologische und soziografische Moderatorvariablen

Notfall!


3 ˘ Betroffene

Tab. 8: Belastungen in einem Notfall Psychologisch

Physiologisch

Individualpsychologisch

Sozialpsychologisch

Intern

Extern

• Neuheit, ­fehlendes Wissen • Kontrollverlust • Sprachlosigkeit

• Frosch­ perspektive • Anblicke • Empathie • Zuschauer, ­Medienvertreter • alters­ unangemessenes Verhalten • besondere ­Äußerungen

• Schmerzen • Durst • Bewegungs­ einschränkungen • sensorische ­Empfindungen

• Gerüche • Lärm, Stille und Geräusche • Hitze bzw. Kälte

Bei den physiologischen Belastungen kann wiederum zwischen internen und externen – also von außen auf den Menschen einwirkenden – Belastungen differenziert werden. Die nachfolgend aufgeführten Belastungen treten selbst­ verständlich nicht immer gemeinsam oder gleich stark auf, sondern in unterschiedlichsten Kombinationen und unter­ schiedlich ausgeprägt; je nachdem, um was für eine Not­ fallsituation es sich handelt.

3.1.1.1 Psychologische Belastungen Individualpsychologische Belastungen Neuheit, fehlendes Wissen: Zumindest wenn jüngere Schüler eine Notfallsituation erleben, ist das für sie zunächst einmal etwas völlig Neues. Sie verfügen häufig noch nicht über vergleichbare Vorerfahrungen. Ihnen fehlen Informationen, um das Erlebte angemessen erklären, bewerten und kognitiv nachvollziehen zu können. Zudem werden Wissenslücken bei Kindern manchmal mit magisch-mystischen, teilweise sehr irrationalen Annahmen und Vorstellungen

fehlende Erfahrung und Wissen bei jungen Kindern

61


3 ˘ Betroffene

geschlossen, die ihrerseits eine zusätzliche Belastung darstellen können (Lohaus und Ball 2006, Zehnder 2012). Beispiel Aussagen von Kindern im Grundschulalter können bei­ spielsweise lauten: „Ich glaube, der Jonas ist die Treppe heruntergefallen, weil wir gestern ‚Klingelmännchen‘ gespielt haben!“ oder „Die haben der Lisa eine Spritze gegeben, damit sie keine Hexe wird!“ Erfahrungen, die neu und unverständlich sind, werden von Schülern umso intensiver erlebt und abgespeichert. An ihre ersten Notfallerfahrungen können sich viele Menschen auch im Erwachsenenalter daher noch bestens erinnern! Kontrollverlust: In Notfallsituationen haben Kinder weniger Kontrolle über das Geschehen und die Umwelt als üblich. Manchmal haben sie sogar den Eindruck, überhaupt keinen Einfluss mehr ausüben zu können. Dieser Kontrollverlust bzw. das mangelnde Selbstwirksamkeitserleben ist sehr belastend, und das umso mehr, je weniger ein Kind eigene Handlungsziele (z. B. schreien, weglaufen) verwirklichen kann (Juen 2002). Beispiel

Ohnmachtsge­ fühle wegen mangelnder Handlungs­ optionen

62

Bei dem Amoklauf in Erfurt waren einige Schüler nicht nur Augenzeugen und haben gesehen, wie der Täter auf ihren Lehrer geschossen hat, sie haben auch das Sterben des Verletzten miterlebt, ohne ihm helfen zu können. Die grausame Situation schildert Waldrich (2007, S. 14): „Die Schüler sehen, dass Lehrer Wolff noch atmet. Dann fallen weitere Schüsse. Die Schüler hören Schreie. Noch lange kauern die Schüler in der Ecke des Klassenraums und müssen mit ansehen, wie ihr Lehrer stirbt. Sie hören ihn atmen. Einmal schluckt er noch und röchelt. Nach anderthalb Stunden ist er plötzlich still.“


3 ˘ Betroffene

Das Ausmaß eines erlebten Kontrollverlustes bzw. des Hilf­ losigkeitsgefühls ist ein wesentlicher Risikofaktor für die Entwicklung negativer psychischer Folgen nach einem Not­ fall (Nader und Pynoos 1993). Sprachlosigkeit: Kinder im Grundschulalter können Schmerzen oder andere Dinge, die sie belasten, nicht immer ausreichend mitteilen. Der jeweilige Stand der Sprachentwicklung ist eine Ursache dafür, dass manchmal tatsächlich die Worte fehlen und ein Kind nicht angemessen verbalisieren kann, was es bedrückt (Krüger 2014). Krol (2009) berichtet von Schülern, die nach der Entführung eines Klassenkameraden große Unbeholfenheit zeigten und offenbar erhebliche Schwierigkeiten hatten, ihre Gefühle in Sprache umzusetzen. Lueger-Schuster und Pal-Handl (2004, S. 22) bezeichnen dies als ein „altersbedingtes Fehlen des sprachlichen Ausdrucks für innerpsychische Vorgänge“. Ein zusätzliches Problem besteht darin, dass viele Kinder, mitunter auch Jugendliche, Angst davor haben, ein Unglück mit der Äußerung bestimmter Dinge noch zu verschlimmern. Sie überlegen, was ihre Äußerung womöglich anrichten könnte, verzichten dann unter Umständen lieber darauf, etwas zu sagen und tun so, als wäre alles in Ordnung. Wenn jüngere Kinder Schmerzen haben, kann es auch sein, dass sie diese bewusst verschweigen, weil sie fürchten, ihnen stehe sonst eine schmerzhafte Behandlungsprozedur, ein Krankenhausaufenthalt oder eine schreckliche Operation bevor. In ähnlicher Weise gilt dies für belastende Gedanken: Ein Schüler traut sich unter Umständen nicht, über sie zu sprechen, weil er fürchtet, er könnte für diese Art von Gedanken von seinem Lehrer bzw. seiner Lehrerin bestraft werden.

fehlende Ver­ balisierungs­ fähigkeit bei Kindern

Schweigen aus Angst vor negativen Folgen

Sozialpsychologische Belastungen Froschperspektive: Die Wahrnehmung eines Notfallgeschehens „von unten nach oben“ kann ebenfalls Angst auslö63


3 ˘ Betroffene

sen oder verstärken. Personen, die sich vor einem Kind „aufbauen“, erscheinen überdimensional groß oder verzerrt. Das Wahrgenommene kann daher bedrohlich wirken (Karutz und Lasogga 2016).

Auf Augenhöhe des Kindes gehen!

Wenn ein verletztes, auf dem Boden liegendes Kind „von oben herab“ behandelt wird, sorgt schon dies für eine (unnötige!) Zusatzbelastung. Sie lässt sich jedoch vermei­ den, wenn man sich bei der Hilfeleistung stets auf die Augenhöhe des betroffenen Kindes herunterbeugt bzw. auf die Knie geht. Anblicke: Auch der Anblick von Verletzungen, Blutspritzern, Erbrochenem und Toten wird von Kindern als sehr belastend erlebt. Allein schon der Anblick von Notfallspuren, zum Beispiel Bremsspuren, Kreidemarkierungen der Polizei auf einer Straße oder Einschusslöchern in den Wänden eines Schulgebäudes, kann äußerst unangenehm sein (s. Abb. 9).

Notfallspuren können belasten

Kinder, die einen Notfall selbst überhaupt nicht miterlebt haben und stattdessen lediglich die Spuren des jeweiligen Ereignisses zu sehen bekommen, werden dadurch mitunter angeregt, sich das Geschehene in ihrer Fantasie auszuma­ len. Beispiel Bei einem Verkehrsunfall wurde ein Schüler auf seinem Fahrrad unmittelbar vor der Schule angefahren und schwer verletzt. Schüler, die lediglich das verbogene Fahrrad sahen, berichteten in einer Interviewstudie noch Monate später, dass sie sich immer wieder vorgestellt hätten, wie der ver­ letzte Mitschüler ausgesehen haben muss, wenn schon sein Fahrrad so stark beschädigt war. Bei einem anderen Unfall haben Rettungsdienstmitarbeiter ihre blutverschmierten Handschuhe nach der Versorgung des Patienten in einem Mülleimer auf dem Schulgelände entsorgt. Allein der

64


3 ˘ Betroffene

Anblick dieser Handschuhe löste wildeste Spekulationen über die entstandenen Verletzungen aus (Karutz 2004a).

Empathie: Generell können Schüler sich mit den direkt von einem Notfall Betroffenen identifizieren oder zumindest solidarisch verbunden fühlen, oftmals haben sie auch ein äußerst starkes Mitgefühl (TAPN 2005). Wenn keine Hilfe erfolgt und Erwachsene bei einem Unglück scheinbar untätig zuschauen, ist das für Schüler sehr unangenehm. Das Unterlassen von Hilfe ist für sie kaum nachzuvollziehen (Karutz 2004a). Zudem ist sicherlich von Bedeutung, in welcher Beziehung direkt und indirekt Notfallbetroffene zueinander stehen. Wenn ein Schüler davon erfährt, dass ein Fremder verunglückt ist, dürfte dies eine andere Relevanz haben als wenn ein Klassenkamerad betroffen ist. Wenn Freunde eines Kindes, Geschwister, Eltern oder Lehrkräfte von einem Notfall betroffen sind, ist dies für Kinder vor allem deshalb stark belastend, weil ihnen diese Bezugspersonen sonst Sicherheit vermittelt haben (Fischer 2011).

soziale Nähe zum Not­ fallopfer ist entscheidend

Abb. 9 ˘ Notfallspuren als Belastungsfaktor (Foto: Harald Karutz) 65


3 ˘ Betroffene

Auch und gerade Lehrkräfte haben im Leben vieler jünge­ rer Kinder eine enorme Bedeutung. Eine akute Erkrankung oder Verletzung von Lehrkräften ist deshalb extrem belas­ tend und kann bei Schülern heftige Reaktionen verursa­ chen, die niemals unterschätzt werden sollten!

Schüler von Medien­ vertretern abschirmen!

Zuschauer und Medienvertreter: Kinder und Jugendliche empfinden ebenso wie Erwachsene die Anwesenheit von Zuschauern und Medienvertretern bei Notfällen als unangenehm. Vor allem Fotografen werden als zusätzliche Belastung erlebt, weil sie eben nicht helfen, sondern aus Sicht der von einem Notfall betroffenen Schüler „nur herumknipsen“ (Karutz 2004a, S. 111; s. Abb. 10). Mitunter wird sogar berichtet, dass Kinder und Jugendli­ che nach Notfällen in Schulen regelrecht bedrängt wurden, um z. B. ein Interview zu geben oder sich zum Ablauf des Notfallgeschehens zu äußern. Vor solchen Übergriffen sind Schüler unbedingt zu schützen!

Abb. 10 ˘ Ein besonders aufdringliches Verhalten von Medi­ envertretern wird bei Notfällen in Schulen als starke Belas­ tung empfunden (Foto: Harald Karutz). 66


5 ˘ Intervention

5

Intervention

Wenn ein Notfall eingetreten ist, muss aufbauend auf der durchgeführten Prävention rasch gehandelt werden. Die im folgenden Abschnitt beschriebenen Maßnahmen beziehen sich daher auf die Hilfeleistung in oder unmittelbar nach einem Notfallgeschehen, d. h. auf die ersten Stunden nach dem jeweiligen Ereignis. Die Textgliederung erfolgt schematisch-chronologisch, d. h. die einzelnen Hinweise sind so angeordnet, wie sie prinzipiell auch in der Praxis zu beachten sind (s. Tab. 21). Es handelt sich jedoch um Vorschläge und Anregungen. Entscheidungen über die Durchführung der Interventionen im Einzelfall müssen natürlich von der verantwortlichen Lehrkraft, der Schulleitung oder dem Notfallteam der Schule getroffen werden.

Intervention = Maßnahmen in oder direkt nach Notfall­ situation

Je nach konkreter Situation vor Ort kann auch eine abweichende Reihenfolge der einzelnen Maßnahmen erforderlich sein! Tab. 21: Maßnahmen unmittelbar während einer Notfallsituation •

Ruhe bewahren

Überblick verschaffen

Einsatzkräfte alarmieren

Erste Hilfe leisten

Schüler in die Hilfeleistung einbeziehen

mit Augenzeugen und Zuschauern umgehen

Informationen vermitteln

Schüler nicht allein lassen

Bezugspersonen einbeziehen

Schutz und Sicherheit vermitteln

angemessen auf die Nutzung von Mobiltelefonen reagieren

187


5 ˘ Intervention

5.1 Ruhe bewahren Vom Eintritt eines Notfallgeschehens an orientieren sich Kinder und Jugendliche an den anwesenden Erwachsenen: Verhalten von Lehrkräften = Modell für Schüler

˘ Wenn Lehrkräfte hektisch werden, überträgt sich dies auf die Schüler. ˘ Gelingt es Lehrkräften jedoch, selbst Ruhe zu bewahren, werden ihre Schüler allein schon dadurch beruhigt (s. Kap. 3.1.3.2). Merkt ein Lehrer, dass er sehr aufgeregt ist oder starke Angst empfindet, sollte er daher zunächst einmal Methoden der „psychologischen Selbsthilfe“ (Karutz 2013) anwenden. In vielen Notfallplänen steht lediglich, dass man Ruhe bewahren soll – es wird aber nicht aufgezeigt, was man tun kann, damit dies auch tatsächlich gelingt! Solche oberflächlichen Hinweise sind daher als bloße Worthülsen zu betrachten, die kaum weiter helfen!

Erregung ≠ Handlungs­ unfähigkeit

Bewertung von Stress: Das Empfinden starker Erregung muss nicht zwangsläufig darauf hinweisen, dass man nur noch eingeschränkt handeln kann oder gar handlungsunfähig ist. Erregung trägt zunächst dazu bei, dass die Leistungsfähigkeit steigt. Die Ausschüttung von Stresshormonen sorgt dafür, dass die Muskulatur besser durchblutet wird, dass man aufmerksamer wahrnimmt und rascher reagieren kann. Anspannung ist also nicht von vornherein negativ zu bewerten. Sie ist etwas durchaus Positives. Erst bei extremer Erregung sinkt die Leistungsfähigkeit. Nach dem Yerkes-Dodson-Gesetz ist ein mittlerer Erregungsgrad ideal (s. Abb. 15)!

188


5 ˘ Intervention

Leistungsfähigkeit

Herausforderung „Eustress“

Ein mittlerer Erregungsgrad ist optimal!

Überforderung „Disstress“

Erregungsgrad

Abb. 15 ˘ Yerkes-Dodson-Gesetz (nach Yerkes und Dodson 1908) Positive Selbstinstruktion: Man kann sich selbst sagen, wie man reagieren soll. Diese Anweisungen kann man leise vor sich hin flüstern oder auch nur im Geiste formulieren, sodass sie niemand mitbekommt. Beispiel: „Okay, ich werde die stabile Seitenlage hinbekommen!“ oder „Hey, ruhig. Das schaffst Du!“ Wichtig ist, dass diese Selbstinstruktionen positiv formuliert werden, also nicht: „Oh je, ist das ekelhaft. So viel Blut. Ich werde mich aber nicht übergeben!“

Wichtig: Positivformu­ lierungen!

Negativformulierungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass gerade das unerwünschte Verhalten gezeigt wird! Positive Vorerfahrungen: Es kann auch hilfreich sein, sich für einen kurzen Augenblick an frühere Notfallsituationen zu erinnern, die man gut bewältigt hat („Bei dem Unfall vor fünf Jahren bin ich ganz ruhig geblieben. Das schaffe ich jetzt auch wieder!“). Lehrer haben auch durchaus Routine im Umgang mit unvorhergesehenen Situationen, mit denen sie sehr plötzlich konfrontiert werden.

189


5 ˘ Intervention

Solche positiven Erfahrungen sollte sich jede Lehrkraft vergegenwärtigen: Schon dies kann eine stärkende, beruhigende Wirkung entfalten! Regeln: Wenn man sehr aufgeregt ist und nicht weiß, mit welcher Maßnahme man anfangen soll, kann man sich einfache Regeln wie die hier beschriebenen Hinweise zur Intervention noch einmal vergegenwärtigen. Es gilt: Immer eines nach dem anderen! Also „Ruhe bewahren“, „Überblick verschaffen“, „Einsatzkräfte alarmieren“ usw.! eingeübte Ent­ spannungsme­ thoden greifen auch im Notfall

Atmung und Entspannung: Bei starker Anspannung helfen auch einfache Atemübungen sehr effektiv. Man konzentriert sich darauf, drei oder vier tiefe Atemzüge auszuführen, oder man wendet eine Entspannungstechnik an wie die progressive Muskelentspannung. Solche Verfahren können in einer akuten Notfallsituation enorm hilfreich sein, sie setzen allerdings eine entsprechende Schulung und ein regelmäßiges Training voraus! Rationalisieren: Die Belastung von Lehrern hängt häufig auch davon ab, wie sich die notfallbetroffenen Schüler verhalten. Die Konfrontation mit verletzten Kindern, die sehr laut schreien und weinen, kann zum Beispiel als sehr belastend erlebt werden. Vielleicht ist in diesem Zusammenhang der Hinweis hilfreich, dass solche starken Reaktionen aus medizinischer Sicht – nüchtern betrachtet – zumindest als Zeichen einer ausreichenden Sauerstoffversorgung zu bewerten sind. Wer laut schreien kann, atmet auf jeden Fall noch ausreichend. Auch diese Erkenntnis kann möglicherweise etwas beruhigen!

190


5 ˘ Intervention

Distanzieren: Wenn man merkt, dass die eigene Handlungsfähigkeit durch eine starke Belastung beeinträchtigt wird, kann die Anwendung von Distanzierungstechniken wie zum Beispiel das gedankliche Durchgehen des kleinen Einmaleins, das leise Aufsagen von Zungenbrechern („Fischers Fritze fischt frische Fische, frische Fische fischt Fischers Fritze.“), das bewusste Benennen von Gegenständen in der Umgebung oder das Rückwärtszählen (bei 1.000 angefangen) sinnvoll sein.

Distanzierung, z.B. durch gedankliche „Ablenkung“

Selbst das leise Summen oder Singen eines vertrauten Liedes kann dabei helfen, handlungsfähig zu bleiben!

5.2 Überblick verschaffen Zu Beginn der Hilfeleistung sollte man sich einen Überblick über die Situation verschaffen. Dies gilt für Lehrer, die direkt am Ort des Geschehens sind, aber auch für die Mitglieder des Notfallteams und die Schulleitung. Rasch muss geklärt werden: ˘ ˘ ˘ ˘

Was ist passiert? Wo ist der Unglücksort? Wer ist betroffen? Was ist – in welcher Reihenfolge – nun zu tun?

Dabei muss auch auf Kinder geachtet werden, die sich eventuell schon vom Notfallort entfernt haben, d. h. weggelaufen sind. Gegebenenfalls können die anwesenden Kinder darüber Auskunft geben, wer das Ereignis noch miterlebt hat. Auch muss erkundet werden, ob aktuell noch eine akute (Eigen-)Gefährdung droht, die die Handlungsoptionen einschränken könnte.

erste Fragen beim Notfall

weitere Betrof­ fene oder Gefahren?

191


5 ˘ Intervention

Beispiel Bei einem School Shooting besteht auch für die herbeieilenden Helfer eine erhebliche Eigengefährdung. Sie könnten durch Schüsse verletzt oder sogar getötet werden. Bei einem Feuer besteht die Gefahr der Brandausbreitung. Von einem schwer erkrankten Schüler geht eventuell eine akute Ansteckungsgefahr aus. In einigen Fällen könnte auch eine Panikreaktion auftreten usw.

5.3 Einsatzkräfte alarmieren Je nachdem, welcher Notfall eingetreten ist, müssen die entsprechenden Einsatzkräfte alarmiert werden, d. h. der Rettungsdienst, die Feuerwehr und/oder die Polizei. Dabei ist zu beachten, dass lediglich zwei Notrufnummern bundesweit einheitlich sind: ˘ Notruf 110: Polizei, ˘ Notruf 112: Feuerwehr und Rettungsdienst.

eintreffende Rettungskräfte einweisen

Ortsangabe gehört zur Not­ fallmeldung

192

Da Schulgebäude und Schulgelände häufig recht groß und unübersichtlich sind, sollten die anrückenden Einsatzkräfte möglichst schon an einer Zufahrt oder an der Straße vor der Schule in Empfang genommen und von einer ortskundigen Person direkt zum Ort des Geschehens geführt werden. Bei Notrufversuchen mit einem Mobiltelefon ist ferner zu beachten, dass man nicht unbedingt in der geografisch, sondern unter Umständen auch in der funktechnisch nächstgelegenen Leitstelle landet. Im Gespräch mit dem diensthabenden Leitstellendisponenten sollte man daher stets angeben, von welchem Ort aus man gerade anruft (Karutz und von Buttlar 2017). Insbesondere bei einem Unglück während einer Klassenfahrt kann dies von großer Bedeutung sein.


5 ˘ Intervention

5.4 Erste Hilfe leisten, Schüler in die Hilfeleistung einbeziehen In vielen Notfällen kann schon vor dem Eintreffen der Rettungskräfte mit einer (medizinischen) Hilfeleistung begonnen werden: ˘ Bewusstlose müssen in die stabile Seitenlage gebracht werden. ˘ Bei starken Blutungen gilt es, rasch einen Druckverband anzulegen. ˘ Bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand sind Wiederbelebungsmaßnahmen angebracht usw. Sofern dies ohne Gefährdung möglich ist, sollten auch Schüler in die Durchführung der jeweiligen Maßnahmen einbezogen werden. Indem man ihnen konkrete Aufgaben erteilt, können Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit vermindert werden. Die Selbstkontrolle wird gestärkt, „Helfen hilft den Helfern“ (Englbrecht und Storath 2005). Schüler können zum Beispiel Materialien herbeiholen, die für die Hilfeleistung benötigt werden. Bei einem medizinischen Notfall können sie unter anderem Türen aufhalten, damit ein Notfallpatient rasch zum Rettungswagen getragen werden kann. Möglicherweise könnten ältere Kinder bzw. Jugendliche den Auftrag bekommen, auf jüngere Kinder zu achten und darauf aufzupassen, dass kein Kind wegläuft usw.

Wer hilft, hat Kontrolle!

kleine Auf­ träge, große Wirkung

Beispiel Über den Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt 2002 wird berichtet, dass ältere Schüler sich umgehend um jüngere gekümmert haben, obwohl sie selbst sehr betroffen gewesen sind. Sie haben geholfen, Betreuungsstellen aufzusuchen, haben einfache Erste-Hilfe-Maßnahmen durchgeführt oder haben auf die kleineren Kinder aufgepasst, bis ihre Eltern eingetroffen waren (Alt 2019). 193


5 ˘ Intervention

Hilfsaufträge genau adres­ sieren

Zu beachten ist, dass man bei Bedarf stets einzelne Schüler gezielt anspricht und konkrete Aufgaben erteilt, etwa: „Hanna, Du läufst jetzt bitte ins Sekretariat und sagst Bescheid, dass der Rettungsdienst alarmiert wird!“ oder „Max, Du holst jetzt rasch den Verbandkasten aus dem Büro des Hausmeisters!“ Wenn man nur etwas pauschal in eine Schülergruppe ruft („Kann hier mal einer mit anfassen?“), fühlt sich meist niemand verantwortlich, den Auftrag zu übernehmen. Dies bezeichnet man auch als „Verantwortungsdiffusion“ (Schwind 1998).

Hilfe als positive Leistung heraus­ stellen

Wenn Schüler sich in einer Notfallsituation hilfreich verhalten haben, sollten sie anschließend gelobt werden („Du hast ganz toll mitgeholfen. Das hast Du wirklich gut gemacht.“). Dafür gibt es mehrere Gründe: Einerseits soll Schülern bewusst gemacht werden, dass sie selbst etwas zur Bewältigung der Situation beigetragen haben. Andererseits trägt ein Lob dazu bei, dass Schüler sich auch weiterhin in der erwünschten Weise verhalten. Das Lob wirkt somit als positive Verstärkung.

5.5 Mit Augenzeugen und Zuschauern umgehen

Zuschauen immer unter­ binden?

194

Bei jedem Notfall in einer Schule finden sich Zuschauer ein. Wenn Schüler erfahren, dass sich ein Notfall ereignet hat, eilen viele gleich zum Ort des Geschehens. Zudem gibt es häufig Schüler, die den Notfall als Augenzeuge miterlebt haben. Auch auf ihre Anwesenheit sollte man angemessen reagieren. Ob man sie zuschauen lässt oder vom Notfallort entfernt, kann jedoch nicht pauschal entschieden werden. Für das Entfernen spricht, dass es Verletzten und anderen direkt Betroffenen sicherlich unangenehm ist, wenn sie den Bli-


6 ˘ Nachsorge

6

Nachsorge

Nach Hobfoll et al. (2007) sind bei der Bewältigung von Notfallerfahrungen fünf elementare Wirkfaktoren relevant: Sicherheit, Beruhigung, Selbstwirksamkeit und sozialer Kontakt sowie die Vermittlung einer hoffnungsvollen Perspektive. Wie man diese Wirkfaktoren bei Nachsorgemaßnahmen im Einzelnen berücksichtigen kann, zeigen die folgenden Kapitel ausführlich auf.

5 elementare Wirkfaktoren

6.1 Nachsorge für Schüler Zunächst geht es darum, welche Nachsorgemaßnahmen für Schüler nach einem Notfall notwendig sein können. Die hier beschriebenen Maßnahmen müssen jedoch nicht immer alle durchgeführt und auch nicht für jeden Betroffenen angeboten werden. Vielmehr hängt es vom jeweiligen Notfall, der Betroffenheit der Beteiligten und ihren Bedürfnissen ab, welche Maßnahmen tatsächlich angebracht sind. Zudem sind folgende (Management-)Grundsätze zu beachten: Ausrichtung: Für den Umgang mit Notfällen in Schulen sind prinzipiell zwei Strategien denkbar. Die erste Strategie zielt darauf ab, den gewohnten Schulalltag so rasch wie möglich wiederherzustellen. Im Vordergrund steht dabei, die Funktionsfähigkeit der Betroffenen und des betroffenen Systems aufrechtzuerhalten. Im Wesentlichen geht es also weiter wie bisher, denn „Normalität ist am besten dadurch wieder zu erlangen, indem man sich auf die Arbeit konzentriert, die man immer geleistet hat“ (Pieper 2007a, S. 117). Diese Strategie ist konservativ, auf die Bewahrung des Bestehenden ausgerichtet. Notfallnachsorge wird eher als „Reparaturmaßnahme“ betrachtet. Der zweiten Strategie liegt die Überzeugung zugrunde, dass man nach so einem außergewöhnlichen Ereignis wie

nicht alle brauchen alles

zwei Grund­ strategien: Alltag wieder­ herstellen vs. Besonderheit herausstellen

207


6 ˘ Nachsorge

einem Notfall nicht ohne Weiteres zur Tagesordnung übergehen kann. Neben der Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit der Betroffenen wird daher auch thematisiert, wie es zu dem Notfall kommen konnte und welche Konsequenzen systemisch daraus zu ziehen sind. Angesprochen werden nicht nur individualpsychologische, sondern auch gesellschaftspolitische bzw. gesellschafts- und systemkritische Aspekte. Diese Strategie zielt somit eher auf eine Weiterentwicklung bzw. Veränderung des Bestehenden ab. In welcher Weise vorgegangen wird, hängt sicherlich von Persönlichkeitsmerkmalen der jeweils Verantwortlichen ab, gegebenenfalls auch vom Ausmaß der persönlichen Betroffenheit und davon, wie stark die Verantwortlichen in ein bestehendes System eingebunden sind, das einen Notfall möglicherweise strukturell mit verursacht hat (Pieper 2007a). Nicht nur aus psychologischen, sondern insbesondere aus präventiven Gesichtspunkten sollte die zweite Strategie stets bevorzugt werden!

Bewältigung braucht Zeit

Raum und Zeit geben: Bewältigung einer Notfallerfahrung braucht Zeit und kostet Kraft. Es geht auch nicht nur darum, eine „Maßnahme“ nach der anderen „abzuarbeiten“ oder lediglich Punkte einer Checkliste „abzuhaken“. Vielmehr erfordert die wirkliche Verarbeitung des Erlebten immer auch ein Innehalten, ein intensives Nachdenken bzw. besonnene Reflexion und eine ernsthafte Auseinandersetzung mit existentiell bedeutsamen Themen. Für diese Aspekte müssen im Schulalltag – allen curricularen Verpflichtungen, Kompetenzerwartungen und Leistungsansprüchen zum Trotz – erst einmal (Frei-)Raum und Zeit gegeben werden!

208


6 ˘ Nachsorge

Authentizität bzw. Kongruenz: Im Hinblick auf die Reaktion unmittelbar in einem Notfallgeschehen (s. Kap. 3.1.3.2), aber auch hinsichtlich der Bewältigung des Erlebten orientieren sich viele Schüler an ihren Lehrkräften. Mitunter wird zwar befürchtet, dass diese ihre Autorität verlieren, wenn sie Gefühle zeigen. Unabhängig davon, ob diese Sorge überhaupt berechtigt ist, wäre es jedoch äußerst inkongruent, Schüler zu einer Offenheit anzuregen, die ihre Lehrer nicht bereit sind zu zeigen. Aus diesem Grund sollten Lehrkräfte nach Notfällen auch über ihre eigene Befindlichkeit sprechen.

Offenheit über eigene Gefühle schafft Ver­ trauen

Das Eingeständnis persönlicher Betroffenheit signalisiert Echtheit und Ehrlichkeit. Authentizität schafft Vertrauen. Das ist wiederum eine wichtige Voraussetzung für die Durchführung von Nachsorgemaßnahmen! Angemessenheit: Nachsorgemaßnahmen sind eine Gratwanderung. Häufig wird zu wenig getan, manchmal aber auch zu viel. Durch übermäßige, übertriebene Hilfe kann zum Beispiel der Eindruck erweckt werden: „Wenn jetzt so viel für uns getan wird, muss es uns wohl wirklich schlecht gehen.“ Einen vergleichbaren Mechanismus kann man bei erkrankten Kindern beobachten, die übermäßig verwöhnt werden. Bei ihnen wird womöglich der Gedanke begünstigt: „Wenn meine Eltern mich so sehr beschenken, steht es wohl wirklich schlimm um mich. Ob ich bald sterben muss?“ Notfallnachsorge in Schulen darf, etwas plakativ formuliert, auch nicht als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für vermeintliche „Experten“ missbraucht werden. Eine regelrechte Invasion und Belagerung einer Schule durch „Nachsorgeaktivisten“ ist unbedingt zu vermeiden. Der Grundsatz für den Umfang von Nachsorgemaßnahmen sollte lauten: So viel wie nötig, so wenig wie möglich! Vor allem sollte darauf geachtet werden, dass sich auch nach

nicht über­ treiben

So viel wie nötig, so wenig wie möglich!

209


6 ˘ Nachsorge

einem Notfall nicht alles nur noch um eben diesen Notfall dreht. Weiterhin darf und muss es in einer Schule Alltag, Spiel und Freude geben (Juen, Warger und Nindl 2015).

vorhandene Ressourcen einbeziehen

Ressourcenorientierung: Wenn sich in einer Schule ein Notfall ereignet hat, sollte man nicht nur die damit verbundenen Belastungen sehen. Viele Kinder verfügen durchaus auch über eigene Bewältigungsressourcen. Diese Ressourcen sollten ebenfalls bedacht und in sämtliche Nachsorgeplanungen einbezogen werden, um die betroffenen Schüler nicht in einer Opferrolle zu fixieren (BBK 2012). Man soll „nicht für die Betroffenen etwas tun, was sie nicht auch selbst tun können“ (van Wissen und Korittko 2002, S. 148). Dementsprechend sollte Notfallnachsorge prinzipiell als eine Hilfe zur Selbsthilfe verstanden werden!

durch Vielfalt unterschiedliche Bedürfnisse abdecken

210

Angebote: Schüler, die einen Notfall miterlebt haben, reagieren nicht alle gleich, sondern individuell mitunter sehr unterschiedlich. Notfallnachsorge muss daher Angebote beinhalten, die völlig unterschiedliche Bedürfnisse berücksichtigen. Betroffene Schüler sollten nach konkreten Wünschen gefragt werden und auswählen können, an welchem Nachsorgeangebot sie teilnehmen möchten. Einige Schüler wünschen sich zum Beispiel, möglichst rasch wieder am regulären Unterricht teilzunehmen, vielleicht auch, um sich abzulenken. Zur gleichen Zeit wünschen sich andere Schüler aber noch intensive Gespräche über das Erlebte. Beiden Schülergruppen sollten entsprechende Angebote gemacht werden: In einer wissenschaftlichen Untersuchung wurde der Freiraum, nach einem Notfall in der Schule vorübergehend „tun und lassen zu können, was man wollte, ohne zu irgendetwas gezwungen zu werden“ (Karutz 2004a, S. 117), ausdrücklich als eine positive Erfahrung beschrieben.


6 ˘ Nachsorge

Beispiel Nachdem es in einer Schule einen tödlichen Unfall gegeben hatte, wurden den Schülern der betroffenen Jahrgangsstufe mehrere Angebote gemacht: Wer wollte, konnte den im Stundenplan vorgesehenen Unterricht besuchen. Man konnte mit einem Sportlehrer aber auch in die Sporthalle gehen, um sich dort körperlich zu betätigen. Ebenso war es möglich, sich in der Schulbibliothek bzw. auf dem gesamten Schulgelände frei zu bewegen. Und schließlich gab es das Angebot, vertraulich mit einem Notfallseelsorger zu sprechen, dem eine Woche lang ein eigener Raum zugewiesen worden war und der täglich von 8 bis 14 Uhr in diesem Raum erreichbar gewesen ist. Notfallnachsorge sollte nicht aufgedrängt werden, sondern Angebotscharakter haben. Insbesondere ist es auch legitim, bestimmte Nachsorgeangebote abzulehnen! Partizipation: Grundsätzlich ist es sinnvoll, sich nach den Wünschen und Anregungen zu richten, die Schüler im Hinblick auf die für sie bestimmten Nachsorgeangebote selbst geäußert haben. Ihre Ideen sollten nach Möglichkeit umgesetzt werden, weil das vermittelt, dass sie sich an der Bewältigung des Geschehens aktiv beteiligen können. Wenn sie mitentscheiden, in welcher Art und Weise Notfallnachsorge betrieben wird, wirkt das bereits Gefühlen von Ohnmacht und Hilflosigkeit entgegen. Zudem drückt die Beteiligung an Planungen zur Notfallnachsorge Wertschätzung aus.

Angebots­ charakter

Ideen der Schüler einbe­ ziehen

Nachsorgemaßnahmen sollen nicht nur für die Schüler, sondern immer gemeinsam mit ihnen vorbereitet werden. Konkret könnten Schüler gefragt werden: „Was meint Ihr denn, was wir jetzt tun sollten?“ Natürlich darf durch diese Vorgehensweise nicht der Eindruck erweckt werden, Lehrkräfte oder die um Hilfe gebetenen psychosozialen Akut211


6 ˘ Nachsorge

helfer wären selbst völlig ratlos. Das könnte zu einer Ablehnung durch die Schüler führen.

Anzeichen von Belastung: Wei­ nen, Schreien, Weglaufen, aber auch Rückzug

besonders zu beachten

212

Planung: Nachsorgemaßnahmen an Schulen sollten nicht beliebig durchgeführt bzw. vom Zufall bestimmt, sondern systematisch und mit guten Begründungen geplant werden. Eine Hilfeleistung, die den tatsächlichen Bedarfen und Bedürfnissen nicht gerecht wird, kann Betroffenen letztlich schaden (Frühe et. al 2008), wobei dies sowohl für eine generelle Über- oder Unterversorgung als auch dafür gilt, dass schlichtweg nicht das „passende“ Hilfsangebot unterbreitet wird. Vor diesem Hintergrund können die bereits dargestellten Kreise der Betroffenheit ein wertvolles Planungsinstrument sein: Die beteiligten Personen oder Personengruppen, etwa eine Schulklasse, werden darin dem Ausmaß der Betroffenheit entsprechend eingetragen (s. Kap. 2.3). Zu beachten sind aber nicht nur offensichtliche Anzeichen psychischer Belastung wie Weinen, Schreien, Weglaufen usw. Besonderer Unterstützung bedürfen in vielen Fällen gerade diejenigen, die nach einem Notfall vermeintlich „unauffällig“, in sich zurückgezogen und schweigsam reagieren. Zudem sollte einigen weiteren Schülern besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Dabei handelt es sich um: ˘ Schüler, die Schuldgefühle zeigen bzw. die sich Vorwürfe machen, ˘ Schüler, die sich nach dem Notfall aus der Klassengemeinschaft zurückziehen, ˘ Schüler, die schon vorher psychisch auffällig waren oder eine bekannte Störung aufweisen, ˘ Schüler, die sozial wenig integriert bzw. die sozial isoliert sind (Einzelgänger), ˘ Schüler, die bereits vor einem Notfall Schulschwierigkeiten hatten (schlechte Zensuren, Versetzung


7 ˘ Ergänzende Hinweise für spezielle Situationen

7

Ergänzende Hinweise für ­spezielle Situationen

In manchen Notfällen sind über die bereits dargestellten allgemeinen Hinweise hinaus bei der Intervention und Nachsorge einige zusätzliche Aspekte zu beachten. Nachfolgend werden ausgewählte Situationen exemplarisch dargestellt. Natürlich muss darauf hingewiesen werden, dass nicht jeder denkbare Notfall in jeder vorstellbaren Konstellation thematisiert werden kann. Allein für eine systematisch vollständige Darstellung des Themas „Todesfälle in Schulen“ müsste beispielsweise unterschieden werden zwischen ... ˘ dem Tod eines Kindes, ˘ dem Tod einer Lehrkraft sowie ˘ dem Tod eines Angehörigen, wobei sich jeder dieser Todesfälle sowohl ... ˘ innerhalb als auch ˘ außerhalb der Schule ... ereignen könnte. Bei Todesfällen außerhalb der Schule wäre dann zu differenzieren zwischen Todesfällen ... ˘ während einer Schulveranstaltung, etwa bei einer Klassenfahrt, und ˘ dem Tod eines Mitglieds der Schulgemeinde in dessen Freizeit. Ferner müsste berücksichtigt werden, ob ... ˘ eine oder ˘ mehrere Personen gestorben sind bzw. getötet wurden. 285


7 ˘ Ergänzende Hinweise für spezielle Situationen

Dadurch wird indirekt bereits auf ein weiteres Unterscheidungskriterium verwiesen, nämlich die jeweilige Todesursache. Für Nachsorgemaßnahmen nach einem Todesfall ist es keineswegs egal, ob jemand ... Todesursache maßgeblich

˘ ˘ ˘ ˘

an einem plötzlichen Herzversagen, nach einer langen, schweren Krankheit, als Opfer eines Mordanschlags oder bei einem Erdbeben verstorben ist,

... und was die jeweiligen Todesumstände gewesen sind. In Abhängigkeit von der jeweiligen Todesursache kann vorrangig Trauerarbeit (z. B. Trauer zum Ausdruck bringen, Abschied nehmen, eines Verstorbenen gedenken usw.), die Bewältigung eines Traumas (z. B. Sicherheit vermitteln, das Geschehene begreifen helfen, Übererregung abbauen usw.) oder auch beides gleichzeitig notwendig sein. Eine umfassende Darstellung müsste also sämtliche dieser Aspekte und noch viele weitere berücksichtigen. Das ist hier jedoch nicht möglich. Vermutlich können die folgenden Ausführungen aber sinngemäß und gegebenenfalls leicht variiert auf andere, vergleichbare Ereignisse übertragen werden.

7.1 Medizinischer Notfall

Rettungsdienst alarmieren, und Erste Hilfe leisten

286

Wenn ein Mitglied der Schulgemeinde verletzt oder akut erkrankt ist, steht die Alarmierung des Rettungsdienstes und, sofern vorhanden, des Schulsanitätsdienstes im Vordergrund. Schon vor dem Eintreffen der Rettungskräfte sind Maßnahmen der medizinischen Ersten Hilfe durchzuführen (d. h. Bewusstlose in die stabile Seitenlage bringen, bei Herz-Kreislauf-Stillstand den Patienten beatmen und


7 ˘ Ergänzende Hinweise für spezielle Situationen

Herzdruckmassage ausführen, bei starken Blutungen einen Druckverband anlegen, Verbrennungen kühlen usw.). Fleischhackl und Sterz (2006) fordern, dass in Schulen spätestens 90 Sekunden nach dem Notfallereignis mit einer solchen Hilfeleistung begonnen werden muss! Dies ist keineswegs nur aus medizinischen oder juristischen, sondern auch aus psychologischen Gründen notwendig. Nicht nur von Notfallpatienten, sondern auch von Augenzeugen und Zuschauern wird es als starke zusätzliche Belastung empfunden, wenn in einem Notfall niemand hilft. Beispiel In einer Befragung von 96 Schülern gaben 63 von ihnen an, dass sie die Untätigkeit bzw. offensichtliche Hilflosigkeit der (erwachsenen) Personen in Notfallsituationen als besonders unangenehm empfunden haben (11-jährige Schülerin: „Dass unsere Lehrer auch nur dumm ,rumgestanden‘ haben, das fand ich total schlimm!“). Umgekehrt wurde der Anblick einer fachkundigen Hilfeleistung stets als etwas sehr Entlastendes beschrieben (Karutz 2004a).

fachkundige Hilfe wirkt entlastend

Die einzelnen Erste-Hilfe-Maßnahmen sollten dem Patienten jeweils kurz erläutert werden. Auf diese Weise vermitteln Helfer einen besonders kompetenten Eindruck, der nicht zuletzt auch zur Beruhigung des Betroffenen beiträgt. Offene Wunden sollten möglichst rasch steril bedeckt werden, und zwar nicht nur um eine Infektion zu vermeiden, sondern auch, um vor dem bedrohlichen Anblick der Verletzung zu schützen. Grundschüler sollten ein Stofftier wie zum Beispiel einen Teddybären geschenkt bekommen, mit dem sie kuscheln und an dem sie sich in der Notfallsituation festhalten können (Karutz 2008b).

287


7 ˘ Ergänzende Hinweise für spezielle Situationen

Verletzungen und die erfolgte Hilfe müssen im Hinblick auf eventuelle Haftungsansprüche stets in einem Verbandbuch dokumentiert werden. Diese Aufzeichnungen sind mindestens fünf Jahre lang aufzubewahren.

Begleitung im Rettungswagen

Besuche im Krankenhaus

Wird ein Schüler vom Rettungsdienst transportiert, sollte er von einer Bezugsperson begleitet werden. Bei Grundschulkindern sollte es sich eher um eine erwachsene Person handeln, bei älteren Kindern und Jugendlichen könnte auch ein Freund bzw. Klassenkamerad mit in das Krankenhaus oder in die Arztpraxis fahren. Stellt sich im Nachhinein heraus, dass die Alarmierung des Rettungsdienstes zwar in guter Absicht erfolgt, aus medizinischer Sicht aber nicht notwendig gewesen ist, entstehen dem Anrufer übrigens keine Kosten. Wenn ein Patient stationär in einem Krankenhaus behandelt werden oder bedingt durch seinen Gesundheitszustand zumindest für einige Zeit zu Hause bleiben muss, könnte abgesprochen werden, ob Besuche erwünscht sind. Ist das der Fall, könnten Schüler einem verletzten oder erkrankten Klassenkameraden zum Beispiel einen Gruß zur Genesung oder auch ein kleines Geschenk überbringen. Vielleicht hat der Patient einen besonderen Herzenswunsch, den seine Mitschüler erfüllen können. Rituale können Kindern und Jugendlichen Hoffnung vermitteln, dass ein Notfallpatient bald wieder genesen wird (s. Kap. 6.1.7). Bei Verletzungen oder Erkrankungen, die lebensbedrohlich sind, sollte allerdings auch der ungewisse Ausgang thematisiert werden. Darüber, wie ernst eine Situation ist, sollten Schüler stets offene und ehrliche Informationen erhalten! Bei längerfristigen Krankenhausaufenthalten eines Schülers sollte überlegt werden, wie er dennoch am Unterrichtsgeschehen teilnehmen und in die Klassengemeinschaft

288


7 ˘ Ergänzende Hinweise für spezielle Situationen

integriert bleiben kann. Eine Möglichkeit ist die Installation einer Webcam im Klassenzimmer, sodass der Unterricht in ein Krankenhaus übertragen werden kann. Nach einem längeren Krankenhausaufenthalt sollten sowohl der Rekonvaleszent als auch dessen Klassenkameraden auf die Rückkehr vorbereitet werden. Das ist insbesondere dann von Bedeutung, wenn sich ein Schüler durch eine Verletzung oder Erkrankung anders verhält als früher oder verändert aussieht, etwa bei Verbrennungen oder Amputationsverletzungen. In diesen Fällen sollte offen da­rüber gesprochen werden, welche Reaktion angebracht ist. Dabei müssen die Wünsche des betroffenen Schülers beachtet werden.

Rückkehr in Klassenverband vorbereiten

Wenn ein Kind z. B. nicht auf seine Verletzung angesprochen werden möchte, sollte das respektiert werden. Vielleicht würde sich ein Schüler aber auch darüber freuen, wenn er auf seine Verletzung angesprochen wird und sich eine Gelegenheit ergibt, mit Gleichaltrigen darüber zu sprechen! Sofern ein Kind dafür psychisch stabil genug ist und es das explizit möchte, könnte bei seiner Rückkehr in die Schulklasse sogar ein Gruppengespräch moderiert werden, bei dem die Mitschüler „institutionalisiert“ eine Gelegenheit bekommen, Fragen zu stellen. Da die Reaktion auf Verletzungs- und Erkrankungsfolgen individuell sehr unterschiedlich ausfällt, können an dieser Stelle jedoch kaum allgemeingültige Empfehlungen gegeben werden.

moderiertes Gruppengespräch denkbar

7.2 Entführung Entführungen unterscheiden sich deutlich von anderen Notfällen (ausführlich s. Krol 2009). So kann es sich unter Umständen um ein sehr lang andauerndes Notfallgeschehen handeln. Auch ist der Ausgang dieses Geschehens in 289


7 ˘ Ergänzende Hinweise für spezielle Situationen

evtl. lange Akutphase und unklarer Ausgang

der Regel nicht vorherzusehen. Denkbar ist, dass ein entführtes Kind unverletzt freigelassen oder von der Polizei befreit wird. Es kann aber auch verletzt oder tot aufgefunden werden. Oder es bleibt verschwunden. Zudem ist von Bedeutung, ob der jeweilige Täter bekannt ist (also identifiziert wurde) und ob er festgenommen werden konnte oder nicht. Bei einer Entführungssituation können sich über einen längeren Zeitraum spezifische Belastungen ergeben, mit denen in dieser Form bei anderen Notfällen eher nicht zu rechnen ist!

große Verzweiflung bei erfolgloser Suche

290

Mehrere Tage, vielleicht sogar mehrere Wochen oder Monate lang muss zunächst Ungewissheit ertragen werden. Man bangt und hofft um das Leben des entführten Kindes. Aber je länger ein Kind verschwunden bleibt, umso mehr ahnt man möglicherweise, dass dieses Notfallgeschehen ein furchtbares Ende nehmen wird. Je häufiger Suchmaßnahmen vergeblich eingestellt werden, umso stärker kann auch die eigene Verzweiflung und Hilflosigkeit empfunden werden („Wir haben doch wirklich überall gesucht! Was können wir denn noch tun?“). Solange der Täter nicht gefasst worden ist, können Schüler zudem große Ängste entwickeln, selbst entführt zu werden. Sie wissen schließlich, dass sich der Entführer des anderen Kindes noch immer frei bewegt und daher auch ihnen etwas antun könnte. Solche Ängste werden durch Fantasien darüber, was dem entführten Kind angetan worden sein könnte, zusätzlich verstärkt. Viele Kinder identifizieren sich mit dem Entführungsopfer („Das hätte mir auch passieren können!“), vor allem dann, wenn sie ebenso alt sind oder den gleichen Schulweg gehen, den das entführte Kind gegangen ist.


Leitfaden für • Lehrkräfte • psychosoziale Akuthelfer • Schulpsychologie, -seelsorge und -sozialarbeit

Wie Lehrer, Psychologen und Sozialarbeiter, aber auch Notfallseelsorger und Mitarbeiter von Kriseninterventionsteams in solchen Situationen angemessen

reagieren, erläutert dieses Buch ausführlich. Der Autor, selbst psychosozialer Akuthelfer, beschreibt die Notfallvorsorge, Maßnahmen der psychischen Ersten Hilfe und die längerfristige Notfallnachsorge. Auch die besondere Situation der betroffenen Lehrkräfte ist ein Thema. Wissenschaftlich fundiert und gleichzeitig praxisorientiert, enthält dieser Leitfaden zahlreiche konkrete Handlungsanweisungen. So bietet sich ein umfassender Blick auf die Hilfeleistung im System Schule.

Notfälle und Krisen in Schulen

Die »School Shootings« an den Schulen in Erfurt, Emsdetten, ­Winnenden und Ansbach stellten für alle Betroffenen eine große ­Belastung dar. Psychologische Intervention ist aber auch notwendig beim plötzlichen Tod eines Lehrers, beim Suizid eines Schülers, bei der Entführung eines Kindes, bei Schulbusunfällen und Sportverletzungen.

Harald Karutz

Harald Karutz

Harald Karutz

Notfälle und Krisen in Schulen Prävention, Nachsorge, Psychosoziales Management

Notfälle und Krisen in Schulen Prävention, Nachsorge, Psychosoziales Management

ISBN 978-3-96461-017-1 · www.skverlag.de

2., komplett überarbeitete Auflage


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.