Psychosoziale Notfallhilfe

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wahl an Distanzierungstechniken und Entspannungsmethoden für Notfallopfer und Psychosoziale Notfallhelfer sowie eine umfassende Anleitung für die Ausbildung bereithält. Anknüpfend an das bei S+K erschienene Buch „Psychische Erste Hilfe bei Unfällen“ werden die dort entworfenen methodischen Grundlagen, Regeln und Hinweise für die anschließende psychische Betreuung weiterentwickelt.

Zum Themenkomplex Psychosoziale Notfallhilfe präsentieren Frank Lasogga und Eva MünkerKramer einen praxisbezogenen Leitfaden, der wirklichkeitsnahe Beispiele und kompakte Übersichten bietet und eine Aus-

Das Buch richtet sich an Notfallseelsorger und Kriseninterventionsteams, aber auch an Mitarbeiter der am Notfall beteiligten Organisationen, die diesen Bereich näher kennen lernen oder sich weiterbilden möchten.

PRAXISWISSEN

Psychosoziale Notfallhilfe

Psychosoziale Notfallhilfe

Der Notfall ist geschehen, die Wunden sind versorgt. Übrig bleiben die seelischen Verletzungen. Dank der Psychischen Ersten Hilfe können viele Menschen ohne größere Nachwirkungen wieder in den Alltag zurückkehren. Eine kleinere Personengruppe benötigt zusätzlich eine Psychische „Zweite“ Hilfe – die Psychosoziale Notfallhilfe. Diese intensive und umfassende Betreuung wird von Psychosozialen Notfallhelfern geleistet.

F. Lasogga E. Münker-Kramer

Frank Lasogga, Eva Münker-Kramer

Frank Lasogga Eva Münker-Kramer

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PRAXISWISSEN

Psychosoziale Notfallhilfe

ISBN 978-3-938179-58-1 www.skverlag.de

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Psychosoziale Notfallhilfe ÂťPsychische Zweite HilfeÂŤ durch Notfallseelsorger und Kriseninterventionsteams

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Psychosoziale Notfallhilfe »Psychische Zweite Hilfe« durch Notfallseelsorger und Kriseninterventionsteams

Frank Lasogga / Eva Münker-Kramer

Verlagsgesellschaft Stumpf + Kossendey mbH, Edewecht 2009

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet die­se Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Copyright by Verlagsgesellschaft Stumpf + Kossendey mbH, Edewecht 2009 Satz: Weiß & Partner, Oldenburg Umschlagfoto: Photocase, Kira-Merle Petrasch Druck: Druckhaus W. Dahlheimer, Emden ISBN 978-3-938179-58-1

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Inhalt

Inhalt 1

Einführung

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Begriffe

2.1 Psychosoziale Notfallhelfer 2.2 Notfall

8 10 10 12

2.3 Trauma

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2.5 Einzelnotfall vs. Großschadensereignis

17

3

20

2.4 Krise

2.6 Betroffene Personengruppen

Die psychische Situation von Notfallopfern

3.1 Psychologische Belastungen 3.2 Moderatorvariablen 3.3 Reaktionen 3.4 Folgen

4

Das Versorgungsdreieck

4.1 Indikation für Psychische Erste Hilfe (Stufe 1)

16 17

20 23 32 45 60 61

4.2 Indikation für Psychosoziale ­Notfallhilfe (Stufe 2) 62

4.3 Indikation für Nachsorge und Akutintervention durch Fachkräfte (Stufe 3) 4.4 Indikation für traumazentrierte Psychotherapie (Stufe 4)

4.5 Tabellarische Darstellung der Stufen

5

Der Umgang mit Notfallopfern

5.1 Grundsätze

5.2 Alarmierung

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Inhalt

5.3 Ankunft 5.4 Setting

5.5 Kontaktaufnahme

90 94 98

5.6 Beruhigen

102

5.8 Ressourcen

117

5.10 Beenden der Betreuung

131

5.7 Kommunikation 5.9 Psychoedukation

5.11 Spezielle Probleme beim Umgang mit Notfallopfern

6

Spezielle Gruppen und Situationen

6.1 Angehörige

6.2 Verursacher

6.3 Vermisste Personen 6.4 Ausländer

6.5 Schuldgefühle

6.6 Das Überbringen einer Todesnachricht

109

122

133 136

136 140 141 143 145

150

6.7 Gruppen

163

7

179

6.8 Großschadensfall

Die Helfer

7.1 Auswahl

168

179

7.2 Aus- und Fortbildung

184

7.4 Moderatorvariablen

202

7.3 Psychologische Belastungen 7.5 Folgen

7.6 Prävention und Intervention 7.7 Nachsorge

191 206 209

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Inhalt

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Diskussion und Ausblick

8.1 Heterogenität der Gruppen

8.2 Ausbildung

8.3 Nachsorge, Supervision 8.4 Vernetzung

8.5 Versorgungslage 8.6 Forschung

8.7 Qualitätsstandards und ­Qualitätskontrolle

9

Anhang: Methoden zur Beruhigung und Distanzierung

226 226 227

228 229 229 230 231

236

9.1 Distanzierungstechniken

236

9.3 Beispiel für einen Einsatzbericht

239

9.2 Entspannungsmethoden

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10 Literatur

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11 Register

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12 Autoren

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1 ˘ Einführung

1 Einführung Als vor 20 Jahren in Dortmund die Forschungen zur »Psychischen Ersten Hilfe« aufgenommen wurden, spielte die psychologische Betreuung bei Notfällen mehr oder minder noch keine Rolle. Implizit oder explizit wurde der Mensch als »Ansammlung von Organen« gesehen. Dies hat sich mittlerweile erfreulicherweise geändert. In zahlreichen Ausbildungsgängen von Einsatzkräften ist inzwischen der psychologisch angemessene Umgang mit Notfallopfern aufgenommen worden, auch wenn noch nicht alle Einsatzkräfte darin ausgebildet sind. Nun hat sich inzwischen gezeigt, dass sämtlichen Notfallopfern eine Psychische Erste Hilfe zukommen sollte und dies bei den meisten Notfallopfern auch genügt. Bei einer kleineren Gruppe von Notfallopfern ist aber eine weitergehende Hilfe notwendig, eine »Psychische Zweite Hilfe«. Diese Opfer müssen intensiver und umfassender betreut werden. Im Gegensatz zur Psychischen Ersten Hilfe hat die­ se Betreuung oft auch eine soziale Komponente, sodass die­ se Psychische Zweite Hilfe »Psychosoziale Notfallhilfe« genannt wird. Die Psychosoziale Notfallhilfe wird inzwischen üblicherweise von Notfallseelsorgern (NFS) oder Kriseninterventionsteams (KIT) geleistet. Das praktische Vorgehen bei der Betreuung von die­sen beiden Gruppen unterscheidet sich manchmal, es sind aber auch viele Gemeinsamkeiten zu erkennen. Allerdings fehlt bisher sowohl ein Gesamtkonzept der Psychosozialen Notfallhilfe als auch eine einerseits pragmatische und andererseits wissenschaftlich fundierte Beschreibung, wie bei der Psychosozialen Notfallhilfe vorgegangen werden soll. Außerdem ist die Begrifflichkeit oft verwirrend und nicht einheitlich. Das vorliegende Buch soll die­se Lücken schließen. Darin soll basierend auf der differenzierten Darstellung der psychischen Situation der Notfallopfer sowohl das praktische Handeln in der konkreten Betreuungssituation als auch in speziellen Situationen beschrieben werden. Die Ausführungen werden abgerundet durch die Beschreibung der 8

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˘ Einführung

Übergabe in die Betreuung durch Fachkräfte, wenn dies notwendig wird. Im Bereich der Helfer geht die Darstellung von der Auswahl der Kandidaten über Inhalte der Ausbildung bis hin zum aktuellen Stand und zukünftigen Herausforderungen. Das Buch kann somit als Handbuch für Psychosoziale Notfallhelfer bei konkreten Fragestellungen in der Praxis, aber auch als Nachschlagemöglichkeit dienen. Ebenso kann es ein Wegweiser für »Konsumenten« sein. Die Ausführungen basieren auf Forschungsergebnissen, Konzeptentwicklungen, praktischen Erfahrungen sowie der Schulungstätigkeit der Autoren bei allen relevanten Gruppierungen.

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2 ˘ Begriffe

2 Begriffe Begriffe wie »Psychosoziale Notfallhelfer«, »Notfall«, »Trauma«, »Krise« etc. werden sehr uneinheitlich verwendet. Um eine einheitliche Begrifflichkeit herzustellen, werden deshalb zunächst für die Psychosoziale Notfallhilfe relevante Begriffe auf der Grundlage der vorliegenden Literatur und der Praxis definiert, erläutert und voneinander abgegrenzt.

2.1 Psychosoziale Notfallhelfer Die Arbeit der Personen bzw. Gruppierungen, die Psychosoziale Notfallhilfe leisten, geht über eine Psychische Erste Hilfe hinaus (Stufe 1 des Versorgungsdreiecks, s. Kap. 4.1), wie sie von Einsatzkräften geleistet werden sollte. Für die­se weitergehende Hilfe, bei der im Mittelpunkt die psychische und soziale Betreuung (Stufe 2) von direkten und indirekten Notfallopfern steht, wurden die Begriffe »Psychosoziale Notfallhilfe« bzw. »Psychosoziale Notfallhelfer« (Lasogga und Gasch 2004) vorgeschlagen und sind inzwischen weit verbreitet. Der Begriff »Psychosoziale Notfallhelfer« ist aus folgenden Gründen angemessen: 1. Die Bezeichnung »Psychosoziale Notfallhelfer« stellt einen Sammelbegriff für verschiedene Gruppierungen dar, die in die­sem Bereich tätig und bekannt sind. Insbesondere sind dies Notfallseelsorger und Kriseninterventionsteams. Durch die Bezeichnung »Psychosoziale Notfallhelfer« wird keine die­ser Gruppen ausgegrenzt. Die genannten Gruppen können auch unter diesem Begriff zusammengefasst werden, weil die Zielgruppe, die Einsatzindikation und die notfallpsychologischen Grundkenntnisse annähernd gleich sind bzw. sein sollten (vgl. Daschner 2001), wobei in der Grundausbildung und in der Ausbildung natürlich Unterschiede vorhanden sind. 2. Psychosoziale Notfallhelfer kümmern sich primär und intensiv um die psychische Betreuung der Opfer. Bei einigen Notfallopfern genügt es nicht, sich gemäß den Regeln der Psychischen Ersten Hilfe zu verhalten, sondern es ist ei10

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2 ˘ Begriffe

ne weitere Hilfe im psychologischen Bereich notwendig. Die Psychosozialen Notfallhelfer sollen die­se Psychische Zweite Hilfe leisten; sie sollen sich intensiver um die Psyche der Notfallopfer kümmern als dies die Einsatzkräfte aus Zeitund Ausbildungsgründen können. Damit tun sie deutlich mehr als sich »nur« psychologisch angemessen zu verhalten. 3. Diese zweite Hilfe beinhaltet häufig eine soziale Komponente. Sie kann darin bestehen, für eine Unterkunft zu sorgen, wenn ein Haus abgebrannt ist, oder spezielle Hilfe bereitzustellen, wenn eine Frau vom Ehemann geschlagen und bedroht wurde und untergebracht werden muss oder Geld für Kleidung aufzutreiben. Außerdem müssen soziale Kontakte hergestellt werden und Betroffene müssen ggf. an die entsprechenden zuständigen Stellen weitergeleitet werden. 4. Das Wort »Notfallhilfe« verdeutlicht, dass die Hilfe nach einem Notfall erfolgt. Nach einem Notfall sind spezifische Interventionsformen erforderlich, die in anderen Situationen nicht oder in anderer Form notwendig sind. Im Zentrum die­ser Hilfe steht also die ganz spezifische und fokussierte Hilfe nach einem Notfall, was durch die­se Wortwahl verdeutlicht wird. Dies impliziert auch die zeitliche Begrenztheit, die Beschränkung hinsichtlich des Umfangs und die definitionsgemäße Endlichkeit die­ser Maßnahmen. Aus die­sem Grund ist auch der Begriff »psychosoziale Unterstützung« weniger geeignet. Eine psychosoziale Unterstützung wird von Sozialarbeitern in sehr vielen Situationen tagtäglich geleistet. Auch Pastoren leisten psychosoziale Unterstützung, wenn jemand an der Haustür klingelt und um etwas Geld bittet, dass ihm der Pastor nach einem kurzen Gespräch gibt. Aus ähnlichen Gründen wird auch nicht der Begriff »psychosoziale Akuthilfe« (Beerlage et al. 2006) verwendet; eine »akute Hilfe« findet auch bei dem Bittsteller an der Haustür statt. Die spezifische Hilfe und Form der Betreuung, die nach einem Notfall notwendig ist, wird bei die­sem Begriff nicht ersichtlich. Die Bezeichnung »Krisenintervention« ist ebenfalls weniger passend. Der Begriff »Krise« wird in der Psychologie überwiegend für Veränderungskrisen verwendet; eine Kri11

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2 ˘ Begriffe

senintervention geht eher in Richtung Psychotherapie oder Psychiatrie. Der Begriff könnte daher zu Missverständnissen führen, denn bei einem Notfall ist eine andere Intervention vor einem anderen Hintergrund mit anderen Zielen erforderlich. Als Sammelbegriff wäre »Kriseninterventionsteam« oder »Kriseninterventionsdienst« (KID) ebenfalls nicht geeignet. Er würde nur einige Gruppen einbeziehen, wie beispielsweise die Kriseninterventionsteams von Rettungsdiensten, aber nicht die Notfallseelsorger. Wenn in vielen Publikationen und Gesprächen der Begriff »Psychosoziale Notfallhilfe« verwendet wird, geschieht dies in dem Sinne, dass die Psychosoziale Notfallhilfe sich an direkte und indirekte Notfallopfer wendet und nicht an die Helfer. Wenn es hingegen um die Betreuung von Einsatzkräften nach Notfällen geht, werden teilweise andere und völlig verschiedene Worte verwendet. Manchmal wird der Begriff »Nachsorge für Einsatzkräfte« gewählt oder es wird von »psychosozialer Unterstützung« gesprochen. Hier hat sich bisher kein Wort eindeutig durchgesetzt. In die­sem Buch wird im Falle der Betreuung von Einsatzkräften nach Notfällen von »Nachsorge für Einsatzkräfte« gesprochen.

2.2 Notfall Für den Begriff »Notfall« liegt folgende Definition vor: »Notfälle sind Ereignisse, die aufgrund ihrer subjektiv erlebten Intensität physisch und/oder psychisch als so beeinträchtigend erlebt werden, dass sie zu negativen Folgen in der physischen und/oder psychischen Gesundheit führen können.« (Lasogga und Gasch 2004). Bei einer derartigen Definition wird die Subjektivität in den Vordergrund gerückt. Demnach kann im Endeffekt jedes Ereignis als Notfall betrachtet werden, wenn die Person es so ansieht, also auch die Beule im Auto oder der Tod des Wellensittichs. Dies ist letztlich korrekt, kann aber auch zu einer 12

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2 ˘ Begriffe

inflationären Verwendung des Begriffs Notfall führen. Deshalb sollen weitere Kriterien herangezogen werden. Hier bieten sich Ansatzpunkte bei Mitchell und Everly (2005). Sie nennen als Kennzeichen von Notfällen: sie treten plötzlich auf das Opfer ist überrascht das Opfer ist unvorbereitet das Opfer ist überwältigt von der Intensität des ­Geschehens ”” sie dauern relativ kurz. ”” ”” ”” ””

Aber auch hier zeigt sich ein Dilemma: Wenn die­se Kennzeichen auch für viele Notfälle gelten, so treffen sie nicht für alle zu. Notfälle treten nicht immer plötzlich auf, manchmal bestehen kürzere oder längere Vorwarnzeiten wie bei einem Hochwasser. Auch vor Lawinenabgängen kann gewarnt werden. Ferner muss ein Notfall nicht immer kurz dauern; eine Geiselnahme oder der Tod eines Verwandten beispielsweise können sich über Tage hinziehen. Letztlich kann damit keine eindeutige Definition von »Notfall« gegeben werden. Generell wird deshalb hier die Definition von Lasogga und Gasch zu Grunde gelegt. Zusätzlich gilt, dass dann von einem Notfall gesprochen werden soll, wenn die meisten Menschen die­sen als Notfall bezeichnen würden. Ein Notfall kann zu negativen Folgen führen, stellt also höchstens ein »potenziell traumatisierendes Ereignis« dar (s.u.), er muss es aber nicht. Für die Psychosoziale Notfallhilfe sind die­se subjektiven Folgen bedeutsam, die beachtet und behandelt werden müssen.

2.3 Trauma Die Worte »Trauma« bzw. »traumatisiert« werden geradezu inflationär verwendet. Manchmal entsteht der Eindruck, dass jedes seltene negative Ereignis bereits ein »Trauma« ist bzw. zur Folge hat. Außerdem wird der Begriff »Trauma« sehr unterschiedlich verwendet. Teilweise wird er synonym zu »Notfall« gebraucht. Aber auch die Folgen eines Notfalls 13

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2 ˘ Begriffe

werden als »Trauma« bezeichnet; die Betroffenen haben ein »Trauma«, sind »traumatisiert«. In letzterem Fall muss man korrekterweise von »Psychotrauma« sprechen, da der Begriff »Trauma« ein medizinischer Begriff für »Verletzung« ist. Insgesamt wird der Begriff »Trauma« in vier Varianten verwendet (ausführlich: Lasogga und Gasch 2008):

”” Psychotrauma als Ereignis

Nach die­ser Wortbedeutung wird ein Ereignis, das aus der Außensicht für den Menschen, der es erleidet, belastend sein könnte, als »Trauma« bzw. »Psychotrauma« bezeichnet. Dabei werden nur die Reize eines Ereignisses betrachtet; eine entsprechende negative Reaktion des betroffenen Menschen wird postuliert. Teilweise wird sogar eine Erwartungshaltung induziert, dass jeder Mensch auf die­se Ereignistypen negative Folgeerscheinungen zeigen muss. Es ist allerdings falsch, von einem traumatisierenden Ereignis per se zu sprechen; es kann nur ein potenziell traumatisierendes Ereignis geben. Das Ereignis kann zu negativen Folgen führen, muss aber nicht. Der Tod des Ehemanns kann von einer Witwe nicht nur als sehr belastend angesehen werden, sondern sogar mit Erleichterung aufgenommen werden, wenn ein Ehemann seine Frau jahrelang geschlagen, gequält und vergewaltigt hat.

”” Psychotrauma als Folge

Bei einer anderen Wortbedeutung wird die Reaktion eines Menschen als »Psychotrauma« bezeichnet. Ein Psychotrauma ist demnach nicht das Ereignis selbst, sondern die Folge des Ereignisses. Der Mensch hat ein Psychotrauma, ist »traumatisiert«. Damit stellt der Begriff »Psychotrauma« einen unklaren Sammelbegriff für menschliche Reaktionen dar. Eine Spezifizierung der Reaktionen findet in aller Regel nicht statt.

”” Psychotrauma als Ereignis und dessen Bewertung

Bei die­ser Definition steht sowohl das äußere Ereignis als auch dessen Bewertung durch den Betroffenen im Vorder14

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2 ˘ Begriffe

grund. Ob ein Notfall ein Psychotrauma darstellt, hängt demnach sowohl vom äußeren Ereignis als auch von der Bewertung des Notfalls durch das Individuum ab. Diese Definition entspricht etwa der Stresstheorie bzw. -definition von Lazarus.

”” Psychotrauma als Interaktion zwischen Ereignis, Bewertung und Folge

Nach einer weiteren Wortbedeutung werden a) das Ereignis, b) dessen Bewertung unter Einschätzung der eigenen Bewältigungsmöglichkeiten und c) die negativen Folgen als Kriterien herangezogen, um ein Psychotrauma zu definieren. Ein Psychotrauma ist danach ein »vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt« (Fischer und Riedesser 2003). Darüber hinaus finden sich folgende Varianten in der Literatur:

”” Psychotrauma Typ 1 und 2

Eine für die Psychosoziale Notfallhilfe wichtige Unterscheidung nimmt Terr (1991) vor: Sie differenziert zwischen Trauma Typ 1 und Trauma Typ 2. Bei Typ 1 handelt es sich um ein einzelnes Ereignis und die Reaktion darauf, beispielsweise einen Unfall, eine Naturkatastrophe oder einen Raubüberfall. Dies kann einmalig (Monotrauma), oder es können mehrere verschiedenartige Ereignisse sein (Multitrauma). Typ 2 beschreibt einen Zustand, der längere Zeit andauert und/oder ein Geschehen, das sich wiederholt, z. B. jahrelange sexuelle Gewalt. Beginnt dies im Kindesalter, bezeichnet man es auch als Entwicklungstrauma, beginnt es im Erwachsenenalter (Folter, Entführung, Gewaltbeziehung), bezeichnet man es als sequentielles Trauma. Im Falle des Traumas Typ 2 ist der Zustand überwiegend durch Menschen hervorgebracht worden und ist umso fataler, zerstörerischer und weitreichender, je früher er beginnt und je länger er andauert. 15

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4 ˘ Das Versorgungsdreieck

4 Das Versorgungsdreieck Wie aus den obigen Ausführungen ersichtlich ist, unterscheidet sich das Ausmaß an psychischer Unterstützung, das nach einem Notfall indiziert ist, bei den direkten und indirekten Notfallopfern aufgrund der unterschiedlichen Notfalltypen, der unterschiedlichen Moderatorvariablen und des aus die­sen Faktoren resultierenden unterschiedlichen Ausmaßes an psychischer Verletzung erheblich. Die folgende Abbildung stellt die mögliche und notwendige Art der Hilfe dar und skizziert die Anzahl der Personen, die eine derartige Hilfe benötigen. Grafisch wird deutlich, dass die Anzahl der »Bedürftigen« für die jeweilige Art der Hil6ERSORGUNGSDREIECK 3TUFE .OTFALLPSYCHOLOGISCHE 0RiVENTION 3TUFE 0SYCHISCHE %RSTE (ILFE DURCH ,AIEN DURCH PROFESSIONELLE NICHT PSYCHOLOGISCHE (ELFER 3TUFE

0SYCHOSOZIALE .OTFALLHILFE DURCH 0SYCHOSOZIALE .OTFALLHELFER 3TUFE

.ACHSORGE

DURCH 0SYCHOSOZIALE .OTFALLHELFER ODER DURCH &ACHKRiFTE 3TUFE 4RAUMAZENTRIERTE 4HERAPIE DURCH 4RAUMA THERAPEUTEN

Abb. 3 ˘ Versorgungsdreieck 60

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4 ˘ Das Versorgungsdreieck

fe und die Anzahl mit der notwendigen Qualifikation zur Verfügung stehenden Helfer sich entsprechen: Von der Psychischen Ersten Hilfe, die jedes Notfallopfer benötigt und für die jeder Laienhelfer und erst recht jede Einsatzkraft qualifiziert sein sollte, ähnlich der medizinischen ersten Hilfe, bis hin zur spezifischen Traumatherapie, die wenige brauchen und die nur von Spezialisten durchgeführt werden kann.

4.1 Indikation für Psychische Erste Hilfe (Stufe 1) Sämtliche Notfallopfer benötigen nach einem Notfall Psychische Erste Hilfe (PEH), d. h. mit ihnen sollte von jeder Einsatzkraft und letztlich auch von jedem Laienhelfer, der mit Notfallopfern in Kontakt kommt, regelgeleitet psychologisch angemessen umgegangen werden. Psychische Erste Hilfe deckt in der ersten Phase nach einem Notfall die psychischen Bedürfnisse von direkten und indirekten Notfallopfern ab. Durch einen angemessenen psychologischen Umgang kann bereits in die­ser Phase dafür gesorgt werden, dass wenig Notfallopfer an Folgestörungen erkranken. Ein psychologisch angemessener Umgang wird als entlastend, ein unangemessener Umgang aber als starke zusätzliche Belastung neben den Belastungen durch den Notfall empfunden. Diese zusätzliche Belastung wird besonders stark empfunden, da Notfallopfer labilisiert sind. Selbst falsche bzw. unangemessene Worte von Laienhelfern oder Einsatzkräften können sich zu die­sem Zeitpunkt in das Gedächtnis »einbrennen« und werden dann möglicherweise ein Leben lang von den Notfallopfern nicht mehr vergessen bzw. können Auslöser für traumatische Trauer sein. Beispiele: Die Mutter einer Betroffenen, die die­se monatelang gepflegt hat, starb genau in den fünf Minuten, in denen die Tochter kurz zur Toilette gegangen war. Die Pflegeperson sagte, als die­se sich schwere Vorwürfe machte: »Dann hätten Sie halt nicht weggehen dürfen, Sie wussten doch, dass es ihr schlecht geht.«

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4 ˘ Das Versorgungsdreieck

Eine Einsatzkraft sagte nach dem Tod eines Kindes im Rahmen eines Unfalls, der durch eine Unvorsichtigkeit der Mutter ausgelöst wurde: »Was wollen Sie denn, das hätten Sie sich früher überlegen sollen. Sie sind schließlich selbst schuld.« Sehr häufig sind die Ersthelfer Laien, die meist keine Ausbildung im psychologisch angemessenen Umgang mit Notfallopfern haben. Diese Laienhelfer können sich gemäß den vier inzwischen weit verbreiteten Regeln zur Psychischen Ersten Hilfe verhalten (Lasogga und Gasch 2006). Es ist sinnvoll, die­se in einem kleinen Exkurs im Rahmen der Schulungen zur medizinischen Ersten Hilfe aufzunehmen. Dies wurde in Deutschland teilweise bereits umgesetzt. Nach den Ersthelfern treffen in der Regel die Einsatzkräfte (Rettungsdienste, Feuerwehr, Polizei) ein, aus Sicht der psychologischen Betreuung professionelle nicht-psychologische Helfer. Sie sollten psychologisch adäquat mit den Notfallopfern umgehen. Für die­se Gruppe liegt ein umfangreicherer Regelsatz als für Laienhelfer zur Psychischen Ersten Hilfe vor und viele Hintergrundinformationen (Lasogga und Gasch 2006). Bei die­ser Gruppe kann davon ausgegangen werden, dass sie detaillierte Maßnahmen im psychologischen Bereich realisieren können. Viele Einsatzorganisationen haben die­se Regeln inzwischen in die Ausbildung aufgenommen. Diese Psychische Erste Hilfe genügt bei vielen Notfallopfern, mehr ist nicht notwendig. Viele Notfallopfer sind psychisch derartig wenig beeinträchtigt bzw. haben gute innere und/oder soziale Ressourcen, die aktiviert werden können. Sie können nach dem Notfall in die gewohnte Umgebung gehen oder dort verbleiben, was auch bereits stabilisierend wirkt.

4.2 Indikation für Psychosoziale ­Notfallhilfe (Stufe 2) Eine kleinere Gruppe benötigt weitere Hilfe, und zwar Psychosoziale Notfallhilfe (PSNH). Psychosoziale Notfallhilfe ist 62

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4 ˘ Das Versorgungsdreieck

als konkrete Betreuung in einem bestimmten Zeitfenster und in einer bestimmten Situation angemessen: in der Phase nach der Psychischen Ersten Hilfe und in der Phase vor der Intervention durch Fachkräfte. Die Erforderlichkeit einer derartigen Hilfe kann sofort nach dem Notfall ersichtlich werden, wie beispielsweise bei Großschadensereignissen, sodass die Alarmierung von Psychosozialen Notfallhelfern sofort nach dem Bekanntwerden eines Notfalls erfolgt, und zwar in vielen Fällen durch die Leitstelle. Aber auch zu einem späteren Zeitpunkt kann das Hinzuziehen eines Psychosozialen Notfallhelfers notwendig erscheinen, beispielsweise wenn Einsatzkräfte aufgrund der vorgefundenen Situation eine Nachalarmierung für notwendig erachten. Die Psychosoziale Notfallhilfe sollte nicht nach Belieben oder per Zufall erfolgen, sondern aufgrund klarer Indikationskriterien durch geschulte Personen. Entscheidend dafür, ob Psychosoziale Notfallhelfer gerufen werden sollten, sind ”” der Notfalltyp: z. B. ein Verkehrsunfall oder eine

Naturkatastrophe

”” die Moderatorvariablen: z. B., ob die Person viele

oder wenige Ressourcen hat

”” die situativen Variablen: z. B., ob die Person den Be-

lastungen kurz- oder langfristig ausgesetzt war oder stark körperlich betroffen ist ”” die Reaktionen des Notfallopfers: z. B., ob die Person starke dissoziative Symptome zeigt oder nicht.

Aus dem Verhältnis die­ser Faktoren sowie aus den wahrnehmbaren Ressourcen ergibt sich die Indikation für Psychosoziale Notfallhilfe.

”” Alarmierung durch die Leitstelle

Günstig ist es, wenn in Leitstellen Kriterienkataloge vorliegen, anhand derer Psychosoziale Notfallhelfer alarmiert werden. Im Folgenden werden einige Notfälle aufgeführt, zu denen häufig Psychosoziale Notfallhelfer gerufen werden (Lasogga und Gasch 2006b, Zehentner 2007): 63

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wahl an Distanzierungstechniken und Entspannungsmethoden für Notfallopfer und Psychosoziale Notfallhelfer sowie eine umfassende Anleitung für die Ausbildung bereithält. Anknüpfend an das bei S+K erschienene Buch „Psychische Erste Hilfe bei Unfällen“ werden die dort entworfenen methodischen Grundlagen, Regeln und Hinweise für die anschließende psychische Betreuung weiterentwickelt.

Zum Themenkomplex Psychosoziale Notfallhilfe präsentieren Frank Lasogga und Eva MünkerKramer einen praxisbezogenen Leitfaden, der wirklichkeitsnahe Beispiele und kompakte Übersichten bietet und eine Aus-

Das Buch richtet sich an Notfallseelsorger und Kriseninterventionsteams, aber auch an Mitarbeiter der am Notfall beteiligten Organisationen, die diesen Bereich näher kennen lernen oder sich weiterbilden möchten.

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Psychosoziale Notfallhilfe

Der Notfall ist geschehen, die Wunden sind versorgt. Übrig bleiben die seelischen Verletzungen. Dank der Psychischen Ersten Hilfe können viele Menschen ohne größere Nachwirkungen wieder in den Alltag zurückkehren. Eine kleinere Personengruppe benötigt zusätzlich eine Psychische „Zweite“ Hilfe – die Psychosoziale Notfallhilfe. Diese intensive und umfassende Betreuung wird von Psychosozialen Notfallhelfern geleistet.

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