Şimdi heißt jetzt – Momentaufnahmen aus Istanbul. Eine Sammlung

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Maviblau (Hrsg.)

Şimdi heißt jetzt Momentaufnahmen aus Istanbul. Eine Sammlung



Şimdi heißt jetzt


Herausgeber

Verlag

Maviblau e. V., Berlin

Slanted Publishers, Karlsruhe

maviblau.com

slanted.de

Texte: Maviblau e.V.

@slanted_publishers

Idee und Redaktion

Projektmanagement Verlag

Navid Linnemann

Julia Kahl

Illustration und Titel

ISBN: 978-3-948440-06-0

Eva Feuchter

© 2020, Slanted Publishers,

evafeuchter.de

Maviblau, 1. Auflage

Design und Satz

Alle Rechte vorbehalten.

Eva Feuchter Das Werk einschließlich aller Schriften

seiner Teile ist urheberrecht-

PT Serif, ParaType Ltd.

lich geschützt. Jede Verwertung

PT Mono, ParaType Ltd.

außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne

Übersetzung

Zustimmung des Herausgebers und

Ezgi Beyazgül, Vivian Makowka,

des Verlages unzulässig und straf-

Neslihan Yakut

bar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,

Lektorat

Mikroverfilmungen und die Ein-

Dilşad Budak-Sarıoğlu, Marie

speicherung und Verarbeitung in

Hartlieb, Laurenz Schreiner,

elektronischen Systemen. Die Klä-

Marlene Resch, Navid Linnemann,

rung der Rechte wurde von den

Tuğba Yalcınkaya, Neslihan Yakut

Autoren mit bestem Wissen vorgenommen.

Dieses Projekt wurde gefördert mit Mitteln des Deutschen

Die Deutsche Nationalbibliothek

Generalkonsulats Istanbul.

verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.


Maviblau

Şimdi heißt jetzt Momentaufnahmen aus Istanbul. Eine Sammlung

Mit Illustrationen von Eva Feuchter


Vorwort

/ 09

Zwischen Schwermut und Leichtigkeit

/ 15

Tuğba Yalcınkaya

Frech und frei und wunderbar

/ 25

Carina Plinke

Der Einsiedler von Istanbul

/ 33

Matthias Wechsler

Und Action!

/ 45

Seda Sina

Chaos und Kosmos

/ 55

Neslihan Yakut

Immer online

/ 67

Marie Hartlieb

Ausbildung zum Märtyrer

/ 79

Navid Linnemann

Tee am Mittelstreifen Marie Hartlieb / Navid Linnemann

/ 99


Die Musik in dir

/ 113

Onur Sesigür

Das Fleisch ist vom Nagel untrennbar

/ 133

Zeynep Ünal / Seden Filiz Güleç

Murat Boz ist schwanger

/ 145

Onur Sekmen

Mit Süße und mit Tränen

/ 153

Derya Reinalda

Dezemberkälte

/ 161

Marlene Resch

Die Geschichte der Kinder, die ihre Straßen in Tribünen verwandeln

/ 173

Uğur Ugan

So langsam wie Kondenswasser

/ 183

Sabrina Raap

Die Autor_innen

/ 188

Danksagung

/ 190



/9

Vorwort Über dieses Buch

Wie verändert sich die Wahrnehmung, wenn man wirklich einmal vor Ort ist, statt die Türkei nur aus den Medien zu verfolgen? Welche Geschichten erlebt man, welche Begegnungen finden statt? Und wie fühlen sich Alltag oder auch politische Umbrüche an? In diesem Buch kommen 15 junge Autor_innen zu Wort, die Momentaufnahmen aus ihrem Leben in der Türkei teilen. Es sind Menschen, die die Türkei eine Zeit lang als ihr Zuhause bezeichnet haben, Menschen, die in diesem Land geboren und aufgewachsen sind, und Menschen, deren familiäre Wurzeln hier liegen. Sie beschreiben ihr Leben zumeist aus Istanbul, der größten türkischen Stadt, in der sich so viele kulturelle Einflüsse, gesellschaftliche Ideen und individuelle Träume miteinander vermischen: Beispielsweise Seda Sina, die von ihrem Arbeitsleben berichtet, und Sabrina Raap, die in Istanbul ihr Zeitgefühl verliert. Oder Derya Reinalda, die ihre Gefühle und Erfahrungen beschreibt, die sie während ihres ersten Rakı-Abends in einer Meyhane durchlebte.


Maviblau Maviblau ist eine deutsch-türkische Kulturplattform mit Sitz in Berlin und Istanbul, die Begegnungen zwischen der Türkei und Deutschland im Bereich von Kunst, Kultur und Gesellschaft ermöglicht. Mit einem Online-Magazin, Workshops, Events und diversen Projekten will der Verein die Vielfalt und Lebendigkeit dieses Austausches erforschen und intensivieren. Hinter Maviblau steht ein Team junger Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen eine Nähe zur beiden Ländern haben.

Eva Feuchter Eva Feuchter hat Grafikdesign studiert und kam in dem Zusammenhang für eine Kunstresidenz nach Istanbul. Dort fand sie die Architektur so interessant, dass sie sich seitdem in verschiedenen Projekten mit der Stadt beschäftigt. Für die Gestaltung dieses Buchs kombinierte sie Tinte, Aquarell und digitale Collage. Heute lebt sie als freiberufliche Illustratorin und Designerin in Leipzig.


Slanted Publishers Slanted Publishers ist ein unabhängiger Verlag und Medienhaus, welches 2014 von Lars Harmsen und Julia Kahl gegründet wurde und international tätig ist. Sie veröffentlichen das vielfach ausgezeichnete Printmagazin Slanted, welches zwei mal jährlich den Fokus auf internationales Design- und Kulturschaffen legt. Im Slanted Blog und den sozialen Medien werden seit 16 Jahren täglich News und Veranstaltungen aus der internationalen Designszene veröffentlicht und inspirierende Portfolios aus aller Welt präsentiert. Neben dem Slanted Blog und Magazin entstehen bei Slanted Publishers weitere Publikationen, die sich mit dem Spannungsfeld zwischen zeitgenössischer Kunst, Illustration und Typografie beschäftigen, wie z.  B.den Abreißkalendern Typodarium und Photodarium, dem Yearbook of Type oder dem unabhängigen Schriftenverlag VolcanoType. Slanted entstand aus einer großen Passion heraus und hat sich einen Namen auf internationaler Ebene gemacht. Das Design ist lebhaft und inspirierend – die Philosophie weltoffen, tolerant und neugierig.



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Frei, frech und wunderbar Zweisprachige Kindererziehung in der Metropole

Carina Plinke

Damla hatte Frida Kahlo schon auf dem Brustkorb tätowiert, lange bevor es in der Mode war, sich mit ihr die T-Shirts und Taschen und Zimmerwände zu tapezieren. Für Damla ist Fridas Stärke Faszination und Motivation zugleich. In den Momenten, in denen sie sich kraftlos fühlt und nicht mehr weiter weiß, denkt sie an Frida und plötzlich geht es wieder. So erklärt mir Damla ihre Leidenschaftlichkeit für Frida. Sie sei ihr großes Vorbild, weil sie trotz aller Widrigkeiten im Leben immer wieder Stärke bewiesen hat, um ihre Ziele zu verwirklichen. Das will Damla auch, sagt sie und setzt das glaubhaft um. Ich hatte das Glück, Damla zu begegnen und mir etwas von ihrem Wesen als Vorbild zu nehmen. Ich lerne Damla an meinem ersten Arbeitstag in einem mehrsprachigen Kindergarten in 4. Levent× in Istanbul kennen. Sie hat ihre wilden Locken auf einer Seite abrasiert, auf ihrem Körper ist kaum noch Fläche für ein Tattoo. Bunt ist ihr ganzer Körper, rebellisch bunt, so bunt wie die Visionen einer jungen Generation Istanbuls. Der Vision von einer Welt, in der Menschen aller Kulturen, Sprachen und Religionen respektvoll miteinander umgehen und die Menschen im Einklang mit ×

4.Levent ein Geschäftsviertel, das zum Stadtteil Kâğıthane gehört



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Der Einsiedler von Istanbul Überleben in einer wuchernden Stadt

Matthias Wechsler

Ein Fischbrötchenverkäufer in Istanbul lockt Merve und mich seit einiger Zeit immer wieder nach Tophane. Mehmet nimmt sich Zeit für ein Dürüm und brät Fisch, Tomaten, grünen Pfeffer und Zwiebeln auf einem klebrig triefenden Grill. Der Stand von Mehmet Usta× besteht nur aus dem üblichen Handkarren und einer Nische in der Mauer, vor welcher dieser aufgebaut ist. Für mich sind diese Mauer und die Wechselwirkung zwischen Mauer und Mehmet das eigentlich Faszinierende, worin sich die Entwicklungen Istanbuls wie im Brennglas bündeln. Tophane ist ein zentraler Stadtteil, dem sich keine eindeutige Nutzung zuschreiben lässt. Heute liegen hier das Museum İstanbul Modern, alte Hafenanlagen, die Mimar-Sinan-Universität der schönen Künste und einige gesichtslose Bürogebäude. Dazu Restaurants und eine schöne, beinahe barocke Moschee, die seit Jahren in ein Baugerüst mit wehenden Staubfängern gehüllt ist. Hinter einem schmalen Streifen Land am Bosporus steigt das Gelände steil an und wird von Straßen längs des Wassers geteilt. An dem Hang mischen sich Wohnhäuser zwischen halb ausgegrabene Ruinen und bilden den Übergang zum Szeneviertel Cihangir. ×

Usta soviel wie: Meister, Meisterin


Matthias Wechsler In Leipzig, Istanbul und Mailand studierte Matthias Architektur und Ingenieurwesen. Während der Gezi-Proteste 2013 war er vor Ort und entdeckte seine Faszination für Stadtentwicklung in Istanbul, die er als eine Verhandlung von politischen, gesellschaftlichen und räumlichen Zukunftsfragen begreift. Nach einiger Zeit in Istanbul arbeitet Matthias heute in einem Planungsbüro in Berlin.




Und Action!

denn es steigert die Motivation für die eigene Arbeitsleistung enorm. Kommen wir aber zurück zum Thema. Das Bewerbungsgespräch war erfolgreich. Den neuen Job in der Filmproduktionsfirma hatte ich in der Tasche! Ich war richtig froh darüber, dass ich so schnell eine Arbeit gefunden hatte. Die ersten Tage und Wochen verliefen super, obwohl sich die Abgrenzung der verschiedenen Arbeitsbereiche oft als etwas schwammig erwies. Ich war der Joker für alles. Dadurch hatte ich allerdings auch die Möglichkeit, wesentlich mehr zu lernen und verstand viel besser, was andere Kolleg Kolleg__innen machten und wie es in einer Filmproduktionsfirma so abläuft. Zum Beispiel durfte ich eines Tages mal eben ein Video inklusive Untertiteln kürzen, da der Cutter ausgefallen war. Da brach bei mir dann kurz Panik aus. Nein wollte ich aber nicht sagen. Meine Erfahrung in solchen Fällen ist nämlich, dass man, wenn man ein paar Mal nein sagt, auch schnell seinen Job verlieren kann. Insgesamt ist die Arbeit in der Istanbuler Kreativbranche eine Herausforderung. Ein Bekannter von mir arbeitet zum Beispiel als Grafikdesigner, meistens in der Werbung. Er musste schon häufiger seinen Job wechseln. Mal lag es daran, dass er monatelang (und in einem Fall bis heute) kein Gehalt bekommen hatte. Ein anderes Mal war pure Ausbeutung der Grund. Es steht vielleicht ein Nine-to-five-Job auf dem Papier, aber die Realität ist, dass du monatelang kein einziges Mal um fünf Uhr Feierabend machst. Im Gegenteil, dein Chef verlangt, dass Projekte schnell abgeschlossen werden. Nicht selten bleibt mein Bekannter bis neun oder zehn Uhr am Abend im Büro. Ohne bezahlte Überstunden und ohne Ausgleichsurlaub. Bei meiner Arbeit ging es mir in Istanbul hauptsächlich um Kontakte, die ich dort knüpfen konnte. Ohnehin ist das Netzwerk extrem wichtig, um den Weg freizuschaufeln. Gehen wir einmal davon aus, du hast eine Projektidee und bewirbst dich um eine Förderung oder du hast ein

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Chaos und Kosmos Eine Nacht in der Notaufnahme

Neslihan Yakut

»Ach du Scheiße!«, denke ich mir, als die wunderschöne rosa Brille, mit der ich diese magische Stadt jahrelang betrachtet habe, zerbröselt und einen glitzernden Hauch hinterlässt, der sich schmerzlich auf meine Hornhaut legt. Hier in der Notaufnahme in Şişli× tötete ich mein Istanbul, um Platz für ein Neues zu machen. Es ist Frühling 2013. Noch liegt die Schwere der Gezi-Proteste nicht auf der Stadt. Vor einiger Zeit ist meine Freundin Bahar aus Berlin nach Istanbul gezogen und wir leben zu dritt in einer 70-QuadratmeterWohnung in Ortaköy. Eine niedrige Erwartungshaltung an Komfort erleichtert das gemeinsame Leben. Wir sind einfach zufriedenzustellen, mit allem. Auch dass wir die Wohnung mit einer alten Gasheizung heizen müssen, ist irrelevant, denn noch sind wir benebelt vom süßen Opium, das Istanbul uns verlockend unter die Zunge legt, jeden verdammten Morgen. Bitte entschuldigt meine Wortwahl – das Erste, was eine Großstadt mit uns macht, ist, sich in die Sprache zu schleichen, und wenn wir nicht fluchen, frisst sich der Frust in unser Fleisch und der Fluch legt sich auf unsere Zellen. ← Alte Apotheke in Kurtuluş

×

Şişli Stadtteil Istanbuls auf der europäischen Seite



Chaos und Kosmos

vor Bahar nichts anmerken zu lassen. Der junge Mann zieht langsam die Gardine ein Stück weit auf und schielt rüber. Wir erschrecken. Ezgi zieht die Gardine wieder zu. Er lacht wieder auf und sagt: »Was ist? Angst bekommen, mein Herzchen?« Gerade als ich antworten will, kommen seine Freunde und lenken ihn ab. Zuerst unterhalten sie sich leise. Sie streiten sich über etwas, dann hören wir, wie das Bett anfängt zu wackeln und zu zittern. Der junge Mann hat eine Art Anfall und seine Freunde reden auf ihn ein, um ihn zu beruhigen. Er schreit. Im Fünfsekundentakt stößt er animalische Laute aus. Ezgi ergibt sich ihrer Neugier und diesmal zieht sie die Gardine ein Stück zur Seite und schielt rüber. Ich tue es ihr gleich. Der Junge ist höchstens 18 Jahre alt. Durch seinen knochigen Körper wirkt er irgendwie kantig, wie eine Legofigur liegt er da. Er wälzt sich im Bett von rechts nach links. Dann schüttelt er seinen Kopf so heftig, dass ich Kopfschmerzen bekomme. Einer seiner Freunde rennt los, um einen Arzt zu holen, der andere redet immer noch auf ihn ein. Dabei sieht er sich alle paar Sekunden verlegen um. Wir machen uns nicht einmal mehr die Mühe, heimlich zu schielen, und beobachten sie ganz offen ohne jegliche Scham, so wie die meisten, die um uns herum liegen, stehen oder sitzen. Der junge Mann im Bett greift plötzlich nach den Ellbogen seines verlegenen Freundes und zieht ihn an sich: »Der Bakkal× unten an der Ecke verkauft was!«, schreit er ihm ins Ohr. Ob er wohl denkt, dass er flüstert? Immer wieder erwähnt er den Bakkal und fordert seinen Freund auf hinzugehen und ihm etwas zu besorgen. Es sei billig. Er solle nur seinen Namen durchgeben und der Bakkal Amca× wüsste, was er ihm geben solle. Sein Freund, der sich aus seinem Griff nicht befreien kann, versucht, ihn zum Schweigen zu bringen, doch der Junge wird immer aggressiver, bis er abrupt den Ellbogen seines Freundes fallen lässt. Seine Augen verdrehen sich merkwürdig. Meine Oma hätte gesagt, böse Geister hätten ihn befallen und würde anfangen, irgendwelche Verse ×

Bakkal Gemischtwarenladen, Kiosk

×

Bakkal Amca »Kiosk-Onkel«

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Immer online Social Media auf der Arbeit und im Alltag

Marie Hartlieb

Özge nippt an ihrem Tee. Wir sitzen in ihrem Wohnzimmer und besprechen Social-Media-Taktiken. Ab und zu schaut ihr Hund Fanta vorbei. Er ist Protagonist vieler ihrer Instagram-Storys. Selbst interessiert er sich nicht wirklich für die Darstellungswelt im Internet. Özge ist Social-Media-Managerin des türkischen Facebook- und Instagram-Accounts eines internationalen Flugreiseanbieters. Einmal pro Tag wird auf Facebook und Twitter gepostet, auf Instagram gibt es täglich Posts und Storys. Özge macht das jetzt schon seit mehr als sechs Jahren. Von ihr lerne ich, Redaktionspläne zu erstellen, Communitys aufzubauen und Marken auf den sozialen Plattformen Leben einzuhauchen. »Die Menschen müssen sich bei dir zuhause fühlen«, sagt sie, »deine Posts sind ihr tägliches Futter.« Für mich gibt es drei Perspektiven auf Social Media. Zum einen gibt es die berufliche Perspektive. Da geht es um die Nutzung von sozialen Medien für Marken. Man schaut, welche Inhalte wie oft geteilt werden müssen, damit Menschen von den Marken hören, sich an sie gewöhnen und letztendlich bei ihnen einkaufen. Es gibt die wissenschaftliche


Marie Hartlieb

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Media vor allem die Plattform akkumulierten Wissens, das die Menschen in der Türkei und die Menschheit an sich nach vorne katapultieren kann. Über YouTube, Blogs, das Teilen von Links können die Leute selbst erlernen, was sie brauchen. Sie sind nicht auf Institutionen oder einen finanziell soliden Background angewiesen. Das Internet verpackt das gesamte Wissen in ein zugängliches Paket. Klar, hin und wieder tauchen Sperren für bestimmte Seiten auf. Aber darin ist man geübt, schnell wird eine Umgehung dieser Sperren gefunden. Denn das Internet ist nicht so leicht zu kontrollieren wie die traditionellen Medien. Sowieso ist der Umgang mit sozialen Medien seit deren Aufkommen in der Türkei sehr dynamisch und progressiv. Neue Wege werden sofort gefunden und ausprobiert. 1999 wird die Social Media Plattform Ekşi Sözlük gegründet, eine Art community-wachsendes Wörterbuch mit nicht ganz so ernsten, dafür aber umso unterhaltsameren Einträgen. Wikipedia gibt es zu dem Zeitpunkt noch gar nicht und Mark Zuckerberg ist noch in der Schule. Innovativität und auch Intensität der Social-Media-Nutzung sind extrem hoch. Im Gegensatz zur Türkei herrscht in Deutschland ein sehr protektives Gefühl zur eigenen Privatsphäre, weshalb sich die sozialen Netzwerke eher stockend entwickeln. Und somit werden Probleme, die in Deutschland noch gar nicht aufgekommen sind, in der Türkei schon galant gemeistert. 2014 fährt Bora mit seinem Co-Founder nach Hamburg. Dort beraten sie ein Social-Media-Unternehmen, welches die Insights dazu, wie in der Türkei mit Shitstorms umgegangen wird, dankbar annimmt. Neue Situationen, die für mich sowohl menschlich als auch im beruflichen Kontext herausfordernd sind, tauchen immer wieder auf. 2015 und 2016 kommt es vermehrt zu Anschlägen. Der I’m safe-Button meines Facebook-Accounts muss viel zu oft aktiviert werden. Teilweise erfahren allerdings Freunde und Verwandte erst durch das Aufleuchten ×

Ekşi Sözlük ekşi → wörtlich: sauer sözlük → Wörterbuch


Immer online

der Safe-Notifikation, dass wieder etwas passiert ist. Auf beruflicher Ebene werde ich ratlos. »Özge, wie macht ihr das denn mit den ganzen Anschlägen?«, frage ich sie. Langsam fehlen einem die Worte. Beileid, Anteilnahme, wir sind alle Istanbul, Ankara, Adana – all diese Formulierungen kommen einem ausgelutscht, nicht mehr aufrichtig vor. Ich sehe auch Marken, die daraus ein Geschäft machen. Sie posten selbst erstellte Bilder der Anteilnahme plus großem eigenen Logo. Denn an einem solchen Tag wird viel geteilt und User_innen User_innen sind dankbar für vorgefertigte Bilder, um ihre Betroffenheit mitzuteilen. Da kann es dann schon mal sein, dass so ein Anteilnahme-Post einer Marke richtig viral geht. Praktisch, geschäftstüchtig und makaber. Das kann ich nicht. Aber welche Posts spenden wirklich noch Trost? Oder wirken ehrlich und wahr? »Inzwischen machen wir gar nix mehr«, sagt Özge. Zu oft müsste man sonst Betroffenheit bekunden. Nun schweigt man ein bis zwei Tage und wartet ab. Dann geht das Tagesgeschäft weiter. Das scheint die beste Methode. Die Abgebrühtheit, die man selbst mit der Zeit entwickelt, spiegelt sich auch auf den Social-Media-Seiten der unterschiedlichen Marken wieder. Als es am 15. Juli 2016 dann zum Putschversuch kommt, geht es online wieder hoch her. Systematisch wird auf den Plattformen nach Gülen-Anhänger_innen gesucht oder Menschen, die mit ihnen zu tun Gülen-Anhänger_innen haben könnten. Wieder werden Facebook- und Twitter-Freund_innen Twitter-Freund_innen durchsucht und ausgemistet. Man möchte nicht mit den falschen Leuten in Verbindung gebracht werden. Auch die persönlichen Posts reduzieren sich, die Menschen finden neue Interessen, die sie vermehrt teilen und liken. Das sind zum Beispiel ganz viele Katzenvideos, oft Frühstücksbilder, gern auch Sportberichte. Dankbar ist man vielleicht auch um die kleinen, freundlichen Posts, die einfach nicht ganz so viel Gewicht haben wie die politischen Gewitter, die über das Land ziehen. Derweil steigt die Nutzung der sozialen Medien weiter. 2019 sind ca. 43 Millionen der

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Marie Hartlieb Nach einem Erasmusaufenthalt 2010 kam Marie einfach nicht mehr los von Istanbul. Kurzerhand verlagerte sie für mehrere Jahre ihren Lebensmittelpunkt an den Bosporus und arbeitete als Social-Media-Managerin für türkische und deutsche Firmen. Heute ist sie selbstständige Konzepterin in Berlin. Auch dort findet sie die Wirkung von Social Media auf die Gesellschaft spannend.




Ausbildung zum Märtyrer

das Selbstverständnis vieler Türk_innen Türk_innen sehr militärisch ist. Ob es nun Kemalist_innen sind, welche die Leistungen der Armee im BefreiungsKemalist_innen krieg hochhalten oder Islamist_innen, Islamist_innen, die sich nur zu gern an die zahlreichen Eroberungen der Osmanen erinnern. Pazifistische Stimmen sind, wenn überhaupt, sehr leise. Das liegt auch an den ständigen Konflikten und Bedrohungen, mit denen sich die Türkei konfrontiert sieht. Sei es die Lage an einer möglichen Front zu Zeiten des Kalten Krieges, nach Unabhängigkeit strebende Kurd_innen Kurd_innen im Südosten des Landes, der Zypernkonflikt mit Griechenland oder die häufigen Kriege in den südlichen Nachbarländern. In und um die Türkei war und ist ein ständiges Konfliktpotenzial unbestreitbar, gegen das sich die türkische Armee stets gewappnet wissen will. Hierfür versuchte die Militärführung in Ankara unterschiedliche Wege zu gehen. Trotz der von Mustafa Kemal Atatürk vorgegebenen Neutralität suchte man zu Beginn des Kalten Krieges den Schulterschluss mit den USA, der nicht nur eine Aufnahme in die NATO zur Folge hatte, sondern auch für wirtschaftliche Impulse sorgte. Vom Militärbündnis einmal abgesehen, werden in jüngster Zeit auch verstärkt Rüstungsgüter selbst oder in Lizenz hergestellt, um die veraltete Ausrüstung zu erneuern. Eine hohe Mannstärke – so denkt man zumindest in Ankara – soll ebenfalls für schlagfertige Streitkräfte sorgen. Um diese, mit über 350.000 aktiven Soldaten immerhin an Kämpfern zweitstärkste Armee in der NATO, kostengünstig unterhalten zu können, sind Wehrdienstleistende ein unvermeidbarer Bestandteil. Dass diese Armee auch eingesetzt wird, zeigen zahlreiche militärische Abenteuer im Ausland, die oft im nationalen Alleingang durchgeführt werden und damit vom Weg Atatürks abweichen. Immerhin, Wehrpflichtige wurden meines Wissens nach bisher nicht über Landesgrenzen hinweg geschickt, sondern nur für den Verteidigungsfall ausgebildet. Zwischen dem 20. und 41. Lebensjahr sind türkische Männer wehrpflichtig. Eine Ersatzleistung, wie es sie in anderen Staaten gibt, ist in

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Tee am Mittelstreifen Öffentlicher Nahverkehr zwischen zwei Kontinenten

Marie Hartlieb Navid Linnemann

Istanbul ist eine große Herausforderung. Nicht im negativen Sinne, sondern ganz allgemein. Doch ist das bei der Größe der Stadt und ihrer Einwohnerzahl verwunderlich? Wo Massen in Bewegung geraten, entsteht Reibung. Kaum ein Ort ist für diese Beobachtung besser geeignet, als die Straße. Was zunächst vielleicht elementar und für den gesamten öffentlichen Verkehr symbolisch ist: Rot heißt nicht rot und grün heißt nicht grün. Ampeln und ihre Farben fühlen sich eher wie Empfehlungen an. Sie enthalten ein dekoratives Element. So richtig ernst genommen werden sie nicht. Das führt zu ein wenig mehr Chaos und ein wenig mehr Flexibilität. Daher lernt man selbst als Fußgänger_in Fußgänger_in schnell, sich dem Fluss – besser: den sprudelnden Quellen, steilen Sturzbächen und verspielten Brandungen des Verkehrs – anzupassen und den eigenen Weg von A nach B als aufregendes Abenteuer zu nehmen. Und dennoch: Das Reisen mit den öffentlichen Verkehrsmitteln hat in Istanbul durchaus seine Vorteile. Mit der Fähre auf dem Bosporus oder in der Metro, tief unter der Stadt, entgeht man dem immerwährenden Stau. Wobei, das ist eigentlich eine Übertreibung: Nicht alle Straßen ← Innenraum einer Bosporus-Fähre



Die Musik in dir

einer sich stetig entwickelnden gemeinsamen Musikkultur, der CDLäden in der Karanfil Sokak, die mit Raubkopien handelten, sowie des Internets, das sich damals neuerdings zu einem Ort für Musikrecherchen entwickelte. Zu dieser Zeit entdeckte ich auch Gruppen wie Kargo und Bulutsuzluk Özlemi, die zu den wenigen türkischen Rockgruppen zählten, die es geschafft hatten, sich im Namen der Rockmusik seit Beginn der 90er Jahre auf eigene Faust im Mainstream zu etablieren. Ich hatte bis dahin keine Ahnung gehabt, dass in der Türkei eine solche Musik gemacht wurde, und wusste erst recht nicht, dass es Rockmusik auch auf Türkisch gab. Dass die Anfänge dazu eigentlich schon viel früher gemacht wurden, nämlich in den 60ern von Cem Karaca, Barış Manço, Erkin Koray und Cahit Berkay, fand ich erst in meinen Oberschuljahren heraus. Eigentlich kannte ich von Barış Manço nur sein Kinderprogramm 7'den 77'ye – Von 7 bis 77 – das im Fernsehen ausgestrahlt wurde, sowie seine Kinderlieder wie Arkadaşım Eşek – Mein Freund, der Esel. Um die Existenz der Rockmusik in der Türkei zu verstehen und zwischen der aktuellen und der alten Generation in meinem Kopf eine Verbindung herstellen zu können, musste ich erst die türkischen Rockgruppen der 90er Jahre entdecken. Und bis ich verstehen würde, dass das Lied Mein Freund, der Esel – geschrieben aus der Sicht eines Kindes, das sein Dorf und seinen zahmen Esel verlassen muss – auf die Migration aus Dörfern in Städte sowie die Herausforderungen der Integration ins Stadtleben aufmerksam machte, würde es noch so lange dauern, bis ich mich dem Thema als Akademiker zuwenden würde. Von überallher kam neue Musik auf, und eine Menge Lieder verschiedenster Stile aus der Vergangenheit und von heute brachten mich vom Kurs ab. Drei Alben, die in den Jahren zwischen 2000 und 2003 herauskamen, können helfen, meine eigene persönliche musikalische Reise sowie auch die Explosion der Rockmusik in Ankara zu verstehen. Das

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Zeynep Ünal / Seden Filiz Güleç

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Während der Friseur sich auf meine Haare vorbereitet, versucht eine Mitarbeiterin des Friseursalons krampfhaft, ein Gespräch mit mir zu führen. »Nerelisin?«, fragt sie mich, möchte also wissen, woher ich ursprünglich aus der Türkei komme. »Sivas'lıyım«, antworte ich. Zwar bin ich nicht in Sivas geboren, aber auf diese doch recht häufig unter Türk_innen vorkommende Frage antwortet man für gewöhnlich mit der Türk_innen Ursprungsstadt des Vaters. Manche nennen sowohl die Herkunftsstadt des Vaters als auch die der Mutter. Da meine Eltern beide aus Sivas kommen, habe ich es leicht. Mein Bruder ruft mich an. »Bist du etwa immer noch nicht fertig? Beeil dich, wir müssen noch unsere Cousine aus dem Elternhaus verabschieden«, sagt er. Ich bitte den Friseur, schneller zu sein. Als meine Frisur fertig ist, ziehe ich rasch meine Jacke an. Ich bedanke mich und er wünscht mir viel Spaß auf der Hochzeit. Als ich schon draußen bin, höre ich nur noch, wie er mir mit einem grimmigen Unterton »Darısı senin başına!« zuruft. Darauf antworte ich aber nicht, im Gegenteil. Ich rolle aus Reflex mit den Augen, da ich diesen Satz so langsam nicht mehr hören kann. Darısı senin başına heißt so viel wie ›Dasselbe für dich‹ oder ›Mögest du die Nächste sein‹. Da ich bald 30 werde und für traditionell Denkende schon längst verheiratet sein sollte, kommt dieser Satz vor allem an Familienhochzeiten zum Einsatz. Ob der Friseur mir nun wirklich wünscht, dass ich so schnell wie möglich heirate, oder ob er mir damit eher evde kaldın sagen will, ist eine andere Frage. Ich tendiere eher zu Letzterem. Evde kaldın bedeutet ›du bist zu Hause geblieben‹. Damit ist nicht gemeint, dass jemand aufgrund mangelnder Lust nicht rausgeht, sondern dass diese Person den Zug bezüglich der Eheschließung verpasst hat. In Sivas angekommen, ziehe ich noch schnell mein Abendkleid an und schminke mich. Danach fahren wir zu meiner Hala, also zu meiner Tante. Früher konnte ich die unterschiedlichen türkischen Bezeichnungen von


Familientraditionen

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Onkel und Tante nie richtig unterscheiden. Bis ich dann irgendwann endlich verstand, dass die Schwester meiner Mutter meine Teyze, die Schwester meines Vaters meine Hala ist und genauso Amca der Bruder meines Vaters und Dayı der Bruder meiner Mutter ist. Ach ja, nicht zu vergessen: Fremde Personen, die um einiges älter sind als ich, nenne ich üblicherweise nicht Abla bzw. Abi, sondern Amca bzw. Teyze. Oder vielleicht noch Yenge, was Schwägerin bedeutet. Natürlich sind nicht alle Frauen meine Yenges, aber es gehört sich halt so, dass ich ältere Frauen eher Teyze oder Yenge nenne. Wobei mir dabei auch aufgefallen ist, dass sich manchmal Frauen – vor allem einige, die in ihren Wechseljahren sind – nicht immer besonders freuen, wenn sie Teyze genannt werden. Vermutlich fühlen sie sich dann alt. All diese Bezeichnungen haben eine Zuordnung zu der väterlichen oder mütterlichen Seite. Abgesehen vom Ursprung dieser Wörter, merkt man einigen Bezeichnungen sofort an, ob die väterliche oder die mütterliche Familienseite gemeint ist. Zum Beispiel bei Babaanne. Baba bedeutet Vater und Anne bedeutet Mutter. Babaanne ist also die Großmutter väterlicherseits. Genauso Anneanne. Welche Oma damit gemeint ist, ist jetzt nicht mehr so schwierig zu erraten, nehme ich an. Nur der Dede ist etwas vernachlässigt worden. Damit meinen wir den Opa. Genauso wie in der deutschen Sprache kann sowohl der Vater des Vaters als auch der Vater der Mutter gemeint sein. Bei meiner Tante ist ein Riesenstress. Eine sucht nach etwas, ein Anderer hält Ausschau nach dem Damat× und nach dem Konvoi, welcher jede Minute erscheinen kann, um meine Cousine abzuholen, und wieder andere sind mit irgendetwas nicht zufrieden; sei es mit der Dekoration an der Tür oder mit den Schuhen, die man extra für die Hochzeit für 200 Lira gekauft hat und die auf einmal nicht mehr zum Outfit passen. Befreundete Nachbar_innen Nachbar_innen sind auch anwesend und meine Tante versucht, sie mit Börek× vollzustopfen. Sie erklären höflich, dass sie satt ×

Damat

×

Börek

Anrede und Bezeichnung für den Bräutigam

traditionelle Blätterteigspeise,

bzw. Schwiegersohn

gefüllt mit Käse, Spinat oder Kartoffeln



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Murat Boz ist schwanger Eine Sprache zwischen Sichtbarkeit und Geheimhaltung

Onur Sekmen

Wir stehen im Hauptgebäude der Mimar-Sinan-Universität der schönen Künste. Die Fakultäten für Bildende Kunst und Architektur sind hier untergebracht. Unsere Beziehung zu diesem Gebäude ist irgendwie tragisch-komisch. Alle, die sich an dieser Universität bewerben, malen sich dieses Gebäude aus. Ein historischer Bau, der sich am Bosporus emporstreckt. Im letzten Abiturjahr, wenn man über den Übungsbüchern versunken arbeitet, motiviert man sich mit der Vorstellung, dass man im nächsten Jahr am Pier sitzt und Wein trinkend über Filme diskutiert. Und wenn man dann an der Uni angenommen wird und aufgeregt zur Studienabteilung geht, um sich immatrikulieren zu lassen, kracht die Realität jedem Filmstudierenden wie eine heftige Schelle ins Gesicht: »Die Filmabteilung befindet sich nicht hier, sondern in Balmumcu׫, hört man einen gelangweilten Beamten sagen. Wenn man dann an der auf einen kleinen Notizzettel geschriebenen Adresse ankommt, ist das noch einmal ein anderer linker Schlag des Lebens. ›Das schaut hier aus wie ein Autoparkplatz, Alta!‹ Zumindest habe ich mir das gedacht. Es dauert jedoch nicht lange, bis man sich ×

Balmumcu ein Viertel im Istanbuler Stadteil Beşiktaş, liegt nicht am Bosporus



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Mit Süße und mit Tränen Die heitere Melancholie der Meyhane-Kultur

Derya Reinalda

Die Sonne geht unter in Istanbul. Die Menschen sitzen zusammen in den Gassen. Sie sitzen an weiß gedeckten Tafeln mit Rakı× und Meze×. Sie sitzen in den Meyhanes der Stadt, kleine Restaurants, die an die griechischen Tavernen erinnern. Sie reden, diskutieren, trinken und essen von den vielen kleinen Meze. Nicht das Stillen des Hungers steht im Vordergrund, sondern der tiefe Drang, den Durst der Seele zu stillen. Istanbuls Meyhane-Kultur geht auf eine uralte Tradition zurück. Schon im 17. Jahrhundert gab es in Istanbul mehr als tausend dieser kleinen Kneipen. Sie waren Überbleibsel der Tavernen des Byzantinischen Reiches und wurden von nicht-muslimischen Minderheiten – häufig von Griech_innen – geführt. Griech_innen Das zu manchen Zeiten offizielle, aber nie einhundertprozentig durchgesetzte Alkoholverbot im Osmanischen Reich drängte diese Meyhanes zunächst in versteckte Gassen. Sie waren klein und dunkel und die Betreiber_innen Betreiber_innen mussten hohe Steuern zahlen und aufwendige Zulassungsverfahren durchlaufen. Hauptsächlich wurde Wein ausgeschenkt. Der Rakı war aber bei den muslimischen Gästen beliebter. ×

Meze kleine Vorspeisen

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Rakı türkischer Anisschnaps


Marlene Resch

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Jetzt könnte ich ihn vergleichen, den Umgang mit Terrorismus in Deutschland und der Türkei, schreibt mir Barış. Aber ehrlich gesagt, gibt es für soziologische Betrachtungen wenig Raum in mir. Doch ich kann das Gefühl vergleichen – und das ist dasselbe. Am Gate des SabihaGökçen-Flughafens sitzend, kritzele ich mir ein Stück meiner Emotionen von der Seele. »Dein Herz ist eine Landkarte. Zusammengesetzt aus Orten, die dir wichtig sind – mit denen du Menschen, Erinnerungen, Lieder, Momente verbindest. Dein Herz ist ein Ort und Orte sind in deinem Herzen. Und immer wenn einer der Orte blutet, dann blutest auch du.« Genauso erwartungsvoll, wie ich in Istanbul nach Veränderungen durch die Terrornacht Ausschau hielt – Freund_innen Freund_innen fragten mich, wie es jetzt sei, ob ich mehr Angst hätte, ob man einen Unterschied merke – genauso tue ich es auch, als ich in Berlin angekommen bin. Ich erwarte ein erhöhtes Sicherheitsaufgebot am Flughafen, leere Straßen, irgendetwas. Aber auch Berlin sieht grau aus wie an jedem Tag, die Straßen sind im Vergleich zu Istanbul zwar leer, aber nicht merklich leerer als sonst. Was sich verändert, ist nicht der Alltag – wir machen weiter. Was sich zu verändern scheint, sind Debatten. Doch egal ob von ›Verteidigung unserer Werte‹ oder von ›Märtyrern‹ die Rede ist, beides wirkt auf mich gleichermaßen fremd. Der Verkauf von Türkeiflaggen am Tag nach dem Anschlag in Beşiktaş oder das Überhöhen des Weihnachtsmarktes als die Spitze der deutschen Kultur: Was hilft das schon? Zurück in der Türkei bewege ich mich wieder unbeschwert im Strudel des Istanbuler Lebens. Ich schätze, die Bedeutung der Phrase ›In den Tag hineinleben‹ hat erst hier für mich wirklich Sinn ergeben. Keine Spur von dem Unwohlsein, das ich damals vor meinem ersten Abflug nach Istanbul – einen Monat nach dem gescheiterten Putsch – befürchtet hatte. »Ich fliege einfach mal hin, und wenn ich mich dann nicht wohlfühle, komm ich eben zurück«, hatte ich damals gesagt und war geblieben.


Dezemberkälte

Wenn ich Besuch aus Deutschland bekomme, ändert sich dieses sorglose Gefühl des Alltags für mich meist auf seltsame Art und Weise. Der Terror wird schon präsenter, wenn ich am Atatürk-Flughafen stehe. An diesem Ort ist doch schließlich schon einmal ein Anschlag passiert, pocht es in mir, während ich darauf warte, dass ich meine Freund_innen Freund_innen hinter der Glastür erblicken kann. Es scheint, als würde mein deutscher Besuch mir immer ein Stück weit mein deutsches Gepäck hinterhertragen, mir meine deutsche Brille wieder aufsetzen. Und mit dieser Brille kommt auch wieder der Blick auf den Terror. Dann kommt die Silvesternacht: Ich verbringe sie mit meinen angereisten Freundinnen Anna und Vivien und vielen deutschen, türkischen und anderen internationalen Freund_innen Freund_innen in Kadıköy. Der Strom ist ausgefallen und bei Kerzenschein und Gitarrenmusik starte ich so friedlich und ruhig in das neue Jahr wie nie zuvor. Auf ein dort hängendes Laken, das zum Bemalen einlädt, malen wir Kerzen und Herzen. Ein anderer Partygast schreibt das kurdische Wort für Frieden. Fast klingt es zu kitschig, um wahr zu sein. Kurz bevor wir den Rückweg antreten, hören wir erste Gerüchte von dem, was später als Anschlag im Nachtclub Reina bekannt werden wird. Das Ausmaß ist uns in diesem Moment nicht bewusst – es klingt mehr nach etwas, was in der deutschen Presse als ›Familiendrama‹ deklariert werden würde. Wir steigen ins Taxi und fahren durch die Istanbuler Nacht. Zuhause angekommen, sind die Nachrichtenmeldungen klarer: 39 Tote im Reina. Der Club befand sich etwa genauso weit von meiner Unterkunft weg wie das Stadion in Beşiktaş, lediglich in der anderen Richtung am Bosporusufer entlang. Im Reina hatte ich an meinem allerersten Tag in Istanbul gesessen, einen türkischen Kaffee getrunken und mich in meinen erbärmlichen Brocken Türkisch verheddert. Im Reina wollten die Menschen in dieser Silvesternacht mit großen Hoffnungen und

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Die Geschichte der Kinder, die ihre Straßen in Tribünen verwandeln Fußballkult und Coladosen

Uğur Ugan

Beethovens Für Elise, die Pausenmusik meiner Schule, beendete meine todeslangweiligen Unterrichtsstunden, in denen ich meinen Sitznachbarn ständig »Wie viele Minuten noch?« fragte. Mit dieser Melodie im Ohr rasten wir die Treppen hinunter. Denn diese Treppen führten für uns in die Arena, in die grenzenlose Weite des Schulhofes. Diese nur zehnminütigen Pausen wurden zum Schauplatz leidenschaftlicher Fußballspiele. Mit einem Stolz, als ob man in Stadien mit Tausenden von Zuschauer_innen Zuschauer_innen spielte, bejubelten wir die geschossenen Tore. Dabei hatten wir nicht mal einen richtigen Ball, sondern nutzten in aller Eile zusammengedrückte Coladosen oder manchmal sogar nur einen Tannenzapfen. Dieses Bild des Trubels von Kindern in ihren blauen Schulkitteln, wie sie mit einer wilden Energie auf dem Hof herumtoben, ist wohl in einer Ecke im Gedächtnis eines jeden Menschen verankert, der seine Kindheit in der Türkei verbracht hat. Fußball ist ein Spiel, das überall in der Türkei, von grünen Stadien bis hin zu kleinen Nebenstraßen, von Schulhöfen bis in die Wohnzimmer, einen besonderen Platz hat.



Fußballkult und Coladosen

Moment, an dem der Fußball die ganze Agenda bestimmt. Er lässt die Menschen alles vergessen. Die Reflexe, die sich bezüglich des Fußballs entwickeln, sind weder vergleichbar mit dem feierlichen Geist in Spanien, der Gelassenheit in England, der Professionalität in Deutschland noch der Partylaune in Lateinamerika. Es ist eine gänzlich hiesige, einheimische Reaktion. Angefangen von den Slogans, den Hymnen, den Festlichkeiten bis hin zu der ausartenden Gewalt spiegeln sich die unterschiedlichsten Charaktereigenschaften der Menschen in der Türkei in ihrer Fußballkultur wider. Heutzutage allerdings – mit der Vereinnahmung der Stadien seitens des industriellen Fußballs – werden die Tribünen auf indirekte Art und Weise auch steriler. Die Stadien sind nicht mehr länger eine Plattform für Ausschreitungen und Gewaltausübung der ärmeren gesellschaftlichen Schichten. Eine mittlere Schicht, bestehend aus Angestellten und Menschen mit Schulbildung, hat begonnen, die Tribünen zu füllen. In den letzten Jahren hat sich ein Besuchertypus entwickelt, welcher, mit der Laptoptasche in der Hand, Krawatte tragend und elitär aussehend, die Fußballspiele besucht. Das wachsende Interesse von Frauen bezüglich des Fußballs hat die Tribünen aber auch farbenfroher gemacht. Es hat sogar ein bisschen dazu geführt, dass die Schimpfwörter beinhaltenden Anfeuerungsrufe etwas zurückgegangen sind. Man kann schon fast sagen, dass die Stadien ihre Atmosphäre einer Arena voll von Gladiatoren hinter sich gelassen haben und, mit einem eher passiven ZuschauerZuschauerinnenprofil, von Weitem betrachtet etwas ruhiger geworden sind. Über die Fangruppen in der Türkei lässt sich sagen, dass die Gefolgschaft der drei großen Mannschaften größtenteils die Fußballstimmung im Land bestimmen. Die Organisationen dieser Fangruppen, ihre Anfeuerungsrufe und in letzter Zeit ihre Nutzung der sozialen Medien führen zur Entstehung einer allgemeinen Fankultur. Diese Gruppen, die in Istanbul bestimmte Viertel für sich beanspruchen, verfolgen teilweise

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So langsam wie Kondenswasser Umstellung auf ein anderes Zeitgefühl

Sabrina Raap

Ich betrete den warmen Dunst des Hamams in Kadıköy. Mit Kleidung und Wertsachen lege ich gleichzeitig mein Zeitgefühl ab. Rein in den kleinen gelben Spind, Schlüssel umgedreht. In diesem geschlossenen Raum herrscht immer eine magische Zeitlosigkeit. Keine Uhren, keine Fenster, die den Stand der Sonne verraten, nur geduldige türkisfarbene Kacheln und das stetige, beruhigende Plätschern von Wasser. Die geschäftige Welt da draußen wird zur Nebensache. Festes Timing von Anwendungen? Fehlanzeige. Hier bestimmen die Frauen mit Schwamm und Seife darüber, wer sich wann die Überreste vergangener Tage abschrubben lässt, nicht die Uhr. 1300 Uhr Aufguss in der 90°-Finnensauna, 1330 Uhr Fußbad, 1400 Uhr Salzpeeling: So einen Stundenplan sucht man hier vergebens. Erst einmal nehme ich auf unbestimmte Zeit neben einem Keramikbecken Platz und begieße meinen vom durch-die-Stadt-eilen noch etwas unter Strom stehenden Körper mit warmem Wasser aus bunten Kunststoffschalen. Langsam fließen die Momente dahin, Sekunden und Minuten rinnen die Fliesen hinab wie tropfendes Kondenswasser.


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Autor_innen

Tuğba Yalcınkaya

Carina Plinke

Matthias Wechsler

S.15

S.25

S.33

Seda Sina

Neslihan Yakut

Marie Hartlieb

S.45

S.55

S.67, 99

Navid Linnemann

Onur Sesigür

Zeynep Ünal

S.79, 99

S.113

S.133


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Autor_innen

Seden Filiz Güleç

Onur Sekmen

Derya Reinalda

S.133

S.145

S.153

Marlene Resch

Uğur Ugan

Sabrina Raap

S.161

S.173

S.183

Eva Feuchter Gestaltung


Danksagung Wir sind allen Mitwirkenden an diesem Buch unendlich dankbar, allen voran Eva Feuchter und Navid Linnemann, die durch ihre Mühe und Geduld dieses Projekt haben Wirklichkeit werden lassen. Dadurch konnte Raum für so viele Geschichten entstehen. Wir danken außerdem stellvertretend Maren Hülskemper vom Deutschen Generalkonsulat in Istanbul, das durch seine Förderung die Verwirklichung dieses Buches überhaupt erst möglich gemacht hat. Ein großer Dank geht selbstverständlich auch an die Autor_innen, die ihre Geschichten geteilt und sich auf dieses riesige Projekt eingelassen haben. Zwei Jahre Arbeit liegen hinter uns. Danke, dass ihr so lange mitgemacht und durchgehalten habt! Außerdem danken wir aus vollem Herzen allen Lektor_innen, die in akribischer Arbeit die Texte immer wieder aufs Neue durchgegangen sind: Dilşad Budak-Sarıoğlu, Marie Hartlieb, Navid Linnemann, Marlene Resch, Laurenz Schreiner, Neslihan Yakut, und Tuğba Yalçınkaya. Natürlich geht unser Dank auch an die Übersetzerinnen Ezgi Beyazgül, Vivian Makowka und Neslihan Yakut. Ohne euch würden viele Stimmen gar nicht gehört werden. Wir wissen, wie viel Arbeit das ist! Danke, danke, danke! Herzlich danken wollen wir ebenso Prof. Monika Aichele und Prof. Charlotte Schröner für die Betreuung dieses Projekts. Und schließlich danken wir allen Unterstützer_innen: Fatima Spieker, Judith Blumberg, Aliş Hüseyin Karataş, Ilgın Seren Evişen, Aylin Michel, dem gesamten Maviblau-Team und unserer Community, die uns die Motivation und den Mut gibt, solche Projekte anzugehen.



Şimdi heißt jetzt »Das Erste, was eine Großstadt mit uns macht, ist, sich in die Sprache zu schleichen, und wenn wir nicht fluchen, legt sich der Fluch auf unsere Zellen.« In dieser Sammlung aus persönlichen Essays erzählen fünfzehn Autor_innen von ihren Beobachtungen, Abenteuern und Krisen im türkischen Alltag – lebendig, ehrlich, humorvoll und manchmal melancholisch. So entsteht ein komplexes Bild von Istanbul, wo sich so viele kulturelle Einflüsse und individuelle Träume miteinander vermischen. Das Zusammenspiel von Text und atmosphärischen Illustrationen ermöglicht eine intensive Auseinandersetzung mit Lebensweisen in der Türkei.

ISBN: 978-3-948440-06-0 € 25,-


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