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Projekt D-ZUG-KLASSE
Mit dem Abitur 2021 ist das Thema Schulzeitverkürzung am Gymnasium in Niedersachsen erstmal zu den Akten gelegt. „G8“ war nur eine Episode, „G9“ ist wieder die Regel.
In den Jahren vor der Jahrtausendwende war diese Entwicklung nicht zu erwarten. Man diskutierte in der BRD über das Berufseintrittsalter von Akademikern, verglich die Verweildauer der Schülerinnen und Schüler an weiterführenden Schulen in verschiedenen Ländern, insbesondere mit Blick auf die Gymnasien, und fragte unter dem Schlagwort „Wissensgesellschaft“ nach essentiellen Inhalten. Von Kompetenzen und Qualifikationen der Gymnasiasten war erst später die Rede.
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Friedhelm Hamann, der damalige Schulleiter, griff diese Debatte gerne auf und studierte die Erlasslage. Unter dem Stichwort „D-Zug-Klasse“ gab es eine Möglichkeit, die Schulzeit nicht durch individuelles Überspringen, das vereinzelt immer mal wieder beantragt worden war, zu verkürzen, sondern in einem Klassenverband, für den besondere Bedingungen gelten.
Am WBG wurde das Thema leidenschaftlich diskutiert, zunächst nur im Kollegium, später auch in Elternschaft und Schülerschaft. Neben bildungspolitischen, pädagogischen und psychologischen Aspekten und Kontroversen, die teils recht persönliche Züge bekamen, spielte die Frage eine besondere Rolle, ob die Schule auf diesem Wege wieder attraktiver werden könnte für besonders leistungsstarke Schülerinnen und Schüler. Ein wichtiges Gegenargument war der Hinweis auf die Gefahr, die Stammklassen zu schwächen und der bislang erreichten Reife der Schülerinnen und Schüler nicht gerecht zu werden.
Nach unserer persönlichen Erfahrung als Klassen- und Fachlehrer in den Jahrgängen 7 und 8 gab es nicht wenige Schülerinnen und Schüler, die die Auflagen erfüllen könnten. Die Entscheidung musste im 9. Jahrgang fallen – natürlich erst nach einer entsprechenden Entscheidung der damals zuständigen Gesamtkonferenz, dem Antrag des Schulleiters und der Genehmigung durch das Kultusministerium.
Im Sommer 2000 war es soweit: Mit 14 Zöglingen – fast alle aus dem WBG – begannen wir im 10. Jahrgang, um unsere Arbeit ab Februar 2001, also innerhalb dieses Schuljahres im zweiten Halbjahr des 11. Jahrgangs fortzusetzen. Die Fachkonferenzen hatten mit Umsicht und Fleiß die schulinternen curricularen Voraussetzungen geschaffen. Der Sprung von 10.1 nach 11.2 war dabei fachdidaktisch solide vorzubereiten. In
Überspringen eines Jahrgangs im Klassenverband
diesen beiden Halbjahren galt es, den Stoff so zu komprimieren und den Lernprozess so zu intensivieren, dass hinreichend Raum blieb für Elemente aus 10.2 und 11.1. Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zum „G8“-Curriculum in Niedersachsen, das eigentlich alle Jahrgänge einbeziehen sollte bei Fragen der Stoffreduzierung, nach Auflösung der Orientierungsstufe als Schulform also auch die Jahrgänge 5 und 6. Die D-ZugSchüler waren erst im Jahrgang 7 auf das Gymnasium gekommen, in unserem Fall aus vier verschiedenen Orientierungsstufen. Allen Beteiligten war bewusst, dass D-Zug-Schüler in der Kursstufe die üblichen Anforderungen vorfinden würden. Die Wahl der Prüfungsfächer stand unter denselben Bedingungen wie in den anderen 11. Klassen. Man war jetzt in einem neuen Jahrgang und stimmte ein in die Parole: „Abi 2003!“
Da die Schüler aus unterschiedlichen Klassen des WBG kamen, konnten wir nicht von einem Gemeinschaftsgefühl ausgehen, es musste sich entwickeln und es hat sich entwickelt. Hochmotiviert waren alle – und es versammelten sich nicht etwa nur die Besten der einzelnen Klassen. Bereits bestehende Freundschaften schienen bei der Entscheidung für oder gegen das Experiment eine große Bedeutung zu haben. Eine klare Ausrichtung auf einen Schwerpunkt gab es nicht. Das zeigen auch die Berufe der Absolventen, die weit gestreut sind auf dem Feld zwischen Wirtschaftsinformatik, Psychologie und Theologie. Mit Friedhelm Hamann teilen wir das Bedauern darüber, dass eine Evaluation dieses Experiments nicht stattfand. „G8“ war – für kurze Zeit – nicht allein in Niedersachsen zur Zauberformel geworden.
Blickt man zurück auf die Erfahrungen, lässt sich konstatieren, dass wir am WBG sehr gute Bedingungen hatten, etwa durch die Klassengröße, den relativ neuen Klassenraum und die schlichte Tatsache, dass die daran beteiligten Lehrkräfte großes Interesse zeigten. Eine aufgeschlossene Elternschaft hat uns die Arbeit erleichtert. Wir haben das Projekt als besondere Herausforderung angesehen. Bianca, Christina, Claudia, Daniel, Helge, Iris, Jennifer, Katharina, Katja, Lena, Niko, Phillip, Stefan und Tobias waren bereit, die erhöhte Unterrichtsverpflichtung auf sich zu nehmen. Uns war es wichtig, den Schülern als Team hilfreich zur Seite zu stehen und darauf zu achten, dass hier nicht „elitäres Gehabe“ aufkommt. Einige der in der DZug-Klasse unterrichtenden Lehrkräfte hoben sogar hervor, wie weit soziale Kompetenzen entwickelt seien, auch im Hinblick auf schulisches Engagement. Wir wissen von Einzelnen, dass die Querflöte weiter gespielt wurde, der Fußball immer noch rollte, das literarische Schreiben nicht versiegte, die Freude an der Schauspielerei nicht abnahm und der Weg in die aktive Umweltpolitik weiterhin beschritten wurde.
Die abschließende 4-Tage-Fahrt nach Berlin im Sommer 2001 – natürlich mit dem Intercity – bot einen fröhlichen Ausklang der gemeinsamen Zeit „auf dem D-Zug“. Es war faszinierend, wie dieser Zug ein Jahr zuvor Fahrt aufnahm, vor Steigungen nicht ins Stocken geriet und in ganz unterschiedlichem Gelände sehr gut vorankam.
Monika Schulte und Volkmar Heuer-Strathmann