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Wendejahre: 1. Schüleraustausch mit dem Społeczne Liceum, Nowy Sącz – Unterwegs mit Dr. Höltje
Uns, Dr. Höltje und mich, einte von Anfang an unser großes Interesse, ja unsere Sympathie für Polen, das infolge seiner
Demokratiebestrebungen in den 80er
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Jahren – zunächst maßgeblich geprägt von der oppositionellen Gewerkschaft „Solidarność“ – eine spannende Entwicklung einleitete, die schließlich mit
Gorbatschows Reformpolitik zu grundlegenden, kaum für möglich gehaltenen
Veränderungen im weltpolitischen Gefüge führte.
Mit der „Wende“ von 1989 begann unser damaliger Schulleiter, Dr. Höltje, sich intensiv um einen Schüleraustausch mit einer polnischen Schule zu bemühen. Schließlich hatten entsprechende Projekte mit den westlichen Nachbarstaaten gezeigt, wie sehr die direkten Begegnungen Menschen unterschiedlicher Nationen, die sich noch vor wenigen Jahrzehnten feindlich gegenüberstanden, das Verständnis füreinander fördern, Freundschaften entstehen lassen. Und zudem hatte sich Dr. Höltje bereits in seiner Dissertation ausführlich mit der Polen-Frage in der Zwischenkriegszeit auseinandergesetzt und zeigte sich sehr aufgeschlossen gegenüber den neuesten Entwicklungen in speziell diesem Land.
Und schließlich war es so weit: 1990 gelang durch die Vermittlung des Nds. Kultusministeriums die Kontaktaufnahme mit dem Społeczne Liceum in Nowy Sącz, gut 80 Kilometer südöstlich von Krakau und nördlich der Beskiden gelegen. Dieses 1989 erst gegründete Privatgymnasium wurde von einem kirchennahen Trägerkreis eingerichtet; sein curricularer Schwerpunkt sollte auf den Fremdsprachen, vor allem Englisch und Deutsch, beruhen. Dr. Höltje und die damalige Direktorin der alternativen Schule, Dr. Alicja Derkowska, fanden schnell eine gemeinsame Basis für den ersten Schüleraustausch, der zunächst im September/Oktober 1990 in der Stadthäger Schule stattfinden sollte. Der Gegenbesuch der Schaumburger in Nowy Sącz war dann für Mai 1991 geplant.
Dr. Höltje wusste natürlich von meiner nicht nur familiär bedingten eigenen Affinität zum ehemaligen Ostpreußen bzw. zu Polen überhaupt, fragte an, ob der Austausch nicht etwas für mich wäre. Keine Frage! In den Jahren 1987 und noch vor der Wende 1989 hatte ich mit meinen jeweiligen Tutorengruppen zwei Studienreisen nach Polen durchgeführt - Fahrten, die allen Beteiligten unvergessen blieben, empfanden wir damals doch ganz unmittelbar diesen „Wind of Change“. Nun also sollte es auch mit dem ersehnten Austausch losgehen!
Und bereits im September/Oktober 1990 kam es zum Besuch der polnischen Schülergruppe, bestehend aus 15 Schülerinnen und Schülern im Alter von 16/17 Jahren sowie zwei Betreuern, dem Ehepaar Beata und Wojciek Kudyba.
Zu den Programmhöhepunkten dieser Begegnung zählten sicherlich der gemeinsame Besuch des ehemaligen Konzentrationslagers Bergen-Belsen sowie der angrenzenden sowjetischen Kriegsgräberstätte – vorher im Unterricht gemeinsam vorbereitet -, die Fahrt nach Bremen und Worpswede für Kunstinteressierte sowie natürlich die zahlreichen Unternehmungen vor Ort, die Raum für intensive persönliche Kontakte boten, seien es solche in der Schule oder zum Beispiel während einer Weser-Dampferfahrt. Und immer wieder kam es, in der Regel auf Englisch, zu regem, durchaus auch mal kontroversem Gedankenaustausch über das deutsch-polnische Verhältnis, aber auch über konkrete schulische Aspekte wie Unterrichtsmethoden und –materialien.
Die Unterbringung in den Familien intensivierte die Kontakte verständlicherweise erheblich, so dass der polnische Schüler Robert Bochiński zum Abschluss des Besuches in einem Pressegespräch
Gruppenfoto, Aula des NG
Marktplatz in Krakau; von links: Eberhard Böhme, Dr. Höltje, Beata & Wojciek Kudyba Gruppenfoto in Zakopane
feststellen konnte: „Viele Polen haben über Deutschland noch eine schlechte Meinung. Jetzt aber kenn ich die Menschen persönlich und habe mir meine eigene Meinung gebildet.“
Im Mai des folgenden Jahres machte sich dann vereinbarungsgemäß die Stadthäger Gruppe zum ersten Mal auf den Weg nach Nowy Sącz; mit dabei: Dr. Höltje, der es sich nicht nehmen lassen wollte, zum Ende seiner aktiven Dienstzeit seine hohe Wertschätzung deutsch-osteuropäischer Schülerkontakte selbst und vor Ort zum Ausdruck zu bringen.
Ganz überwiegend in den Familien unserer letztjährigen Gäste untergebracht, gab es genügend Gelegenheiten, die bestehenden Freundschaften zu vertiefen. Für unseren damaligen Schulleiter zeigte sich die ihm dargebotene Gastfreundschaft darin, dass seine Gastgeber ihr Schlafzimmer für den Gast räumten und selbst auf der Couch nächtigten. Nicht nur Dr. Höltje sollte sich später sehr beeindruckt zeigen von dieser sprichwörtlichen polnischen Gastfreundschaft, der Zuvorkommenheit und Herzlichkeit, die den deutschen Gästen immer wieder zuteil wurden.
Besonders dankbar empfanden wir dies nach dem Besuch des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz und Vernichtungslagers Birkenau. Diese von uns gewünschte gemeinsame Fahrt nach Oświęcim, die beabsichtigte Konfrontation mit dem dunkelsten Kapitel deutscher Vergangenheit, bewirkte auf allen Seiten nicht nur tiefe, zunächst sprachlose Betroffenheit, innere Anteilnahme. Sie löste schließlich weitere sehr persönliche, offene Gespräche in den Familien und in der Schule aus. Mit großer Besorgnis erfüllte Polen wie Deutsche – 1991 - das Aufleben rechtsextremer Tendenzen besonders in Ostdeutschland. Dennoch beeindruckte viele Polen die Erinnerungsarbeit in der bundesrepublikanischen Gesellschaft, wie sie nicht zuletzt in der Schule wahrgenommen wurde.
Nicht nur hierbei wurde deutlich, wie konstruktiv und zukunftsorientiert sich die polnischen Gastgeber äußerten, besonders dann, wenn es um das gemeinsame Haus Europa ging, darum, was Polen einzubringen habe. Nicht ohne Stolz wurde später - beim Abschlussgespräch in der Schule - der Beitrag der katholischen Soziallehre und das Wirken des damaligen polnischen Papstes Johannes Paul II. (bürgerlich: Karol Józef Wojtyła) für den Demokratisierungsprozess im eigenen Land sowie für den Dialog der Weltreligionen hervorgehoben. Die von uns im Alltag erlebte starke Religiosität in der polnischen Gesellschaft bestärkte unsere Auffassung, dass Staat und Religion in Polen noch eng verbunden sind. Doch nicht nur ernsthafte Themen erfüllten unseren zehntägigen Aufenthalt in Nowy Sącz: Die alte polnische Hauptstadt Krakau mit dem traditionsreichen Markt, der Marienkirche, dem Wawel - der alten Residenz polnischer Könige -, die Floßfahrt auf dem Dunajec, der Besuch Zakopanes in der Hohen Tatra und vieles mehr vermittelten Eindrücke von der Vielfalt und Schönheit Polens.
Bei der herzlichen Verabschiedung der deutschen Gruppe gab die engagierte Direktorin, Dr. Derkowska, ihrer Hoffnung Ausdruck, dass es gelingen möge, diesem so erfolgversprechend angelaufenen Schüleraustausch Kontinuität zu verleihen, um das Verständnis füreinander zu vertiefen und so Brücken zu bauen zwischen Deutschland und Polen. Dass sie dabei ihren deutschen Gästen in bewegenden Worten das Zeugnis ausstellte, während ihres Aufenthalts in Polen gute Botschafter ihres Landes gewesen zu sein, erfüllte uns alle, aber ganz besonders Dr. Höltje, mit großer Freude.
Helge Krzykowski