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Religionsunterricht – weg mit
Religionsunterricht – weg mit dem „Old school“-Fach?
Laut der Shell-Jugendstudie 2019 hat der Glaube „sowohl für katholische als auch evangelische Jugendliche in den letzten knapp 20 Jahren erheblich an Bedeutung verloren“. Wer das liest, könnte denken, dass meine Eltern hinsichtlich ihres Berufes „Religionslehrer“ zu einer aussterbenden Spezies gehören. Sie hingegen sind überzeugt, dass ihr Fach nicht nur in den Stundenplan gehört, sondern auch zu modernen Ethikfragen Antworten liefern kann.
Während meiner Schulzeit war der Reli-Unterricht entweder ein verhasstes Nebenfach oder ein leichter Weg, den Durchschnitt aufzubessern. Wie könnte man dieses Image verbessern? Hans Wilfried: Grundsätzlich kann und sollte man sich intensiv mit den existenziellen Fragen beschäftigen, die im Religionsunterricht behandelt werden. Dass manche Schüler darauf keine Lust haben, kann auch daran liegen, dass sie noch nicht reif genug sind, um das zu erkennen. Eine Möglichkeit, den Religionsunterricht aufzuwerten, ist, Rituale zu schaffen, an denen die Schüler selbst mitwirken können. Das sind zum Beispiel Schulgottesdienste an den christlichen Feiertagen, die über das ganze Jahr abgehalten werden, oder Unterricht „Raus aus der Schule“: Für viele Themengebiete bietet es sich an, Einrichtungen außerhalb des Schulgeländes zu Lernorten zu verwandeln. Das können gemeinnützige und soziale Organisationen wie die Diakonie, die Tafel oder die Bahnhofsmission sein, aber auch historische Orte wie Gedenkstätten, Museen oder Kloster.
Tiziana: Genau. Das Fach Religion ist so vielfältig und beeinflusst so viele verschiedene Bereiche wie Kunst, Geschichte oder Sprache bis hin zu unserem sozialen Miteinander. Schließlich ist Religion auch
die Suche nach Werten und Normen, die unseren Umgang mit der Natur und unser zwischenmenschliches Verhalten prägen. Außerdem ist es wichtig, dass wir unseren Blick ebenfalls weg vom vertrauten Christentum aus Europa lenken und uns anschauen, wie die Suche nach Glück und Frieden in anderen Glaubensrichtungen praktiziert wird. Durch die Rituale sollte der Religionsunterricht zu einer Unterbrechung der Hektik des Alltags werden und einen geschützten Raum bieten, um innezuhalten. Deswegen ist es wichtig, dass das Fach nicht am Rand des Stundenplans, sondern im Kernunterricht stattfindet.
In den meisten Bundesländern ist der konfessionsgebundene Religionsunterricht Pflichtfach. In Berlin hingegen gibt es obligatorischen Ethikunterricht, während Religion ein freiwilliges Zusatzfach ist. Ist das Berliner Modell zeitgerechter? Tiziana: Vielleicht erscheint uns dieses Modell im ersten Moment zeitgemäßer, andererseits suchen viele Menschen auch Erfahrungen außerhalb des Sicht- und Greifbaren. Im Moment bietet der Religionsunterricht eine solche Zeit, in der man sich mit Gott, immateriellen Werten und spirituellen Lebensformen auseinandersetzen kann. Hinzu kommt der Aspekt, dass die religiöse Erziehung, die früher Aufgabe der Familie war, zunehmend der Schule überlassen wird. Wenn der Religionsunterricht aus dem Stundenplan als Pflichtfach verschwindet, dann wird ein möglicher Zugang zu Religion für die Jugendlichen deutlich erschwert.
Hans Wilfried: Und es gibt noch viele Kinder, die sich bewusst für den Religionsunterricht entscheiden. Eine solche zusätzliche Belastung durch ein weiteres Fach wäre für diese Schüler nur unfair. Den einzigen Vorteil, den ich im Berliner Modell sehe, ist der, dass so ein Dialog zwischen konfessionslosen und christlichen Schülern entstehen könnte. Allerdings passiert ein solcher Austausch auch jetzt schon im Religionsunterricht. Welche Anliegen, die in anderen Fächern nicht aufgegriffen werden, beschäftigen Schülerinnen und Schüler im Religionsunterricht aktuell besonders? Hans Wilfried: Besonders gut hören die Schüler beim Thema „Sucht“ zu. Sie finden es spannend, über die möglichen Gefahren und Risiken von Alkohol, aber auch härteren Drogen zu erfahren und wie man mit Suchtproblemen umgehen kann. Die Unterrichtseinheit „Tod und Sterben“ verursacht zunächst Widerstände. Wenn die Schüler sich dann aber darauf einlassen, stößt sie ebenso auf großes Interesse. In der fünften Klasse nach dem Schulwechsel werden besonders die Themen „Klassengemeinschaft“ und „Freundschaft“ großgeschrieben. In dieser Zeit setzen sich die Kinder besonders intensiv mit ihrer eigenen Rolle in der Gesellschaft auseinander. Hans Wilfried: Die Kirche ist, meiner Meinung nach, ein wichtiger Mahner in dieser Zeit, wenn sie sich konsequent für das Leben einsetzt. Das sollte sie aber logischerweise nicht nur dort tun, wo es um Krieg oder die Rettung von Flüchtlingen geht, sondern auch bei Themen wie pränataler Forschung. Und diese Haltung deckt sich größtenteils mit der Meinung der Schüler. In der Einheit „Liebe und Sexualität“ erlebe ich es häufig, dass sich Jugendliche der vermeintlich verstaubten Haltung der Kirche anschließen. Zum Beispiel bei der Frage, ob man ein Kind mit Behinderung abtreiben sollte oder nicht. Obwohl es natürlich auch gegenteilige Meinungen gibt, spricht sich die Mehrheit gegen eine Abtreibung aus. In dieser Unterrichtseinheit setzen wir uns zum Beispiel mit Erfahrungsberichten von Menschen mit Behinderungen und deren Positionen zu dem Thema auseinander.
„In der Einheit ‚Liebe und Sexualität‘ schließen sich Jugendliche häufig der vermeintlich verstaubten Haltung der Kirche an.“
Die Kirche hat den Ruf, bei wissenschaftlichen Themen wie pränataler Forschung oder künstlicher Intelligenz ein verstaubtes Weltbild zu haben. Wie sprecht ihr diese Inhalte im Unterricht an und wie werden sie aufgenommen? Tiziana: Die Schüler sehen in den Errungenschaften der Wissenschaft schnelle und effiziente Lösungen, um Krankheiten zu heilen oder auch neues Leben zu ermöglichen, zum Beispiel durch Implantationstechnik oder künstliche Befruchtung. Das Thema „künstliche Intelligenz“ verbinden sie zunächst mit der Vision einer perfekten und fehlerfreien Existenz. Die Kirche sollte sich diesen Themen nicht verschließen, sondern die vermeintliche Überlegenheit des Menschen im Universum in Frage stellen. Im Christentum streben wir nicht nach einer makellosen Welt. Vielmehr steht im Mittelpunkt, dass jedes Leben ein Geschenk ist, das wir erhalten und wertschätzen sollten. Seit 25 Jahren unterrichtet ihr jetzt schon Religion. Hat sich in dieser Zeit der Unterricht verändert? Hans Wilfried: Ich denke, früher wurde das Hauptaugenmerk noch auf kirchengeschichtliche und biblische Thematiken gelegt. Jetzt hingegen hat der Religionsunterricht mehr Lebensbezug. Es wird mehr darauf geachtet, was die Schüler interessiert und was sie für ihren Alltag mitnehmen können. Das liegt bei den genannten Themen auf der Hand, aber auch bei Geschichten aus der Bibel stellen wir uns immer wieder die Frage, inwieweit die Probleme und Fragen noch heute für uns relevant sind. Wenn wir Religionslehrer das als Leitfaden nehmen, dann ist der Religionsunterricht alles andere als „old-school“, sondern ein wichtiges Fach, aus dem die Jugendlichen nicht nur für ihr Schulleben etwas lernen können.
Text von Valentina Schott, 22, diskutiert als „doppeltes Lehrerkind“ mit ihren Eltern öfter über Gott und die Welt.
Fotos von Christian Schott, Hobbyfotograf und kritischer Zuhörer seiner Eltern.