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Future: Digitalisierung in der Sportphysiotherapie
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MIT PETER BREM
INTERVIEW: Kathrin Dettling Fotos: Peter Brem
Peter Brem (MSc (UK), PT-OMT, 47) ist als klinischer Spezialist der unteren Extremität im Kantonsspital Winterthur tätig. Brem ist stark engagiert in der Digitalisierung im Gesundheitssektor und der Integration gesundheitsbezogener Daten im physiotherapeutischen Alltag.
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Sportfisi@: WELCHE CHANCEN UND GEFAHREN SIEHST DU IN DER DIGITALISIERUNG?
Brem: Die Digitalisierung, richtig eingesetzt, implementiert und benutzt, wird uns die Arbeit erleichtern. Sie wird uns Zeit verschaffen, welche wir aktuell in unnötige Analysen, Suchen von Befunden, Daten und Testergebnissen investieren. Sie wird Fehlerraten und dem Verlust von Daten vorbeugen. Kurz, sie wird hilfreich sein beim Managen von Sportlern und Athleteninnen. Ich sehe die verbesserte personalisierte Betreuung der Athleten und Patientinnen als eine grosse Chance. Dazu benötigen wir allerdings strukturierte Daten und Interoperabilität der Plattformen und Ecosysteme, ansonsten haben wir nur wertlose Daten, die keinen Nutzen bringen. Die verbesserte Monitorisierung der Athletinnen und Athleten nicht nur in Trainings- und Therapieinstitutionen, sondern in ihrer eigenen Umwelt, bei Wettkämpfen oder beim Training ermöglicht uns, zeitnah die Performance zu analysieren und eventuell Anpassungen vorzunehmen. Die Belastungssteuerung und Adaptation in den spezifischen Phasen des Trainings oder der Rehabilitation, kann einen sinnvollen Beitrag zum Athletenmanagement bringen.
Eine Gefahr sehe ich, wenn wir uns ausschliesslich auf die Daten, welche durch die digitalen Messungen erhoben werden, verlassen. Künstliche Intelligenz mit all ihren Facetten wird sich weiterentwickeln, uns eine immer bessere Analyse der erhobenen Daten liefern. Doch glaube ich, dass die Interpretation der Daten immer noch das Wichtigste ist.
STICHWORT «DIGITAL HEALTH». WIE KÖNNEN DIGITALE TOOLS ERFOLGREICH IN DER SPORTPHYSIOTHERAPIE EINGESETZT WERDEN? WELCHES SIND DIE GRÖSSTEN HERAUSFORDERUNGEN?
Digital Health ist bereits ein integrierter Teil in unserem Leben und die Vernetzung unserer Daten, welche öffentlich und auch patentiert zugänglich sind, ist nicht mehr wegzudenken. Die Sportphysiotherapie kann einen Nutzen daraus ziehen, wenn die Daten strukturiert gesammelt werden und mit anderen gesundheitsbezogenen Daten kombiniert werden. Zum Beispiel lassen sich bereits jetzt Bewegungsdaten, z.B. generiert durch Fitness-Apps mit Schrittanzahl und -frequenz, Laufdistanz etc., mit den Daten der Health-App (Blutdruck, Schlafqualität etc.) und mit den Daten der Musikbibliothek (Musikstil) sowie mit den Daten einer Food-App verbinden und daraus lässt sich ein Profil entwickeln. Wenn eine Person in der Nacht anfängt zu Laufen, sehr traurige Musik hört, einen qualitativ schlechten Schlaf hat und höhere Puls- und Atemfrequenzen aufgezeichnet werden, ist die Wahrscheinlichkeit einer Depression gegeben. Oder diese Person ist einfach nur in einer anderen Zeitzone unterwegs. Das ist bei Sportlerinnen und Sportlern nicht unüblich. Meiner Meinung nach liegt die Herausforderung einerseits bei der Sportlerin und beim Sportler, die Datenfreigabe zu erlauben, und anderseits beim Health Practicioner, das «alt bewährte» wie z. B. Exceltabellen zu verlassen. Die Kommunikation mit der Athletin oder dem Athleten und anderen Stakeholdern, das Erstellen von Trainingsplänen, das Mitteilen und Analysieren, das Auswerten, das automatische Abfragen und das Terminieren von PROMs(Patient Reported Outcome Measures) und vieles mehr kann mittels «digital Health» vereinfacht werden und effektiver stattfinden.
WELCHE TOOLS SIND BESONDERS INTERESSANT IM SPORTPHYSIOTHERAPIEBEREICH?
Prinzipiell sind alle Möglichkeiten der Diagnostik, des Assessments, der Kommunikation und der Analyse wertvoll. Apps und cloudbasierte Produkte mit einer OmnichannelKommunikation sind die einzige Möglichkeit, effektiv die Technologien zu nutzen. Es gibt Produkte auf dem Markt, die alle Testdaten in einem cloudbasiertem HUB speichern, automatisch analysieren und auswerten, eine spezifische Kohortenbewertung durchführen, die Leistungsfähigkeit visualisieren und Grenzwerte anzeigen sowie die Kommunikation über Trainingspläne, PROMs und Q & A mit den Athletinnen und Athleten ermöglichen. Grundlegend für die Nutzung dieser Systeme sind die Interoperabilität und Einbindung in Datenbanken. Hier scheitern bereits viele Anbieter aus der Gesundheitsbranche. Im Leistungssport gibt es bereits erprobte Anbieter – zu einem Preis, welchen sich der Gesundheitssektor im Moment nicht leisten möchte.
ELEKTRONISCHES PATIENTENDOSSIER: BALD REALITÄT?
Nein, auf keinen Fall. Aktuell ist es nicht vorstellbar, dass ein Kunde zur Post geht, um ein Patientendossier zu eröffnen. Wir sind im Jahr 2022 und trotz der Datensensibilität haben wir keine einfache Möglichkeit geschaffen, um praktikabel das ePatientendossier einzuführen. Auch die ungenügende Vernetzung der Daten stellt ein Problem dar. Ich bin optimistisch, dass in den kommenden Jahren durch Blockchain-Technologie die Implementierung der elektronischen Akte ermöglicht wird.
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SPORTFISI@ 2022 67
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BRAUCHT ES DIE PHYSIOTHERAPEUTEN IN ZUKUNFT NOCH? WELCHEN MEHRWERT BIETET SPORTPHYSIOTHERAPIE IM VERGLEICH ZU Artificial Intelligence (AI)?
Physiotherapeuten, wie sie aktuell agieren, wird es nicht mehr geben. Athletinnen und Athleten haben wenig Zeit und werden sich, bedingt durch die wirtschaftlichen Entwicklungen, den Luxus von eineinhalb Stunden Zeitaufwand für eine dreissig-minütige Sitzung nicht mehr leisten können. Studien belegen eine hohe bis bessere Wirksamkeit von OnlineProgrammen, sowohl als Einzel- als auch Gruppentraining. GLA:D Australien hat es bereits eingeführt. Interdisziplinär tätige, multiprofessionelle Einrichtungen mit Physiotherapieangeboten werden überleben.
Die Frage ist nur, ob sie Orchestrator im Ecosystem sind. Wenn nicht, wird man sich überlegen müssen, ob man als ein beitragender Dienstleister im Ecosystem seine Leistung anbietet oder eben nicht.
Der Vorteil der Sportphysiotherapie gegenüber AI ist im Augenblick die bessere Interpretation der Athletinnen und Athleten hinsichtlich ihrer emotionalen Reaktion im Kontext zu den Daten. Da ist die Technologie auf unserem Gebiet noch nicht soweit. Aber bald! Ich möchte gerne empfehlen, dass wir AI und die Digitalisierung als grosse Chance sehen, um unsere Arbeit effektiver zu gestalten und um mehr Zeit für unsere Kernkompetenzen zu haben. Das Berufsbild wird sich ändern, genau wie die Gesellschaft, und wir haben die Chance, uns mit ihr zu verändern und Neues zu kreieren.
NACH DEN ERFAHRUNGEN IN DER PANDEMIE: IST ONLINE PHYSIO ERFOLGREICH? KÖNNTE ES AUCH ALS PHYSIOHOTLINE ÄHNLICH DEM ÄRZTETELEFON ODER EINEM ONLINECHAT FUNKTIONIEREN?
Ja, absolut. Die Studienlage zeigt in vielen Fachdisziplinen einen gleichwertigen beziehungsweise sogar einen höheren Erfolg der Onlinerehabilitation. Hinsichtlich des physischen Outcomes als auch der Patientenzufriedenheit sind solche Tools besser im Vergleich zur traditionellen Physiotherapie.
PATIENTEN SIND HEUTE BESSER INFORMIERT ALS FRÜHER. SPORTLERINNEN UND SPORTLER ERST RECHT. ZUMINDEST MACHT ES DEN ANSCHEIN. WIE GEHT MAN ERFOLGREICH MIT DR. GOOGLE UM?
In der Tat haben Sportlerinnen und Patienten einen einfacheren Zugang zu Informationen als früher. Die Analyse und Interpretation der Informationen gelingen jedoch nicht immer gut. Das Verständnis für das Gelesene oder Gehörte ist nur oberflächlich. Studien zeigen, dass nur 7 Prozent der deutschen Bevölkerung Zugang zu qualifizierter gesundheitsbezogener Literatur haben und ca. 50 Prozent der Personen das Gelesene nicht verstehen oder wiedergeben können. Nebenbei, auch die Informationsweitergabe durch Fachpersonal ist nicht nur von Erfolg gekrönt. Man muss akzeptieren, dass die Sportler mit einem vorgefassten Mindset zum Termin kommen – und jetzt wird es richtig interessant: Der Vorteil ist auf unserer, der menschlichen Seite. Emphatisch, mit ausgezeichneten Kommunikationstechniken den Sportler oder die Patientin vollumfänglich zu erfassen und das Wissen sortieren und gemeinsam bewerten, das ist unsere Stärke. Kommunikation ist eine Kunst, die wir erfolgreich einsetzten sollten. Manchmal ist der gut informierte Sportler oder die Google-affine Patientin auch ein Vorteil – denn es gibt auch hervorragende Internetseiten und Apps. Wenn die richtige Information eingeholt wurde, dann gibt es unter Umständen ein anderes Zeitmanagement. Sprich: Man muss Standardinformation allenfalls nicht nochmals wiedergeben.