«Wir sollten aufhören, Lesen als etwas Anstrengendes zu betrachten, und uns mit der Tatsache versöhnen, dass alle anderen Einflüsse, mit denen wir uns das Leben vermeintlich einfacher machen, unterm Strich viel anstrengender sind als jedes Buch»
PHILIPP KEEL VERLEGER DIOGENES VERL AG, AUTOR UND KÜNSTLER (* 1968)
4
EIN BILD
BIANCO 
WINTER 2017/18
5
6
1000 WORTE Fo t o g ra f i e : U l i Wi e s m e i e r Te x t : Li nd a S o l a nk i
D
as Bild zeigt den Lago d’Antorno in den italienischen Dolomiten, fotografiert von Uli Wiesmeier. Dies nur vorweg, da man auf den ersten Blick leicht vermuten könnte, es handle sich um ein Gemälde, so zart wie die Farben, so schwammig die Umrisse wirken. Der Aquarelleffekt ist keinem speziellen Filter geschuldet, sondern einem klassischen fotografischen Kniff: Man nehme einen See mit ansehnlichem Umland und bilde die darin entstandene Spiegelung ab. Das klingt simpel, erfordert aber Geduld. Ein gelungenes Spiegelbild – in beiden Sinnen des Wortes – hängt nämlich von verschiedenen Faktoren ab. Zuerst einmal sollte die Wasseroberfläche glatt sein, spiegelglatt, um die Wortspiele weiterzuführen. Wie glatt die Oberfläche ist, hängt von der Luftbewegung ab. Hat man endlich einen mehr oder minder windstillen Moment erwischt, muss auch das Licht stimmen. Und zu guter Letzt braucht es einen wirksamen Hintergrund. Zumindest dieser Punkt dürfte Wiesmeier wohl kaum Kopfschmerzen bereitet haben. Prächtigere Motive, als sie die Umgebung rund um den Lago d’Antorno mit den mächtigen Dolomiten präsentiert, lassen sich nicht so schnell finden. Wie aber kann man eines der abgenutztesten Alpenmotive – Berg spiegelt sich in See – auf eine überraschende, neue Weise in Szene setzen? Nach einigem Herumprobieren und Experimentieren kristallisierte sich bei Wiesmeier eine Idee heraus: Die realen Gegenstücke zur Reflexion, also der Teil über Wasser, sollen weggelassen, das Spiegelbild um 180 Grad gedreht werden. Das alleine reichte jedoch nicht, um das gewünschte Ergebnis zu bewirken. Erst nach Ausarbeitung der richtigen Tiefenschärfe und Berücksichtigung weiterer Bildkomponenten wie Seegrund, Leichteinfall, Bewölkung oder Treibgut war Wiesmeier zufrieden. Das Ergebnis kann sich unbestritten sehen lassen. Besonders das Treibgut spielt eine wichtige Rolle für den Bildeffekt. Die Blätter, die den Bergsee trüben, ähneln Möwen oder Libellen, die durch den gespiegelten blauen Himmel fliegen, und nehmen den Betrachter mit auf eine Reise in eine neue Welt. Physikalisch betrachtet handelt es sich bei der Spiegelung um das Zurückwerfen von Wellen an einer Grenzfläche, an der sich der Wellenwiderstand ändert. Der See als Grenzfläche bildet eine Sonderplattform, da er auch an windstillen Tagen nie komplett glatt ist. Der See als Grenzfläche zeigt also nie die ganze Wahrheit, son-
dern immer eine leicht verzogene Version davon. Extremer noch, durch die Tatsache, dass die Bergkette spiegelverkehrt abgebildet ist, projiziert der Lago gewissermassen das Gegenteil des Echten. Was den Alpen widerfährt, muss auch der Mensch aushalten. Beim Blick in den Spiegel sehen wir, wer wir sind und wie wir wirken. Aber wie können wir das überhaupt, wenn der Spiegel nicht das Reale wiedergibt? Die Kreatur, die uns daraus entgegenblickt, existiert so nämlich nicht. Wir kennen zwar unsere Hände, Füsse, Beine und praktisch die ganze Vorderseite des Oberkörpers. Aber unser Gesicht, das kennen wir nicht. Nur die gespiegelte Version davon. Die Mimik, mit der wir uns vor dem Spiegel unterhalten, ist nicht die, mit der wir unseren Freunden begegnen. Können wir uns jemals wirklich selbst kennen und wissen, wer wir sind, wenn wir noch nie unser echtes Gesicht gesehen haben? Die Dolomiten hingegen können wir unverfälscht bestaunen, dafür bräuchten wir nur den Kopf zu heben. Uli Wiesmeier hat das offensichtlich getan, denn in seinem Bildband «BERG …: Die Alpen in 16 Begriffen», dem auch dieses Foto entstammt, findet die italienische Bergkette mehrmals Platz: an unterschiedlichsten Ortschaften abgelichtet, mal mit Nebelhut, mal mit Schneemantel, mal ganz nah, mal ferner, immer aus einem einzigartigen Blickwinkel, immer anders als gewohnt, immer faszinierend. Aber nie von solch surrealer Schönheit wie auf den Lago d’Antorno gebettet. Alpine Themen sind von jeher Wiesmeiers Spezialität. Sein erstes Foto schiesst er, der heute 59-Jährige, im Alter von 14 Jahren. Sein Motiv, wie könnte es anders sein, ein Berg. Es ist der Beginn einer grossen Liebe. Diverse Werbe-, Sport- und Reportagefotografien verhelfen ihm zum Erfolg. Doch er will sich nicht auf die kommerziellen Aufträge beschränken. Bald gilt er in der Szene der Bergfotografie als «kreativer Unruhestifter». Der «Vollkasko-, Vollpension- und Vollrausch-Mentalität» der auf ihre Bequemlichkeit zielenden Bergtouristen des 21. Jahrhunderts begegnet er mit kritischem Blick durch die Linse, die schlei-
ULI WIESMEIER «BERG …: Die Alpen in 16 Begriffen» 328 Seiten, 250 Abbildungen Knesebeck Verlag
chende Zerstörung alpiner Natur beschäftigt ihn immer mehr. 1989 nimmt er sich eine vierjährige Auszeit und widmet sich seiner zweiten Karriere im Gleitschirmfliegen. Wiesmeier flog als Erster mit einem Gleitschirm über 100 Kilometer und errang zahlreiche nationale und internationale Titel, unter anderen den Pre-Worldcup-Gesamtsieg 1991 und den Worldcup-Gesamtsieg 1992, und wurde dreimal Deutscher Meister im Streckenflug. Mittlerweile lebt der gebürtige Deutsche mit seiner Lebensgefährtin auf einem Hof in Südtirol. Zusammen mit vier Hochlandrindern, fünf Hühnern und vier Katzen lernen sie dort auf 1360 Metern, was es bedeutet, wertvolle Kulturlandschaft zu pflegen. Sein aktuelles Buchprojekt, «BERG …: Die Alpen in 16 Begriffen», bezeichnet er als seine bis anhin wichtigste Arbeit. Die 16 Begriffe besitzen alle den Präfix BERG und stellen einen Überbegriff für Sujets dar, deren fotografische Interpretation Wiesmeier reizte. BERGführer zum Beispiel oder BERGblick, BERGtod. Das Kapitel BERGsee ist in zwei Teile gesplittet und behandelt Wasser als Lebensquell und das langsame Ausdörren unseres Planeten. Durch das Gletscherschmelzen ist der Verlust der natürlichen Wasserreservoire auch in den Bergen aktuell. In den Tallagen ist die Situation kaum erfreulicher: Das Grundwasser wird durch die Überdüngung verpestet, die Massentierhaltung fordert einmal mehr ihren Preis. Wiesmeier sieht in Bergseen jedoch mehr als nur eine Erinnerung an den Klimawandel. Als Gleitschirmflieger erfreut er sich an den farbigen Flecken in der oft schroffen Landschaft des Hochgebirges. Die Wasseroberfläche dient zudem als Indikator für die Windrichtung und -stärke am Boden – je nachdem, ob sie sich glatt, leicht gekräuselt oder mit weisser Schaumkrone geschmückt präsentiert. Für ihn sind Seen die Augen der Berge. Augen, die es zu lesen gilt, wie diejenigen eines wilden Tieres, um zu erkennen, wann es Zeit wird, das Weite zu suchen. Diese Augen blicken dem Leser beim Schmökern aus dem Wettersteingebirge, dem Miemiger Gebirge, der Stubaier Alpen in Südtirol oder der Silvrettagruppe in Graubünden entgegen. So weit der erste Teil des Kapitels. Der zweite ist den aquarellartigen Spiegelungen gewidmet, für die nebst unserem Lago d’Antorno unter anderem auch der Eibsee, der Karersee oder der Pragser Wildsee Modell stehen. Dieser zweite Abschnitt von BERGsee beweist: Die Augen der Berge sind gleichzeitig auch die Spiegel ihrer Seele.
BIANCO
WINTER 2017/18
Mehr Auszeit Wagen. DER NEUE VOLVO V90 CROSS COUNTRY. JETZT ENTDECKEN AUF VOLVOCARS.CH/V90CROSSCOUNTRY
SWISS PREMIUM 10 JAHRE/150 000 KM GRATIS-SERVICE 5 JAHRE VOLL-GARANTIE
INNOVATION MADE BY SWEDEN.
Volvo Swiss Premium® Gratis-Service bis 10 Jahre/150 000 Kilometer, Werksgarantie bis 5 Jahre/150 000 Kilometer und Verschleissreparaturen bis 3 Jahre/150 000 Kilometer (es gilt das zuerst Erreichte). Nur bei teilnehmenden Vertretern. Abgebildetes Modell enthält ggf. Optionen gegen Aufpreis.
Was mit liebe und Sorgfalt gemacht wurde, trägt die handschrift desjenigen, der es geschaffen hat. ganz besonders gilt das für die Weine unserer Produzenten. Jeder von ihnen ist einzigartig und unverwechselbar wie der Meister, der ihn gepflegt und zur reife geführt hat. PieMonTe azelia antichi Vigneti cantalupo castellari bergaglio domenico clerico aldo conterno giacomo conterno conterno Fantino Fratelli giacosa Moccagatta Monchiero carbone oberto – ciabot berton Pasquero elia – Paitin Vietti loMbardia barbacàn ca’del bosco comincioli VeneTo buglioni Silvano Follador gini Venegazzù
FriUli borgo del Tiglio gravner Venica & Venica romano Vitas
Marche Tavignano
ToScana castellare Fontodi Monastero San giusto a rentennano Montevertine castello dei rampolla Vecchie Terre di Montefili avignonesi lombardo le Macchiole Petra rocca di Frassinello Terenzi Mastrojanni Poggio antico Mormoraia ghizzano il borro
abrUzzo Torre dei beati Valentini
UMbria adanti
PUglia gianfranco Fino castel di Salve calabria luigi Viola Sicilia abbazia Santa anastasia Salvatore Murana Palari Feudi dei Pisciotto Sardegna Santadi
caratello Weine ag zürcher Strasse 204 e ch-9014 St.gallen T +41 71 244 88 55 F +41 71 244 63 80 info@caratello.ch www.caratello.ch
EDITORIAL
Schnee von morgen Natürlich könnte man sich ans Fenster setzen. Rausschauen, in aller Ruhe. Sich ein Bild davon machen, wie weit es schon ist mit dem prognostizierten «Jahrhundertwinter». Den die Muotathaler Wetterschmöcker, zumindest vier der sechs Innerschweizer Originale, mit «viel Schnee» sehen und «prächtige Wintermonate» versprechen. Zehn Minuten am Fenster sitzen, sagt der deutsche Psychiater Christian Dogs, das halte kaum jemand durch. Also doch im Handy schnell nachsehen bei einem dieser App-Wetterpropheten? Passt besser in die Zeit, in der die Welt, meist etwas zu schnell für unseren Geschmack, in irrem Tempo in Richtung – aber in welche denn nun – galoppiert. Wir haben das mit dem Fenster ausprobiert. Haben in der Zeitung ein ganzseitiges Interview mit diesem Herrn Dogs gelesen – sehr sym pathisch auf dem Bild, mit seiner Brille und der blauen Parka mit Pelzbesatz. Der ärztliche Direktor der Max-Grundig-Klinik bei BadenBaden sagt darin: «Jeder, der sich schlecht fühlt, ist heute krank. Wer traurig ist, hat eine Depression. Wer schüchtern ist, hat eine soziale Phobie. Für jedes Gefühl haben wir den passenden Titel.» Leute hätten Angst, seien wütend oder traurig , «aber Gefühle gehören zu uns, auch die schlechten». In Amerika gelte neuerdings: Wer nach einem Todesfall zwei Wochen am Stück traurig sei, habe eine schwere D epression. «Sie setzen die Kriterien einfach so weit runter, bis alle krank sind.» Zuvor hätten sie den Leuten noch ein halbes Jahr zugestanden, um über den Verlust hinwegzukommen. Christian Dogs hat ein Buch mit dem Titel «Gefühle sind keine Krankheit» geschrieben. Lesen wir. Draussen schneit es. Das waren weit über zehn Minuten am Fenster. Eindeutig. Wenn Sie sich heute noch nicht für den Schnee von morgen interes sieren, haben Sie eine schöne Möglichkeit, in einem Ohrensessel eine gute Zeit zu verbringen, sie verstreichen zu lassen. Mit Lesen. Irgendwann werden Sie in diesem Heft auf einen Satz von Bruder Magnus stossen, der sagt: «Einer meiner persönlichen Gottesdienste besteht darin, dass ich aus meinem Fenster vis-à-vis, jenseits des Tales, den Hirschen zusehe, die aus dem Wald auf die Wiese treten und äsen. Da kann ich still zuschauen und demütig Gott Danke sagen.»
WOLFRAM MEISTER HERAUSGEBER UND CHEFREDAKTOR
9
10
I N H A LT WINTER 2017/2018
14 APROPOS Italienischer Mantel. «Radar»-Watch. Holzunikate. Belle Epoque in Kandersteg. Bunter Mode-Winter – für Ihn und Sie 22 SKIKJÖRING Valeria Holinger gewinnt beim White Turf den Wettbewerb im Skikjöring. Gegen alle Männer
28 VA L S, VA L S E RTA L U N D DIE MILCHSTRASSE Faszination Universum. Mit ihrer «Cosmic Art Photography» wollen Sandro und Markus Casutt der Welt die unendliche Weite und Ruhe des Kosmos näherbringen 36 JOHN SPRINGS Er ist einer von Londons bissigsten Politkarikaturisten, St. Moritz kennt er wie seine Westentasche
42 BÜNDNER BERG-REFUGIUM Einst Bauernhaus, dann Café, jetzt Chalet voller Charme. Bodenständig, aber extravagant
BIANCO
WINTER 2017/18
vivanda genuina
12
I N H A LT WINTER 2017/2018
52 WHITEOUT Nichts, weisses Nichts. Was ist dieses Unsichtbare, fast schon Übernatürliche hinter dem Whiteout?
60 ENGADINER TRACHT Mit afrikanischen und asiatischen Akzenten 68 G R I N D E LWA L D - S C H LU C H T Kajak-Tango im Gletscherwasser
74 AUSSENSEITER IN GOTTES NAMEN Marcel Raymond Bosshard war mal Topmanager in der wilden Werbebranche. Heute heisst er Bruder Magnus, lebt als Mönch unter Mönchen in einem Kloster und fühlt sich dort in all seinen Zweifeln geborgen
RUBRIKEN 9 Editorial 86 Kurz & Knapp 91 Impressum 93 Comic 98 Letzte Seite
96 ÜBER ALLE BERGE MIT… Andreas Caminada, Kochkünstler vom «Schloss Schauenstein», wird zum Weltenbummler. Bis Ende Mai
BIANCO
WINTER 2017/18
GraubĂźndens neuestes 5-Sterne Superior Hotel mit Kulinarik und Architektur von Weltformat.
The art of breathing
The art of relaxing
The art of living
The art of fine dining 7132 Silver Sven Wassmer | 2 Michelin Sterne & 18 GaultMillau Punkte Amanda Wassmer Bulgin | Sommelière des Jahres 2017
7132 Hotel | 7132 Vals | 7132.com
14
APROPOS PRODUKTE, TIPPS UND MEHR
U N TE R EIN EM GUT EN ST ERN Sie überzeugen mit klassischer, femininer Eleganz und einer Spur mondäner Opulenz. Mit raffinierten und farbenfrohen Details, mit aufgesetzten Pelztaschen, die mit bunten Sternen versehen sind. Wer einmal hineinschlüpft, wird dem Zauber dieser bequemen und lässigen Mäntel sogleich erliegen. Dem Doppelreiher von Lost (in) me, einem feinen italienischen Label, das auch Mützen im Programm hat. Wer sich über ein kleines, auffälliges Detail wundert: der rote Zick-Zack-Faden gehört wie anderes auch zu den witzigen Erkennungsmerkmalen bei Lost (in) me. www.lostinme.it; www.witracs.ch
BIANCO
WINTER 2017/18
15
SPITZE! Schöne Bleistifte und Farbstifte, ob rund oder sechseckig, bedürfen besonders liebevoller Pflege. Eine Spitzmaschine von bewährter Klasse – mit regulierbaren Einstellungen für verschiedene Spitzenlängen und mit robustem, auswechselbarem Walzenfräser – kommt aus dem Hause Caran d›Ache. Das Sammlerstück aus Metall, dem Original von 1933 nachempfunden, ist rot lackiert und in einer VintageMetalldose verpackt. Das Modell mit Namen «Matterhorn» gibt es in einer Limited Edition von 4478 nummerierten Exemplaren (in Anlehnung an die Gipfelhöhe) zu kaufen, das an ausgesuchten Orten wie etwa dem Shop im Zürcher Kunsthaus.
ROTER KNOPF Falls Sie lieber ungewöhnliche Uhren statt bekannte Brands haben, sollten Sie die «Radar-Watch» auf dem Radar haben (Skandinavian Design meets Swiss Engineering). Sie will weder Smartwatch noch klassische Uhr sein, sondern aus beiden Welten nur das Nötigste auf sich vereinen. Das Zifferblatt mit E-Paper-Display simuliert elektromagnetische Wellen, die mit einem roten Knopf laufend verändert werden können (über 200 000 verschiedene, radarartige Bilder!). Dank Bluetooth-4.0-Verbindung der «Radar-Watch». www.whatwatch.com
SCHNAPPVERSCHLUSS STATT RATSCHENBÄNDER Über den legendären Ursprung der Firma Apple im Jahr 1976 gibt es zwei gern erzählte Wahrheiten: zum einen wurde sie in der Garage (falsch), zum anderen im Schlafzimmer (richtig) von Steve Jobs Elternhaus in Los Altos bei San Francisco gegründet. Keine Unklarheiten herrschen, was die Anfänge von Burton anbelangt. Ein Name, der zum Synonym fürs Snowboarding geworden ist: Jake Burton Carpenter gründete Burton Snowboards in seiner Scheune in Vermont im Jahr 1977, also vor 40 Jahren. Dank zukunftsweisender Produkte machte er Snowboarding zu einem WeltklasseSport. Unterstützt von den besten Ridern der Welt und dank vielen Winter-Resorts, die das Snowboarding erlaubten. Seine Frau, Donna Carpenter, inzwischen CEO und treibende Kraft bei Burton, hat gerade mit Burton-Ingenieuren und «Step On» die Snowboarder-Bindung
neu erfunden: mit Schnappverschluss statt Ratschenbändern. Zwar gab es vor Jahren schon Versuche in ähnlicher Richtung, aber zu unausgereift war damals die Technik. Einige Bindungen waren zu schwer, andere Systeme waren bei zu viel Schnee an den entscheidenden Stellen vereist. «Step On» bietet dieselbe Performance wie das traditionelle Strap-System, nur einen schnelleren, einfacheren Ein- und Ausstieg. Die dazu passenden Boots werden auf dieselbe Art hergestellt wie die Standard-Boots von Burton. Und die Bindung ist so konstruiert, dass sie auf möglichst viele Snowboards passt. «Alles, was wir bei Burton kreieren», sagt Jake Burton Carpenter, «hat seinen Ursprung in den Bergen. Egal, ob es darum geht, das Bes te aus jeder Reise herauszuholen, oder darum, rund um den Globus den Schnee aufzuwirbeln.» www.burton.com
16
APROPOS PRODUKTE, TIPPS UND MEHR
GEHÖRNTE HOLZUNIKATE Ein übergrosses Essbesteck in Arve. Löffel, Gabel und Messer, aufgestellt und an die Wand gelehnt. Oder gehörnte Bretter, hübsch und praktisch für zwei, drei Alpkäse, einen Salsiz, Rohschinken oder etwas Bündnerfleisch. Das Holz? Eiche, wie im Bild? Vornehmlich verwendete Hölzer sind jene aus den Bergen: Arve, Lärche oder Fichte. Aus denen lauter Unikate entstehen, zumeist für den täglichen Gebrauch. Wobei bei der Wahl der Holzart Alter, Struktur, Farbe und Verarbeitung wichtig sind. Bei Markwood – hinter dem Namen steht Frank Mark aus Luzein im Prättigau, Ingenieur mit langer Praxis in Lehre und Industrie, der seinem Hobby, dem Holzwerken, nachgeht – gibt es kleinere und mittlere Objekte, aber auch grosse wie Liegen, Stühle oder Skulpturen. http://mark.limited/index.html
9,30
EINE ZAHL & IHRE GESCHICHTE
Als das schneereichste dauerhaft bewohnte Dorf der Welt gilt Damüls im Bregenzerwald. Im Walserort fallen je Wintersaison insgesamt 9,30 Meter Neuschnee. Diese Zahl beruht auf einer aufwendigen Studie und den Messreihen über eine festgelegte Zeit einer meteorologisch anerkannten Wetterstation. Hinter Damüls folgen auf Rang zwei und drei als schneereiche Dörfer: Schröcken am Hochtannberg und Braunwald im Glarnerland in der Schweiz. Was in diesem Zusammenhang als «Dorf» gilt, bestimmen streng gesetzte Regeln, was Plätze wie Einzelgehöfte, Skistationen oder rein touristische Ferienanlagen ausschliesst. Der Mount Baker in den USA ist übrigens der schneereichste «Punkt» auf der weltweiten Schneekarte. Im Jahr 2003 wurde dort an einer Skistation mit 28,96 Metern Schnee in einer einzigen Wintersaison Weltrekord aufgestellt.
MESSERSCHARFE GIPFEL Zum reifen Alpkäse die richtigen Gipfel? Zum Berner aus dem Oberland also Eiger (3970, Mönch (4108), Jungfrau (4158), Schwalmere (2777), Dreispitz (2520), Blüemlisalp (3661), Niesen (2362), Simmenflueh (1422) und Stockhorn (2190). Mit dem handgemachten Panorama-Knife «Berner Oberland», einer Klinge aus Rockwell-Stahl (Härte C) und einem Griff aus Palisanderholz (indische Möbelindustrie), ist das kein Problem. Selbstver-
ständlich ist im Preis (Fr. 69.–) auch ein Bergpanorama-Bild inbegriffen. Wobei es reichlich Konkurrenz zum «Berner Oberland»-Messer gibt: von «Best of Graubünden» bis zu «Zentralschweizer Alpen». Wem das ein bisschen viel Berge sind, kann Käse aus Frankreich auch mit einem Skyline-Messer «Paris City» teilen, was aber leicht teurer kommt (Fr. 79.–). www.panoramaknife.ch
BIANCO
WINTER 2017/18
17
Fotos: Danzinelli Dario/ www.look-this-way.com
BELLE EPOQUE In der letzten Woche des Januars wird in Kandersteg die Zeit um über 100 Jahre zurückgedreht. Dann lässt man im stillen Bergdorf die Belle Epoque in winterlicher Nostalgie wieder aufleben. Dann flanieren und wandeln Gäste und Einheimische in stilgerechter Bekleidung aus der Zeit der Jahrhundertwende durch die Strassen. Also im Jackett und mit Zylinder die Herren, in weiten Röcken und extravaganten Hüten die Damen. Das Dorfbild prägen aufwendig gestaltete Fassaden wie anno dazumal. Der Coop ist mit Consum angeschrieben, am Postgebäude steht Post Telephon Telegraph (PTT). Die sportlichen Herren gehen mit alten Holzskiern zum Telemark-Skifahren oder vergnügen sich beim Bobrennen auf hundertjährigen Schlitten. Auf einem Natureisfeld ziehen Eisläufer und Eisläuferinnen ihre Kreise. Und alles freut sich auf den krönenden Abschluss der Woche, einen Belle-Epoque-Ball zu Livemusik wie in den guten alten Zeiten. Wer Kleidersorgen hat: Es gibt einen Verleih vom «Belle Epoque Verein» im Untergeschoss von Erna’s Shop. Zum täglich wechselnden Programm – mit Vortrag von alt Bundesrat Dölf Ogi oder Konzert der Quatre Salonesses gehören auch Thé dansant oder Afternoon Tea im Speisewagen eines Nostalgiezuges, weiter ein Diner mit Operettenmelodien, diverse Ausstellungen und eine Modeschau. www.kandersteg.ch/de/w/belle-epoque
18
APROPOS PRODUKTE, TIPPS UND MEHR
MATI VENTRILLON AUS VENEZUELA LEBTE ALS ARCHITEKTIN IN LONDON. ZOG AUF EINE DER SHETLAND-INSELN (FAIR ISLE)
–1–
–2–
–3–
–7– –8–
ER 1 / MANTEL Patchwork-Mantel, Lammfell und Wildleder; Scotch & Soda www.scotch-soda.com 2 / SCHLUPFJACKE «Arris», wasserdichte Skijacke, perfekter Feuchtigkeitsaustausch; Goldwin www.goldwin-sports.com 3 / STRICKJACKE Cashmere-Cardigan, Oversize-Schnitt, knopflos; Alanui www.alanui.it, www.helmuteder.com, www.maisonlorenzbach.com, www.maisongassmann.ch
– 4–
4 / RUCKSACK «Stockholm 13», Rindsleder, whiskyfarben; Bree www.bree.com 5 / SOCKEN «The Craftsman»-Socken aus Tokio, für Boots; Chup Socks www.glen-clyde.com, www.deeceestyle.ch
–5–
–9–
6 / SCHUHE Chelsea Boots, Wildleder, aus einem Stück; R.M. William www.deeceestyle.ch 7 FOULARD «Madras Check», handgewoben, Pashmina, 100 x 100cm; Ines Boesch www.inesboesch.ch 8 / JEANS «Broken Elephant 6» www.nakedandfamousdenim.com, www.deeceestyle.ch 9 / PULLUNDER «Traditional», 100% Shetland Wool; Fair Isle Artisans, Mati Ventrillon www.mativentrillon.co.uk
–6–
BIANCO
WINTER 2017/18
19
UND MACHTE DIE ALTE SCHOTTISCHE STRICKKUNST, DIE SO GUT ZUM BERGWINTER PASST, WIEDER POPULÄR
–1–
–2–
–3–
–7– –8–
SIE 1 / JACKE Wildlederjacke mit Teddy-Fell; Scotch & Soda www.scotch-soda.com 2 /SKIJACKE Bergans «Luster Jacket» 3 / STRICKJACKE Cashmere-Cardigan, Oversize-Schnitt, knopflos; Alanui www.alanui.it, www.helmuteder.com, www.maisonlorenzbach.com, www.maisongassmann.ch
–4–
4 / RUCKSACK «Stockholm 40», Rindsleder, whiskyfarben; Bree www.bree.com –9–
5 / SOCKEN Folk-Art-Socken aus Tokio; Chup Socks www.glen-clyde.com, www.deeceestyle.ch 6 / SCHUHE Sie: xxx www.deeceestyle.ch
–5–
7 / FOULARD «Madras Check«, handgewoben, Pashmina, 100 x 100cm; Ines Boesch www.inesboesch.ch 8 /JEANS «Brushed Stretch selvedge« www.nakedandfamousdenim.com, www.deeceestyle.ch 9 /PULLUNDER «Natural», 100% Shetland Wool; Fair Isle Artisans, Mati Ventrillon www.mativentrillon.co.uk –6–
20
APROPOS PRODUKTE, TIPPS UND MEHR NEUER WOHNRAUM DURCH ANBAUEN UND UMBAUEN
UPGRADE Gestalten Verlag, Berlin
WEIN-MONOLITH Natürlich kommt es in erster Linie auf den Inhalt an. Dass man die richtigen Flaschen bei richtiger Temperatur und richtiger Luftfeuchtigkeit in seinen Weinkeller legt. Hat man aber mal eine veritable Anzahl an weissen und roten Flaschen beisammen, bekommen die Ästheten unter den Weiniebhabern Tränen, müssen sie ihre edlen Tropfen in einen von diesen zwar praktischen, aber uncoolen Weinschränken legen. Strato, eine kleine Firma im Veltlin, hat das Problem erkannt. Als absoluter Trendsetter in Sachen exklusiver Küchen entwirft der Chef, Designer Marco Gorini, auch massgeschneiderte Weinkeller in unverwechselbarem Strato-Stil. Den mit Namen: Winecube. «Wir verstehen uns besonders gut darauf, Technologie und Handwerkstradition, Funktionalität und Ästhetik in unseren Produkten zu vereinigen», meint Gorini. Das Holz für den Wein-Monolith stammt von einem Baum, der bis zu 30 Meter hoch werden kann (Doussié) und aufgrund hervorragender Eigenschaften wie Dauerhaftigkeit, Festigkeit und Stabilität geschätzt wird. Glas für den Kubus muss selbstverständlich auch sein, schliesslich ist der Winecube nicht einfach Aufbewahrungsort für Weinflaschen, sondern zugleich Showpiece und Eyecatcher. www.stratocucine.com
Alte Bausubstanz mit neuer Perspektive: schönes Thema, schönes Buch. «Upgrade» erzählt anhand von eindrücklichen Bauprojekten 52 Baugeschichten. Ein Bildband mit spektakulären Bildern von alten Häusern, Scheunen und Hütten, denen neues Leben eingehaucht worden ist. Angebaut, umgebaut und ausgebaut wird auch im Alpenraum. Das zeigen drei sehenswerte Beispiele aus dem Wallis und dem Tessin. 25 Jahre leer stand ein Haus aus dem 16. Jahrhundert in Sitten, bevor sich das Architekturbüro Galletti und Matter (Lausanne) an die Sanierung machte. Dabei wurden die originalen Steinwände erhalten und mit Holz-, Stahl- und Betonelementen verstärkt. Mit viel Phantasie und Mut kleideten im Weiler Le Biolley bei Orsières die Architekte Savioz Fabrizzi (Sitten) ein Chalet mit Holz aus, gleichzeitig zeigten sie auf, was auf kleinstem Raum möglich ist. Nun hängen die Berge wie gerahmt in den raumhohen Fenstern. Einem 200-jährigen Sommerhaus in Linescio im Rovanatal (Vallemaggia), dessen bröckelnder Granitbau als Original erhalten werden sollte, verpassten die Architekten Bucher Bründler (Basel) im Innern Schicht für Schicht Betonwände. Ihr Umbau wirkt wie aus einem Guss – und schaffte es auf den Titel von «Upgrade». ALPEN-THRILLER
DER NEBELMANN Donato Carrisi, Atrium Verlag, Zürich Ein abgelegenes Dorf. Sieben verschwundene Kinder. Und ein Ermittler, dem nicht zu trauen ist. In einer eisigen Winternacht irrt der römische Sonderermittler Vogel mit blutbesudeltem Hemd durch die nebelverhangenen Wälder am Rand eines Dorfes. Vogel war vor einigen Wochen von Rom in die italienischen Alpen gereist, um den Verbleib eines vermissten Mädchens zu klären. Dreissig Jahre zuvor waren mehrere Kinder in den umliegenden Wäldern verschwunden, und es besteht der dringende Verdacht, dass der Mörder von damals – im Dorf nur der «Nebelmann» genannt – wieder aktiv geworden ist. SCHWEIZER TRACHTEN IN KUNST UND KUNSTGEWERBE
DIE PRACHT DER TRACHT Herausgegeben von Marcel Just und Christoph Vögele Verlag Scheidegger & Spiess Trachten waren im 18. Jahrhundert und im Jugendstil sowie in den 1930er-Jahren beliebte Bildmotive in der Schweizer Kunst und im Kunstgewerbe. Sie standen für regionale Kulturen, dann auch für das Lebensgefühl, welches mit dem Begriff «Landi-Geist» umschrieben wird. Thematisiert wird die Tracht im Buch auch, was den Schweizer Film anbelangt, auf ihre Bedeutung in Landesausstellungen und bezüglich des Wandels des Frauenbildes. Das Buch ist zur gleichnamigen Ausstellung im Kunstmuseum Solothurn (bis 7. Januar 2018) erschienen.
BIANCO
WINTER 2017/18
mountains.ch
MUOTTAS MURAGL Panoramarestaurant Mountain Dining täglich bis 23.00 Uhr Information und Reservation unter Telefon +41 81 842 82 32
22
SKIKJÖRING VA L E R I A H O L I N G E R
Valeria Holinger: Mit 60 km/h auf Ski hinter einem englischen Vollblüter – ein berauschender, aber auch gefährlicher Spass.
BIANCO
WINTER 2017/18
Weisser
Rausch
24
SKIKJÖRING VA L E R I A H O L I N G E R
Valeria Holinger gewann beim White Turf in St. Moritz den Wett bewerb im Skikjöring. Gegen alle Männer. Text: Stefan Maiwal d Fotograf ie: G ian G i o van o l i
ie Atemwolk des Pferdes. Das Rauschen der Ski durch den Schnee. Der Fahrtwind im Gesicht, die aufwirbelnden Flocken, die Eisbrocken, die dir von den Hufen entgegenfliegen, das fordernde Vibrieren, das du in den Schultern und den Oberarmen und im Griff spürst. Der Oberkörper: stark und unter Spannung, die Schenkel dagegen: weich und federnd, reaktiv – die Ski müssen wie von allein gleiten, denn zum Denken reicht die Zeit nicht. Schon für Zuschauer ist Skikjöring faszinierend. Für Aktive ist es ein einziger Rausch. Valeria Holinger ist derzeit die beste Fahrerin der Welt. 2017 gewann die 26-Jährige das Event in St. Moritz, das als inoffizielle Weltmeisterschaft gilt. Wohlgemerkt: Sie siegte auch gegen alle männlichen Teilnehmer. «Es ist eine Kombination aus Kutschenfahren, Wasserski, Reiten und Skifahren. Aber letztlich bleibt es einzigartig», lacht Valeria Holinger. Skikjöring mag ebenso exotisch wie trendy wirken, doch der Sport hat eine lange Historie. Im Jahr 1906 trafen sich 13 wagemutige Fahrer, die sich von unberittenen, im Galopp dahinpreschenden Pferden vom Postplatz in St. Moritz nach Champfèr und zurück ziehen liessen. Die knapp zehn Kilometer absolvierte der Sieger Philip Mark in 20 Minuten und 22 Sekunden. Das macht das 111 Jahre alte Skikjöring zum Beispiel älter als die olympische Disziplin Snowboarden. Und tatsächlich war es 1928 bei Olympia in St. Moritz als Demonstrationswettbewerb im Programm. Hätten die Bündner für die Olympischen Winterspiele 2022 gestimmt, dann wären die SkikjöringTräume möglicherweise erneut wahr geworden. Valeria Holinger, die aus St. Moritz stammt, war eine begabte Skifahrerin. In der Jugend trat sie gegen Lara Gut an. «Schon damals gewann Lara alles.» Bei einem FIS-Rennen kam sie einmal auf den 27. Platz – bärenstark, aber nicht genug für eine sichere Karriere auf dauerhaft hohem Niveau. Beim Skikjöring erwies sie sich aber als ideale Athletin: Schon ihr Vater betrieb den Sport, sie selbst reitet seit der Kindheit. Skifahren kann sie obendrein, besser kann man es sich nicht wünschen. Aber sport-
liches Talent allein reicht nicht, denn Skikjöring ist ein Teamsport. Denn da ist ja noch Usbekia, fünf Jahre alt, eine bildschöne englische Vollblutstute. Das ist der Unterschied zum Skifahren: Der Speed kommt vom Zugmittel. Bei Traditionalisten ist es ein Pferd, unberitten, aber es gibt auch Skikjöring mit Hunden, berittenen Pferden, Motorrädern und Autos. Doch das wahre Skikjöring ist nur jenes, was jeden Winter in St. Moritz betrieben wird: mit Vollblutpferden und mit 60 km/h Höchstgeschwindigkeit. So schwer kann es doch nicht sein, behaupten Anfänger dennoch. «Neulinge probieren es immer mit einem Reiter, daher hat man nicht die Zügel selbst in der Hand. Sobald die hinzukommen, sind die meisten überfordert», erklärt Valeria Holinger. Auch das Tempo überrascht die meisten – wenn sie es überhaupt bis zum vollen Speed schaffen. Denn auch die körperliche Belastung ist enorm. Man hängt nicht in einem Geschirr wie etwa beim Kitesurfen: Das Pferd trägt eine normale Trense wie beim Reiten und hat einfach längere Zügel, die bis zum Fahrer reichen. Ein Tuch schützt den Oberkörper vor dem sogenannten Kickback, jenen von den Hufen aufgewirbelten Eis- und Matsch stücken. Am ungeschützten Unterkörper gibt es blaue Flecken. Obwohl Valeria sich auch im Sommer täglich fit hält, schlaucht jedes Rennen. «Beim ersten Mal verspannt man sich, weil die Bewegungen so neu sind. Nach zehn Jahren inklusive intensiver Vorbereitung denkt man, man hat sich daran gewöhnt, aber so ist es nicht. Jedes Rennen ist anders, daher habe ich immer Muskelkater!» Entscheidend ist die Körperspannung. «Es soll kein Zug entstehen. Du musst mit dem Pferd eins sein. Es sollte nicht merken, dass dahinter etwas ist.» Und wie bei der Formel eins ist ein guter Beginn viel wert: «Vor allem beim Start ist es das Allerwichtigste, eine volle Körperspannung zu haben, sonst kann einem das Geschirr aus den Händen gerissen werden.» Die Positionskämpfe bis zur ersten Kurve sind meist vorentscheidend. Weil Skikjöring so anspruchsvoll ist, müssen Teilnehmer eine Prüfung ablegen. Erste Hürde: das skifahrerische Können, das annähernd professionell
BIANCO
WINTER 2017/18
25
SkikjĂśring ist ein Teamsport. Reiter und Pferd mĂźssen sich nahezu blind verstehen. Und auch in heiklen Situationen die Ruhe bewahren.
26
SKIKJÖRING VA L E R I A H O L I N G E R
Valeria Holinger ist eine begnadete Skifahrerin – eine wichtige Voraussetzung für diesen Sport. Niemand darf beim Rennen an die Ski denken, dafür ist die Zeit zu knapp.
sein sollte. «Du darfst dich beim Rennen nicht auf die Ski konzentrieren», sagt Valeria Holinger. Zweite Hürde: Du musst das Pferd voll unter Kontrolle haben. Das ist das Erfolgsgeheimnis: Du musst dem Pferd deinen Willen zeigen. Subtil, aber entschlossen. Sonst hast du keine Chance. Und: Das Ganze muss von sechs Metern hinter dem Pferd erfolgen. Das stellt selbst erfahrene Reiter vor Probleme. Bei der Prüfung vor dem Rennen geht es vom Schritt in den Trab und in den Galopp, dann muss ein Slalomparcours absolviert werden. Hat der Fahrer das Pferd im Griff oder nicht? Hält es auf Befehl sofort an? Jedes Jahr im Februar gibt es drei Rennsonntage, bei denen auf dem zugefrorenen St. Moritzer See vor 35000
passiert, aber mein Pferd hat sich leider verletzt.» Das Rennen 1965 ging in die Skikjöring-Geschichte ein, weil es in einem allgemeinen Chaos von scheuenden Pferden und sich verheddernden Zügeln kein einziger Fahrer bis ins Ziel schaffte. Aber dann gibt es eben auch Momente wie jenen strahlenden Februarsonntag 2017: «Wenn man in Führung liegt und einem Sieg entgegenfährt, vor einem tobenden Publikum – das war definitiv der schönste Moment meiner Karriere.» Keine Frage: Skikjöring ist ein Sport, ein Spektakel, ein gesellschaftliches Ereignis, ein fotogenes Happening. Aber vor allem ist es eine Passion.
»Du musst mit dem Pferd eins sein. Es sollte nicht merken, dass dahinter etwas ist»
R ENNTE RMINE 20 18 4., 11. und 18. Februar Weitere Informationen: www.whiteturf.ch
DAS K MAC H T DE N U NTE RSCH IE D Auch wenn der Duden und Wikipedia die Schreibweise «Skijöring» empfehlen: Traditionalisten, Athleten und die Veranstalter in St. Moritz bestehen auf dem skandinavischen «Skikjöring» – um zu zeigen, dass es sich hier um die ursprüngliche, wahre Ausprägung des Sports handelt und nicht um die Spassevents mit Autos oder berittenen Pferden.
Zuschauern ein 1300 Meter langes Oval zweimal umfahren wird. Fliehkräfte entstehen dabei keine, weil die Kurven einen grossen Radius haben, doch die Geschwindigkeit ist atemberaubend hoch. «Bei jedem Rennen muss man topfit sein, sich 100 Prozent konzentrieren und sich genau bewusst sein, was man tut.» Denn Skikjöring kennt auch brenzlige Momente, und Fehler führen zu Unfällen. «Sobald man nur noch ans Siegen denkt oder kopflos fährt, entstehen gefährliche Situationen», sagt Valeria Holinger, die hauptberuflich in Zürich bei der Sportfirma Head arbeitet. «Es besteht das Risiko, dass man andere Fahrer über den Haufen fährt oder einem selbst ein anderes Pferd auf den Ski steht.» Dann kann es sogar lebensgefährlich werden. «Wenn man stürzt, muss man warten, bis alle vorbei sind. Es kann sein, dass man von den Hufen getroffen wird, aber ein Pferd tritt grundsätzlich auf nichts, was am Boden liegt.» Auch Valeria wurde schon einmal umgefahren. «Mir selbst ist nichts
ENGLISH SUMMARY
SK IKJOR ING Skikjoring may seem as exotic as it is trendy, but the sport has a long history. In 1906, thirteen daredevil skiers met up in the Engadine and let themselves be dragged by galloping horses – from the post office in St. Moritz to Champfèr and back. The winner, Philip Mark, completed the distance in 20 minutes and 22 seconds. 111 years later, a woman is the best rider in the world – Valeria Holinger. The 26-year-old from St. Moritz won the 2017 competition in her home town, considered to be the unofficial World Cup. «It’s a combination of carriage riding, water skiing, horseback riding and skiing. But in the end it remains unique.»
BIANCO
WINTER 2017/18
28
FOTOGRAFIE FA S Z I N AT I O N U N I V E R S U M
HINTERM HORIZON
MIT DEM PROJEKT «COSMIC ART PHOTOGRAPHY» WOLLEN DIE BRÜDER SANDRO UND MARKUS CASUTT DER HEKTISCHEN WELT DIE UNENDLICHE WEITE UND RUHE DES KOSMOS NÄHERBRINGEN. DER BLICK IN DIE STERNE WECKT ZEITLOSE FRAGEN UND SEHNSÜCHTE IM MENSCHEN. WER SIND WIR? WOHER KOMMEN WIR? WOHIN GEHEN WIR? WAS IST DAS UNIVERSUM?
BIANCO
WINTER 2017/18
29
T GEHT’S WEITER
VALSERTAL MIT DEM DORF VALS UND DER MILCHSTRASSE Ein 180°-Panorama, aufgenommen oberhalb von Leis im April 2017
PANORAMA, MILCHSTRASSE, FRÜHLING 2014
Te x t : Da r i o C a nt o ni Fo t o g ra f i e : S a nd r o u nd Ma rku s C a s u tt
30
FOTOGRAFIE FA S Z I N AT I O N U N I V E R S U M
GÜFER MIT GÜFER-GLETSCHER Startrail (Sternspur), Mehrfachbelichtung, die Erdrotation sichtbar machend. 2014
BIANCO
WINTER 2017/18
31
S AT E LT I KO P F - G R A D DarĂźber Plejaden (offener Sternenhaufen), Aufnahme im Telebereich
32
FOTOGRAFIE FA S Z I N AT I O N U N I V E R S U M
BIANCO 
WINTER 2017/18
33
DACHBERG Mit Nordstern – «Polaris» – Startrail (Sternspur). Ausgerichtet nach Polaris zeichnen die Sterne aufgrund der Erdrotation Kreise im Bild
34
FOTOGRAFIE FA S Z I N AT I O N U N I V E R S U M
C OSM IC A RT PHOTOGR A PHY
D
er Kosmos ist viel mehr als diese unendliche Weite da draussen. Der Mensch stammt vom Kosmos und sehnt sich gleichermassen danach, mit ihm eins zu werden. Schon unsere Vorfahren aus der Steinzeit schauten zum Himmel und versuchten zu verstehen, was sie dort sahen. Die Blickrichtung nach oben ins Licht hat etwas tief Menschliches. Bereits die Jäger und Sammler richteten ihre Bauwerke nach den Sternen aus, die prä-antiken Hochkulturen machten daraus einen regelrechten Kult. Die Griechen begannen die Ereignisse am Himmel zu interpretieren. Das Christentum schuf das Symbol des Sterns von Bethlehem als Zeichen der Hoffnung. Die meisten Religionen sind Lichtreligionen. Die Erlösung ist hell und weiss. Das Laken Christi. Das Gewand der Engel. Der Mensch wandert von der Dunkelheit ins göttliche Licht. Licht ist Leben, Sehnsucht, Erwartung. Im Mittelalter entdeckte Galileo Galilei die Gesetze der Himmelsmechanik. Einige Jahrhunderte später entschlüsselte Hubble die Geheimnisse der schwarzen Löcher und Albert Einstein die Gesetze der Relativität. In fernes Licht zu schauen, hat immer auch einen geistigen und spirituellen Wert der Erkenntnis – erzeugt Demut und kosmische Ehrfurcht. Die dunkle Tiefe des Himmels schafft einen perspektivischen Kontrast. Man fühlt sich gleichzeitig klein und doch erhaben ab all dieser Schönheit. Wenn wir heute in den nächtlichen Himmel schauen, entdecken wir oft nichts mehr von dieser Schönheit. Die vertikale Sicht ist versperrt. Wird von der hell erleuchteten Zivilisationsgesellschaft geschluckt. Dafür hat sich der Begriff Lichtverschmutzung durchgesetzt. Diese wird in Lux oder Lumen gemessen. Damit wird die Anzahl Photonen bezeichnet, die pro Sekunde auf unsere Augen trifft. Die Venus, die am Morgen und am Abend am Himmel erscheint, hat beispielsweise eine Lux-Zahl von 0,0001. Der Vollmond bringt es am Nachthimmel auf 0,1 bis 0,3 Lux. Dies ist der maximale Wert, der seit
In ihren kosmischen Bilder fangen die Brüder Sandro und Markus Casutt die Schönheit der Alpen und des sich darüber ersteckenden Universums ein. Sandro Casutt (*1983) führt in Vals erfolgreich ein Tattoo-Studio, Bruder Markus (*1984) hat Kunst studiert und arbeitet als Fotograf und Videoproduzent. Die Leidenschaft für den Kosmos verbindet sie. Ihr Wissen geben sie an Fotokursen weiter. Die Bilder können als Posters oder Fine Art Prints gekauft werden. www.cosmicartphotography.com
der Entstehung der Erde in der Nacht auf alle Organismen wirkte. Zum Vergleich: Ein beleuchtetes Einkaufszentrum produziert 10 bis 20 Lux, ein Flughafen 100 Lux in einem halben Kilometer Entfernung. Wir sind geblendet von der Helligkeit unserer Zivilisation, von den Strassen, den Autos, Bildschirmen und Leuchtreklamen. Wir vermissen die Dunkelheit. Uns fehlt der Schlaf. Die Ruhe. Der Traum. Die Sicht auf die Sterne. Die wahre Sicht auf uns selbst. Hätte man vor 50 Jahren von der Umlaufbahn des Planeten Jupiter aus auf die Erde geschaut, hätte man kaum ein Zeichen menschlicher Existenz entdeckt. Heute ist das anders. Leuchtende Bänder und Flecken durchziehen die Kontinente und wachsen zu einem riesigen Leuchtteppich zusammen. Seit den 1960er Jah-
ENGLISH SUMMARY
C OSM IC IM AGES The Alps are one of the few areas with little light pollution left on our Earth. Brothers Sandro and Markus Casutt capture the beauty of the Alps and the universe above it in their cosmic images. Sandro Casutt (* 1983) owns a tattoo studio in Vals, his brother Markus (* 1984) works as a photographer and video producer. They share their knowledge in astrophotography workshops. Their pictures can be purchased as posters or fine art prints. www.cosmicartphotography.com
ren hat sich die Lumen-Zahl, die in den Kosmos strahlt, in etwa jedem Jahrzehnt verdoppelt. Ein Grund ist die zunehmende Verstädterung. Immer mehr Menschen ziehen von entlegenen Regionen in die grossen Städte und urbanen Zentren. Allein in China sind in den letzten 20 Jahren über 50 Millionenmetropolen entstanden. Chongqing, die bevölkerungsreichste Stadt Chinas, wird mit 25 Millionen Einwohnern demnächst Tokio als weltgrösstes Ballungsgebiet übertreffen. Die wachsende Weltbevölkerung ist ein weiterer Grund. Statt 4 Milliarden im Jahre 1965 leben heute über 7 Milliarden Menschen auf der Erde. Mehr Menschen heisst automatisch mehr Licht. Und dieses ist nun auch in den Schwellenländern angekommen. Mit dem Anschluss an die Weltwirtschaft erreicht die Elektrifizierung inzwischen auch abgelegene Regionen der Erde. Städte leuchten auch in Mosambik oder in der Mongolei. Effizientere Technologie sorgt für die zusätzliche Verbreitung der Leuchtmittel. Jeden Tag werden Milliarden davon verkauft. Im Gegensatz zur guten alten Glühbirne ist das neue Licht energiesparend, kostengünstig, innovativ, adaptiv und überall verfügbar. Es gibt nur noch wenige Gebiete mit geringer Lichtverschmutzung auf dem Globus. Neben den grossen Wüsten in Afrika, auf der Arabischen Halbinsel, in Australien und Südamerika gehören auch die Alpen dazu. Hier ist der Blick in die Sterne noch möglich und kosmisches Sehen kann hautnah erlebt werden. Im Bündner Bergdorf Vals haben sich Sandro und Markus Casutt ganz der Sternenfotografie verschrieben und machen in ihren sensationellen Bildern die Faszination des Weltraums auch für lichtkranke Städter erlebbar. Auf ihren nächtlichen Streifzügen fangen sie zum Beispiel die Schönheit des Andromedanebels ein – mit 10 Millionen Lichtjahren Durchmesser die grösste Galaxie der Milchstrasse und zugleich die uns am nächsten befindliche. Entfernung von der Erde: 2,5 Millionen Lichtjahre. Darunter breitet sich die imposante Bergwelt der Alpen aus.
BIANCO
WINTER 2017/18
35
FRUNTHEINZEN STALL
LEIS OBERHALB VON VALS Mit Sternbild Orion und Orionnebel. Von Vals aus abgelichtet, im Januar 2017.
36
KÜNSTLER JOHN SPRINGS
John Springs, Zigarrenraucher, zeichnet vor allem bissige Porträts von Zeitgenossen. Nun hat er Engadiner Landschaften gemalt, die diesen Winter in St. Moritz ausgestellt sind.
BIANCO
WINTER 2017/18
JOHN SPRINGS IST EINER VON LONDONS BISSIGSTEN POLITKARIKATURISTEN UND MALER, ABER KENNT ST. MORITZ WIE SEINE WESTENTASCHE. WENN ER NICHT MALT, FÄHRT ER CRESTA. ALS «ARTIST IN RESIDENCE» DER STALL A MADUL AIN UND DES HOTELS KULM LIESS ER SICH FÜR EINE NEUE BILDSERIE VON ST. MORITZ INSPIRIEREN.
Tex t : B r i g i tt e Ul m e r Fo t o g ra f i e : B e l i nd a Wi l s o n
«Blau ist doch nicht einfach blau!»
37
38
KÜNSTLER JOHN SPRINGS
BIANCO
WINTER 2017/18
John Springs beim Heuen in Madulain. Gewöhnlich schnuppert er die Luft seines Studios in Kensington. Oder die des Chelsea Arts Club. Engadiner Bilder aus dem Jahr 2017.
Wie bitte? Heuen? In Madulain? Seine Freunde vom Chelsea Arts Club in London kennen John Springs und seinen Hang zu exzentrischen Hobbys. Aber über diese Vorstellung müssen selbst sie grinsen. John mit der Heugabel in den Händen? Und wo bitte liegt Madulain? Es ist Freitagabend. Springs, einer von Londons bissigsten Politkarikaturisten – er seziert regelmässig die Gesichter von Angela Merkel und Donald Trump im «Spectator» und in der «New York Book Review» – steht an der Bar und erzählt von heissen Augusttagen im «Engadine Valley» während seiner «artist’s residency». An einem heissen Sonnentag ging er mit seinem Freund Gian Appenzeller, dem Initiator der Stalla Madulain, und dessen Grossvater und Grossonkel doch tatsächlich das Heu einholen. «Der Geruch war herrlich», schwärmt er. «Und die Landschaft ringsum…!» Eine Jazzband bestehend aus älteren bärtigen Musikern spielt, der Club, in einem Georgian House an einer Seitenstrasse der King’s Road als Treffpunkt der Kreativen und Künstler 1891 gegründet und in Fussdistanz von Francis Bacons ehemaligem Atelier, ist Springs Wohnzimmer. Wie ihm denn sein erster Engadiner Besuch gefallen habe, fragt man ihn am nächsten Tag in seinem Atelier. Doch da gibt es ein kleines Missverständnis. Springs kommt nämlich jeden Winter nach St. Moritz. Seit Jahren. Er ist Cresta-Club-Mitglied, was eigentlich alles sagt. Die Liebe zur Geschwindigkeit. Der Zwang zum Risiko. Das Engadin, vor al-
lem auch der Anblick von Eis aus der Mikroperspektive, sind ihm wohlvertraut. Er spielt auch Cricket und ist somit ein Vertreter jener halb-verrückten britischen Bande, deren Vorläufer 1884 den St Moritz Tobogganing Club gegründet haben. Jedes Kind weiss um die intensive Beziehung der Engländer zum Oberengadin und darum, dass das Hochtal mit Skisport, Cresta und Curling eine neue Daseinsberechtigung gefunden hat. Springs selber stürzt sich seit zehn Jahren Winter für Winter bäuchlings und kopfvoran den Eiskanal hinunter. «Eigentlich ist es ja ein Selbstverletzungsclub», sagt Springs und fixiert uns, ohne mit der Wimper zu zucken, über seine Brillengläser hinweg. (Seine Rippen und eine Schulter konnten bereits die Schweizer Sportmedizin testen.) John Springs kennt aber auch die Engadiner Landschaft von Kindheitsbeinen an. Sein Vater, ein Garagenbesitzer aus Yorkshire mit lettischen Wurzeln, brachte es mit seinem Auto- und Immobilienhandel so weit zu Wohlstand, dass er seinen Sohn nicht nur auf die Moorlands School in Leeds, eine Privatschule, schicken (ein britisches Revolverblatt würde hier die sündhaft teuren Schulgebühren nennen), sondern auch seine ganze Familie jedes Jahr im Winter für vier Wochen in die Alpen verfrachten konnte. Little John stand als 4-Jähriger erstmals auf den Skiern von Kitzbühel. Als 10-Jähriger wechselte man auf die Skipisten von St. Moritz. Heutzutage sieht man ihn, wenn er nicht gerade kopfvoran den Eistunnel herunterflitzt, zwischen dem Kulm-Hotel und dem Cresta Run promenieren und weniger skilaufen. Man erkennt ihn an den Knickerbockers und den farbiggestreiften Kniestrümpfen. Diesen Winter dürfte er allerdings noch etwas sesshafter werden. Denn dann präsentiert er im Kulm-Hotel seine Bilder, zu denen ihn seine «artist’s residency» im August inspiriert hat. Die Einladung wurde durch Gian Appenzeller initiiert, den Künstler und Galeristen, der den Kunstort Stalla Madulain nun im dritten Jahr betreibt (mit seinem Cousin, dem Architekten Chasper Schmidlin, der für eine polnische Mäzenin das Muzeum Susch im Unterengadin baute). Springs streckt mir sein iPhone unter die Nase und wischt mit seinem Finger über Fotos von Lichtstrahlen, die durch die Holzlatten des Engadiner Stalles einfallen, von Strohballen, aus denen Gänseblümchen lugen, von sagenhaft schönen Engadiner Ansichten. An «normalen» Tagen sitzt der Mann, der am Park Lane College in Leeds Kunst und Drama studierte und seither als Karikaturist und Maler wirkt, stundenlang unbeweglich und konzentriert vor einem Skizzenblock oder mischt geduldig Ölfarben für seine Gemälde. Aber er liebt halt die Geschwindigkeit (drum steht wohl
39
40
KÜNSTLER JOHN SPRINGS
www.johnsprings.com JOHN SPRINGS IM KULM-HOTEL Ab Weihnachten 2017 werden Springs Werke an ver schiedenen Orten im «Kulm», aber vor allem in und um die Altitude Bar gezeigt. Über die ganze Saison.
ENGLISH SUMMARY
CA RTOONIST A ND PAIN T ER At the initiative of Stalla Madulain, illustrious British cartoonist and painter John Springs lets himself be inspired by the Engadine as the «Artist in Residence» at the Kulm Hotel in late summer. The outcome of his stay is exhibited at the hotel during the winter season. Springs’ relationship with the Engadine goes all the way back to his childhood. He is still a regular guest in St. Moritz and nowadays also an active member of the St Moritz Tobogganing Club. Springs has been plunging down the ice channel for ten years now, headfirst, winter after winter. «It’s a great opportunity for self-injury.»
auch ein Oldtimer in seiner Garage, ein Ferrari, Baujahr 1982). Und drum reden wir zunächst noch ein bisschen übers Skifahren und Autorennen, bevor wir auf Segantini zu sprechen kommen. In seinem Atelier steht man in einem leicht zum Chaos neigenden Maler-Biotop. Kataloge von Dürer (ein Idol) und Lucian Freud stapeln sich. Zeichnungen liegen verstreut auf dem Tisch, die Wände sind vollbehängt mit Bildern (selbst gemalt) und Hirschgeweihen (selbst geschossen, in Schottland). Sie zeigen meist urbane Landschaften, die Architektur amerikanischer Städte, in verrückten Farben, zu fast abstrakten Gemälden komponiert. Er benutzt nur die handgefertigten, mit kaltgepresstem Leinöl gebundenen Ölfarben der Marke Michael Harding. Jeder Pinselstrich unterscheide sich minimst vom vorhergehenden in der Farbe. Wenn Springs über Malerei spricht, verwendet er gern das Vokabular aus dem Sport. «Auf der Palette liegt das Risiko. Hier gewinne oder verliere ich», sagt er. Die Palette ist also sein Boxring, sie steht drüben auf dem Tisch, zusammen mit einem kunterbunten Durcheinander von Maltuben. Die Palette, insistiert er, sei das Nervenzentrum seiner Arbeit, denn mit dem Mischen der Farben wende er weit mehr Zeit auf als für das eigentliche Malen. An der Wand angelehnt steht das Opus magnum, das seinen Umgang mit Farbe aufs schönste dokumentiert und ausserdem mit Politkarikatur und Malerei seine zwei künstlerischen Terrains verbindet. Politgestalten tummeln sich mit grünen Käfern und rosa Schweinen; Theresa May mit dicken Tränensäcken schwenkt die britische Flagge, von David Cameron sieht man einen rosig-nackten Hintern, Putin hängt am Kreuz, Fische verschlucken einander gegenseitig, und irgendwo weht noch eine EU-Flagge. Hieronymus Bosch wäre beeindruckt. Der Mann hat zweifellos Einsicht in die Weltläufte. Was aber wird er aus dem Engadin und aus St. Moritz, der vielfotografierten Alpenstadt, machen? Legt er auch die Seele dieser Gegend frei? Was wird er mit dem berühmten stahlb-
lauen Engadiner Himmel, den weiss verschneiten Hänge der Corviglia anfangen? «Blau?», japst er. «Blau ist nicht einfach blau. Darunter ist der Himmel rot oder orange!» Die Engadiner Landschaft und der Himmel veränderten sich andauernd und in rasender Folge, führt er fort. «Hinter dem, was uns als blau erscheint, verstecken sich viele verschiedene Farbschichten.» Die Farbschichten seien es, die diese Intensität hervorbringen. Weiss sei darum auch nie einfach weiss. «Die Bergwelt ist nicht nur hehr und prachtvoll. Sie ist auch erschreckend! Sie birgt auch tödliche Gefahr!» Mit seiner Malerei im Engadin wolle er hervorbringen, was sich hinter dem Offensichtlichen verberge. Dazu gehöre aber eben nicht einfach die Natur, sondern auch die urbanen Verbauungen. Das Alpen-Monaco. Und überhaupt, worauf er abziele, sei Intensität. Er erzählt, er sei im Segantini-Museum gewesen, um die alpinen Welten und den Umgang mit Farbe zu studieren, und er ist mit den monumentalen Schneegemälden des österreichischen Malers Alfons Walde von Kindesbeinen an vertraut. Der brachte die Hügelketten Kitzbühels zum Tanzen und bannte Farben und Lichtwerte auf Leinwand. Aber auch gut möglich, dass man am Ende von Springs Engadin-Aufenthalt von all dem wenig sieht und mehr von der Architektur des Hochtals. Er wolle hinter das Offensichtliche leuchten, hat er ja angekündigt. Er suche nach dem Neuen, nicht nach dem Bekannten. Es ist inzwischen nicht mehr so klar, ob wir über die wahre Natur oder die wahre Natur der Malerei sprechen, und das mag auch am Rosé-Champagner liegen, den er inzwischen ausgeschenkt hat. Aber vielleicht ist das auch nicht so wichtig. Seine Freunde warten wieder auf ihn im Chelsea Arts Club, fünf Minuten von seinem Studio entfernt. In St. Moritz wird es dann vermutlich nicht viel anders zugehen. Dann pendelt er zwischen Zeichenblock, dem Cresta Run und der «Sunny Bar» im Kulm-Hotel. Sie ist das Epizentrum des St Moritz Tobogganjng Club und natürlich sein Stammlokal.
Spitzer Stift: Anna Wintour, Barack Obama und Hillary Clinton von John Springs. Seine Politkarikaturen werden regelmässig in der «New York Book Review» und im «Spectator» publiziert.
BIANCO
WINTER 2017/18
THE ORIGINAL IN WINTER TOURISM SINCE 1864
www.engadin.stmoritz.ch www.stmoritz.ch
42
BÜNDNER BERG-REFUGIUM B O D E N S TÄ N D I G U N D E X T R AVA G A N T
«Wie eine frisch gemähte Wiese»: Die Holzverkleidung aus den sechziger Jahren in der Bibliothek wurde mit grosszügigen Streifen in zwei Grüntönen übermalt, der alte Holzboden freigelegt.
BIANCO
WINTER 2017/18
43
EINST BAUERNHAUS, DANN CAFÉ, JETZT CHALET VOLLER CHARME Text: B rigitte U l m er Fo t o graf ie: G ian M arco C a s t e l b e rg
IM BÜNDNER DORF TSCHIERTSCHEN VERWANDELTE DAS BRITISCHE ARCHITEKTURBÜRO CARUSO ST JOHN FÜR EIN KUNSTLIEBENDES PAAR AUS ZÜRICH EINEN TRADITIONELLEN WALSER STRICKBAU IN EINE ZEITGENÖSSISCHE SURREALE WOHNSKULPTUR. MIT ILLUSIONISTISCHEN GESTALTUNGSIDEEN MIT DER WIRKUNG VON ZAUBERTRICKS.
44
BÜNDNER BERG-REFUGIUM B O D E N S TÄ N D I G U N D E X T R AVA G A N T
ir befinden uns an einem Ort, wo sich «Cécile’s Haarstübli» und «Alpenhirt» (das örtliche Feinkostgeschäft) artig mit Holzchalets zu einem kompakten Dorfbild verbrüdern, auf der südlichen Seite des Schanfigg, zwischen dem Flusslauf Plessur und den Weisshorngipfeln. Hier erstreckt sich ein 320-Seelen-Dorf mit einem Namen, von dem man nicht genau weiss, wie ein Engländer ihn aussprechen würde, geschweige denn ein Malaysier wie jener Investor, der hier das historische Hotel «Alpina» als «Mountain Resort & Spa» wiederbelebt hat. In Tschiertschen also. In einem Bilderbuchdorf, in dem, architektonisch gesehen, der Kalender irgendwann zwischen dem 17. und den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts stehen geblieben ist. Wäre da nicht dieses Chalet im Enderdorf 47, eigentlich auch ein traditioneller Walser Strickbau aus dem Jahr 1869 und dorfbekannt, denn bis vor wenigen Jahren war es der Sitz des Café Engi etwa. Die Rhombenmuster an der Fassade aber, wirken sie nicht eigenartig? Blickt man dann seitlich durch die Fenster, sieht man, dass sich im dem Tal zugewandten Teil dieselben Rhomben fortsetzen, aber im XL-Format! Freimaurertempel? Alpen-Lounge? Oder, wie es einem Hiesigen bei der Eröffnung entfuhr (es kamen 200 Leute, die Hälfte vom Dorf ), ein Bordell? Im Winter werden die Schneespuren jedenfalls nicht nur von Rehen sein. «Wenn wir am Wochenende kommen, sehen wir immer wieder Fingerspuren und Nasenabdrucke an den Scheiben», erzählt Stéphane Lombardi belustigt. Wir sitzen drinnen im langgezogenen Saal auf alten, in petrolblau angemalten Horgen-Glarus-Stühlen. Die Besitzer des Hauses, Armin Zink, Lungenarzt am Triemlispital, und sein Partner Stéphane Lombardi, Ökonom, beide aus Zürich und Liebhaber von Gegenwartskunst und Musik, blicken uns erwartungsvoll an. Die Blicke schweifen durch die doppelte Raumhöhe (4,5 Meter!), über den Flügel zu den mit Riesenrhomben (braunrot mit Graphitpulver angereichert) bemalten Wänden. Sie ziehen sich doppelreihig vom sattroten Fussboden aus Epoxidharz bis über die Decke, von der drei riesige, für
den Raum speziell gefertigte rote Murano-Leuchter aus mundgeblasenem Glas hängen. Die Rhomben, die grosszügige Panoramafenster einrahmen und die kleinen Fenster im oberen Stock praktisch zum Verschwinden bringen, vermitteln ein delirisches Gefühl. Die Aussicht: Natur pur. Gottlob, man kann sich wieder verorten! Wir befinden uns im ehemaligen Café-Raum, in einem Anbau der 50er Jahre. Er wirkt jetzt wie eine urban anmutende Lounge. Kein Alpine Chic also. «Hirschgeweihe, Tierfelle, Cheminée – das wäre uns zu konventionell gewesen», winkt Armin Zink ab. Hier schliesst sich Walser Strickbau mit avantgardistischem Gegenwartsdesign kurz, ein behagliches Ferienrefugium mit einer Veranstaltungsbühne von urban-burleskem Charme, Bodenständigkeit mit Extravaganz. Das Haus «Aux Losanges» (französisch für Rhomben), 260 Quadratmeter Wohnfläche auf drei Geschossen, fünf Schlafzimmer, ist ein Resultat aus Zufall, Experimentierfreudigkeit und Kompromisslosigkeit – und behördlichen Auflagen im Rahmen der Zweitwohnungsbaubeschränkungen. Denn um letzteren zu entsprechen, wurde das Haus von Beginn weg als halböffentlicher Veranstaltungsort konzipiert. Als sich herausstellte, dass die Öffnung für die Baubewilligung gar nicht nötig war, gefiel den Bauherren die Idee des Kunstsalons aber so gut, dass sie daran festhielten. Künftig öffnen sie ihr Haus für Konzerte und Ausstellungen. Armin Zink kennt Tschiertschen von Kindesbeinen an, er fuhr hier noch den gefürchteten, steilen Schlepplift, zum Abschluss der Sportferien gab es im «Café Engi» eine Glace. Als sich das Paar nach einem Zweitdomizil umschaute, kam Zink zu Ohren, dass das alte Café Engi schon länger einen Käufer suchte. Der Kauf war im November 2015 beschlossene Sache, und durch Zufall geriet das Paar über einen Bekannten an das britische Architekturbüro Caruso St John. Caruso St John sind in ihrer Heimat für den Innenausbau von Kunsttempeln bekannt, für Damien Hirsts Privatmuseum, die Tate Britain und die Galerien des Kunsthändlertycoons Larry Gagosian etwa; das Büro Zürich widmet sich Grossprojekten wie der Europaallee oder dem ZSC-Stadion. Chalets waren bis dahin nicht gerade ihre Spezialität. Als der Zürcher Büroleiter Michael Schneider – er arbeitete, wie man spürt,
Reduktion und Behaglichkeit im Schlafzimmer: Betten und Nachttischchen entwarf Caruso St John. Das Schaukelpferd stammt aus der Kindheit des Besitzers.
Rhombenmuster bis unter die Decke: Der Flügel wartet auf Schuberts «Winterreise», mundgeblasene Murano-Leuchter und der rote Epoxidharzboden verleihen dem Panoramaraum des ehemaligen Café Engi einen festlich-burlesken Auftritt.
BIANCO
WINTER 2017/18
45
46
BÜNDNER BERG-REFUGIUM B O D E N S TÄ N D I G U N D E X T R AVA G A N T
Illusionistischer Effekt im Badezimmer: Eine Spiegelwand steht da, wo einst die Strickwand war, und spiegelt Vergangenheit. Das Esszimmer ist auch Musiksaal und wartet auf das nächste Konzert. Das Zebramuster des Alvar-Aalto-Sessels nimmt es mit dem verwegenen Rhombenornament von Caruso St John auf.
Das sind die leicht kunstverrückten Bauherren, die das ästhetische Risiko nicht scheuen: Armin Zink (sitzend) und Stéphane Lombardi. In Tschiertschen öffnen sie ihr Chalet für Konzerte und Kunstvernissagen. In Zürich wirken sie als Arzt und Ökonom und wohnen bürgerlich in einer renovierten Altbauwohnung.
länger in London – zur Erstbesichtigung nach Tschiertschen kam, traf er im Parterre auf ein Konglomerat von Umbauten der 40er bis 60er Jahre, auf Stahlstützen und Betoneinbauten. Der Strick war ausser im ersten Stock fast ganz herausgerissen worden, und in den oberen Stockwerken breiteten sich ästhetisch herausfordernde 70er-Jahre-Holzverkleidungen im Saunastil aus. All das, so wurde schnell klar, verlangte nach einer radikalen Remedur. Im Nachhinein scheint es fast, als hätte der Architekt Carte blanche gehabt. Dabei trafen sie sich fast wöchentlich zu einer Sitzung. Er sitzt jetzt in seinem Architekturbüro in der Zürcher Binz und erzählt von einem eineinhalbjährigen Experiment, sehr toleranten Bauherren und seinem Problem: Das Haus war über die Jahrzehnte zum Stückwerk verkommen. Eine gesamthafte Zurückführung ins Original war nicht möglich. Führte man nun alles zusammen? Oder sollte man die Differenzen herausarbeiten? Noch eine kleine Schwierigkeit: Das Budget war limitiert. «Er sagte uns, er schliesse nicht aus, dass Metallverstrebungen violett sein würden», erzählt Armin Zink. Sie bekamen es dann zeitweise doch mit ein bisschen Angst zu tun, aber sie liessen sich auch – ästhetisch geeicht durch ihr Interesse für zeitgenössische Kunst – gern herausfordern. «Uns interessierte das zugrunde liegende Konzept, nicht die Oberfläche», sagt Stéphane Lombardi. « Die Logik in der Gestaltung.» Es gab kein einschränkendes Briefing, nur eben, dass das Haus auch Veranstaltungsort sein sollte. Die Entwicklung folgte einer Mischung aus klarer Konzeption, rollender Planung und Spontanentscheiden. Zunächst hörte Schneider in das Haus hinein, vielleicht so wie ein Arzt mit dem Stethoskop. Ihm dämmerte bald, dass man die drei Geschosse unabhängig voneinander behandeln musste. «Es war», sagt er, «ein Befreiungsschlag.» Das Erdgeschoss beherbergt nun, je nach Anlass, Veranstaltungsort oder Esszimmer, aber auch, nebst der Küche (handgefertige Kacheln aus Spanien), ein Wohnzimmer (Möbel von Le Corbusier, Alvar Aalto und Serge Mouille) und ein Kunstkabinett (mit einem bemalten antiken Bauernschrank). Die Bauherren wollten die zwei Räume zueinander öffnen, doch Schneider akzeptierte nur eine Sichtverbindung. Die zwei Räume wurden wieder
BIANCO
WINTER 2017/18
47
48
BÜNDNER BERG-REFUGIUM B O D E N S TÄ N D I G U N D E X T R AVA G A N T
BIANCO
WINTER 2017/18
49
Funktionaler Minimalismus: Die Garderobe ist zugleich grosszügiger Korridor für Skischuhe und Wanderstiefel und wirkt wie eine Kunstinstallation (linke Seite). Duftendes, hundertjähriges Fichtenholz im Schlafzimmer steht im Kontrast zu den neuesten minimalistischen Möbelentwürfen von Caruso St John. Schlaftrakt und Korridor im ersten Stock sind aus freigelegtem originalem Strick und im traditionellen Kammersystem angeordnet. Die Holztreppe mit dem grüngemalten Geländer führt in den zweiten Stock.
getrennt wie einst, aber mit einer wandlangen Glasvitrine und Spiegeln, die die nicht mehr existente Strickmauer «imitieren». Der klassische Strickbaugrundriss wird somit gewahrt, die Geschichte des Hauses respektiert. In der gläsernen Vitrine wird das Künstlerpaar Huber & Huber eine Installation mit Kolibris einrichten. Von ihnen hängt eine geschwärzte Zeitung im Holzrahmen am Haken, als wär’s noch immer das Café Engi. Sie mahnt an das «Exxon-Valdez»-Tankerunglück von 1989. Vieles erscheint hier als Echokammer der Vergangenheit. Die Schlafzimmer im ersten Stock – hier wurde der alte Strickbau freigelegt – beliess man im traditionellen Kammersystem inklusive der alten Risse und Schrammen. Wo es Lücken gab, trat die renommierte Malerwerkstatt Fontana & Fontana aus Rapperswil mit Trompe-l’eouil-Malerei in Aktion. Fehlendes Holz wurde aufgemalt, dessen Maserung echter aussieht als die echte Fichte, eine Badezimmertür wurde inwändig mit demselben sonnengelben Kachelmuster bemalt wie die spanische Keramik, die Silhouetten des Treppengeländers aus Holz im Erdgeschoss wurden im ersten Stock malerisch «kopiert» und auf den Verputz an der Stelle, wo einst ein Ofentürchen war, ein täuschend echtes Ofentürchen aufgemalt. «Wie haben Problemzonen buchstäblich übermalt», sagt Schneider und grinst.
50
BÜNDNER BERG-REFUGIUM B O D E N S TÄ N D I G U N D E X T R AVA G A N T
V E R A N STA LTU N G E N O D E R V E R M I E TU N G : Im zweiten Stock wurde das problematische Täfer der 60er Jahre radikal mit grünen Streifen übermalt, was die Räume zu einer Gesamtheit zusammenfasst. «Für mich sieht es aus wie eine frisch gemähte Wiese», sagt Armin Zink. Im Badezimmer wurde der fehlende Strick durch eine Spiegelwand ersetzt. Eigentlich ein Zaubertrick, denn die Spiegelung einer Strickwand gaukelt nun vor, die Zwischenwand sei noch intakt. Illusion und bodenständige Wirklichkeit verbinden sich auf Schritt und Tritt. «Gewöhnlich geht man von einem Gesamtbild aus und beginnt, von Raum zu Raum herunterzudividieren», meint Schneider. «Hier verlief der Prozess genau umgekehrt.» Mit dem Resultat, dass man beim Rundgang verschiedene Realitäten durchschreitet. Das stimuliert die Sinne, es ist, als bewege man sich durch eine Wundertüte. Kunst von jungen Schweizern, aber auch von Anker, Hodler und Augusto Giacometti, hängt in den Räumen und Gängen, Möbel der klassischen Moderne wurden gewählt, Teppiche aus Iran – all das fügt sich erstaunlicherweise zu einem stimulierenden Ganzen. So stimulierend, dass sich der Architekt Peter St John, aus London zur Eröffnungsvernissage angereist, ein Werk von Marianne Engel sicherte, ein Leuchtbild. Wenn immer er sein Licht in London lösche, denke er jetzt an Tschiertschen, liess er kürzlich verlauten.
ENGLISH SUMMARY
A SURRE A L L IV IN G SCULPT UR E «Aux Losanges» in the village of Tschiertschen – 260 square meters of living space on three floors, five bedrooms – is a result of coincidence, experimentation, uncompromisingness – and the requirements of the second home construction restrictions in Switzerland. In order to meet the latter, the house was originally designed as a semipublic venue. When it became clear that this would not be necessary for a building permit, the owners had already grown to love the idea of an art salon so much that they clung to it. British architects Caruso St John transformed the traditional building into a surreal living sculpture. A very special second home for Armin Zink and Stéphane Lombardi – and an extraordinary new venue for cultural events.
www.aux-losanges.ch 3. Februar 2018: Franz Schubert, «Winterreise». Rene Perler 17. Februar 2018: Vernissage huber.huber 19. Februar 2018: Lesung Emil Zopfi
Einst Bauernhaus, dann Café, jetzt Kunstraum und Refugium: Im neuen Kunstkabinett lässt der antike bemalte Bauernschrank alte Zeiten aufleben. Designerlampe neben einem der Dutzenden von Horgen-Glarus-Stühlen des ehemaligen Café Engi. Sie wurden petrolblau übermalt und zu neuem Leben erweckt. Trojanisches Pferd: Diskret verweist ein Rhombenmus ter an der Aussenfassade auf das Spektakel des Londoner Architekturbüros Caruso St John im Inneren des ehemaligen Café Engi. Hier wartet die wandumfassende Glasvitrine auf eine Kolibri-Installation von huber.huber. (Vernissage: 17. Februar 2018.)
BIANCO
WINTER 2017/18
51
52
WHITEOUT D I AV O L E Z Z A , S C H Ö N E T E U F E L I N
N
I
C
BIANCO
WINTER 2017/18
53
H
T
S ,
54
WHITEOUT D I AV O L E Z Z A , S C H Ö N E T E U F E L I N
W
E
I
BIANCO
WINTER 2017/18
55
S
S
E
S
56
WHITEOUT D I AV O L E Z Z A , S C H Ö N E T E U F E L I N
N
I
C
BIANCO
WINTER 2017/18
57
H
T
S
58
WHITEOUT D I AV O L E Z Z A , S C H Ö N E T E U F E L I N
Tex t : L i nd a S o l a nk i Fo t o g ra f i e : Rob e r t B ö s c h
Dichter Nebel, mehr ist da nicht. Was für eine Schande, wo die Diavolezza doch ihre Besucher normalerweise mit einem pittoresken Ausblick auf den Piz Palü und den Piz Bernina erfreut.
ENGLISH SUMMARY
WH ITEOUT Acclaimed Swiss photographer Robert Bösch has seen them all through his lens – the Matterhorn, Mount Everest … But on this particular trip up the Diavolezza he is not on the lookout for mountain peaks and picture-book landscapes. He is hunting for snow and fog – the so called «whiteout», dread ed by alpinists all around the globe. Bösch has discovered its sublime beauty. His photographs are poetic, merely indicating rather than emphasizing, leaving space for imagination, inviting to lose oneself in the mysterious landscape and be driven by nature just like the photographer.
Nun aber: ein milchiger Dunst, fern der malerischen Gipfelidylle. Whiteout nennt man das Phänomen, wenn bei schneebedecktem Boden und gedämpftem Sonnenlicht – etwa durch Schnee, Gewölk oder Nebel – nur noch eine gleissende Helligkeit zu sehen ist. Am Horizont bildet sich keine Linie mehr, Himmel und Erde sind ineinander verschmolzen, bilden zusammen ein weisses Nichts. Whiteout also, quasi das natürliche Pendant zum Blackout. Mehr Kontrollverlust geht für einen sehenden Menschen kaum. Wer schon einmal in einem komplett abgedunkelten Restaurant gegessen hat, kann vielleicht erahnen, wie sich das Erlebnis auf einem Berg anfühlt, der Abgrund bloss einen falschen Schritt entfernt. Nur, dass es eben nicht die Dunkelheit ist, welche die Sicht verunmöglicht, das wäre ja auch kaum eine neue Erfahrung, sondern eine zügellose Helligkeit, man stelle sich das Paradox vor. Weder Konturen noch Schatten sind mehr zu erkennen. Der Beobachter wähnt sich in einem unendlich ausgedehnten leeren Raum. Bei entsprechend veranlagten Personen kann dieser Zustand zu Beklemmung und Angstgefühlen führen. Verständlich – gab es in der Geschichte doch schon einige Un- und Todesfälle im Zusammenhang mit einem Whiteout. In jüngster Erinnerung bleibt die missglückte Helikopterlandung neben dem Berliner Olympiastadium am 21. März 2013: Weil die Sicht des Piloten durch den aufgewirbelten Schnee eingeschränkt war, stiess ein Helikopter der deutschen Bundespolizei bei der Landung mit einem anderen Hubschrauber zusammen. Dabei kam der Pilot des zweiten Hubschraubers ums Leben. Wildes Schneegestöber, ein stark limitiertes Sichtfeld und eisige Beklemmung eignen sich auch als Basis für einen Hollywood-Thriller. Der 2009 erschienene Film «Whiteout» mit Kate Beckinsale in der Hauptrolle floppte jedoch an der Kinokasse. Lag es am Setting? Ein Film, der in einer Landschaft angesiedelt ist, in der man kaum die eigene Hand vor den Augen sieht, dürfte es zugegebenermassen eher schwer bei einem visuell orientierten Publikum haben. Dasselbe müsste folglich auch für die Fotografie gelten. Warum also würde ein Fotograf, dazu noch einer von Weltformat, in so einer Situation überhaupt auf den Auslöser drücken und uns allen die hier abgedruckten Bilder schenken? Um dem nachzugehen, müssen wir ein wenig ausholen: Robert Bösch, geboren 1954 in Schlieren, gilt zu Recht als einer der besten Bergfotografen, denn er hatte sie alle schon vor der Linse: den Mount Everest, das Matterhorn, bekannte und unbekannte Berge auf allen sieben Kontinenten dieser Erde. Als Freelancer publizierte er in namhaften Zeitschriften wie «National Geographic» und «Geo», zeigte seine Bilder an Ausstellungen, in Museen und Galerien und veröffentlichte zahlreiche Bildbände. Seine Expeditionen führten ihn an gefährliche Orte und auf schwierige Routen. 2009 erhielt er den Eiger Special Award für sein langjähriges Schaffen im Bereich der Alpinfotografie. Daneben fungiert er als Ambassadeur für den Kamerahersteller Nikon, shootet ab und an Kampagnen für die Outdoor-Kleidermarke Mammut oder für Schweiz Tourismus. Was reizt einen, der alles erreicht hat, überhaupt noch? Im Falle von Bösch
BIANCO
WINTER 2017/18
59
sind es nach wie vor Bilder. Keine Postkartenbilder. Nichts, was die Schönheit der Berge zeigt. Anders müssen sie sein, diese Bilder, das weiss Bösch, als er sein neustes Projekt vor zwei Jahren startet. Was dieses Andere auszeichnet, weiss er jedoch nicht. Und so beginnt die Suche nach dem Unbekannten. Die Jagd nach dem Neuen, noch nie Dagewesenen. Ein ambitioniertes Unterfangen, das ein radikales Umdenken verlangt. Statt den perfekten Moment abzupassen – einen Moment, in dem Licht, Landschaft und Wetter miteinander harmonieren –, wird jeder Moment, jede Landschaft, jedes Wetter so angenommen, wie er, sie, es sind. Der einstige Kontrollfreak gibt die Kontrolle ab. Die Führung übernimmt die Natur. Zum Bildergebnis trägt sie massgeblich bei. Das Bündnerland, eine Region, die der Fotograf zuvor schon zigfach besucht hat, wird so auf eine neue Weise abgelichtet. Die Reise durch die Bergwelt Graubündens führt ihn auch auf die Diavolezza, die schöne Teufelin. Der Zeitpunkt ist jedoch denkbar ungünstig. Statt der üblichen Bilderbuchlandschaft erwarten ihn Schnee und Nebel, die zusammen das von Alpinisten so gefürchtete Whiteout ergeben. Doch Bösch entdeckt darin eine Gunst, das perfekte Imperfekte, die Anmut der Leere. Entstanden sind Fotografien voller Poesie. Bilder, die bloss andeuten, statt hervorzuheben. Bilder, die dem Betrachter Raum für seine Vorstellungskraft lassen und ihn einladen, sich in der Nebellandschaft zu verlieren, ja sich genau wie der Fotograf von der Natur treiben zu lassen, Altbekanntes beiseitezuschieben und sich auf etwas bis dato Fremdes einzulassen. Es sind Bilder, die nicht zeigen, was ist, sondern, was sein könnte. Und diese Möglichkeit des Seins ist so individuell wie ihr Erfinder, der sich damit im Kopf eine neue Welt erschafft. Hinter den Nebelschwaden liegt alles Denkbare und Undenkbare. No Limits, wie man so schön sagt. Ist es ein Zufall, dass beim Gemütszustand, der von einer Überdosis Cannabis herrührt, umgangssprachlich ebenfalls von einem Whiteout gesprochen wird? Ebenso wird der Begriff genutzt, um eine ausserkörperliche Erfahrung anzudeuten. Schlagzeuger etwa berichten von Whiteouts während des Spielens, die sie im Geiste von der Bühne an einen anderen, nicht physischen Ort getragen haben. Was ist dieses Unsichtbare, fast schon Übernatürliche, hinter dem Whiteout? Und wie kann eine Fotografie nichts und gleichzeitig unendlich viel zeigen? Die Kunst bei der Kunstfotografie besteht im Weglassen. Indem man einen Ausschnitt aus seiner Umgebung reisst, schenkt man ihm seine eigene Geschichte, unabhängig von Umwelt, Vergangenheit und Zukunft. Bösch hat diese Methode in seinen Diavolezza-Bildern perfektioniert, indem er nicht nur das Drumherum, sondern auch gleich das Mittendrin ausgeklammert hat. Der 63-Jährige vergleicht seine Arbeitsweise mit der Jagd auf ein Tier, von dem er weder Aussehen noch Aufenthaltsort kannte. Das Einzige, was er wusste: Es konnte überall auftauchen, zu jeder Zeit, bei jedem Wetter. Auch – oder ganz besonders? – während eines Whiteout. Man müsse es nur erkennen. Und Sie, erkennen Sie es jetzt?
AU SST EL LU N G ROBERT BÖSCH ENGIADINA Forum Paracelsus, St. Moritz (beim Kempinski Grand Hotel des Bains) 3. bis 18. Februar 2018 Weitere Informationen: www.bildhalle.ch
Was ist dieses Unsichtbare, fast schon Übernatürliche hinter dem Whiteout? Und wie kann Fotografie nichts FRUNTHEINZEN STALL und gleichzeitig unendlich viel zeigen?
60
ENGADINER TRACHT M I T A F R I K A N I S C H E N U N D A S I AT I S C H E N A K Z E N T E N
CULT UR E CLASH Tex t : Brigitt e U l m er Fo t o graf ie: G ian G i o van o li M ake- u p : Ch an t al R en é
Die Engadiner Festtagstracht verdankt ihren kräftigen roten Stoff aus Russland heimkehrenden Bündner Offizieren des 18. Jahrhunderts. Eine der schönsten Schweizer Traditionen hat also Migrationshintergrund. Der Silser Gian Giovanoli hat die Prachtgewänder fotografisch kongenial mit Schweizer Models anderer Ethnien inszeniert. BIANCO
WINTER 2017/18
61 D I E T R A C H T A L S K U LT U R E L L E S A M A L G A M
Josephine Beerli, halb Ghanaerin, halb Schweizerin, trägt die originale handgearbeitete Unterengadiner Festtagstracht mit dem traditionellen Bernsteinschmuck und Capadßsli auf dem Haupt. Die Paluotta im Brustbereich ist mit Nelken in der Gestalt eines Lebensbaums bestickt.
62
ENGADINER TRACHT MIT AFRIKANISCHEN AKZENTEN
K U LT U R A U S TA U S C H
Josephine posiert mit tribalen afrikanischen Akzenten, mit Federschmuck unter dem Kragen, das Capadüsli wurde durch ein Stirnband ersetzt. Das geschulterte Alphorn allerdings ist das handgefertigte Original einer jungen Frau aus Pontresina.
BIANCO
WINTER 2017/18
63
64
ENGADINER TRACHT M I T A S I AT I S C E N A K Z E N T E N
EAST MEETS WEST
Jasmin, Schweizerin mit thailändischen Wurzeln, zeigt die Oberengadiner Festtagstracht mit einem Kopfschmuck aus heimischen und asiatischen Blüten. Stäbchen und Make-up lehnen sich an die Geisha-Kultur an, aber nehmen harmonisch die Farben der Tracht auf.
BIANCO
WINTER 2017/18
65
66
ENGADINER TRACHT M I T A F R I K A N I S C H E N U N D A S I AT I S C H E N A K Z E N T E N
DAS ORIGINAL
Jasmin Bertschin trägt die traditionelle Oberengadiner Tracht, wie es das Reglement der Trachtenkommission vorschreibt, mit Spitzenbluse, bestickter Paluotta auf dem roten Mieder, schwarzem, floral besticktem Dreiecktuch und der «culana d’ambras», der Bernsteinkette.
L’Atelier, Gian Giovanoli, Via Chantun Sur 2, Pontresina. www.giangiovanoli.com. Öffnungszeiten unter Tel. 079 634 07 86.
BIANCO
WINTER 2017/18
E
s ist eigentlich zu bedauern, aber meist hängt das Lieblingsstück der Engadinerin sorgfältig versorgt im Schrank. An der Schlitteda oder zu einer Taufe wird die Engadiner Festtagstracht dann hervorgeholt, an einer Hochzeit oder zum Bussund Bettag. Gottlob mangelt es im festfreudigen Engadin aber nicht an Anlässen. Allein das Anziehen gleicht dann einem Ritual. So ging es jedenfalls Josephine Beerli. Die Tochter eines Ghanaers und einer Schweizerin ist für das Fotoprojekt des Silser Fotografen Gian Giovanoli in eine Unterengadiner Festtagstracht geschlüpft und erzählt von einem komplexen Akt, der nichts damit zu tun habe, wenn sie sich sonst für ein Fest hübsch machte. Zuerst (und für den, der’s nicht wüsste) kommen gewöhnlich die langen Unterhosen aus Baumwollspitze. Es folgen die langen Kniestrümpfe aus Wolle und der Unterrock. Schliesslich wird in die Spitzenbluse aus Baumwolle geschlüpft. Darüber kommt das schwere Trachtenkleid: Es ist aus kräftig rotem Wollstoff,das Mieder mit der charakteristischen Paluotta ist ans Kleid appliziert, die wiederum feinste rote Blumenstickereien in Form eines Lebensbaums zieren. Sie brauchte, erzählt Josephine, eine Helferin, die im Rückendas Mieder schnürte. Unter den Ärmeln schauen inzwischen die weissen Spitzenarmkrausen hübsch hervor und der Spitzenkragen rahmt festlich den Hals. Schliesslich wird das Dreieckstuch drapiert, auch das feinstens bestickt, und – als Tüpfchen auf dem i – kommt das rote Capadüsli auf die Haarpracht. Ledige Frauen tragen es übrigens rot, verheiratete schwarz, wir wollen es jetzt nicht symbolisch interpretieren, darauf prangt eine filigrane aufgestickte Tulpe als Ornament, das Hochzeitsgeschenk des Angetrauten. Schliesslich noch die Goldbrosche und die obligate «culana d’ambras», die Bernsteinkette, um den Hals. Nein, hier braucht es kein Arvenschnäpschen, um in festliche Stimmung zu kommen. Josephine schwärmt vom Gefühl, ein Stück textiler Schweizer Kultur auf dem Leib zu tragen. Jasmin Bertschin, halb Schweizerin, halb Thailänderin mit ein paar Tropfen China und Mongelei im Blut, sieht man hier in der Oberengadiner Festtagstracht. Am Fotoshooting des Silser Fotografen war übrigens eine im Kongo geborene Schweizerin Make-up-Artistin beteiligt, eine in Portugal geborene Spezialistin für Engadiner Trachten besorgte das Styling, als Fotoassistent wirkte ein in Lesotho gebo-
67
rener und in La Punt aufgewachsener Schweizer. Wenn die beiden aparten, fremdländisch aussehenden Schönheiten in den Engadiner Prachtsroben posieren, ist das keine hohle Multikultiwerbung und mehr als eine überraschende Augenweide. Es handelt sich um ein ästhetisches Projekt mit Hintersinn. Weil das ganze Fotoshooting-Team multikulturelle Wurzeln hat, könnte es das innere Wesen der Engadiner Tracht nicht besser zur Geltung bringen. Denn die Engadiner Tracht ist ein kulturelles Amalgam. Wie übrigens die ganze Bünder Textilkunst, die von Reisenden, Soldaten, Missionaren und Gewerbetreibenden beeinflusst wurde, die mit Anregungen und Geschenken aus dem Ausland nach Hause zurückkehrten. Sie ist ein Produkt des Kulturaustausches, der Migration. Der prächtige scharlachrote Wollstoff soll im 18. Jahrhundert von heimkehrenden Offizieren aus russischen Diensten ins Alpental gebracht worden sein. Die feinste schwarze Seide stammt aus Frankreich. Das typische Schmuckstück, die Bernsteinkette, brachten Männer von der Ostsee über Venedig ins Engadin zu ihren Frauen. Stilistisches Vorbild war die Rokoko-Mode. Die Tracht war somit nie starre Uniform. «Oft geht vergessen, dass sich Kultur erst durch die Bewegung der Völker weiterentwickelt», meint Gian Giovanoli.«Ohne die Migration gäbe es die Tracht in dieser Form nicht.» Die Tracht gilt ja eigentlich als eine Art textiler Heimatschein. Bauernfrauen in ganz Europa nähten sie sich im 18. Jahrhundert, sie war Ausdruck von erstark tem Standesbewusstsein und wachsendem Wohlstand, jede nach der Façon ihrer Scholle. Als billige Fabrikware mit der Industrialisierung die Handarbeit verdrängte, geriet sie dann im Lauf des 19. Jahrhunderts fast in Vergessenheit. Erst um die Jahrhundertwende wurde die Tracht zum Sinnbild für Heimatliebe, in der Kriegszeit war sie eine Art textile Landesverteidigung, schliesslich wurde sie in der Tourismuswerbung und als Kellnerinnenbekleidung für Kurorte übernutzt. Mit der Gründung des Heimatschutzes im Jahr 1905 kamen Regeln in die Kleiderordnung, die Tracht wurde zum Sinnbild für Heimatliebe stilisiert. Strenge Reglemente achten noch heute darauf, dass die Trachten nicht verwässert werden. Von den rund 700 verschiedenen Trachten aber, wir wollen es nicht verhehlen, gilt die Engadiner Festtagstracht als die schönste! Auch internationale Modedesigner scheinen das einzusehen. Warum sonst hätten Dolce & Gabbana ihre Models in dramatisch schwarz-scharlachroten Abendkleidern mit Nelkenstickereien über den Laufsteg geschickt?
ENGLISH SUMMARY
CULTURE CL ASH The typical blazing red fabric of the Engadine’s festive costume originates from Russia. Military officers from Grisons brought it back home when they returned from war in the 18th century. Referring to the «migration background» of one of Switzerland’s most beautiful traditions, Gian Giovanoli photographed these precious gowns on Swiss models with Asian and African origins – Jasmin, who is half Swiss and half Thai with a pinch of Chinese and Mongolian, and Josephine, whose father is from Ghana.
68
G R I N D E LWA L D - S C H L U C H T KAJAK-PREMIERE
Tango im GletscherWasser
WILDWASSER SIND WIE TANZPARTNERINNEN, SAGT SEVERIN HÄBERLING. JE DE IST ANDERS. UND WENN DU IHR AUF DIE FÜSSE STEIGST, FÄLLST DU VON DER BÜHNE. DIE GESCHICHTE DER BEFAHRUNG DER GRINDELWALD-SCHLUCHT.
Te x t : We r ne r Je ss ne r Fo t o g ra f i e : Röb i B ö s c h
BIANCO
WINTER 2017/18
69
Eine Frage der Orientierung (links): Wo ist der sicherste Weg zwischen den bootsgrossen Steinen? Das Wasser an dieser Stelle fliesst sehr schnell und ist unterschiedlich tief. Eine Frage des Timings (rechts): Julian Schäfer in einer der vielen Wasserwalzen, die man nur mit Präzision im Paddelschlag und Gleichgewicht mit dem Kopf eben beendet.
70
G R I N D E LWA L D - S C H L U C H T KAJAK-PREMIERE
V
or fünf Jahren sass der dreifache Schweizer Meister im FreestyleKajak, der damals 28-jährige Severin Häberling, abends auf einem Steg der Grindelwaldschlucht. Vor hundert Jahren war hier noch keine Schlucht, sondern vermeintlich ewiges Eis gewesen. Grindelwald war als «Gletscherdorf» berühmt, vor allem unter Engländern. Die Geschichte des Wintertourismus in den Alpen beginnt in Erzählungen immer wieder hier. Seither ging der Gletscher Jahr für Jahr zurück, Stück für Stück kam die Schlucht zum Vorschein, wurde breiter und breiter. Das Schmelzwasser von Eiger und Mönch bahnte sich immer ungehinderter seinen Weg, nahm Geröll und Gestein mit und räumte das Flussbett aus. An Land sicherten Stege weiterhin den Zugang nach oben, jetzt, wo es kein Eis mehr gab. Einmal Tourismus, immer Tourismus. Zwanzig Stutz kostet der Eintritt, erinnert sich
Severin Häberling kämpft sich Stück für Stück durch das, was auf Englisch «whitewater» heisst. Ein durchaus passender Ausdruck.
Kehrwasser, also Stellen, an denen das Wasser entgegen der sonstigen Richtung fliesst, sind die «Parkplätze» der Kajakfahrer auf ihrem anstrengenden Weg nach unten. Am Bild rechts sieht man, wie eng es auf ihnen bisweilen zugeht.
Severin Häberling, als er an einen schönen Tag vor fünf Jahren spät abends durch die spektakuläre Kulisse gestreift war und nach unten geschaut hatte. Nach unten zum Wasser, nicht nach oben wie die Touristen auf der Suche nach dem Gletscherblick. Severin Häberling ist kein Tourist. Angeblich sei schon einmal jemand mit Kajak im oberen Teil der Schlucht gesehen worden, nicht nur im unteren, relativ gut fahrbaren Abschnitt. Doch genauere Informationen waren nicht zu bekommen. Severin Häberling hatte ein Ziel: Er wollte da runter. Runter in die Schlucht, runter durch die Schlucht. Im Boot. Auch wenn der Mann, der ursprünglich aus Uerzlikon im Kanton Zürich stammt, einer der besten Kajakfahrer der Schweiz ist, verwahrt er sich, als Profi gesehen zu werden. Er ist gelernter Schreiner, macht derzeit aber eine Ausbildung zum Sozialpädagogen, obwohl er durchaus auch vom Kajakfahren leben könnte, meint er, etwa als Instruktor. Doch genau das strebt er nicht an: «Ich will für mich selbst aufs Wasser gehen und mich jedes Mal darauf freuen, statt eines Tages sagen zu müssen, dass ich aufs Wasser muss.» Eine nervliche Überlastung im Genick machte seine Tage auf den Flüssen in den letzten drei Jahren zusätzlich rar. Die Befahrung von Wasserfällen war lange Zeit überhaupt ausgeschlossen und ist noch immer nicht sonderlich hoch auf der Liste jener Dinge, die ihm Spass machen und gut für die Gesundheit sind. So kam ihm jener Abend wieder in den Sinn, als er auf dem Steg über der Grindelwald-Schlucht gesessen war. Wasserfälle gab es hier keine, stattdessen technisch schwieriges Terrain im schnellen Wasser. Das konnte man von den Touristenstegen aus sehen. Einen Partner hatte er schnell zur Hand: Julian Schäfer, einen lokalen Rafting-Guide, der täglich am unteren Teil des Flusses arbeitet. Wonach hast du ihn ausgesucht? «Ich wollte jemanden, der nicht nur gut paddeln kann, sondern auch ein guter Retter ist. Wir haben einen Wurfsack im Boot, eine Art Seil, das wir dem anderen zuwerfen, wenn er abgetrieben wird. Das muss man können – und geübt haben.» Technisch versierte Kajakfahrer, etwa jene, die im Slalom brillieren, wären als Partner für die Grindelwaldschlucht ungeeignet gewesen: «Ein Slalom-Skifahrer hat auch keine Ahnung vom Freeriden. Woher soll er auch wissen, ob er gleich eine Lawine auslösen wird? Das sind einfach unterschiedliche Disziplinen – genau wie bei uns.» Von oben seilten Severin Häberling und Julian Schäfer ihre Kajaks in die Schlucht ab, dann kletterten sie nach. Unten war es so bitterkalt, wie sie es erwartet hatten. Das Wasser, frisch von den Gletschern, war gerade mal
BIANCO
WINTER 2017/18
71
72
G R I N D E LWA L D - S C H L U C H T KAJAK-PREMIERE
4 Grad, die Luft selbst an diesem Sommertag kaum mehr als 13 Grad warm. «Die Sonne reicht das ganze Jahr über nicht an den Grund der Schlucht.» Umso wichtiger war es, hie und da den Nacken zu strecken und in den Himmel zu schauen: Ein Wetterumschwung würde den Wasserpegel schlagartig steigen lassen. Selbst die Folgen der Sonnenstrahlung Tausende Meter weiter oben am Gletscher waren hier unten ab Mittag unmittelbar spürbar. Das Schmelzwasser kennt nur einen Weg nach unten, nämlich jenen durch die Schlucht, in der sich die beiden Kajakfahrer befanden. Severin Häberling: «Wenn wir an schwierigen Stellen aussteigen mussten, um vorab zu besichtigen, haben wir die Boote immer mindestens einen Meter in die Höhe gezogen, um sicher zu sein, dass sie nicht davongeschwemmt werden, so schnell steigt der Pegel in der Schlucht.» Eine Passage klassifizierten die beiden bei diesem Wasserstand als unfahrbar: drei Walzen hintereinander, zu eng, zu viel Wasser, zu hohes Risiko. Der Steg lag an dieser Stelle fünf Meter über dem Wasser. An den Rändern: schroffe Wände. Severin Häberling schaffte es, ein Seil hochzuwerfen, an dem er hochklettern konnte. Julian Schäfer wartete unten und befestigte die Boote, damit Severin Häberling sie hochziehen konnte. Dann half er seinem Partner in die Höhe. Ein paar Meter unterhalb der Schlüsselstelle fanden sie eine Möglichkeit, mit der über 30 Kilo schweren Ausrüstung, ohne abermals klettern zu müssen, wieder ans Wasser zu gelangen. Die Befahrung der Grindelwaldschlucht erwies sich als anstrengender als gedacht. Bald brannten die Muskeln, litt der Schultergürtel Schmerzen. Was sie schon bei der Besichtigung vom Steg aus erkannt hatten, bewahrheitete sich im Wasser: «Es gibt kaum Kehrwasser.» Kehrwasser nennen Kajakfahrer Strömungen gegen die Fliessrichtung. Die nutzt man, um zu verschnaufen, die müden Arme aufzulockern und die weitere Linie zu besprechen. Wenn es hier Kehrwasser gab, dann nur vereinzelt und an so kleinen Stellen, dass maximal ein Boot Platz hatte. Das erschwerte die Kommunikation zwischen den beiden Athleten. Einmal im Fahrwasser, gab es kaum mehr Möglichkeiten, zu stoppen. «Ich war erschrocken, welche Autobahn das stellenweise war. Wenn du hier schwimmen gehst, sagst du deinem Boot und deinem Paddel ade.» Was für eine Art von Tanzpartnerin ist die Grindelwaldschlucht also? Severin Häberling schmunzelt: «Eine temperamentvolle, die dir sehr präzise Vorgaben gibt. Wenn du ihr auf die Füsse steigst, fehlen dir die Zähne. Die Eskimorolle ist Pflicht, sonst fällst du von der Bühne. Wenn du all das respektierst und dich auf sie
Severin Häberling (links) hat sich die Befahrung der Schlucht vor Jahren zum Ziel gesetzt.
Julian Schäfer (rechts) ist Rafting-Guide und war in der Grindelwaldschlucht Severin Häberlings unentbehrlicher Kompagnon.
ENGLISH SUMMARY
TAN GO IN T HE GL AC IE R WAT E R «Whitewaters are like dance partners», says Severin Häberling, a three-time Swiss champion in freestyle kayaking. «Each one is different.» For years he had been tempted by the Grindelwald gorge. Eventually he found a partner to attempt the passage with: local rafting guide Julian Schäfer. It turned out to be a dangerous and exhausting adventure. «If you tumble here, you can say goodbye to your boat and paddle.» So what kind of dance partner is the Grindelwald gorge? Severin Häberling smiles: «A spirited woman who gives you very precise instructions. When you step on her feet, your teeth are missing. The Eskimo roll is mandatory, otherwise you will fall off the stage. If you respect all of that and get involved with her, it’s a very intense dance. A tango you won’t forget too soon.»
einlässt, ist es ein äusserst intensiver Tanz. Ein Tango, den du so schnell nicht mehr vergisst.» Auch das Material hat das Tänzchen in der Grindelwaldschlucht nicht vergessen: Dem nagelneuen Boot, das Severin Häberling für die Befahrung verwendet hatte, sah man das Tänzchen unten im Tal deutlich an. «Das liegt aber auch daran, dass das Flussbett noch sehr jung ist und die Steine noch nicht so glattgeschliffen sind wie in anderen Flüssen. Selbst wenn ich eigentlich alle Linien so gut erwischt habe wie geplant, war härterer Kontakt mit dem Untergrund öfter unvermeidlich.» Ein bis zwei Boote pro Saison, so Häberling, damit würde er in der Regel auskommen, dazu kämen ein paar gebrochene Paddel. Alles halb so wild in Anbetracht der Flüsse und Schluchten, die er befahre. Anders als sein Partner Julian Schäfer, der den europäischen Winter regelmässig in Südamerika verbringt, würde Severin Häberling seine Abenteuer auch in Zukunft und gerade in Zukunft in der Schweiz suchen: «Ich bin 32 Jahre alt, habe eine Freundin und eine Ausbildung, die noch drei Jahre lang dauert. Da kann ich nicht wochenlang von zu Hause weg sein. Am liebsten sind mir Flüsse und Bäche direkt vor meiner Haustüre. Vor kurzem bin ich nach Bern gezogen. Gerade bin ich dabei, meine neue Umgebung zu erkunden.» Man kann davon ausgehen, dass er bereits an dem einen oder anderen Projekt brütet. «In der Schweiz gehen dir als Kajakfahrer die Ideen nicht so schnell aus.»
BIANCO
WINTER 2017/18
Trust your taste. And your friends.
Auf dinn.ee sehen Sie nur die Restaurants, die Sie und Ihre Freunde bewertet haben. Und zwar weltweit. Starten auch Sie Ihren eigenen Restaurant Rating Club: Die kostenlose App dinn.ee auf Ihr iPhone laden, Ihre Freunde in Ihren Club einladen und fertig. Danach tun Sie das, was Sie sowieso schon gerne tun: Gut essen gehen und ihre Entdeckungen mit Ihren Freunden teilen.
74
M A R C E L R AY M O N D B O S S H A R D IM GEBET VERSUNKEN
BIANCO 
WINTER 2017/18
Aussenseiter in Gottes MARCEL RAYMOND BOSSHARD WAR MAL TOPMANAGER IN DER WILDEN WERBEBRANCHE. HEUTE HEISST ER BRUDER MAGNUS, LEBT ALS MÖNCH UNTER MÖNCHEN IN EINEM KLOSTER UND FÜHLT SICH DORT IN ALL SEINEN ZWEIFELN GEBORGEN. Te x t : Mi c ha e l Jü rg s Fo t o s : G e o rg i o v o n A rb
Namen
75
76
M A R C E L R AY M O N D B O S S H A R D VOM SCHEIN ZUM SEIN
E
in Felsbrocken von Kerl. Leicht gebeugt vom Alter. In den Augen hinter der grossen Brille jung. Widerborstig der Bart, der sein Lachen umkränzt, grauwildwuchernd in die Jahre gekommen wie sein Besitzer Bruder Magnus, 76, Mönch im Schweizer Benediktinerkloster Disentis. Ein so beschriebener alter Mönch wäre keiner weiteren Rede wert, könnte allerdings Anstoss für ein gutes Thema sein: Wie ergeht es Mönchen, wenn sie in ein Alter kommen, in dem sie Pflege und Zuwendung brauchen, aber niemand da ist, der sich um sie kümmern mag? Keine Pflegebrüder, weil es in den Klöstern die nur selten noch gibt, keine Frau, keine Tochter, kein Sohn. Der Zölibat dürfte also eher wohl nicht gottgewollt sein. Denn ER denkt bekanntlich von Ewigkeit zu Ewigkeit, hat also auch dieses Problem bedacht, und wer es glaubt, wird selig. Doch darüber zu schreiben, würde eine ganz andere Geschichte ergeben. Hier beginnt deshalb die eigentliche, die von Bruder Magnus: In seinem ersten Leben war er einer jener bewunderten Mad Men der Gier- und Glamourbranche Werbung und hiess bürgerlich Marcel Raymond Bosshard. Er betreute in kreativer Ruhelosigkeit, unterstützt von Alkohol, aktiviert von hundert Zigaretten pro Tag und Nacht, zusätzlich mitunter gesponsert von Drogen, Markenprodukte wie Camel und Winston, Ariel und Pampers und nicht zuletzt die lila Kuh von Milka, deren Farbe viele Stadtkinder bei Rindviechern für gottgegeben natürlich hielten. Sein erstes Leben endete am 19. Juni 1994, als er sich nach fünfjähriger Probezeit in einer feierlichen Zeremonie, der sogenannten Profess, auf den steinernen Boden der Klosterkirche St. Martin fallen liess, was ihm damals leichtfiel, heute eher schwer, und gelobte, fortan als Magnus, Bruder unter Brüdern, demütig und treu ergeben dem Grundgesetz Ora et labora des Benediktinerordens zu folgen – zu beten und zu arbeiten. Seither lebt Bruder Magnus im barockprächtigen Schweizer Kloster Disentis. Mächtig dominiert es im Namen des Allmächtigen und im Blickfeld der Surselvabergketten das unterhalb der Klostermauern heimelig verstreut liegende Dorf, stemmt sich trotzig und beschützend trutzig zugleich den Alpen nahe dem Lukmanierpasses zwischen Tessin und Graubünden entgegen. Es ist eines der ältesten in der Schweiz. 2014 feierten die Brüder ein seltenes Jubiläum. Die Abtei gebe es seit nunmehr 1400 Jahren, lautete ihre Botschaft. Was nachrechnend bedeutet hätte, dass sie 614 gegründet worden sein muss, aber basierend auf Recherchen in Archiven nicht stimmen konnte. Sondern auf dem Versehen des damals im 16. Jahrhundert amtierenden Abtes Jakob Bundi beruht. Das Datum ist seitdem in der Chronik jedoch als Wahrheit vermerkt. Eher dürfte die Gründung etwa um 700 stattgefunden haben. Die Jubiläumsverkünder bekannten sich sou-
Als Bruder Magnus noch ein Mad Man unter Mad Men der Werbebranche war, posierte er als Castro-Macho mit Zigarre und Wein. Seine Vergangenheit hält er sich heute gelassen heiter vom Leib. Einst vermarktete er kreativ Zigaretten und Waschmittel, Johnny Walker und die lila Milka-Kuh, jagte ruhelos durch die Glitzerwelt des schönen Scheins auf der Suche nach dem ultimativen Kick, dem nächsten Erfolg. Bis eines Tages Gott um ihn warb und Marcel Bosshard fortan als Mönch in seine Dienste trat.
verän zwar zu diesem Berechnungsfehler, hielten aber Tradition für wesentlicher als eine Chronik, in der lächerliche siebzig Jahre unterschlagen wurden, und betrachteten deshalb das Ganze für eine eher lässliche Sünde und von dem, zu dessen Ehren die Gründung des Kloster gefeiert wurde, ihnen bereits verziehen. Kloster Disentis ist wie seine benediktinischen Schwestern und Brüder egal wo in Europa längst nicht mehr nur eine stille Stätte innerer Einkehr mit dem sich bei Gelegenheit öffnenden Blick ins Jenseits. Es gehört im Diesseits ein Schweizer KMU; das ist die Abkürzung für kleine und mittlere Unternehmen. Definiert durch Umsatz und Zahl ihrer Mitarbeiter. Der Konvent, zu dem – Stand Sommer 2017 – achtundzwanzig Mönche gehören, beschäftigt als Arbeitgeber siebzig Menschen: in der Landwirtschaft, in der klostereigenen Käserei, in der Schreinerei, in der Verwaltung, im Gymnasium, in der Cafeteria «Stiva Sogn Placi«, im Klostershop und im Museum. Unter ihnen nicht nur Einheimische, was die Benediktiner zu einem der wichtigsten privaten Wertschöpfer der Region macht, sondern zum Beispiel auch portugiesische Zimmermädchen. Denn Kloster Disentis lockt übers Jahr verteilt nicht nur rund 15 000 Tagesbesucher, die essen und trinken und Souvenirs einkaufen, sondern bietet sich gleichfalls an als preisgünstige Alternative zu den Hotels des touristischen Hotspots Graubünden. Für 120 Franken pro Nacht und Doppelzimmer inklusive Frühstück geradezu ein preiswertes Schnäppchen in der für ausländische Feriengäste so teuren Schweiz. Der Jahresumsatz des Unternehmens Benedikti beträgt rund 12 Millionen Franken, erzielt durch das Internat, eigene Betriebe, Veranstaltungen oder Kurse für gestresste Manager. Aber die festen Kosten liegen bei über fünf Millionen. Mehr als klösterliche Stille braucht man Mehrwert. Der Wohntrakt der Mönche ist vom Flur der Gastzimmer streng getrennt. Die Zelle von Bruder Magnus, auffällig von den schlichten Türen der anderen zu unterscheiden an einem farbenfrohen Emailleobjekt, das den seinen Mantel mit armen Mitmenschen teilenden heiligen Martin zeigt, ist grösser als die seiner Mitbrüder – Regale voller Bücher, ein mit Zeitschriften und Papieren überladener Schreibtisch, Bad, Bett, Stuhl und ein Fenster zur Welt. Magnus nimmt aber keinem seiner Fratres etwas weg. Es gibt Platz für alle, seit die Zahl der Neueintritte ins Kloster sinkt und die Zahl derer steigt, die Gott zu sich gerufen hat und die bis zum Jüngsten Tag auf dem klostereigenen Friedhof von den Nachgeborenen zur vorletzten Ruhe bestattet wurden. Einer wie Bruder Magnus braucht schlicht mehr Raum für sich und seine Arbeit. Er hat Erlerntes aus dem ersten mitgenommen ins zweite Leben, hat in gewohnt grafischer Professionalität des ehemaligen Creativ Director die gedruckte Aussendarstellung des
BIANCO
WINTER 2017/18
77
78
M A R C E L R AY M O N D B O S S H A R D DER WEG ALS ZIEL
BIANCO 
WINTER 2017/18
79
Klosters entworfen, nebenbei in einem nächtlichen Geistesblitz einen ziemlich guten Slogan als Unique Selling Proposition für das Internat erfunden: Der Weg nach oben! Mit diesem Versprechen, mit diesem Motto, mit dieser Botschaft wird um Schüler und Eltern geworben, die sich eine Jahresgebühr von 25 000 Franken leisten können. Er frisst sich rein in Fachbücher und Computerzeitschriften, um up to date zu sein, denn er unterrichtet, aus seinem profunden Wissen schöpfend, im Klostergymnasium auch noch das Fach Bildnerisches Gestalten. Die dem Kloster angeschlossene Schule, damals noch nicht im modernen Neubau, sowohl für die Jungen und Mädchen aus der Region als auch für Internatszöglinge, darunter derzeit sogar fünf aus China, ist ihm aus der Kindheit vertraut. Einst hat er dort, abgestellt von einer mit der Erziehung überforderten Mutter, als Knabe drei Jahre lang alles versucht, damit sie ihn wegen ungebührlichen Verhaltens – Rauchen, Trinken, Flirten – rauswerfen, weil er krank vor Heimweh war. Was ihm nicht mal gelang, als er, vorgeblich tief in den Katechismus versunken, bei der Lektüre eines pornografischen Romans erwischt wurde, den Schlauberger Marcel in den Umschlag des Gebetbuches gehüllt hatte. Die Sünde wurde ihm zu seinem Leidwesen jedoch verziehen. Er verliess nach drei Jahren die Lehranstalt in Ehren und mit einem ansehnlichen Zeugnis, folgte dem beruflichen Beispiel des zu früh verstorbenen Vaters, studierte in St. Gallen Grafik in einer Kunstgewerbeschule und begann, gefördert als hochbegabter Jüngling, seinen Aufstieg zu den Glitzersternen der Konsumwelt bei der damals weltweit grössten Werbeagentur Young and Rubicam. Die Stationen, beruflich wie biografisch, einschliesslich einer früh gescheiterten Ehe mit seiner grossen Liebe, eines ihm im Laufe der Zeit fremd gewordenen Sohnes, Abstürzen und Rettungsselbstversuchen im Buddhismus und in der Psychoanalyse, Erfolgen in New York und Los Angeles, Zürich und Frankfurt, stets rastlos durch die Scheinwelt seiner Branche taumelnd, lassen sich googelnd nachlesen. Analog wie digital. Sogar jene Szene, von ihm selbst beschrieben, als ihn eines Nachmittags in der dämmrig kühlen St. Patrick’s Cathedral in New York die Erkenntnis überkam, es müsse wohl doch noch mehr als all das geben, was sein tägliches Leben ausmache. Die Wandlung von Marcel Raymond Bosshard hin zu Bruder Magnus, vom Schein zum Sein, blieb der Öffentlichkeit nicht verborgen. Denn Medien, versendet oder gedruckt, lieben solche Geschichten. Er hat in vielen Interviews zu deren Verbreitung beigetragen, hat erzählt von seiner lange vergeblichen Suche nach dem Glück inneren Friedens, von seiner dabei stetig wachsenden Sehnsucht nach einem Biotop der Ruhe. Das hätte er zwar auch auf einer einsamen Insel finden können oder an einem fernen Strand, dort
Die Toten des Benediktinerordens begleiten die Lebenden auf ihren Wegen. Der Friedhof des Klosters ist eine Oase des ewigen Friedens. Bruder Magnus hat den seinen in Disentis gefunden. Wenn er am Ende aller Tage dem Herrn über Leben und Tod erzählt, was er auf Erden gemacht hat, will er von IHM nicht ausgelacht werden. Selbst wenn Magnus im Glauben mitunter zweifelt, fühlt er sich geborgen in Gottes Gnade.
verbunden mit allen Annehmlichkeiten des ihm vertrauten Alltags. Er aber entschied sich für das Klos ter Disentis. Sowohl wegen der Erinnerung an seine Kindheit als auch angestossen durch eine provokante Moralpredigt seines einstigen Schulfreundes Niklaus Meienberg gegen die branchenüblichen Tänze ums Goldene Kalb. Meienberg hat sich 1995 früh aus dem Leben verabschiedet. Seine radikal grossartigen Texte haben ihn überlebt bis heute. Im Buch der Bücher wird ein Fall wie der von Marcel Bosshard geschildert am Beispiel des späteren Apostels Paulus, der als Saulus die Christen verfolgte, bis ihm Jesus als Lichtgestalt erschien und ihn zur Umkehr in Christo bewegte. Auf die Idee, sich mit Paulus zu vergleichen, würde Magnus, dem Eitelkeit nicht fremd ist, zwar nie kommen. Aber er lässt leidenschaftlich und gern kontrovers mit sich reden über Gott und die Welt – wie er nicht unbedingt fromm im katholischen Sinne, aber dennoch ein in Massen gottgefälliger Mönch wurde und warum er in den strengen Klosteralltag, wo nach den ehernen Regeln des heiligen Benedict gelebt werden soll, seinen aufmüpfigen Geist als ständigen Begleiter mitnahm. Dort leben die beiden, untrennbar vereint sowohl im Glauben als auch im Zweifel, seit nunmehr dreiundzwanzig Jahren. Aussenseiter in Gottes Namen oder auch im Namen Gottes.
Wie würden Sie als Werbeprofi, der Sie einst waren und immer noch sind, heute Gott verkaufen?
«Kann man das überhaupt? Soll man das überhaupt? Die Methode der Missionare, ich tauf dich oder ich schlag dich tot, hat sich Gott sei Dank ja erledigt. Freier Wille ist entscheidend. Ich kann Gott also niemand aufzwingen. Ich kann ihn nicht anpreisen wie Meister Proper, den ich früher erfolgreich dem Volk nahebrachte. Das geht nur durch ein motivierendes Vorbild. Ein menschliches, in dem man die Hand Gottes erkennt, dem man nacheifern möchte. Zum Beispiel dadurch, dass man erkennt, es gibt im Leben Wichtigeres als Geld.»
Aber braucht der liebe Gott angesichts einer wachsenden Zahl von Zweiflern und Ungläubigen nicht vielleicht doch ein neues Image?
«Sein überliefertes Image passt auch in die heutige Zeit. Das alte Gottesbild ist gut genug. Das Problem der katholischen Kirche ist letztlich eher ein Sprachproblem. Es lässt sich einfach nicht in der alten Sprache heute Gottes Wort verbreiten. Ein Autor, dem ich im Prinzip zustimme, hat es den Jargon der Betroffenheit genannt und drastisch begründet, warum die Kirche letztlich an ihrer Sprache verrecken wird. Das ist nicht meine Wortwahl. Aber richtig ist, sie ist sprachlich irgendwo im vergangenen Jahrhundert hängen geblieben. In verschrobenen Worthülsen
80
M A R C E L R AY M O N D B O S S H A R D DIE KRAFT DER STILLE
BIANCO 
WINTER 2017/18
81
Die Gästezimmer auf dem hellen Flur bringen dem Kloster als Hotel der besonderen Art irdischen Mehrwert. Hinter den schweren Türen beginnt eine andere Welt. Die des Schweigens. Sie gehört nur den Mönchen. Wenn Bruder Magnus Gott draussen in der Natur besucht, schultert er sein Okular. Das Fernrohr der Seeleute lässt ihn die Berge besser sehen. Zum Abschied aus seinem früheren Leben haben ihm seine Kollegen das teure Gerät geschenkt.
82
M A R C E L R AY M O N D B O S S H A R D A M A N FA N G WA R D A S W O R T
erreicht sie die Menschen nicht mehr. Frömmler können niemand mehr überzeugen. Erfolgreiche Werbung muss die Sprache der Zielgruppe aufnehmen und dann neue Ziele verkünden. Gott muss deshalb nicht neu erfunden, sondern es muss erklärt werden, wie man ihn in seinem Leben erreicht.»
Also zuhören und erst dann reden?
«So wie es im ersten Satz in den Ordensregeln des heiligen Benedict steht: Höre, mein Sohn, auf die Weisung des Meisters, neige das Ohr Deines Herzens. Das Gesetz der Stille. Seit ich Benediktiner bin, lebe ich nach dieser Regel. Aber gewusst habe ich das schon vorher. Erfolgreiche Kommunikation beginnt mit Zuhören und erst dann mit Mitteilen. Wenn Mönche zu lange weg sind von der Wirklichkeit, schlägt sich das ganz allgemein auf ihren Geist nieder.»
Was heisst das konkret?
«Ich muss in der Sprache der Zielgruppe reden. Sonst versteht die mich nicht. Ein Grundsatz der Werbung. Das bedeutet nun um Himmels Willen nicht etwa Anpassung an das draussen Übliche. Es ist nur logisch. Ich muss die Hoffnung auf ein besseres Leben befeuern. Nicht einfach den lieben Gott den lieben Gott sein lassen im fernen Himmelreich. Gottgefällig leben, ja. Aber vor allem menschengefällig. Meine Pflicht als Mönch besteht darin, meinen Mitmenschen Gutes zu tun. Das gilt übrigens nicht nur für Menschen, sondern – und das ist für mich die Verbindung zum Buddhismus – für Pflanzen, für Tiere, für die Natur, für die Umwelt. Einer meiner persönlichen Gottesdienste besteht darin, dass ich aus meinem Fenster vis- à-vis, jenseits des Tales, den Hirschen zusehe, die aus dem Wald auf die Wiese treten und äsen. Da kann ich still zuschauen und demütig Gott Danke sagen.» Gepriesen wird jenes höhere Wesen, das man Gott nennt, von den Benediktinern, mal laut singend, mal stillschweigend, mal sprechend im Chor, mal dialogisch im Sprechgesang, im stets gleichen Rhythmus zu festen Zeiten. Dem Gerüst der Benediktiner im Klosteralltag. Um 5.30 Uhr das erste Stundengebet, Vigil und Laudes, gemeinsames Wachen, einst ein nächtliches, jetzt wenigstens menschengefälliger ein frühmorgendliches Treffen mit neun Psalmen in einer Stunde. Danach gibt es Frühstück, schweigend eingenommen, was normal ist, weil Menschen– und Mönche sind nun mal zuvörderst Menschen in schwarzen Kutten – so früh am Morgen keine Neigung zum Dialog verspüren. Zumal werktags bereits um 7.30 Uhr – sommers in der Klosterkirche St. Martin, einem barocken Kleinod frei von andernorts oft sichtbarem barockem Kitsch, winters in der Marienkirche – die Konventsmesse gefeiert wird. Es folgen für die einen individuelles Studium der Bibel in der eigenen Zelle, für andere Arbeitsbeginn in der Schule, im Garten, in der Bäckerei, in der Verwaltung. Vor dem gemeinsamen Mittagessen im Refek-
Bruder Magnus nimmt in seiner Zelle den ersten Satz des Johannesevangeliums wörtlich. Behütet von Büchern und von Zeitschriften gräbt er sich durch das Weltwissen. Was er lesend nachts erfahren hat, teilt Magnus am Tag mit seinen Schülern, die er im Gymnasium des Klosters unterrichtet in Kommunika tion und Grafik. Die Sprache seiner jungen Zielgruppe hat er gelernt und verstanden.
torium, der Labung, die viertelstündige Mittags-Hore um 11.45 Uhr. Nach dem Mahl und einem Gespräch, eher über die Welt als über Gott, beim Kaffee, heisst es wieder Ora et labora. Täglich um 18 Uhr dann in der Vesper der gemeinsame Psalmengesang zum Ende der Arbeitszeit, anschliessend ein in Silentium einzunehmendes Abendessen. Schweigend sitzen die Mönche um den hufeisenförmigen Tisch. Abt und der innere Führungskreis – ähnlich wie bei Unternehmen im Leben draussen – in gepolsterten Stühlen an der Stirnseite oben. Sie werden von Tischdienern als Erste bedient: Suppe, Salat, Hauptspeise, dazu Apfelsaft, Rotwein oder Wasser aus der Klosterquelle. Die jeweiligen Sitznachbarn werden keines Blickes gewürdigt, was nicht an Missachtung liegt, sondern vorgeschriebener Teil des Rituals ist. Klapperndes Besteck und die Stimme eines Klosterbruders, des wöchentlich wechselnden Tischvorlesers, der während der Mahlzeit Erbauliches vorträgt, sind die einzigen Geräusche, bis der Abt mit einer kleinen Glocke das Zeichen für das abschliessende Dankesgebet gibt. Das Komplet, fünftes Mönchsgebet, beschliesst endlich den strengen Tagesablauf. Danach soll Schweigen herrschen hinter den Mauern, die Mönche mögen ruhen. Die einen nützen die Zeit bis zum persönlichen Nachtgebet vor dem Einschlafen für Arbeiten auf ihren Computern, was stillschweigend geduldet wird, andere lassen den Tag im Fernsehzimmer ausklingen, bevorzugt mit der SRF-Nachrichtensendung «10 vor 10.»
Du lieber Himmel, jeden Morgen um fünf Uhr aufstehen müssen in Gottes Namen?
«Habe mir abgewöhnt, morgens um halb sechs Uhr verschlafen in der Kirche zu stehen, im Winter zudem bei minus drei Grad. Ich kämpfe gegen diesen Regelverstoss an, verliere aber zumeist.»
Dabei ist aber alles eigentlich Ihre mönchische Pflicht.
«Ja, ja. Ich mache es dennoch nicht. Ich gönne mir mitunter auch eigene Regeln. Bin deshalb für meine Mitbrüder hin und wieder ein Ärgernis. Ich verstehe sie ja, wenn sie auf Einhaltung der täglichen Abläufe dringen. Aber zwingen kann mich keiner.»
Wie gut, dass man seine Sünden beichten kann.
«Ja, das ist wunderbar. Aber oft stehe ich nachts auf und schleiche in die Krypta des heiligen Placidus, die so alt ist wie das Kloster, entdeckt bei Ausgrabungen vor dreissig Jahren, suche betend Gott. Auf den Einwand, ja, Bruder Magnus, wenn das jeder machen würde …, kann ich nur antworten, aber ich bin halt nicht jeder. Am Tag XY stehe ich vielleicht oben vor dem Schalter. Dann geht die Klappe hoch und Gott fragt, was hast du auf Erden gemacht? Und wenn ich dann nur antworten könnte, ich musste dies oder jenes
BIANCO
WINTER 2017/18
83
84
M A R C E L R AY M O N D B O S S H A R D GOTTES GUTE GABEN
BIANCO 
WINTER 2017/18
machen, weil es die Regeln oder ein Klosteroberer verlangt haben, würde mich Gott auslachen.»
Oder bis auf Weiteres ins Fegefeuer schicken.
«Eher nicht. Ich glaube, wir haben nicht nur die Hölle, sondern auch das Fegefeuer schon reichlich auch Erden.» Die Tugenden Gehorsam, Schweigsamkeit, Demut, Keuschheit sind die tragenden Säulen des Ordens, die 73 Kapitel der «Regula Benedicti» weltweit gültig in allen Benediktinerklostern, als Regularium verfasst Mitte des sechsten Jahrhunderts. Ihr Autor Benedikt von Nursia hat den Orden gegründet. Diese Regeln des heiligen Benedict sollen hilfreich sein auf der Suche nach Gott, sollen so etwas sein wie Pfosten auf unbefestigten Wegen hin zum Ziel. Regel Nummer 20 zum Beispiel: «Seht, in seiner Güte zeigt uns der Herr den Weg des Lebens», oder weniger gnädig die Regeln Nummer 47 und 48, die Bruder Magnus contre coeur und erst recht wider seinen Geist gehen dürften: «Sollte es jedoch aus wohlüberlegtem Grund etwas strenger zugehen, um Fehler zu bessern und die Liebe zu bewahren, dann lasse dich nicht sofort von Angst verwirren und fliehe nicht vom Weg des Heils; er kann am Anfang nicht anders sein als eng.»
Muss nicht aber alle Hoffnung fahren lassen, wer im Alter von fünfzig Jahren noch immer nach einem Weg ins Heil sucht?
«Trotz allen Abenteuern, die ich vor meinem fünfzigsten Lebensjahr hatte, es waren viele und ich habe alles gemacht, was ein Katholik umgehend beichten müsste, ist das, was ich heute mache, wie ich heute lebe, das grösste Abenteuer. Das Einzige, was ich in meinem Leben noch nicht gemacht hatte, war das Leben als Mönch in einem Kloster. Es ist ein täglicher Kampf von Bruder Magnus gegen mich selbst. Ich kann es nur so sagen: Ich versuche, anständig über die Runden zu kommen und am Ende eine saubere Landung hinzulegen.»
Seine Freude am Genuss hat sich Bruder Magnus im streng geregelten Klosteralltag bewahrt. Das Abendessen der Mönche wird zwar gemeinsam in der vorgeschriebenen Stille im Refektorium eingenommen. Doch zum Gasthof sind es nur ein paar Schritte. Die Freiheit im Diesseits gönnt er sich bei Gelegenheit und dankt dem Herrn für seine guten Gaben.
85
weiss also nicht, ob ich es irgendwann schaffen würde, Gott so zu verstehen, dass ich aufstehen würde und sage, okay, ich mach es. Was auch immer er verlangt. Ich geh raus in die Welt …»
Welchem historischen Schweizer Vorbild würden Sie dann nacheifern? Bruder Klaus oder Wilhelm Tell? Dem Einsiedler oder dem Aufmüpfigen? «Es braucht beides. Einkehr, Einsicht und Revolte. Nicht nur beten, sondern auch machen. Denn was hilft es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber Schaden leidet an seiner Seele?»
Das ist aber bei Gott kein Originalzitat von Bruder Magnus.
«Nein, ist ein Zitat aus der Bibel. Ein grossartiges. In einer Sprache, die jeder versteht. Für mich habe ich ein dreifaches Mantra gefunden: Sei ehrlich. Werde wach und: Bleibe wach.»
Und was vermissen Sie am meisten? Beispielsweise mitunter den hier im Kloster verbotenen Duft von Frauen?
«Die Sehnsucht nach dem Weiblichen, die bleibt. Auch wenn sich Marcel einst gesagt hat, es ist genug. Du nimmst dich jetzt aus dem Spiel. Es hat nicht funktioniert für Magnus. Nur weil ich eine Kutte trage, habe ich doch nicht aufgehört, Mann zu sein. Noch immer finde ich die meisten Frauen, denen ich draussen mitunter begegne, bei Gott spannender als manche meiner Mitbrüder.» Bruder Magnus lacht dabei verwegen wie Marcel Raimond Bosshard. Während sich die Abenddämmerung aufmacht in die Nacht, während sich Stille senkt über Berg und Tal, erhebt er sich und geht zum Fenster. Die Zeit der Hirsche.
Ist man Gott eigentlich hier oben in den Bergen näher als in städtischen Tälern?
«Ja. Der Blick in den Himmel ist unverstellt. Wenn ich ein-, zweimal im Jahr nach Zürich fahren muss, um etwas zu erledigen, dann halte ich das kaum noch aus. Atme erst wieder auf, wenn ich wieder zu Hause und in der Surselva angekommen bin.»
Wäre es aber nicht angebracht, statt hier im Schutzraum Kloster zu leben und zu beten, das Wort Gottes auf die sozialen Schlachtfelder zu tragen, in eben jenes Dickicht der Städte?
«Wir glauben an das Bittgebet für die Menschen. Das Bittgebet an Gott. Spricht Gott menschlich? Nein, er ist göttlich. Er muss nicht in der Sprache der Menschen reden, um von ihnen verstanden zu werden. Ich
ENGLISH SUMMARY
M ISF IT IN T HE NA M E OF GOD When Brother Magnus, now 76, was still Marcel Bosshard, a Mad Man amongst all the other Mad Men of the advertising industry, he posed as a Castro-like macho with a cigar and a glass of wine. Nowadays, he talks jovially about his past life. He once marketed cigarettes and detergents, Johnny Walker and the purple Milka cow, chasing relentlessly through a glittering world of pretty fictions in search of the ultimate adventure. Until one day God wooed him and he entered the monastery of Disentis. «Despite all my adventures before my 50th birthday, my life as a monk is by far the greatest adventure I’ve ever been on», he says. «It is a daily struggle of Brother Magnus against myself. I can only put it this way: I try to get along decently and hope to perform a clean landing at the very end.»
86
KURZ & KNAPP HOTEL-BARS
Sitzen, trinken, reden. Zufallsgesellschaft inbegriffen. Stimmige Hotel-Bars erleben eine Renaissance. Ob man vom Zimmer kommt. Oder durch die Schwingtür von draussen
FERIEN-HOTELS: DIE 5 SCHÖNSTEN
«Bar by Rolf Sachs» im «Walther» in Pontresina.
www.hotelwalther.ch www.crestapalace.ch www.hotelcastell.ch www.waldhaus-sils.ch www.kurhausberguen.ch
www.thealpinagstaad.ch www.kronenhof.com www.castellodelsole.com www.lenkerhof.ch www.thechedi-andermatt.com
SCHILLERNDES LICHT Nirgends wird so bereitwillig so viel Persönliches erzählt. Niemand muss das Alleinsein fürchten. Wie in stimmigen Hotel-Bars. Das gilt so auch für die neue Bar des «Relais & Châteaux»-Hotels «Walther» in Pontresina. Rolf Sachs
Die «Rote Bar» im «Castell» in Zuoz
in der Bar weitere künstlerische Akzente, unbekannt ist der Maler des riesigen Gletscherpanoramas in Öl. Die Cocktails kreiert Gody Zeller, Chef de Bar. Die serviert er auch vis-à-vis des Korridors, wo sich ein wunderbares Fumoir befindet, very british mit bequemen Ledersesseln und formidabler Zigarrenkarte. Zu unseren liebsten Hotel-Bars in den Bündner Bergen gehören auch jene im «Cresta Palace» in Celerina (Scotch Single Malt Whisky, Schaumwein-Auswahl) oder die «Rote Bar» der Zürcher Architektin Gabrielle Hächler und der Künstlerin Pipilotti Rist, inklusive Halle im «Castell» in Zuoz (eine der besten Weinkarten im Engadin!). Zu unseren Lieblingsorten gehören weiter die Bar im «Waldhaus» in Sils, von den Basler Architekten Miller & Maranta restauriert, mit zauberhafter Grand Hall. Oder die kleine, historische Bar im «Kurhaus» in Bergün.
Im jährlichen Hotel-Rating der «NZZ am Sonntag» werden in einer speziellen Kategorie die grossartigsten Ferienhotels bewertet. Auf Platz 1: «The Alpina Gstaad». Alle Top-Five-Hotels, heisst es, würden sich durch eine Vielzahl von Angeboten auszeichnen, um einen mehrtägigen oder zweiwöchigen Aufenthalt abwechslungsreich zu gestalten. «Ohne entsprechende Wellness und Sportangebote etwa geht es nicht – in der Spitze erreichen die Spa-Bereiche eine Qualität, die sie ihrer selbst willen zum Ziel macht», erklären die Tester. Natürlich dürfe auch die Gastronomie nicht zu kurz kommen. Und Grösse und Ausstattung der Zimmer würden bei der Ermittlung dieser Rangliste ebenfalls eine wichtige Rolle spielen. «Nicht zu vergessen das Kriterium der Extras, unter dem sich eine Fülle an Zusatzangeboten zusammenfassen lässt: von der Bibliothek über Weinverkostungen bis zu speziellen Events.» Damit auch bei Dauerregen keine Langeweile aufkommen könne. Auf Platz 1 also «The Alpina Gstaad»: «Ob grenzenlose Tiefenentspannung im ‹Six Senses Spa›, Aussicht auf die Berge oder hervorragendes Essen – das Hotel im Berner Oberland lässt keine Wünsche offen.» Auf den folgenden Rängen: «Kronenhof» in Pontresina (2), «Castello del Sole» in Ascona (3), «Lenkerhof» in Lenk (4) und «The Chedi» in Andermatt (5).
ist immer anwesend. Mit seiner Lichtinstallation «Splendurir» (rätoromanisch: schillerndes Licht»), einem Himmel voller Milchkübel, die verkehrt, mit der Öffnung nach unten, gehängt sind und leuchten. Wer zu zählen beginnt, wird auf 77 Milchkesseli kommen, in der ganzen Schweiz zusammengesucht und gefunden. Was offenbar gar nicht so einfach gewesen sein soll. Aquarelle des Italieners Sandro Fabbri setzen
BIANCO
WINTER 2017/18
KURZ & KNAPP B E R G S TAT I O N E N
Rauf auf den Berg! Oben gibt es «no bad days», schmeckt die Welt anders. In der neuen «Raumstation» Crap Sogn Gion in Laax (2252 m.ü.M.). Oder auf der Corviglia, dem St. Moritzer Hausberg, im neuen «White Marmot» (2456 m.ü.M.)
«PLACE TO BE» AUF CORVIGLIAN «Never forget how to kiss», steht auf der Webseite von Atelier Zürich. Das Innenarchitekturbüro hat so glamourös-elegante Plätze geschaffen wie das Zürcher Restaurant «Razzia». Jüngster «Place to be» des Ateliers ist das «White Marmot» auf der Corviglia über St. Moritz, im gelb leuch tenden Bau von 1967, der dank Gastro-Pionier Hartly Mathis kulinarisch weltweit bekannt geworden ist. Das neue Restaurant mit Bar (und riesiger Murmeltier-Skulptur) beginnt die winterlichen Feiertage mit dem japanischen Starkoch Nobu Matsuhisa. In der Pâtsserie von einst steht neu ein Stammtisch für 12 Gäste mit historischen Corviglia-Bildern an den Wänden. www.mountains.ch/de/restaurants/ restaurants-corviglia
Der Stammtisch im «White Marmot» auf der Corviglia über St. Moritz
RAUMSTATION «GALAAXY» Als «galaktisches Facelift» haben ihn die Auftraggeber von der «Weissen Arena» selber bezeichnet: den Umbau der über 50 Jahre alten Bergstation Crap Sogn Gion in Laax. Verantwortlich für die Verwandlung ist die Firma «Rumble in the Jungle» des Zürcher UndergroundGastronomen Sami Khouri («Palestine Grill» «Widder Bar», «Dieter Roth Bar» usw.). Die äusserlichen Veränderungen sind «getarnt», aber sichtbar: mit weissgrauem Camouflage-Muster hebt sich die «GaLAAXy» nur unmerklich vom verschneiten Hintergrund ab. Im Innern wirds dafür umso bunter. Nach dem Ausstieg aus der Gondel landet man direkt in «Hollywood», kommt an einer grasgrün gestrichenen «Bücherwand» vorbei, in der Hunderte von VHS-Kassetten und Bildschirme stehen. Weiter geht es durch die «Wall of Wax» mit 14 000 Schallplatten – den Lieblingssong auflegen ist nicht nur erlaubt, sondern erwünscht! Für den Transit auf den Crap Masegn ist das Warten in einer faden Halle vorbei, jetzt geht es durch eine Bibliothek, «The Library». Neu sind
Gut «getarnt»: Die Bergstation Crap Sogn Gion in Laax und «Gastro-Rockstar» Sami Khouri (rechts unten)
weiter ein kleines Kino, eine Radiostation namens Radio GaLAAXy, die mit ihrer Playlist für den richtigen Groove sorgt, und der exklusive «Members only»-Bereich im oberen Stockwerk, «The Bridge» genannt. Ein Stockwerk tiefer die Main Station. Mit munteren Neon-Leuchtschriften an den Wänden («no bad days»), Retro-Plakaten und einem Sticker-Shop, wo sich T-Shirts und Hoodies mit Badges in verschiedenen Designs direkt vor Ort besticken lassen. Hier befinden sich auch die Damenund Herrentoiletten, ebenfalls «getarnt». Hinter einem alten
Cola-Automaten verbirgt sich das WC für die Herren, hinter einer Kioskwand mit Magazinen das für die Damen (zauberhaft, die goldgerahmten alten Spiegel). Für den kleinen Hunger findet sich in der Main Station der «Rocket Fries Snack». Das eigentliche Herz von «GaLAAXy» bildet aber das 360-Grad-Restaurant «The Heart». Mit rosafarbenen Sitzecken, unzähligen Töpfen mit Grünpflanzen und witzigen, galaktischen Dekoartikeln. Im Holzhäuschen in der Mitte spielen wechselnd DJs ihre Sets und beschallen am Wochenende den Berg mit spacigen Beats. Das Essen? Währschaftes wie Gehacktes mit Hörnli, aber auch viele Salate. Ob ausrangiertes Kino, Garage oder Bankfiliale, Sami Khouri hat schon alles zum Speiselokal gemacht», schrieb der «Zürcher Tages-Anzeiger». Nun also «GaLAAXy», die Bergstation Crap Sogn Gion in Laax (offizielles Opening: Januar 2018). Für Auftraggeber Reto Gurtner von der Weissen Arena ist Khouri ein «GastroRockstar». www.laax.com/aktuell/galaaxy
87
88
KURZ & KNAPP ESSEN, TRINKEN, GENIESSEN
Als Repdigit werden Schnapszahlen in der Mathematik bezeichnet. Mehrstellige Zahlen mit identischen Ziffern. Wie 555 oder 4444. Auf Gebranntes stösst man irgendwann bei beiden Werken. Auf der Suche nach einem Rezept oder einer Beiz
555 ADRESSEN: AUFGEGABELT FÜR BESSERESSER
4444 EXEMPLARE: HEIDI AND FRIENDS AM HERD Die Frage stellt sich sogleich, mit dem Öffnen des mit Peru-, Japan-, Brazil-, Egypt- und London-Stickern voll beklebten Kinderköfferchens: Das soll ein Kochbuch sein? Es ist jedenfalls bis zum Bersten gefüllt, aber nur dank einem roten Gummiband, an dem ein Filz-Edelweiss angebracht ist und ein gewobenes Stoff-Schweizerkreuz, verselbständigt sich nichts, hält alles schön zusammen. Zwischen den einzelnen 196 Buchseiten liegen lose und scheinbar zufällig Papierfetzen und Postkarten, Ausgeschnittenes aus Zeitschriften und aus alten Büchern. Auch ein Stück Speck und eine Scheibe Bündnerfleisch, beides vakuumiert. Am roten Bändel, dem Lesezeichen, hängt ein kleines Taschenmesser in einem Lederetui (Victorinox ist einer der Sponsoren vom «KochKunstPhilosophiePoesieBuch» der Bündner Künstlerin Piroska Szönye). Zwischen Schmirgelpapier und mit Gepäckschnur gebunden («der beste Teil des Buches») befinden sich ein paar von Hand geschriebene Rezepte – von der Engadiner Heusuppe mit Linsenkeimlingen (zu etwas duftendem Bergheu) über Petersilienknödel bis zum Bergbachforellenfilet mit Alpenwiesenkräutern und Pizzoccheri (nach einem Rezept von Drei-SterneKoch Andreas Caminada). Die «Secrets of the Swiss 5 truely Swiss dishes» (Gschwellti, Röschti, Cheese-Fondue, Raclette, Älplermagronen) werden detailliert erklärt, in Begleitung einer Kopie der 1000er-Note, versorgt in einem plastifizierten Stück einer rotweissrot karierten Tischdecke. Auf Original-Floralp-Butter-Papier gedruckt sind die Rezepte eines Butterauflaufs oder der Lozärner Ankäsuppa. Auf Käse-Packpapier eine alte Appenzeller Sennechoscht («Alte Maa») oder eine Käseschnitte nach Jägerart (mit Eierschwämmen). Eintopf- und Suppen-Gerichte ergänzen das ausufernde Buch «Heidi and Friends», das samt kleinem Köfferchen für 222 Franken erhältlich ist (ohne Köfferchen: Fr. 199.–). Es gibt total 4444 mit Liebe von Hand hergestellte Exemplare. www.heidiandtheswissnessfeeling.ch
Martin Jenni ist ein Bonvivant mit Appetit und Durst, der Beizen und Läden liebt, die Charakter, die eine Seele haben. Orte wie das «Alpina» in Lumbrein im Bündnerland, wo man auf einem Holzstuhl am Blechtisch sitzt und einem «bei der Rüebli-Frischkäse-Torte von Carla und einem Glas Schiller alles egal wird. Auch die Abfahrtszeit des Postautos.» Vor Plastikstühlen und -tischen schauderts den Martin Jenni, und teure Luxushütten sind nicht sein Ding. Zu seiner Schweiz gehören stimmungsvolle Orte, die kulinarische und geistige Nahrung bieten. Deshalb werden in seinem Buch «Aufgegabelt» alle fündig (handliches Taschenformat, 11 x 16 cm, 320 Seiten, Fr. 20.–), die nicht das Perfekte, aber Besondere suchen. 555 Adressen in der Schweiz hat Jenni entdeckt und zusammengetragen: zum Einkehren, zum Einkaufen, zum Einschlafen. In der Welt des Gstaader Luxus strahlte das Berghaus «Wasserngrat» Wärme aus und das Essen in bester Qualität werde mit einem ehrlichen Lächeln serviert, das sich die Mitarbeiter nicht antrainieren müssen. Ob man für 50 oder 500 Franken tafelt. Zu Martin Jennis Lieblingsadressen in den Bergen gehören das «Sonder» von Sepp Kölbener im appenzellischen Stein. Die «Cuschina Menono» im bündnerischen Camischolas von Mengia und Erwin Braunhofer. Im Centovalli, ganz nahe der Grenze zu Italien, die 2017 von Elias und Giona neu übernommene «Osteria Grütli» in Camedo. Dann Klaus Leuenbergers «Erner Garten» in Ernen im Wallis. «Seine Alpenküche überrascht, reizt und fordert heraus, ohne zu überfordern.» www.echotopos.ch
BIANCO
WINTER 2017/18
KURZ & KNAPP BERGE IN BILDERN
Die Berge als Motiv haben in der Schweiz eine lange Tradition. Aber auch eine boomende Gegenwart. Schöne Berge sind nicht nur schön, sondern auch unheimlich populär
BEGEHRTE SKILÄUFER
EWIGE LIEBE Berge in kaum berührter Natur, Berge im Abendrot, Berge im Gletscherfirn. Berge ganz nah, Berge aus der Ferne. Berge mit Seen. Und ganz selten: Berge mit Menschen. «Schöne Berge. Eine Ansichtssache» heisst die Ausstellung im Alpinen Museum der Schweiz in Bern, an der eine Auswahl aus der hauseigenen Sammlung gezeigt wird: über 200 Werke aus zwei Jahrhunderten. Zu einem grossen Teil stammen sie aus Schenkungen von heute wenig bekannten oder vergessenen Künstlerinnen und Künstlern. Das Museum hat zusätzlich Bergmaler, Berggängerinnen, Städter, Schülerinnen zu ihrer Liebe und Leidenschaft für die Berge befragt. Ihre persönlichen Geschichten widerspiegeln sich in den literarischen Hörtexten des Lausanner Theaterautors Antoine Jaccoud. Ebenso können Bergbildbesitzer ihr Lieblingsbild einen Monat lang im Museum ausstellen. Zur Schau über unsere ewige Liebe zu den Bergen erscheint auch ein Postkartenbuch mit 40 heraustrennbaren Postkarten. «Schöne Berge»: Alpines Museum der Schweiz in Bern 23. Februar bis 16. September 2018 www.alpinesmuseum.ch
Adolphe Braun, Aletsch-Gletscher, Kanton Wallis, 1862–1865, Albuminpapier
HALSBRECHERISCHE UNTERNEHMUNGEN Dem Fotografie-Unternehmen Ad. Braun & Cie., bekannt für seine «Vues de Suisse», ist eine wunderbare Ausstellung in München und Colmar gewidmet. Sie vermittelt einen neuen Blick auf Adolphe Braun (1812–1877), den grossen Fotografen des 19. Jahrhunderts, der als ausgebildeter Zeichner zunächst für die elsässische Textilindustrie arbeitete, bevor er sich 1854 der Fotografie zuwandte. Ab 1860 fotografierten er, seine Brüder, später die drei Söhne und insgesamt über 40 Mitarbeiter die alpinen Landschaften der Schweiz mit grossformatigen Kameras. Das waren teils halsbrecherische Unternehmungen in hochalpinem Gelände, was man sich im Zeitalter von Seilbahnen und Handy-Kameras kaum noch vorstellen kann. Neben Landschaftsdarstellungen spezialisierte sich Braun auf die Reproduktion von Kunstwerken, was ihm den Spitznamen «Gutenberg der Kunst» eintrug – drei Jahrzehnte lang war er zudem der erste offizielle Fotograf des Louvre. Brauns Nachlass verzeichnete Tausende von Glasplatten, mehr als 20 000 Kollodiumplatten, Hunderte alter Albuminpapierabzüge und zahlreiche Alben – das fotografische Familienunternehmen Ad. Braun & Cie. war eines der weitaus produktivsten und erfolgreichsten im Europa des 19. Jahrhunderts. Zahlreiche Museen und Sammler in Europa und den USA haben umfangreiche Sammlungen von Brauns Werken angelegt. Stadtmuseum München bis 21. Januar 2018
Musée Unterlinden in Colmar 17. Februar bis 14. Mai 2018
Katalog bei Schirmer/Mosel, 359 Abbildungen, € 58,–
«Zu den attraktivsten und gesuchtesten Sujets in der Schweizer Landschaftsmalerei gehören Bergdarstellungen», schreibt die «Handelszeitung». Und nennt als Beispiel die herausragende expressionistische Winterlandschaft «Schneeberge mit Skiläufern» aus dem Jahr 1928 von Ernst Ludwig Kirchner. Schätzpreis: 1 bis 1,5 Millionen Franken. Im Dezember 2017 kam das Werk bei Sotheby’s in Zürich unter den Hammer. Erzielter Preis: Fr. 1 215 000.–.
KUNSTSCHNEE Einen zweiten Blick wirft der österreichische Fotograf Lois Hechenblaikner, der sich in seiner Arbeit seit 20 Jahren mit Massentourismus und Grossanlässen beschäftigt, auf die Ski-Weltmeisterschaften 2017 in St. Moritz. Mit sehenswerten Bildern, die in einer «Nachlese» jetzt im mittelalterlichen Turm (La Tuor) in Samedan zu sehen sind. Eine Winter-Ausstellung, die bis zum 2. April 2018 dauert. www.latuor.ch
89
90
KURZ & KNAPP PORSCHE 911 GT2 RS
IM RÜCKEN DRÜCKEN 700 PS
DER PORSCHE 911 GT2 RS IST DER SCHNELLSTE JEMALS GEBAUTE PORSCHE MIT ZUL ASSUNG. BRAUCHT EIGENTLICH KEINER. DOCH GENAU DARUM IST ER AUSVERKAUFT.
Gut investiert. Der schnellste Neunelfer ist auch der teuerste: Fr. 341 800.– in der Schweiz (ausverkauft) € 369 672,– in Österreich (ausverkauft) € 285 220,– in Deutschland (ausverkauft)
Eine Theke von einem Heckspoiler. Lufteinlässe gross wie Handgepäckstücke. Rallyestreifen, wie man sie zuletzt in den 1980er-Jahren auf Parkplätzen vor Landdiskotheken gesehen hat. Farbkombinationen, die selbst Mutigen ein «Mutig!» abringen. Der Rest ist ehrfürchtiges Schweigen. Der Porsche 911 GT2 RS mit seinem 700 PS starken turbobefeuerten Boxermotor und Heckantrieb hat am 27. September den Rundenrekord für strassenzugelassene Autos auf der Nordschleife zertrümmert und einen Hype ausgelöst, der groteske Blüten treibt. Spekulanten, Fans und Sammler verzeihen dem GT2 RS vieles, was sie an anderen Autos peinlich fänden, und sind bereit, beinahe alles zu tun, um an einen Kaufvertrag dieses kommenden Klassikers zu kommen. Die Gesamtproduktion von mehreren tausend Stück ist mehrfach überzeichnet, selbst langjährige gute Kunden mit gut gefüllten monothematischen Garagen müssen abgewiesen werden. Was versäumen sie? Sie versäumen den bestgereiften Porsche 911 der Geschichte. Sie versäumen ein Auto, das in 2,8 Sekunden auf 100 Kilometer/Stunde beschleunigt und sich freiwillig mit 340 km/h Spitze bescheidet, um die Reifen nicht zu sehr zu strapazieren. Sie versäumen ein Auto, dessen Aerodynamik dermassen wirkungsvoll ist, dass man die Lippe der Front mit Stahlseilen sichern muss.
Sie versäumen ein Auto, das bei Höchstgeschwindigkeit um 400 Kilo fester auf die Strasse drückt als im Stillstand. Sie versäumen einen fauchenden Motor, wie man ihn zuletzt in den 1970er-Jahren gehört hat. Vor allem aber versäumen sie 700 PS, die sich nach 700 PS anfühlen, trotz aller Unterstützung durch elektronische Regelsysteme. Rallye-Weltmeister Walter Röhrl hatte einmal gemeint, wahres Autofahren begänne in jenem Moment, in dem der Fahrer mit dem Gaspedal jederzeit einen Fehler machen könne. Insofern ist das hier wahres Autofahren. Kaum jemand wird den GT2 RS tatsächlich brauchen. Zum Rennfahren bauen die Jungs von Porsche andere 911er. Aber sie bauen eben auch den GT2 RS, das schnellste Auto mit Strassenzulassung überhaupt. Warum? Weil sie es können. Mit Carbon-Dach, Titan-Überrollkäfig und Schalensitzen. Mit Hinterreifen, doppelt so breit wie dieses Magazin. Mit Rennkatalysatoren, die man in der Dunkelheit von aussen glühen sieht. Der GT2 RS ist ein Zeitzeuge, eine Ikone des ausgehenden Benzinzeitalters, die Krönung einer Epoche. Das ist es, was ihn so besonders macht. Sollten Sie irgendwann auf einem Alpenpass von zwei orangen Feuerbällen unter einer bunten Theke überholt werden: Freuen Sie sich. Sie haben einen Porsche 911 GT2 RS in freier Wildbahn gesehen statt nur in der Garage eines Glücklichen.
BIANCO
WINTER 2017/18
IMPRESSUM
BIANCO, 10. Jahrgang Ausgabe Winter 2017/2018 HERAUSGEBER UND CHEFREDAKTOR Wolfram Meister wolfram.meister@biancomag.ch BIANCO Grubenstrasse 11, CH-8045 Zürich Fon +41 44 450 44 10 BIANCO Via Brattas 2, CH-7500 St. Moritz www.biancomag.ch ART DIRECTOR Jürgen Kaffer GRAFIK Falk Heckelmann VERLAG, ANZEIGEN BIANCO Verlag GmbH Brigitte Minder Grubenstrasse 11, CH-8045 Zürich Fon +41 44 450 44 12 brigitte.minder@biancomag.ch REDAKTION AUTOREN Dario Cantoni, Werner Jessner, Michael Jürgs, Stefan Maiwald, Christoph Schuler, Linda Solanki, Brigitte Ulmer FOTOGRAFEN Giorgio von Arb, Röbi Bösch, Gian Marco Castelberg, Markus Casutt, Sandro Casutt, Gian Giovanoli, Belinda Wilson ILLUSTRATIONEN Helge Jepsen COMIC Andrea Caprez PRODUKTEFOTOS mit freundlicher Genehmigung der Hersteller COVERFOTO Röbi Bösch ENGLISCHE TEXTE Katharina Blansjaar KORREKTORAT Marianne Sievert DRUCK AVD Goldach, Sulzstrasse 10, CH-9403 Goldach Auflage Winter 2017/2018 20 000 Exemplare PREIS Einzelheft CHF 25.– BIANCO erscheint 2x jährlich, im Sommer und Winter Alle Rechte vorbehalten www.biancomag.ch Freunden Sie sich mit BIANCO auf Facebook an: www.facebook.com/biancomag
Japanische Qualität - seit über 60 Jahren Mit viel Liebe zum Detail beweist der japanische Brand Goldwin in seiner aktuellen Skiwearkollektion - wie neu auch Lifestyle-Kollektion dass sich Ästhetik und Funktion keineswegs ausschliessen. Im Gegenteil: erstklassige Materialien werden mit zeitlosen Styles verbunden. Die Geschichte Goldwins beginnt vor über 60 Jahren in einer kleinen Strickerei in Japan. Auch wenn Goldwin an seinen traditionellen Werten festhält, hat der Brand sich parallel zum Skisport weiterentwickelt und steht heute vor allem für technischen Innovationsgeist und reduziertes Design. Die Lifestyle-Kollektion richtet sich an anspruchsvolle Herren, die sich gerne in der Stadt wie auch in der Natur aufhalten und weder auf Komfort noch Stil verzichten möchten. Für die Piste zeigt Goldwin überragende Styles mit dynamischen Schnitten und zahlreichen smarten Details. Die Titan Jacke wurde für die technische Verarbeitung von äusserst hochwertigen Materialien und ihrem eleganten Design mit dem ISPO Award Winner ausgezeichnet.
Classic Ski Pullover
Down Jacket
Titan Jacket
Aus Liebe zum Wein. Seit 124 Jahren.
Aus Liebe zum Wein. Seit 124 Jahren.
Aus Liebe zum Wein. Seit 123 Jahren.
Aus g a be 11 — N ov e m be r 2017
Aus g a be 05 — M a i 2017
Aus g a be 12 / 1 — Dez e m be r 2016 / Ja n ua r 2017
Carnuntum: Top-Weine aus dem Osten Wiens
die 100 schönsten
Bordeaux im Höhenflug
weine der Schweiz DER «WEIN DES JAHRES» KOMMT AUS DEM AARGAU
10 Must-Haves des Jahrgangs 2016
Gaia Gaja Mit den Augen des Vaters
01_SWZ_1117_U1_Titel_07sik_RZ.indd 1
02.11.17 11:17
RioJa-Gipfel Lagenweine, die gehätschelten Lieblinge der Kellermeister
oxHoft Sieben Jahrgänge von Birgit Braunsteins Blaufränkisch-Blend
plus 351 pRozent Spanien befeuert mit seinen Weinen den Weltmarkt
01_SWZ_0517_U1_Titel_06sik_RZ.indd 1
04.05.17 14:24
ch f 13.50
ch f 13.50
GanTenbein Klasseweine seit 35 Jahren
ch f 13.50
Tessin 2015 Jahrgang der Superlative
01_SWZ_1216_U1_Titel_09sik_RZ.indd 1
01.12.16 11:51
Aus Liebe zum Wein. Seit 124 Jahren.
Aus Liebe zum Wein. Seit 123 Jahren.
Aus Liebe zum Wein. Seit 124 Jahren.
Aus g a be 09 — Se p t e m be r 2017
Aus g a be 09 — Se p t e m be r 2016
Aus g a be 03 — M ä r z 2017
WinzerWerkzeug
WÄHLERISCHE SCHWEIZER Wein aus dem Ausland, aber einheimisches Bier
Irene Grünenfelder: 20 Jahrgänge «Eichholz»
PHILIPPE STARCK Ein Keller wie eine Klinge EKLAT AN DER MOSEL VDP-Aufnahmeverweigerung für zwei Spitzenweingüter
Weltweiter Bestseller: Rebscheren von FELCO
ten Years After
tessin 2007 Wein-export Plus 32 Prozent in 10 Jahren
07.09.17 10:49
ch f 13.50
ch f 13.50 01_SWZ_0917_U1_Titel_06sik_RZ.indd 1
ch f 13.50
riecine Sangiovese in purezza pinot noir & co. Huber, Johner und 24 deutsche Winzer
01_SWZ_0916_U1_Titel_13sik_RZ.indd 1
01.09.16 10:16
632 JAHRE Die Freundschaft der Familie Antinori mit dem Wein
TOP 100 IM SCHWEIZER WEINHANDEL Die Rangliste, die Zahlen, die Fakten
01_SWZ_0317_U1_Titel_12sik_RZ.indd 1
11 JAHRE SPÄTER 33 grosse Weine des Jahrgangs 2006
09.03.17 09:40
JETZT KENNENLERNEN, JETZT ABONNIEREN www.SchwEIZERISchE-wEINZEITuNg.ch Aus Liebe zum Wein. Seit 123 Jahren.
Aus Liebe zum Wein. Seit 124 Jahren.
Aus Liebe zum Wein. Seit 123 Jahren.
Aus g a be 03 — M ä r z 2016
Aus g a be 06 — Ju n i 2017
Aus g a be 06 — Ju n i 2016
PAPE CLÉMENT 2009
Guigal Ampuis 2010
Siepi
Jaboulet La Chapelle 2005
+ 80,6 %
+ 94,1 %
+ 77,8 %
EIN GROSSER WEIN FEIERT GEBURTSTAG
Wertsteigerung:
WUCHTIGELEGANTER LUXUS
TOP-PERFORMER 01_SWZ_0316_Titel_U1_08sik_RZ.indd 1
SÜDAFRIKA Chardonnay aus den besten Kap-Kellereien
TOP 100 IM SCHWEIZER WEINHANDEL Importstatistik mit allen Zahlen und Fakten plus Rangliste
25.02.16 10:56
01_SWZ_0617_U1_Titel_09sik_RZ.indd 1
ch f 13.50
MONIKA UND THOMAS BÄR Von der Schönheit des Chianti bezaubert
ch f 13.50
WEINE AUS CADILLAC
01.06.17 10:41
WEINMARKT-ANALYSE Was Schweizer am liebsten trinken
01_SWZ_0616_U1_Titel_12sik_ac_RZ.indd 1
GERMANIER 120 Jahre Walliser Weingeschichte
20 JAHRE DANACH 20 grosse Weine aus dem Jahrgang 1996
02.06.16 11:17
COMIC ALPENBITTER
93
94
COMIC ALPENBITTER
BIANCO 
WINTER 2017/18
95
96
Ü B E R A L L E B E R G E M I T… ANDREAS CAMINADA
WELTENBUMMLER f__ Schon ein bisschen Reisefieber?
Nein, noch nicht. Wir arbeiten bis zum letzten Tag im Jahr. Viele unserer Stammgäste möchten Silvester bei uns im «Schauenstein» feiern. Danach wird es noch ein paar Tage hektisch und heftig zu tun geben, bevor es losgehen kann.
a__
f__ Ab auf den Flughafen, ab auf Weltreise …
Unser Ziel ist es nicht, rund um die Erde zu reisen, zu rasen. Sondern uns Zeit für uns zu nehmen, wo immer es uns gefällt, an den schönsten Plätzen auf unserem Planeten.
a__
f__ Die ganze Familie kommt mit?
Ja, meine Frau Sarah und unsere beiden Söhne, Finn Henry und Cla Gianni, die vier und zwei Jahre alt sind. a__
DEN KOCHKÜNSTLER VOM «SCHLOSS SCHAUEN STEIN» ZIEHT ES IN DIE WELT HINAUS. 140 TAGE WILL ANDREAS CAMINADA UNTERWEGS SEIN, DER DREI-STERNE-KOCH AUS FÜRSTENAU IM BÜNDNER L AND. UND FREI SEIN VON ALLEM. FEINSCHMECKER MÜSSEN SICH DERWEIL GEDULDEN, DENN DAS RESTAURANT, REGELMÄSSIG UNTER DIE BESTEN DER WELT GEWÄHLT, BLEIBT IN DER ZWISCHENZEIT GESCHLOSSEN. BIS ZUM 31. MAI 2018. I nt e r v i e w : Wo l f ra m Me i s t e r Fo t o g ra f i e : G i a n Ma r c o C a s t e l b e rg
f__ Wie meinen Sie das?
Das hält sich ziemlich in Grenzen. Eine Reisetasche pro Person haben wir ausgemacht, das muss reichen. Alle Wintersachen bleiben sowieso daheim.
a__ Wir wissen nicht einmal, wohin wir anfänglich fliegen werden. In welche Richtung. Ob erst nach Asien. Oder doch nach Florida. Wir sind zwar zwischendurch immer wieder ein bisschen am Brainstormen. Aber für etwas entschieden haben wir uns noch nicht.
Ist gepackt. Ursprünglich wollte ich den ebenfalls mitnehmen. Doch davon bin ich inzwischen wieder abgekommen. Er bleibt also hier.
a__
f__ Als Koch überlassen Sie nichts dem Zu
fall, müssen ein Perfektionist sein. Bis wie weit hinaus hat Weltenbummler Caminada die Reise im Detail geplant? a__ Nichts
ist geplant, überhaupt nichts.
festgelegt?
Mehr oder weniger. Wir werden uns eher auf die südliche Hemisphäre konzentrieren. Südamerika bereisen, auch Australien. Südafrika ist eine Option, Neuseeland mit Sicherheit ein Ziel. Dort wollen wir Freunde besuchen. Wenn es sich ergibt, werden wir vielleicht auch mal Freunde aus der Schweiz unterwegs treffen, falls das geografisch passen sollte. a__
f__ Sie sind 40, Pächter, Küchenchef und
Hotelier im «Schloss Schauenstein» …
Reise …
f__ Und der Golfbag?
f__ Auf die Kontinente haben Sie sich aber
Kommen Sie mir jetzt nicht mit einer Midlife Crisis. Wenn, hätte ich die wohl eher nach zehn Jahren im «Schauenstein» gehabt, im Jahr 2013. Jedenfalls wollte ich damals schon mal für länger auf Reise gehen. Um frische Energie zu tanken, frei von allem zu sein. Doch damals ging das leider nicht.
a__
f__ Plus jede Menge Gepäck für die grosse a__
bleiben, wenn es uns gefällt, mal nur eine Nacht hier und am anderen Tag wieder fort sein. Wie Backpacker.
f__ Dann haben Sie auch nirgends einen
Tisch reserviert? Bei einem bekannten Spit zenkoch? a__ Nein, nein. Es gibt keine Route, keine Reiseplanung, keine Reservationen. Wir wollen in den Tag hinein leben. Nur das machen, worauf wir gerade Lust haben. Mal zwei bis drei Wochen an einem Ort
f__ Nun klappts glücklicherweise im Jahr
2018. a__ Fünf
Monate lang haben wir ab Januar Betriebsferien. Eine freie Entscheidung. Die Verantwortung dafür trage ganz alleine ich. f__ Wie haben Sie das mit Ihren
Angestellten gelöst?
Zwei halten die Stellung. Nehmen Reservationen an. Es wird auch ein bisschen a__
BIANCO
WINTER 2017/18
97
umgebaut, renoviert. Wahrscheinlich machen wir beim Eingang, wo jetzt die Reception ist, eine Lounge und Bar. Unsere Sommelière geht wie wir und andere auch ebenfalls auf Reisen, besucht Weingüter.15 Leute arbeiten im «IGNIV by Caminada», die Zimmermädchen im «Park Hotel» in Flims. Andere haben neue Stellen angenommen, zudem haben wir auch neue Leute rekrutiert. f__ Wie viele werden es am 1. Juni 2018
sein, wenn Sie mit Ihrem Restaurant in den Sommer starten? a__ 28 Angestellte, und wir werden
mit vielen neuen Ideen unsere Gäste überraschen.
f__ Mit Ihrer Reise feiern Sie auch ein
kleines «Schauenstein»-Jubiläum.
Ja. 2003 haben wir auf dem «Schloss» in Fürstenau begonnen. Mit vier Leuten. Und haben bis 2005 praktisch durchgearbeitet. Auch die Jahre danach waren brutal hart. Heute schauen wir, dass es genug Ferien übers Jahr sind. Für alle. a__
f__ Die Zeit vergeht meistens schneller, als
man denkt.
Das stimmt, was die 15 Jahre auf «Schloss Schauenstein» angeht. Und es wird wahrscheinlich auch bei unserer Reise so sein. Aber auf die freuen wir uns jetzt erst einmal.
a__
f__ Und, wissen Sie inzwischen, wohin der
erste Flug Ihrer Reise geht (nochmals nach gefragt haben wir Mitte Dezember)?
Zuerst sollte es nach Thailand gehen, nun haben wir uns für Miami entschieden. Für die andere Richtung.
a__
ENGLISH SUMMARY ANDREAS CAMINADA Schloss Schauenstein Restaurant und Hotel Schlossgass 77, 7414 Fürstenau Fon +41 81 632 10 80 www.andreascaminada.com www.schauenstein.ch
«Guide Michelin 2018» «Kann es einen faszinierenderen Rahmen geben für Kochkunst à la Caminada als ein wunderbares Schloss, das Historie und modernes Design aufs Stimmigste vereint? Unaufhörlicher Ideenreichtum lässt immer wieder neue Kombinationen von Produkten, Temperaturen, Konsistenzen und Farben entstehen.» «GaultMillau 2018» «Wer den «Grossen Caminada» bestellt, kriegt ein Feuerwerk, von
den Amuse-Bouches bis zu den wundervollen Friandises. Trotzdem empfehlen wir, noch ein Special ins Menü einzubauen. Der Chef greift dann tief in sein Rezeptarchiv und lässt Kreationen neu aufleben, die ihn gross und berühmt gemacht haben. Wir kriegten den «Klassiker 2008»: eine gebratene Langustine, Langustinentatar, Bouillon, Limone (ganz wichtig!) – unglaublich ausgewogen, unglaublich präzis zubereitet. Ein begeisterndes Gericht, das den Chef vor zehn Jahren ganz an die Spitze katapultiert hat.»
F R E E F R OM E V E RY T H I N G Andreas Caminada is hitting the road. Together with his wife and two young sons, the three-star chef from Fürstenau in Grisons wants to travel for 140 days. And be free from everything. Gourmets will have to be patient in the meantime because his restaurant, Schloss Schauenstein, regularly selected among the best in the world, will remain closed until 31st May 2018. So where is he off to? «We don’t want to rush around the world. Instead, we want to take time for ourselves and focus on some of the most beautiful destinations.» His first flight will take him to Miami. «We had originally planned on flying to Thailand, but now we have changed our minds.»
LETZTE SEITE
BYE-BYE! Kein Meer, keine Schiffe. Dafür ein Leuchtturm. Mitten in den Alpen. Im Schnee. Auf 2046 Metern beim Oberalppass. Als Symbol für die Verbindung zwischen der Quelle des Rheins und seiner Mündung in Rotterdam. Wo das Orginal steht, im Maritiem Museum. Foto: Salomon Freeski
98
DAS NÄCHSTE HEFT ERSCHEINT IM JUNI 2018 www.biancomag.ch
BIANCO
WINTER 2017/18