Ballettzeitung N°1: Neuanfang

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Oktober 23 – Januar 24 Bovary S. 2

Wunsch und Wirklichkeit

2 Chapters Love S. 8

Poesie und Techno

Dornröschen S. 12

N°1 Fantasie und Opulenz

Neu an fang Liebe Lesende, willkommen zur ersten Ausgabe der Zeitung des Staatsballetts Berlin! Wir laden Sie ein, hinter die Kulissen zu schauen: Unter dem Titel «Neuanfang» spricht Christian Spuck über Bovary, seine erste Kreation als Intendant des Staatsballetts Berlin, wir begleiten Kostümbildnerin Emma Ryott zur Arbeit an ihren opulenten Kleidern in die Werk­ stätten, und der Musiker Ori Lichtik

verrät, wie die vibrierend-präzisen Choreographien von Sharon Eyal zu Techno und Pop entstehen. Wir erfahren von Ballett-Legende Marcia Haydée, warum das Phänomen Dornröschen immer noch Menschen jeden Alters fasziniert, und von Fotograf Florian Hetz mehr über seinen besonderen Blick auf die Körper unserer Ensemblemitglieder.

Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim Lesen und erlebnisreiche Ballettabende! Ihr Staatsballett Berlin


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NEUANFANG

Bovary

«Man kann mit einer Illusion nicht das Leben füllen» Gefangen zwischen Wunsch und Wirklichkeit – Intendant Christian Spuck über seine neue Kreation Bovary, die erste Premiere der Spielzeit 23/24. Gustave Flauberts Madame Bovary, 1856 veröffent­ licht, ist ein Klassiker der französischen Literatur des ‹literarischen Realismus› und löste nach seiner Ver­ öffentlichung einen Skandal aus. Flaubert wurde der Sittenwidrigkeit angeklagt – gewann jedoch den Prozess. Der Roman porträtiert die junge Emma Bovary, die sich in ihrer Ehe und in den engen Grenzen der Provinz gefangen sieht. Ihre Versuche, aus den gesellschaftlichen Normen auszubrechen und sich mit Liebhabern und materiellem Luxus das Leben nach ihren eigenen Wünschen zu formen, führt in eine Abwärtsspirale aus Schulden, Schande, Verzweiflung und schließlich in den Selbstmord. In Bovary beleuch­ tet Christian Spuck die Innenwelten der Figur und ihre tragische Suche nach Erfüllung, die sie zu einem zeitlosen Symbol menschlicher Sehnsucht macht.

Ein Gespräch mit

Christian Spuck Staatsballett Berlin (SBB) Madame Bovary ist

ein Klassiker der Weltliteratur. Warum genau dieses Werk für ein Ballett? Christian Spuck (CS) Madame Bovary verfolgt mich schon seit meiner frühesten Jugend. Ich habe es jetzt noch einmal gelesen, weil ich immer auf der Suche nach literarischen Stoffen bin, und der Roman hat mich erneut gefesselt. Die Thematik, die darin angesprochen wird, hat viel mit uns heutzutage zu tun. Ich finde den Roman sehr aktuell und inspirierend in seiner bildhaften und detaillierten Sprache. Ich finde es spannend, wenn auf der Bühne Konflikte erzählt werden, mit denen wir etwas zu tun haben oder mit denen wir uns identifizieren können. An Flaubert interessiert mich insbesondere, dass sich die Figuren auf der Bühne jeglicher Eindeutigkeit entziehen. Emma Bovary ist für mich eine Sympathieträgerin, gleichzeitig kann ich nicht nachvollziehen, was sie tut, und finde sie manchmal fast unerträglich. Das trifft auch auf die anderen Hauptfiguren zu. Aber genau das finde ich aufregend, wenn es auch eine Herausforderung ist.

KW Dennoch wird Bovary nicht als ein konventionelles Handlungsballett inszeniert, sondern bricht narrative Strukturen auf. Kannst du deinen Umgang mit der literarischen Vorlage beschreiben? CS Wir haben das Problem, dass wir beim Ballett das gesprochene Wort auf der Bühne nicht nutzen können. Ein Versuch darauf eine Antwort zu finden, ist sicher die Musikauswahl, aber auch die Choreographie. Es wird Szenen geben, die die Handlung von Madame Bovary nacherzählen. Es gibt viele Momente, besonders in den Pas de deux', die die Geschichte erzählen, sodass sie nachvollziehbar wird. Dennoch geht es mir mehr um Beziehungen und Verhältnisse zwischen den Figuren, ihre enttäuschten Erwartungen und um ihre Sehnsüchte. Emotionen lassen sich auch abstrakt erzählen. Da kommt dann die Musik zum Tragen, die bewusst kontrastreich angelegt ist. Für mich ist es eine kontinuierliche Suche nach einer Form, die beschreibt, was ein Handlungsballett heutzutage sein könnte. SBB Wie ist deine Musikauswahl für Bovary? CS Die Musikstücke von Camille Saint-Saëns, Thierry Pécou und György Ligeti spiegeln die im Werk enthaltenden Brüche wider und erzeugen in ihrer Anordnung eine Fallhöhe und somit auch Überraschungsmomente, sodass man dann den komplexen Themen des Romans nachspüren kann.

Wenn es um erzählerische Ballette geht, versuche ich in der Musik die Außenwelt und Innenwelten der Figuren akustisch hörbar zu machen. Das mache ich sehr gerne, aber es ist immer schwierig. Für Bovary hat sich angeboten, mit Camille Saint-Saëns einen französischen Komponisten zu wählen und ich bin auf seine Klavierkonzerte gestoßen, denen ich bisher im Ballett noch nicht begegnet bin. Die Musik von Ligeti und Pécou kontrastiert den französisch romantischen Klang und zeigt besonders Emmas zerrissene Wahrnehmung. SBB Du erwähntest gerade, dass es für dich wichtig ist, auf der Bühne Konflikte zu erzählen. In Madame Bovary befasst sich Flaubert mit einer Reihe von Konflikten, die sich um Themen wie Ehe, Sucht, Exzess, Wunschvorstellungen und Selbsttäuschungen drehen. Welche Aspekte dieser Themen sind für dich besonders interessant? CS Spannend ist immer der Ausbruch aus der Konvention. Damit fängt der Konflikt an. Grundsätzlich finde ich, auf der Bühne muss immer ein Konflikt abgehandelt werden, entweder ein Konflikt untereinander oder ein Konflikt mit sich selbst. Zum Beispiel, wenn sich jemand nicht mehr dazugehörig fühlt, er nicht dazugehören will oder darf. Das ist nach wie vor Hauptthema unserer Gesellschaft, in all seinen Facetten. Der Wunsch, anders sein

Studioproben zu Bovary, oben: Weronika Frodyma als Emma und Alexandre Cagnat als ihr zweiter Liebhaber Léon. Unten: Polina Semionova als Emma und Martin ten Kortenaar als ihr erster Liebhaber Rodolphe, Fotos: Serghei Gherciu.

zu wollen, als man ist, und sich in der Folge über Konsum diese Wunschwelten zu erschaffen, finde ich wichtig zu erzählen. Dieser Versuch, in Luxus und Konsum das ersehnte Glück zu finden, sich zu verkleiden und eine Maske aufzusetzen, mündet schließlich in das Verstecken vor sich selbst. Dieses Versteckspiel und falsche Bilder von sich selbst zu produzieren, ist bei uns heutzutage immer noch en vogue. Ich habe das Gefühl, wir sind alle damit beschäftigt, ein bestimmtes Bild von uns nach außen zu zeigen, insbesondere in den Sozialen Medien. Niemand dort zeigt sich, wie er wirklich ist oder was er wirklich macht. SBB Emma ist eine sehr ambivalente Figur. Wie siehst du ihre Beziehung zu ihrem Mann Charles? Die Konflikte in ihrer Ehe sind nicht unbedingt stellvertretend für das 19. Jahrhundert, sondern auch für unsere heutige Zeit gültig? CS In dieser Ehe treffen zwei verschiedene Erwartungen aufeinander. Charles hat lediglich die Erwartung, dass er seinen Beruf ausüben kann. Er liebt Emma wirklich sehr und er möchte sie glücklich machen. Er ist von der Ehe überzeugt, aber auch blind. Er sieht das Problem gar nicht, und merkt auch nicht, wie er von ihr belogen wird. Er ist nicht so, dass er wegschaut, sondern er nimmt es wirklich nicht wahr. Deswegen kommt am Ende des


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«Der Text sprudelt, wie die Bläschen im Champagnerglas.» Weronika Frodyma über

ihre Rolle in Bovary

Staatsballett Berlin (SBB) Wer ist Emma Bovary für dich? Weronika Frodyma (WF) Als ich das Buch las, war ich ein wenig verblüfft

Romans sein Zusammenbruch, wenn er ihre Briefe findet und liest. Er ist dennoch nicht einfach oder naiv, wie er manchmal gelesen und interpretiert wird. Er hat starke Strukturen gefunden, in denen er glücklich werden kann. Das ist eine Form von Freiheit, die vielleicht begrenzt scheint, ihm aber Halt und Sicherheit gibt. Ich glaube, er ist ein glücklicher Mensch. Emma hat das nicht, und das ist auch der Zeit geschuldet, in der sie lebt, da sie keinen sinn­ erfüllenden Aufgaben nachgehen kann. Sie füllt ihr Vakuum mit den Romanen, die sie liest, und verliert sich in ihren Vorstellungen von Romantik. In ihr entsteht der Wunsch, diese Vorstellungen erleben zu wollen, und sie misst sich auch daran. Das funktioniert natürlich nicht. Man kann mit einer Illusion nicht das Leben füllen. SBB Heutzutage sind unsere romantischen Vorstellungen ebenfalls genährt von Büchern und Filmen, wir verhalten uns in dieser Hinsicht vielleicht ähnlich wie Emma Bovary ... CS Flaubert soll ja selbst gesagt haben: «Madame Bovary, c’est moi! ». Vielleicht haben wir alle Illusionen oder haben aus Büchern oder Filmen gelernt, wie wir gern leben und auch, wie wir lieben wollen. Auch ich erinnere mich an die ersten großen Liebesfilme, die ich gesehen habe, und bei denen ich dachte: so muss Liebe sein, und so will ich das erleben. Ich glaube, dadurch haben wir bereits eine

­ rwartungshaltung, bevor wir überhaupt eine BezieE hung eingehen. Was dann zu Problemen führen kann, wenn wir dieses Gefühl, das uns suggeriert wird aus Filmen oder aus Büchern, abrufen wollen und zu reproduzieren versuchen. Emma sieht das, was sie gern sehen möchte. An Rodolphe, ihren ersten Liebhaber, richtet sie ihre erste große Projektion von romantischen Vorstellungen. Sie projiziert in ihn ihre erste große Liebe und nimmt überhaupt nicht wahr, dass dieser sie eigentlich vollkommen ausnutzt. Eine Vorstellung von etwas zu haben, heißt aber auch, dass man sich selbst etwas vormacht und sich anders darstellt, als man wirklich ist. Ich entdecke das auch in Emmas Kaufrausch. Wenn diese Projektionen erlöschen oder nicht funktionieren, dann sieht sie die Realität, und die ist unangenehm. Emma flüchtet sich in diese Traumwelten und versucht diese über den Konsum auszufüllen. Deswegen auch ihr tragischer Absturz, wenn sie aus Verzweiflung und Hilflosigkeit schließlich Gift nimmt. Ihr gesamtes Verhalten und auch diese unreflektierte Panik, sofort reagieren zu müssen, finde ich interessant in Bovary zu thematisieren. Das Gespräch führte Katja Wiegand.

über das, was ich da las. [Emma Bovary] ist sehr egoistisch beziehungsweise auf sich selbst bezogen, aber ich konnte mich auch mit so vielen Aspekten ihrer Persönlichkeit identifizieren. Ich dachte, «So fühle ich mich; so denke ich.» Ich musste mir die Frage stellen: «Bin ich Bovary?» Andererseits ärgerte ich mich über sie: «Mensch, das ist nur deine Fantasie. Das ist einfach nicht die Realität. Du kannst nicht erwarten, dass das funktioniert. Du kannst nicht so egoistisch sein und all diese Menschen für dein eigenes Vergnügen herabsetzen.» Aber gleichzeitig sympathisiere ich mit ihr. Das Buch zu lesen, war eine Entdeckungsreise. Du fängst definitiv an, dich selbst, deine Wünsche und Träume zu hinterfragen. SBB Welche Charaktereigenschaften hat Christian Spuck dich gebeten, zu betonen? WF Er hat das nicht wirklich spezifiziert. Er hat kein psychologisches Profil von ihr erstellt. Es entwickelte sich mehr in verschiedenen Situationen, die wir probten. Er gibt situationsspezifische Hinweise. Er stellte sie als diese Frau vor, die zwischen Träumen und Realität existiert. Das ist ein sehr wichtiger Aspekt ihres Charakters, dass sie so frustriert von ihrem Leben ist, weil es einfach nicht der Fantasie entspricht, die sie sich für sich selbst geschaffen hat. SBB Ist sie für dich eine zeitgenössische Figur? WF Ihre Geschichte ist so relevant; es ist eine sehr menschliche Geschichte. Diese Geschichten wiederholen sich, egal in welcher Zeit, egal welche Konventionen herrschen. Wir sind Menschen und haben ähnliche Wünsche, Bedürfnisse, die wir in unserem Leben erfüllt haben möchten. Deshalb ist diese Geschichte zeitlos, auch wenn das gesellschaftliche Urteil jetzt anders ausfallen würde. Ich bin mir sicher, dass sie heute noch existiert. SBB Wie beeinflussen die gesprochenen Passagen aus dem Buch dein Tanzen? WF Der Text sprudelt, wie die Bläschen im Champagnerglas. Die Poesie des Tanzes steht im Kontrast zu den Worten. Diese heben das Drama der Situation hervor; es geht einem unter die Haut. Und wenn ich anfange zu tanzen und die Musik höre, öffnen sich alle Sinne, und dann resonieren diese Sätze aus dem Buch direkt mit mir. Sie gehen tiefer als wenn du sie nur auf dem Papier lesen würdest. SBB Was denkst du ist das Motiv hinter ihrem Selbstmord? WF Ihr Selbstmord ist der «einfache» Ausweg aus ihren Problemen; ein egoistischer Akt, der ihren Charakter ihr ganzes Leben lang stark prägt. Eine schnelle Möglichkeit, ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche zu befriedigen, um ihren Schmerz, ihre Angst, das unerträgliche Gewicht des Drucks, der auf ihr lastet, und die unausweichliche Konfrontation mit der Realität zu beenden. Ohne darüber nachzudenken, wie es diejenigen um sie herum beeinflussen könnte. Genauso, wie sie es immer getan hat ... Alles beruht auf Lügen und Geld, das sie nicht hat. Und darauf, vorzugeben, jemand zu sein, der sie nicht ist. Es ist eine Möglichkeit, sich selbst nicht im Spiegel sehen zu müssen, ohne das Geld, die schönen Kleider, die unerreichbaren Träume und leidenschaftlichen Liebhaber. Einfach die schlichte und unspektakuläre Emma, die sie nicht sein will. SBB Etwas, das nicht ungewöhnlich ist, wenn man sich die heutige Besessenheit mit sozialen Medien ansieht. WF Es ist etwas Menschliches im allgemeinen, nicht nur in den sozialen Medien. Ich denke, Soziale Medien bringen es auf ein anderes Level. Schon bevor es Soziale Medien gab, dachten wir alle irgendwie, dass wir ein bestimmtes Bild von uns selbst erschaffen müssten: stark sein, zuverlässig sein, immer gut gelaunt, auch wenn man leidet. Es gibt also bestimmte Masken, die wir aufsetzen, um einen Tag professionell durchstehen zu können. Aber dann gibt es natürlich dieses absolute Extrem in den Sozialen Medien. Und ich denke, das ist dem, was Emma getan hat, näher: all diese Kleider, all diese Filter, wie man aussehen, was man besitzen, was man tun sollte. Und nichts davon basiert auf Realität. Es ist nur eine schöne Konstruktion ohne jegliches Fundament. Das Gespräch führte Michael Hoh.


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Bovary

Sind wir nicht alle ein bisschen Emma? Lesen als Passion

«Bovary» – ein Name wie ein Signal. Ein Name, der Bände spricht und sie buchstäblich bis heute füllt. Als Kürzel ist er längst zum geflügelten Wort geworden, das noch fast 170 Jahre, nachdem eine schillernde Figur namens Emma Bovary die literarische Bühne betreten hat, aufhorchen lässt. Seinem Schöpfer Gustave Flaubert galt der Romantitel Madame Bovary als Chiffre für eine Ästhetik, die imstande wäre, die erwartungskonforme Praxis realistischen Erzählens auszuhebeln. An der gleichnamigen Titelheldin spielt er literarisch durch, wie sich Realitätseffekte herstellen lassen, wenn eine Gestalt sich auf und aus Papier bildet, um als «Madame Bovary» ein Eigenleben zu entfalten. Emma speist sich förmlich aus den Lektüren, die sie konsumiert und verschlingt. Einem Container gleich, verleibt sie sich alles Gelesene ein, wird zum Textkörper und selbst zu einem Stück Literatur. Sie lebt, was sie liest und wie sie es liest: wahllos getrieben, exzessiv und sich in Sehnsüchten verzehrend. Wir hören sie romantische Floskeln nachplappern, sehen sie in pseudo-mystische Andachtsgesten versunken, einen spektakulären Ausbruch aus dem Alltagstrott nach dem anderen ersinnen und sich bis zum emotionalen wie auch finanziellen Ruin verausgaben. Leserin aus Passion, «lebt» Madame Bovary nur, solange sie liest. Als alle Trugbilder ausgeschöpft und alle Ambitionen aufgebraucht sind, geht sie elend zugrunde. Lassen Emmas Fehllektüren ein Scheitern an unerfüllbaren Wünschen zu Lebzeiten vorprogrammiert erscheinen, so bleibt als Ironie der Geschichte die Pointe, dass es eben jene Realitätsflucht ist, die der frustrierten Landarztgattin ein literarisches Nachleben bescheren wird: Emma muss sterben, damit (sie) «Bovary» werden kann. Noch im Roman findet Madames ausschweifender und verschwenderischer Lebensstil posthum in ihrem bis dahin durch gähnende Langeweile aufgefallenen Ehemann einen Nachahmer. Zu Ehren der Verstorbenen macht sich Monsieur Bovary in einem finalen Akt deren Faible zu eigen, Leben und Sterben als romantische Oper zu inszenieren – koste es, was es wolle. Davon zeugt ein Denkmal, das er ihr errichten lässt. Unverhofft verkörpert Charles, von Emma zeitlebens als uninspiriert verkannt und mehrfach hintergangen, ihre Klischeevorstellung eines Märchenprinzen, wie sie ihn sich immer erträumt hätte. Schließlich enthüllt sich die ganze Tragik(omik) eines «match made in heaven», das sich erst nach Emmas Ableben einstellt. Ihr Suizid läutet die Geburtsstunde des «bovarysme» ein. Die so benannte verzerrte Selbst- und Weltwahrnehmung hat nicht nur ihre Namenspatronin überlebt, sondern auch diesseits der Romanfiktion Realitätswert erlangt. Vom Diskursprodukt zur Diskursproduzentin – ein Nachruhm, wie ihn Flaubert für seine literarische Figur genialer nicht hätte erfinden können. Besser konnte die Wirkungsgeschichte das ihm zugeschriebene «Madame Bovary, c’est moi!» nicht beglaubigen. Ohne Flauberts wegweisende Erzählverfahren wäre der gewollt banale Plot von Madame

von Tanja Schwan

Bovary ebenso schnell auserzählt wie vergessen: Gelangweilte Provinzschönheit flüchtet sich aus der erstickenden Enge ihrer Ehe in Tagträume und Affären. Durch Frustkäufe versucht diese ihren monotonen Alltag zu entkommen und häuft so Schuldenberge an, bevor sie als einzig verbliebenen Ausweg den Selbstmord wählt. Soweit eine Zeitungsnotiz, die dem Autor das Handlungsskelett für sein «Buch über nichts» gedient haben soll. Dass jenes Nichts Generationen um Generationen in seinen Bann ziehen konnte und nach wie vor zu Aktualisierungen reizt, verdankt sich nicht zuletzt dem «Lektüreschaden» des Bovarysmus. Von den frühen (Manuskript‑)Leserinnen Flauberts, deren Fanpost die Briefwechsel der Jahre ab 1852 versammeln, schreibt sich die bovarystische Linie einer mimetischen Lesart des Romans in der Manier Emmas her. So sehr der Autor die übermäßige Identifikation mit seiner Protagonistin auch zu unterbinden und zugunsten eines unpersönlichen Stils, bar jeden Mitgefühls, zurückzudrängen suchte, begründeten Emmas Erbinnen im Geiste doch einen nie abreißenden Rezeptionsstrang. Madame Bovary, Medienroman «avant la lettre» [seiner Zeit voraus], gibt eine Blaupause für intermediale Adaptionen ab. Funktioniert das Buch vor Emmas Nase als prothetische Erweiterung des Körpers, ersetzen fremdmedialen Repräsentationsformen – eine «Vorstellung» der Oper Lucia di Lammermoor mit narrativen Mitteln oder präfilmische Schreibtechniken wie Parallelmontagen – die Erzählung in den Schlüsselszenen und ergänzen sie um mehr Drama. Wollte man in Madame Bovary ein lebendiges Speichermedium für die Summe ihrer Lektüren erkennen, ein schier unerschöpfliches Reservoir an Geschichten von passioniert Liebenden, die sie aus dem Gedächtnis abruft und in verzückten Posen am eigenen Spiegelbild neu ausrichtet, so drängt sich ein Vergleich zu gegenwärtigen Verfahren der Virtualisierung geradezu auf. Man bräuchte nur den durch Kitschromane verklärten Blick auf die romantische Liebe gegen die endlosen Bilderfluten hinter Instagram-Filtern auszutauschen, deren zu künstlicher Perfektion aufpolierte Oberflächen der Wirklichkeit nicht standhalten und jedes einzelne bescheidene Dasein unausbleiblich verblassen lassen. Schon wäre man bei den Verheißungen des Online-Dating, das den allzeit verfügbaren Single-Pool nach vordefinierten Suchkriterien filtert und die Illusion nährt, die Liebe fürs Leben sei nur einen Mausklick entfernt. Ewig währt allein das Versprechen, denn kaum ist den Bedürfnissen je Befriedigung verschafft, werden prompt neue generiert. Wie Emmas Lektürepraxis stets auf den «erlesenen» Augenblick aus ist (und sich in ihm erschöpft), sind auch die Bildregime unserer Zeit der Logik des Konsums unterworfen und verbrauchen sich schneller, als sie genossen werden können. Damals wie heute entfesselt die bovarystische Wunschmaschinerie zwar ein durchaus kreatives Potenzial, scheitert aber an überzogenen Erwartungen und einem Mangel an langem («epischem») Atem – Madame Bovary wird nicht schon dadurch zur Autorin ihres

eigenen Lebens, dass sie sich einen Schreibtisch aus massivem Holz nebst teurem Papier zulegt, wenn sie niemals daran sitzt und schreibt… Wie Emmas Lektürepraxis stets auf den «erlesenen» Augenblick aus ist (und sich in ihm erschöpft), sind auch die Bildregime unserer Zeit der Logik des Konsums unterworfen und verbrauchen sich schneller, als sie genossen werden können. Wo sich Emma in ihrer Fantasie eben noch Luxus-Luftschlösser, überwölbt von unendlicher Bläue, zurechtgezimmert hatte, umwölkt sich der Himmel. Statt zum Buch greift Madame jetzt zum Arsen und speit auf dem Sterbebett das Gift ihrer Lektüren aus. Was von ihr bleibt, ist Literatur pur. Während ihr Leichnam schon unter der Last des Textgewebes begraben liegt, erzählt sich Madame Bovary – der Roman, zu dem Emma geworden ist – über deren Lebensende hinaus fort. Obschon Flaubert nicht müde wurde, sich gegen Emmas verschobene Weltsicht zu verwahren und andere wider eine Ansteckung zu wappnen, hat er ihr einen ganzen Roman gewidmet. In diesem Sinne «ist» er Madame Bovary, wie auch wir alle ein bisschen Emma geblieben sind, noch nachdem sie vor unseren Augen zu Staub zerfallen ist. Zwar durchschauen wir die Verblendungsmechanismen, die in Madame Bovary am Werk sind – sind sie uns doch allzu vertraut. Die bovarystische Brille lassen wir uns dennoch nicht nehmen. Nur zu gerne lassen wir uns auf den schönen Schein ein. Auf Flauberts Roman stürzen wir uns mit dem gleichen Lesehunger, den wir von Emma kennen. Wie sie geben wir uns ganz und gar der Verführung durch die Lektüre hin. Mit ihr verlesen und verlieren wir uns, leiden wir am Leben, träumen uns fort in virtuelle Welten. Dass im Namen der Bovary die Romantik verabschiedet und gerettet wird, sich feiert und ironisch infragestellt, macht die gebrochene Figur so faszinierend aktuell. Den vollständigen Text von Tanja Schwan finden Sie im Programmheft Bovary.

Zur Autorin:

Dr. Tanja Schwan lehrt französische und italienische Literatur- und Kulturwissenschaft am Institut für Romanistik der Universität Leipzig. Sie forscht zum Zusammenspiel von Gender, Körper und Affekten in Literatur, Oper und Film sowie zu Melodramatik und Metafiktionalität im Roman des 19. Jahrhun­ derts. «Sind wir nicht alle ein bisschen Emma? Vom Bazillus der Bovarysierung» von Tanja Schwan ist erschienen in: «Madame Bovary, c’est nous!» Lektüren eines Jahrhundertromans, Bielefeld, 2021.


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Foto: Florian Hetz

«Sie lebt, was sie liest und wie sie es liest: wahllos getrieben, exzessiv und sich in Sehnsüchten verzehrend.» Tanja Schwan

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Tanzsstück von Christian Spuck

PREMIERE 20. Okt 23 24. | 27. | 30. | 31. Okt 23 18. | 19. | 21. | 22. Jan 24 Deutsche Oper Berlin

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Bovary

Werkstattbesuch mit Kostümbildnerin Emma Ryott

«Die Kostüme erzählen eine Geschichte»

In der Produktion Bovary stehen nicht nur die Tänzer*innen im Rampenlicht: Über 100 von Hand und auf Maß gefertigte Kostüme setzen das Geschehen in Szene. Gefertigt werden sie in den Werkstätten des Bühnenservice. Zu Besuch an einem Ort, der Theaterträume wahr werden lässt.

Bühnenservice Berlin, sieben Wochen vor der Premiere von Bovary: zwei Damen stehen vor einem Haufen bunter Straußenfedern, Strasssteinen und Tüll, drapieren diese in unterschiedlichen Varianten und begutachten das Zusammenspiel der Materialien. Kostümbildnerin Emma Ryott ist da, um die Anfertigung der Kostüme für die Produktion Bovary zu begleiten. Gemeinsam mit Anita Fremy, Modistin in der Stiftung Oper in Berlin, denkt sie über die ausgefallenen Kopfbedeckungen nach, die für die «Revue» genannte Szene benötigt werden. In dieser besucht Protagonistin Emma Bovary, eine Landarztgattin, mit ihrem Mann das Theater in der nächstgelegenen Stadt Rouen und wird mitgerissen von einer schillernden Welt als Gegensatz zu ihrem dörflichen Leben. Die Kostüme erzählen diese Geschichte maßgeblich mit. Knapp einen Monat vor der großen Premiere sind fast alle Kleider entweder fertiggestellt oder in der Anfertigung. Über hundert maßgeschneiderte Roben sind dies alleine für die erste Besetzung. Die zweite Besetzung muss ebenfalls bereitstehen, denn kurzfristige Umbesetzungen sind immer möglich. Die Kostümmitarbeitenden befinden sich also bereits im Endspurt dieser Produktion. Der Prozess des Kostümdesigns beginnt bereits ganz am Anfang einer Stückentwicklung. «Vor anderthalb Jahren haben wir uns für ein Brainstorming-Wochenende getroffen», so Emma Ryott. «Wir», das sind der Choreograph Christian Spuck sowie sein künstlerisches Team, also Dramaturg Claus Spahn, Bühnenbildner Rufus Didwiszus und Kostümdesignerin Emma Ryott. «Dieses Wochenende war sehr konzentriert, wir hatten viele Unterhaltungen, haben Bilder angeschaut, über das Buch reflektiert. Und dann haben wir unsere Ideen zusammengeworfen und geschaut, ob wir gemeinsam in die richtige Richtung gehen.» Das so entwickelte Gesamtkonzept wurde in den folgenden Monaten in die Werkstätten des Bühnenservice getragen und dort in die Realität umgesetzt. Im Bühnenservice Berlin, Deutschlands größtem Theaterdienstleister, werden alle Kostüme für die Stiftung Oper in Berlin angefertigt – also für die drei Opern und das Staatsballett Berlin. In dem Werkstatt- und Verwaltungskomplex am Ostbahnhof werden Theaterträume Wirklichkeit. Auf einer Fläche von 25.000 Quadratmetern arbeiten rund 260 Mitarbeiter*innen, vom Dekorationsbau über die Kostümerstellung bis zum Personalservice. Emma Ryott kann sich auf die dortigen Mitarbeitenden, sechs Gewandmeister*innen, und bis zu vier Modist*innen, die an der Produktion arbeiten, voll und ganz verlassen: «Es ist eine großartige Teamarbeit und es ist wichtig, dass wir einander vertrauen und einen Dialog führen können.» Die Engländerin ist international als Kostüm- und Bühnenbildnerin tätig. Derzeit jongliert sie neben der Premiere in Berlin drei Produktionen in Kanada, England und Dresden. Bereits seit 2003 und der Produktion Lulu. Eine Monstretragödie verbindet sie mit Christian Spuck eine künstlerische Zusammenarbeit. Immer wieder ist sie für Bovary mehrere Tage und Wochen zu Besuch in Berlin, begleitet Anproben mit den Tänzer*innen und tauscht sich mit dem Team über den Fortschritt der Kostümanfertigung aus.


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Was sind ihre Leitideen für die unterschiedlichen Gewänder? «Die Kostüme sind lose in den 1850er Jahren angesiedelt. Es ist sozusagen meine Version von 1850. Historische Kostüme wären detailreicher. Hier gibt es weniger Wirrwarr.» Immer wieder sind auch moderne, einfache Schnitte zu sehen, die die Brechung der narrativen Struktur unterstützen. «Die abstrakten und die historischen Kostüme sind durch die gemeinsame Farbwelt miteinander verbunden.» Außerdem kontrastieren die unterschiedlichen Lebenswelten und ihre Gewänder: Im Dorf Yonville leben erdverbundene Menschen in bäuerlicher Kleidung, beim Ball zeigt sich die raffinierte und kultivierte Oberschicht, und in der Theaterszene ist eine fantastisch angehauchte Welt zu erleben. Neben der inhaltlichen Inspiration sind auch praktische Fragen von Bedeutung, denn: «Alles muss sich bewegen.» Die Kleidung muss eine große Bewegungsfreiheit für die Tänzer*innen bieten, gleichzeitig können wegen der ausladenden Bewegungen auch schöne Effekte durch schwingende Stoffe erzielt werden. Da kann für einen Rock schon einmal 15 Meter Stoff verwendet werden. Für einen gelungenen Auftritt ist den Kostümbildner*innen kein Aufwand zu groß. Um die Anzüge der Dorfbevölkerung alt und gebraucht erscheinen zu lassen, wird beispielsweise ein mehrtägiger Prozess angewandt. Die neuen Jacketts werden befeuchtet und auf Schaufensterpuppen gehängt. Damit sich Falten und Ausbeulungen bilden, werden die Ärmel mit Schnüren zusammengebunden und Steine in den Taschen gelagert. Nach einigen Tagen ist der Anzug getrocknet und scheinbar um einige Jahre gealtert. Am 19. Oktober 2023, einen Tag vor der Premiere, werden Emma Ryott und ihre Kolleg*innen vom Bühnenservice bei der Generalprobe von Bovary im Zuschauerraum sitzen und ein letztes Mal überprüfen, ob alles so sitzt wie es sein soll und Straußenfedern, Strass und Tüll den gewünschten Effekt erzielen. «Die Kostüme erzählen eine Geschichte. Es geht immer darum, eine Geschichte zu erzählen.» Fotos: Serghei Gherciu, Text: Corinna Erlebach

Linke Seite: Die Werkbank in der Schuhwerkstatt zeugt von Handarbeit (oben). Kostümdesignerin Emma Ryott und Gewandmeisterin Nadja Weckend stecken ein Kleid für Emma ab (links unten). Bei der Anprobe muss die genaue Rocklänge bestimmt werden, damit jeder Schritt sitzt (rechts unten).

Rechte Seite: In der Färberei werden die neuen Kleider auf alt getrimmt. (oben). Für die Landhochzeit werden feine Kopfbedeckungen gefertigt (unten)

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2 Chapters Love

Der zeitgenössische Tanzabend 2 Chapters Love zeigt Werke zweier führender, international gefragter Choreographinnen: Sol León und Sharon Eyal.

Die Fortsetzung der Liebe Die israelische Choreographin Sharon Eyal wird weltweit für ihre einzigartige Bewegungssprache gefeiert. Ihr neues spannungsgeladenes Werk 2 Chapters Love erkundet die widersprüchlichen Facetten der Liebe und bezieht sich auf ihr Tanzstück Love Chapter 2 von 2017. Ihre Choreo­ graphie, die sich durch Präzision und Schärfe auszeichnet, lässt einen intimen Blick in die Vergangenheit und in tiefe menschliche Emotionen zu.

«Es fängt immer mit Sharon an»

Musiker Ori Lichtik über Sharon Eyal, ihre kompromisslose Ästhetik und seine Liebe zu Techno-Musik. Staatsballett Berlin (SBB) Du arbeitest schon

lange mit Gai Behar und Sharon Eyal zusammen. Was ist die Grundlage eurer Zusammenarbeit? Ori Lichtik (OL) Nicht, dass wir darüber nachgedacht hätten, aber es war offensichtlich, dass wir einige Gemeinsamkeiten haben. Beispielsweise in meiner Sicht auf Musik und Sharons Sicht auf Tanz, oder auch ihre Sicht auf Musik. Auch wenn wir unterschiedliche Geschmäcker haben. Sie mag zum Beispiel Popmusik oder sehr romantische Sachen, was nicht meinem natürlichen musikalischen Umfeld entspricht. Das ist schön, denn dann finden wir heraus, wo es in unserer Welt existieren kann. Aber unsere musikalische Gemeinsamkeit liegt im Minimalismus, in der Subtilität. Und wir gehen keine Kompromisse bei der Energie ein. SBB Kommst du mit einer Idee für den Track zu einer Probe, mit etwas, das du gerne ausprobieren würdest? Oder kommt die Idee von Sharon? OL Es fängt immer mit Sharon an, wegen der Art und Weise, wie sie mit den Tänzer*innen arbeitet. Deshalb müssen wir zuerst eine gemeinsame Basis haben, eine Übereinkunft über die Ästhetik. Auch die Tänzer*innen sind sehr wichtig. Es ist nicht so,

dass ich das Publikum im Theater ignoriere, aber ich spiele für die Tänzer*innen. Wenn die Musik für sie funktioniert, dann wird sie für alle funktionieren. Am Anfang ist ihr Feedback extremst wichtig. Es kann nichts geschehen, wenn sie nicht auf irgendeine Art Interesse oder Freude daran haben. Manchmal kommt Sharon mit einer Songidee. Dann gibt es von diesem Song zum nächsten einen neuen choreographischen Abschnitt. Manchmal landet der Song am Ende gar nicht im Stück, ist aber während der meisten Proben da. Manchmal komme auch ich mit ein paar Ideen, zum Beispiel von einem älteren Stück. Dann spiele ich einfach damit, und Sharon und die Tänzer*innen fangen an, dazu zu tanzen. Wir zeichnen alles mit der Kamera auf. In Love Chapter 2, zum Beispiel, sind diese Studio-Sessions ein großer Teil des Stücks. Es gibt einen großen Abschnitt, den wir während der Proben eingegrenzt haben, ein bis zwei Stunden Tanzaufnahmen, die wir auf 20 Minuten komprimiert haben. SBB Das klingt nach einer sehr organischen Art zu arbeiten, zu sehen, was aus dem Moment heraus, mit der Musik und dem Tanz entsteht… OL Ich glaube, diese Art und Weise, wie ich Musik mache und wie Sharon vorgeht, ist der Grund,

weshalb wir zusammenarbeiten. Ich habe auch eine Band, Avaq, dort spiele ich Schlagzeug. Wenn ich meine eigenen Sachen kreiere und aufnehme, dann ist das auch ein sehr organischer Prozess. Ich spiele einfach und nehme dann das Ergebnis, schneide es und putze es. Und dann tanzt Sharon dazu. Sharon nimmt die Tracks mit ins Studio, und ihre Tänzer*innen tanzen dazu. Sharon sagt manchmal, dass die Tänzer*innen zu viel «tanzen». Denn es geht vielmehr darum, in Bewegung zu sein und dass die Bewegung von innen kommen soll: aus dem Magen und aus den Eingeweiden. Und dann wird alles sehr akribisch zusammengenäht. Ich würde sagen, das ist ihre sehr starke und kompromisslose Ästhetik, eine Mischung aus dieser Art von Tanz mit einer guten Art von Techno. Die ist sehr raffiniert und sehr präzise. SBB Warst du in deiner Vergangenheit auch musikalisch mit Berlin verbunden? OL Ich weiß, dass von mir erwartet wird, dass ich eine bestimmte Meinung zu diesem Thema habe, aber um ehrlich zu sein, heutzutage bin ich überhaupt nicht mehr im Club. Ich war es natürlich früher; ich habe Underground-Partys gemacht. Aber ich betrachte mich nicht als «Autoritätsperson», um irgendetwas über die Szene zu sagen. Berlin

und Deutschland waren schon immer Orte der Inspiration für mich. Ich habe einmal im alten Tresor-Club gespielt, bevor sie umgezogen sind, und es war eine verrückte Erfahrung, ein bisschen zu verrückt, aber es war unglaublich. Es war einfach ein gutes und kompromissloses Tanzerlebnis zu einem tollen Set. Tresor ist auch ein Label, das ich seitdem sammle. Ich glaube, die ersten 20 Platten, die ich gekauft habe, sind alle von diesem Label. SBB Wie fühlst du dich, wenn das Publikum im Theater, oder die Kritik in Zeitungen deine Musik beschreibt? OL Wenn es sich um eine schlechte Kritik handelt, geht mir das nahe. Aber ich versuche zu verstehen, was sie meinen, insbesondere, wenn es um meine Techno-Musik geht. Ich liebe Techno und stehe dahinter. Für mich gibt es Qualitäten im Techno, die in Relation zum Raum stehen. Sie gehören zum Kern des Ortes, zur Art und Weise, wie man ihn erleben kann. Manchmal ist es regelrecht entwürdigend für mich, wenn andere das nicht so sehen. Das Gespräch führte Katja Wiegand.


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Sharon Eyal

Foto: Davit Giorgadze

Die renommierte israelische Choreographin, Sharon Eyal, in Jerusalem geboren, ist weltweit für ihre innovativen und zeitgenössischen Choreographien gefragt. Sie selbst begann ihre Karriere als Tänzerin in der berühmten Batsheva Dance Company in Israel, wo sie unter der Leitung von Ohad Naharin von 1990 bis 2008 tanzte und von 2003 bis 2004 als stellvertretende künstlerische Leiterin arbeitete. Von 2005 bis 2012 war sie Hauschoreographin der Kompanie und erarbeitete ihre ersten Werke mit unvergleichlicher Handschrift. Ihre Choreographien zeichnen sich durch kraftvolle Bewegungen, expressiven Ausdruck und eine einzigartige choreographische Sprache aus. Sie hat sowohl in Israel als auch international Anerkennung gefunden und arbeitete mit bekannten Tanzkompanien und Künstler*innen auf der ganzen Welt zusammen. Seit 2005 arbeitet sie gemeinsam mit ihrem Partner und Multimediakünstler Gai Behar. Gemeinsam gründeten sie 2013 ihre eigene Tanzkompanie L-E-V, welches das hebräische Wort für ‹Herz› im Namen trägt. Mit L-E-V haben beide unzählige bahnbrechende Werke geschaffen und die zeitgenössische Tanzszene nachhaltig beeinflusst. Eyal und Behar arbeiten auch außerhalb der Tanzwelt mit großen Namen zusammen: Sharon entwickelte die Choreographie für die Dior-Frühjahr/Sommer-Modenschau in Paris 2018 in Zusammenarbeit mit Diors Kreativdirektorin Maria Grazia Chiuri. Eyals Choreographie für die Dior-Show zeigte ihre typischen zeitgenössischen Tanzbewegungen und trug dazu bei, die Präsentation der Modekollektion zu einem eindrucksvollen und künstlerischen Erlebnis zu machen. Zudem entwickelten Eyal und Behar gemeinsam Projekte mit dem Musiklabel Young. Sharon Eyal gab 2018 ihr Berlin-Debüt mit dem Stück Half Life, als Uraufführung schuf sie 2019 mit dem Staatsballett Berlin ihr Stück Strong. Die neue Choreographie 2 Chapters Love ist die zweite Kreation für das Staatsballett Berlin.

In diesem Jahr wurde Sharon Eyal mit dem «Ordre des Arts et des Lettres» der Franzöischen Republik geehrt.

Foto: Florian Hetz

Zur Person:

Ori Lichtik ist ein facettenreicher Musiker, Schlagzeuger, DJ und gilt als einer der Gründungs­ väter der Technoszene in Israel. Lichtik ist stetiger musikali­ scher ­Begleiter an der Seite von ­Sharon Eyal und Gai Behar. Er kreiert die Musik, die die Bewegungen der Tänzer*innen reflektiert, sie auslöst und beantwortet.

«Ich muss tanzen und etwas verteilen, das aus meinem Inneren kommt.» Sharon Eyal


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NEUANFANG 2 Chapters Love

Kosmischer Kontext Stars Like Moths, ‹Sterne wie Motten›, sie flackern, sie

strahlen, sie verblassen – ein kosmischer Tanz, der das Auf und Ab des Lebens selbst widerspiegelt. Das neue Werk der Choreographin Sol León verbindet auf metaphorische ­Weise menschliche Erfahrungen und Beziehungen mit einem Hauch von Mystik und Poesie. Stars Like Moths betrachtet das Menschsein in einem größeren kosmischen Kontext.

Fotos: Michael Hoh

Wie findet man den Anfang einer neuen Choreographie? Für Sol León ist alles Inspiration. Das Team des Staatsballetts Berlin war mit ihr in der Staatsoper Unter den Linden und folgte der Choreographin bei der Spurensuche für ihr neues Stück, Stars Like Moths, Teil des Doppelabends 2 Chapters Love. Der Versuch einer fotografischen Mindmap.


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«Liebe ist ein Daseinszustand, verletzlich und subtil, mit einer eigenen Frequenz.» Sol León

Foto: Tommy Pascal

Sol León, in Córdoba, Spanien, geboren, ist für ihre langjährige Zusammenarbeit mit dem niederländischen Choreographen Paul Lightfoot für das Nederlands Dans Theater (NDT) bekannt. León und Lightfoot schufen zahlreiche innovative und gefeierte Choreographien für die Kompanie. León kam 1987 zum NDT2 und tanzte dort zunächst für zwei Jahre bis sie zum NDT1 wechselte und weitere 15 Jahre in der Kompanie unter der Künstlerischen Leitung von Jiří Kylián tanzte. Weitere 18 Jahre waren Sol León und Paul Lightfoot als Hauschoreographen-Duo des NDT tätig und schufen gemeinsam mehr als 60 Uraufführungen für die Kompanie und prägten damit die Ästhetik der Kompanie. Für diese Fülle an choreographischem Material erhielten sie zahlreiche renommierte Preise. Darüber hinaus war León von 2012 bis 2020 unter der künstlerischen Leitung von Paul Lightfoot als künstlerische Beraterin der Kompanie tätig. Die Choreographien von Sol León sind für ihre emotionale Tiefe und ihre kraftvolle Ästhetik bekannt und wurden auf Bühnen weltweit aufgeführt. Seit kurzem tritt Sol Léon auch allein als Choreographin in Erscheinung. Das Staatsballett Berlin freut sich, mit Stars Like Moths, eine ihrer ersten Solo-Arbeiten zu präsentieren.

Sol León, Selbstportrait

2 Chapters Love Stars Like Moths

Choreographie von Sol León

2 Chapters Love

So immateriell wie das Thema ist auch Sol Leóns Arbeitsweise: Bilder, Eindrücke, Assoziationen und Erinnerungen fügen sich Stück für Stück zusammen und finden einen Ausdruck im Tanz.

Choreographie von Sharon Eyal

URAUFFÜHRUNG 9. Dez 23 11. | 18. | 21. 26. | 29. Dez 23 29. | 31. März 24 8. | 16. | 22. | 29. Mai 24 14. Juni 24 Staatsoper Unter den Linden


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NEUANFANG Dornröschen

«Dornröschen kam immer zu mir» Tanzikone und Choreographin Marcia Haydée im Interview

Dornröschen ist eines der bekanntesten klassischen Ballette und ein zeitloses Meisterwerk. Basierend auf dem Märchen von Charles Perrault und der Choreogra­ phie von Marius Petipa zur weithin be-­ kannten Musik von Peter I. Tschaikovsky erzählt es die Geschichte der Prinzessin Aurora, die an ihrem 16. Geburtstag von der bösen Fee Carabosse heimgesucht wird. Der Fluch der Carabosse kann ­gerade noch von der Fliederfee abgewen­ det werden, so verfällt sie lediglich in einen tiefen hundertjährigen Schlaf, aus dem sie nur ein Kuss wahrhaftiger Liebe erlö­ sen kann. Das Ballett ist berühmt für seine prächtigen Kostüme, ausladenden Kulissen und seine anspruchsvollen Tanzszenen, vor allem die schier zahllosen Variationen der Feen, Märchenfiguren, der Prinzessin und der Prinzen. Diesem zeitlosen Meis­ terwerk widmet sich Marcia Haydée und lässt in eine märchenhafte Welt eintauchen, in der sie auch die böse Fee Carabosse neu beleuchtet. SBB Welche Bedeutung hat Dornröschen

für Dich? Marcia Haydée (MH) Ich habe eine besondere Beziehung zu diesem Ballett, denn Dornröschen kam immer zu mir, mein Leben lang. Es ist das erste Ballett, das ich überhaupt in meinem Leben als sehr kleines Mädchen gesehen habe, das war als die Ballets Russes von Colonel de Basil mit Aurora’s Wedding in Rio de Janeiro gastierten. Als ich dann mit 15 an die Royal Ballet School nach London kam, habe ich Dornröschen von Ninette de Valois mit Margot Fonteyn gesehen. Dann kam ich in das Ensemble des Grand Ballet von Marquis de Cuevas nach Monte-Carlo, dort tanzte ich die Fliederfee. Diese Fassung war übrigens die schwerste, die ich kenne. (…) Ich habe da am Ende eigentlich das ganze Ballett, viele kleine Solo-Rollen, getanzt. Dann habe ich John Cranko das letzte Pas de deux aus Dornröschen vorgetanzt, er wollte mich mit (seinem Solotänzer) Ray Barra sehen, und daraufhin engagierte er mich als seine Erste Tänzerin ans Stuttgarter Ballett. Dort musste ich an nur einem Tag die ganze Version von Nicholas

Beriozoff lernen, die dort schon im Repertoire war, auch eine schwere Fassung. Später hat Cranko die Fassung von Rosella Hightower einstudieren lassen, die haben wir sehr lange aufgeführt. Ich habe auch hier in Berlin Dornröschen getanzt, als Sir Kenneth McMillan Ballettdirektor der Deutschen Oper Berlin gewesen ist. In seiner Fassung war Rudolf Nurejew mein Partner. SBB Und dann hast Du 1987 Deine eigene Fassung für das Stuttgarter Ballett gemacht ... MH Ja, ich liebe Dornröschen. Ich finde es großartig, wie Marius Petipa die Geschichte erzählt. Deshalb habe ich das auch nicht geändert. Als ich in Stuttgart mit der Arbeit an meinem Dornröschen begann, dachte ich, dass man es gar nicht besser machen könnte als er, höchstens ein wenig anders an manchen Stellen. Zum Beispiel die Carabosse: Ich habe nie verstanden, warum sie in fast jeder Produktion als alter Mann oder alte Frau dargestellt wird, als eine Figur, die gar nicht tanzt. Ich fragte mich, ob eine böse Fee etwa nicht so schön sein kann wie die

gute Fee, und ob sie nicht sogar unbedingt tanzen muss. Ich begann die Arbeit am ganzen Ballett mit der Carabosse, mit Richard Cragun. Ich sagte ihm: «Ricky, Carabosse ist eine Diva. Sie kommt rein und hat diese Power, weil sie von Geburt an kraftvoll ist, voller Wucht und mit der Fähigkeit zur Manipulation.» Richard Cragun und ich haben an Maria Callas gedacht, was sie mit den Händen gemacht hat. Ricky hat seine Carabosse auch selbst kreiert, ich ließ ihm viel Freiheit. Sie war ganz anders als jemals zuvor. Hier in Berlin bringt sie das einzige schwarze Element in die ganze Produktion hinein. Eine riesengroße schwarze Seide, von der alles verschluckt wird. Oder ein anderes Beispiel: Das Rosenadagio. Die Choreographie ist geblieben wie ich sie kenne, wie fast jede Compagnie sie macht. Sie ist nah am Original. Aber die vier Prinzen – warum geben sie Prinzessin Aurora in allen Versionen nur die Hand? Warum tanzen sie nicht? Mit ihren großen Kostümen erscheinen sie wie alte Männer, sie sind zumeist die besten Partner. Aber ich habe den Tän-

zern der Prinzen-Partien hier in Berlin gesagt, dass Polina [Semionova] sehr gut allein tanzen kann. Sie müssen schon auf sie aufpassen, aber zuallererst müssen sie auf sich selbst achten. Die vier Prinzen kommen aus verschiedenen Ecken der Welt, und sie denken, sie wären die schönsten, die besten. Diesen Wettstreit zwischen den vieren will ich in meinem Rosenadagio sehen, sonst wird es langweilig. Aber ehrlich gesagt, die Carabosse ist für mich die wichtigste Rolle in meinem Dornröschen. Eine Aurora findet man eigentlich immer, in jeder Compagnie, auch einen Prinzen, aber eine Carabosse, wie ich sie mir denke…? Die Carabosse ist eine besondere Sache! Wenn ich irgendwohin komme und finde dort keine gute Besetzung dafür, dann würde ich Dornröschen nicht machen können. SBB Bezeichnest Du Dich selbst als Choreographin? MH Nein! Die Sache ist die: Ich war und bin immer eine Tänzerin. Ich sage nicht ‹Ballerina›, denn der Begriff ‹Ballerina› bezeichnet eine Position. Ich habe diese Position auch bekommen, aber das ist nicht


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Das Phänomen Dornröschen Es ist auffallend, dass das Ballett Dornröschen oder Die Schöne, die im Walde schlief sich seit seiner erfolgreichen Uraufführung im Jahre 1890 bis heute unverändert größter Beliebtheit erfreut und aus den Spielplänen der Ballett- und Tanzensembles nicht wegzudenken ist. Uraufgeführt als ‹Ballett-Féerie› – ein theaterhistorisch gewachsenes, personenstark besetztes und opulent inszeniertes Theaterstück, das aus der Realität in eine Zauberoder Märchenwelt entführen will – braucht es ein Ensemble in ungewöhnlich großer Dimension und eine prachtvolle Ausstattung. Dornröschen ist und bleibt ein Märchen und ist von vornherein dazu gedacht, sein Publikum zu verzaubern. Das Ballett Dornröschen überwältigt, und das hat verschiedene Ursachen: Die ununterbrochene Überlieferung der Uraufführungs-Choreographie von 1890 sowie die Interpretationen herausragender Ballerinen und Tänzer vieler Generationen nähren die große Bekanntheit und auch den hohen Anspruch an dieses klassische Ballett. Seine Schöpfer, der Komponist Peter I. Tschaikowsky und der Choreograph Marius Petipa haben das Ihre dazu getan, sie haben gemeinsam an Stimmung und Ausdruck, Takt für Takt, Szene für Szene auf das engste zusammengearbeitet, um die tänzerischen wie musikalischen Ideen zu verschmelzen. Tschaikowskys großartige Partitur ist genauso Teil der Erfolgsgeschichte, wie die zahlreichen choreographischen Partien von Marius Petipa, in denen Tänzer*innen ihre Virtuosität präsentieren können. Aber nicht nur das: Die Figuren sind zugleich eine schauspielerische Herausforderung, je nachdem wie nuancenreich sie inszeniert werden. Außerdem ist die Vorlage für Choreograph*innen von höchstem Interesse, und Tänzer*innen haben zumeist eine persönliche Motivation, ihre eigene Perspektive auf die Interpretation häufig gleich mehrerer Rollen zu erweitern.

das wichtige. Ich bin als Tänzerin geboren, und ich werde als Tänzerin sterben. Auch, als ich Ballettdirektorin war, fühlte ich mich als eine Tänzerin, die die Kapazität hat, andere Tänzerinnen und Tänzer zu dirigieren. Sie glauben mir. Weil ich denke und handle wie eine Tänzerin, weil ich erklären kann, warum ich eine Richtung einschlagen will, und sie folgen mir und machen es so, wie ich sage. Sie akzeptieren meine Entscheidung, und ich muss gar nicht erst Befehle erteilen. Was mich leitet, ist der Respekt vor der Tradition. Die Tradition ist sehr wichtig, bei allem was wir heute machen. Wenn sie uns abhandenkommt in ihrer allerbesten Weise – so habe ich sie kennengelernt, und so lebe ich sie – dann haben wie gar nichts mehr. Das Gespräch führten Annegret Gertz und Michael Hoh. Vollständig nachzulesen ist es im Programmheft Dornröschen.

Neu im Ensemble Der Blick von Marcia Haydée auf dieses Chloe Capulong

Ballett, die während der Einstudierungsphase mit ihrer einfühlsamen Arbeitsweise viel Begeisterung und Wertschätzung in das Ensemble getragen hat, ist ein besonderer und ein persönlicher, der durch ihre Vita geprägt ist. «Dornröschen kam immer zu mir», sagt sie, und teilt uns im Interview für das Programheft mit, wie weit ihr persönlicher Bezug zu diesem Ballett tatsächlich reicht. Sie hat gleich mehrere Produktionen in ihrer eigenen Laufbahn kennengelernt, darin auch fast alle Rollen getanzt, vom Corps de ballet bis zur Prinzessin Aurora. Die Ausstattung, Kostüme und Dekorationen, schuf Jordi Roig, der für seine Meisterschaft bekannt ist, Opulenz und Geschmack miteinander zu verbinden und einen Rahmen zu schaffen, in dem die Nuancen des klassischen Tanzes besonders gut zur Geltung kommen. Da in Dornröschen nicht nur eine Epoche, sondern mindestens zwei auf der Bühne etabliert werden müssen, um zu verdeutlichen, dass Prinzessin Aurora und der gesamte Hofstaat hundert Jahre geschlafen haben, ist der Aufwand gewaltig, wenn die große Zahl an Tänzer*innen den Wandel der Zeiten nicht nur tänzerisch zum Ausdruck bringen, sondern der stilistische Wechsel auch visuell spürbar werden soll. Auch das ist ein Grund, dass so häufig Superlative bemüht werden müssen, um die Bedeutung gerade dieses klassischen Balletts zu beschreiben. Rudolf Nurejew formulierte es so: «Von Petipas Balletten ist Dornröschen das Ballett der Ballette. Es ist das gewaltigste, schwierigste, umfangreichste. Wenn eine Kompanie in der Lage ist, Dornröschen zu tanzen, dann hat sie gültigen Wert.» Rudolf Nurejew hat übrigens mit Marcia Haydée die Fassung von Sir Kenneth McMillans Dornröschen getanzt – 1968 auf der Bühne der Deutschen Oper Berlin. Text: Annegret Gertz

links: Marcia Haydée in ihrer Garderobe 1963 nach einer Dornröschen-Vorstellung (Nicholas Beriozoff für das Stuttgarter Ballett) Foto: Klaus Mocha rechts: Marcia Haydée mit Polina Semionova bei einer DornröschenProbe im Studio 2022. Foto: Yan Revazov

Dornröschen Ballett in drei Akten von Marcia Haydée nach Marius Petipa

WIEDERAUFNAHME 9. Nov 2023 Deutsche Oper Berlin

«Letztlich braucht die Welt mehr Kunst, vor allem von marginalisierten Gemeinschaften»

24 neue Ensemble-Mitglieder zählt das Staatsballett Berlin seit dieser Saison. Chloe Capulong ist eine davon. Staatsballett Berlin (SBB) Wie hast Du reagiert,

als Christian Spuck Dir einen Vertrag in Berlin angeboten hat? Chloe Capulong (CC) Ich habe ihn gefragt, ob er es ernst meint. Es fühlte sich für mich alles ein bisschen surreal an. Weißt Du, ich hatte gerade angefangen, mich in Zürich einzuleben und dann, nach nur einem Jahr, lag dieses Angebot auf dem Tisch. Ehrlich gesagt, kann ich manchmal immer noch nicht glauben, dass ich hier bin. SBB Und wie gefällt es Dir in Berlin? CC Ich liebe es. Ich wohne zur Zeit in Schöneberg, das ist die bezauberndste Gegend überhaupt. Ich finde es toll, wie groß die Stadt ist, wieviel sie bietet und ich würde sagen, dass die Umstellung gar nicht so schwierig war. SBB Berlin ist sehr aufgeschlossen. CC Ja, sehr offen für Veränderungen und für verschiedene Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund. Und ich denke, das ist auch ein Spiegelbild dessen, was gerade beim Staatsballett passiert. Jeder in der Institution ist wirklich offen für Menschen aus verschiedenen Lebensbereichen. Es ist total inspirierend, diese Art von Gemeinschaft hier zu haben, besonders in einer Zeit, in der sich so viel verändert. Das Staatsballett geht in eine neue Richtung, und es ist schön zu sehen, wie alle zusammenkommen. SBB Dein erstes Stück hier ist Bovary. Was ist Deine Rolle? CC Ich tanze auf dem Ball (eine große Szene im Stück) und lerne auch noch einige andere Rollen. Die Entstehung ist wirklich aufregend, vor allem weil Christians Prozess so viel Neugier und Engagement von jeder einzelnen Person im Raum verlangt, egal ob es sich um die Tänzer*innen, die Ballettmeister*innen oder die Pianist*innen handelt. Jede*r ist involviert, und ich verlasse diese Proben immer erfüllt und mit dem Gefühl, dass ich etwas von meinen Kolleg*innen gelernt habe. SBB Du hast schon in Zürich mit Christian bei Nussknacker und Mausekönig, Monteverdi und Anna Karenina zusammengearbeitet. CC Ich hatte das Glück, in all diesen Balletten zu tanzen. Aber Bovary ist meine erste Kreation mit Christian. Seine Arbeit erfordert ein starkes klassisches Fundament, aber er fordert uns auch heraus, über die Grenzen dessen, was traditionelles Ballett normalerweise ausmacht, hinauszudenken. SBB Du bist erst 20 Jahre alt und hast schon erstaunliche Karriereschritte gemacht. Hattest Du jemals das Gefühl, dass der Weg nach oben für eine Person of Colour schwieriger ist? CC Ich bin in Südkalifornien in einer Familie mit verschiedenen Ethnien aufgewachsen, und es gab nicht viele Leute, die so aussahen wie ich, vor allem nicht im Ballettsaal. Hierher zu kommen und an einem Ort tanzen zu können, an dem es so viele Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund gibt, war eine wirklich erfrischende Erfahrung. Die Ballettwelt verändert und verbessert sich. Die Richtung, die das Staatsballett Berlin in dieser Hinsicht einschlägt, gefällt mir sehr. Ich habe wirklich das Gefühl, hierher zu gehören. SBB Gab es in Deiner Tanzausbildung in den USA mehr People of Colour? CC Es gab einige von uns. Aber ich denke, es versteht sich von selbst, dass es im Ballettsaal immer mehr weiße Studierende geben wird. Wir sind definitiv immer noch eine Minderheit. Das müssen wir ändern, und ich bin da ziemlich zuversichtlich. Solange wir uns zur Rechenschaft ziehen und auf Veränderungen

drängen, können wir die Welt überall, in den USA, in Europa oder anderswo, inklusiver machen. Denn letztendlich braucht die Welt mehr Kunst, vor allem von marginalisierten Gemeinschaften. SBB Vor allem, wenn die Zeiten hart sind. CC Oh, absolut. Und außerdem ist Ballett und Tanz im Allgemeinen eines der wenigen Dinge, die heutzutage nicht durch künstliche Intelligenz ersetzt werden können. Es gibt wirklich keinen Ersatz dafür. Es ist wunderbar, dass wir alle miteinander etwas erschaffen und unseren Gemeinschaften, den Menschen, die uns schätzen und unterstützen, etwas zurückgeben. Ich bin wirklich dankbar, Teil dieses Prozesses zu sein. SBB Was wünschst Du Dir für Deine Zukunft beim Staatsballett Berlin? CC Vor allem möchte ich herausfinden, wer ich als Tänzerin bin. Ich habe einfach eine sehr natürliche Liebe zur Bewegung, in welcher Form auch immer, und das möchte ich weiter erforschen. Außerdem bin ich auf der Suche nach einer Verbindung, die ich mit mir selbst und den Menschen um mich herum spüren kann. Ich sehne mich wirklich nach dem Gefühl der Verkörperung, das ich beim Tanzen spüre, und ich möchte herausfinden, wie ich dieses Gefühl noch vertiefen kann. Das Gespräch führte Maren Dey.

Foto: Anastasia Muna

Chloe Capulong wurde in Huntington Beach, Kalifornien, USA geboren und absolvierte ihre Ausbildung an der ­dortigen Akademie für Tanz sowie der Orange County School of the Arts, bevor sie 2020 an die Joffrey Academy of Dance in Chicago wechselte. Ihr erstes Engagement führte sie 2022 ans Junior Ballett Zürich. Seit August 2023 ist sie Ensemble­ mitglied des Staatsballetts Berlin.


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Körper – Blicke Staatsballett Berlin (SBB) Florian, wie bist du

zur Fotografie gekommen? Florian Hetz (FH) Ich wollte nie Fotograf werden. Durch eine Enzephalitis habe ich mein Gedächtnis verloren und habe angefangen zu fotografieren, um mich zu erinnern. Fast wie ein Tagebuch. Habe artig Fotos von kleinen Momenten gemacht, teilweise von einem Teller oder vom Ellbogen, oder von der Hand. Meine Erinnerung wäre ohne diese Fotos weg gewesen. Diese kleinen Fotos waren nur für mich bestimmt und hatten keine Relevanz für jemand anderen. Dennoch haben sie mich konditioniert, ‹fotografischer› zu denken und zu sehen. Dann kam der Moment, als ich auf Tumblr eines meiner Fotos gepostet habe. Dieses ging sofort viral. Auch beim dritten Foto passierte genau dasselbe. Das war dann der Punkt, an dem ich realisierte, dass das, was ich mit den Fotos mache – meine Art, die Welt zu sehen – viele Leute anspricht. Das war für mich mein Start als Fotograf. SBB Würdest du sagen, dass deine Erkrankung die Art und Weise, wie du auf Dinge schaust, beeinflusst hat? FH Ich habe immer schon sehr fokussiert auf Sachen geschaut. Ich schaue mir meistens erst das Detail an und bewege mich dann mit dem Blick langsam nach außen. Das ist im richtigen Leben so und beim Fotografieren genauso. Als ich mich mit Fotografie auseinandergesetzt habe, habe ich auch viel mit meinen kindlichen Erinnerungen, die nicht zugelassen werden durften, gespielt. Ich bin schwul. Ich bin aufgewachsen als Kind mit bestimmten Begehren, durfte diese aber nicht ausleben. Ich durfte niemanden angucken, weil ich unterbewusst dachte, das kann gefährlich sein für mich. Heute zoome ich rein, und dies gibt Menschen die Möglichkeit, genau auf das Detail zu schauen. Das große Ganze können wir alle sehen. SBB Bekommst du Feedback von deinen Models, dass sie deine Fotografie intimer als andere Fotografie empfinden? FH Es kommt manchmal vor, wenn sie das Endresultat sehen. Dann sehen sie sich selbst in einer anderen Art und Weise. Mein Ansatz beim Fotografieren ist, dass es in jedem Menschen etwas gibt, das mich interessiert, und ich tue alles, um das zu finden. Das fängt damit an, dass ich mich mit der Person drei, vier Tage vorher treffe, an einem neutralen Ort zum Kaffee oder zum Spazierengehen. Ich möchte die Person kennenlernen. Ich möchte wissen, wer da vor mir sitzt. Ich möchte der Person aber auch die Möglichkeit geben, mich kennenzulernen und mir Fragen zu stellen. Es ist erstmal keine normale Situation, dass man vor einer Kamera sitzt. Da muss man offen und verletzlich sein.. Das kann ich nicht erwarten, sondern muss ich mir durch meine Person, durch mein Interesse, aber auch durch meinen Respekt der Person gegenüber erarbeiten und so eine Atmosphäre kreieren, in der sich jemand komplett wohlfühlt. Das ist viel mehr Arbeit als das Fotografieren, das ist aber auch der wichtigere Punkt. SBB Tänzer*innen arbeiten tagtäglich mit ihrem Körper und setzen sich mit diesem auseinander. War ddie Arbeit mit Ihnen anders, haben sie auf deinen Blick anders reagiert? Hattest du das Gefühl, dass sie sich inszenieren? FH Mich interessiert eher der Moment, in dem sie nicht posieren. Das geht aber relativ schnell. Im Rahmen einer Probe sind sie daran gewöhnt, dass ihnen jemand Anweisungen und einen Rahmen vorgibt, in dem sie die Möglichkeit haben, sich zu entfalten. Ich weiß relativ schnell, was ich will und probiere es mit ihnen gemeinsam aus. Ich habe selbst

viel mit Tanz gearbeitet und auch ein Verständnis von Körper und Anatomie. Ich habe mir mit jeder einzelnen Person Zeit genommen und erklärt, wie meine Arbeitsweise ist und was ich machen will. Es geht mir um jede einzelne Persönlichkeit und um ihre individuelle Körperlichkeit. Für mich ist es immer spannend, mit Menschen zu arbeiten, die ihren Körper kennen. SBB Gerade in Sozialen Medien findet Selbstdarstellung eine Plattform. Wie ist deine Einstellung dazu? FH Persönlich interessiert mich das gar nicht. Zum Arbeiten habe ich zwei verschiedene Accounts. Ich möchte das nicht verdammen, und ich glaube für die Leute, die gerade anfangen ein Produkt zu kreieren oder die eigene Kreativität zu zeigen, kann es gut sein die Arbeiten zu präsentieren und in die verschiedenen Ecken der Welt zu tragen. Das ist ein Vorteil, den es früher nicht gab. Heute schauen viele Galerien zuerst bei Instagram nach. Mein Privatleben kommt da nicht vor. Weder auf Instagram noch in meinen anderen Fotos. Meine Bilder müssen ohne mich leben können. Wenn sie das nicht können, sind sie nicht stark genug. Aber auf der anderen Seite schätze ich die Interaktion mit Menschen sehr. Ich bekomme manchmal Zuschriften aus Pakistan oder aus dem Iran. Vielleicht haben wir eine andere Wichtigkeit in anderen Ländern. Das sind so Momente, in denen mir klar wird, dass das Agieren in Social Media vielleicht nicht nur eitel ist, sondern auch eine Direktheit hat. SBB Hast du in solchen Momenten das Gefühl, dass deine Arbeiten auch teilweise dafür verantwortlich sind, dass wir anders auf Körper schauen oder andere Blicke zulassen? Und in diesem Sinne schon fast aktivistisch sind? FH Ich glaube das ist etwas, was andere beurteilen müssen. Ich hoffe, dass ich bestimmte Dialoge anstoßen kann. Mich interessieren alle Körper und nicht nur ein bestimmtes Ideal. Deswegen ist es für mich weniger Aktivismus, sondern eher mein gelebter Alltag, der für mich der Normalität entspricht. Wenn ich es schaffe, dass dies auch für andere zur gelebten Normalität wird ist das perfekt für mich. Ich glaube, für Aktivismus müsste ich noch viel lauter und plakativer sein. Das bin ich nicht. SBB Du hast irgendwann gesagt, dass dich der Blick auf den männlichen Körper mehr interessiert als der auf einen weiblichen Körper. FH Weil er insgesamt viel weniger betrachtet wird. Ich werde immer mal wieder gefragt, warum ich wenig bis keine Frauenkörper abbilde. Das liegt nicht daran, dass mir dazu nichts einfällt oder ich keine Lust darauf habe, sondern daran, dass ich es aus der Kunstgeschichte heraus schwierig finde, dass der männliche Blick immer auf die Frau gerichtet war. Es gab lange Zeit keine Alternative dazu. Für mich ist es viel interessanter zu sehen: Wie schauen Frauen auf Frauen? Oder wie schauen Frauen auf Männer? Der weibliche Blick auf die Frau ist viel spannender. Da habe ich das Gefühl, dass ich auch noch was lernen kann. SBB Hast du das Gefühl, dass sich der Blick auf Körper verändert hat? FH Ich glaube, leider eher zum Schlechteren. Wir haben mittlerweile ganz große Probleme mit der Selbstwahrnehmung, gerade bei Jugendlichen. Dieser Drang zur Perfektion und zum perfekten Körper. Das kommt davon, dass wir permanent von Bildern umgeben sind und auf das schauen, was vorgibt ‹normal› zu sein. Der Aufstieg der Schönheitschirurgie ist faszinierend, weil dieser zeitgleich

Für die Kampagne 23/24 hat der Berliner Fotograf Florian Hetz die Tänzer*innen des Staatsballetts in intimen Körperbildern inszeniert. Ein Gespräch über Erinnerung, Vertrauen und Normalität. mit Social Media passierte. Natürlich frage ich mich auch, inwieweit trage ich mit meinen Fotografien dazu bei? Ich zeige verschiedene Körper, aber ich zeige auch Körper, die einen bestimmten Muskeltonus haben. Für mich ist es wichtig Diversität zu zeigen. Ich möchte nichts ausschließen, genauso wenig den vermeintlich perfekten wie den vermeintlich imperfekten Körper. SBB Wie wichtig ist dir Repräsentation in deiner Arbeit? FH Ich habe mir die Tänzer*innen für die Kampagne mit dem Staatsballett Berlin selbst ausgesucht. Ich werde immer wieder von Außenstehenden gefragt, nach welchen Kriterien ich sie ausgesucht habe und ob es wichtig war, dass die Auswahl divers ist. Mir ging es um die Energie und das, was ich gesehen habe. Es ging nicht um den Hautton. Die Leute, die ich ausgesucht habe, haben alle während des Trainings Momente gehabt, die mich interessiert haben. Das ist spannend. SBB Kannst du sagen, was das war? FH Das war ganz unterschiedlich. Manchmal wie jemand steht oder durch den Raum läuft. Ich sehe etwas winzig Kleines, das mich interessiert. Dabei geht es dann nicht um die schönste Arabeske, sondern um eine Interaktion mit jemand anderem. Oder wie jemand kontemplativ irgendwo saß und sich konzentriert hat. Das waren die Momente, die ich spannend fand. Die Unterschiedlichkeiten habe ich erst später realisiert. Ich bin auch sehr glücklich damit, weil es einfach gegen jedes Ballett-Klischee geht. Es erzählt etwas über Körper, Bewegung und Persönlichkeiten. Das Gespräch führten Katja Wiegand und Maren Dey.

Florian Hetz arbeitete in ver­ schiedenen Funktionen bei Oper, Theater und Ballett, bevor er sich der Fotografie zuwandte. Die Arbeit mit dem menschlichen Körper ist ein zentrales Motiv seiner viszeralen und sinnlichen Bildwelten. Hetz lebt und arbeitet in Berlin.


NEUANFANG Impressum Herausgeber Staatsballett Berlin – Stiftung Oper in Berlin Intendant Christian Spuck Geschäftsführerin Jenny Mahr Konzept Eps51 und Staatsballett Berlin, Dramaturgie und Marketing Redaktion/Lektorat Maren Dey, Corinna Erlebach, Annegret Gertz, Michael Hoh, Katja Wiegand Gestaltung Eps51 Druck Sportflieger Berlin Fotos Serghei Gherciu (S.3,6,7 ) Florian Hetz (S.1,5, 14), Davit Giorgadze (Portrait Sharon Eyal S.9), Michael Hoh (S.10,11), Anastasia Muna (S.13), Tommy Pascal (Portrait Sol León S.11), Yan Revazov (S.13), Klaus Mocha (S.12). Die Zeitung des Staatsballetts Berlin erscheint zweimal pro Spielzeit. No. 2 wird Anfang Februar veröffentlicht. Bestellung und Anregungen bitte an marketing@staatsballett-berlin.de

Über den Neubeginn Eine dramaturgische Sicht von Katja Wiegand In einer Phase medialer postapokalyptischer Endzeitmelancholie unseres Jahrzehnts mag ein Neubeginn fast schon illusorisch erscheinen. Wie schreibt man über etwas, das so viel mit dem eigenen Erleben, Empfinden und Erinnern zu tun hat? Was bedeutet es, einen neuen Anfang zu wagen? Die Arbeit von Künstler*innen ist von Natur aus eng mit Neuanfängen verbunden. Die sprichwörtliche weiße Leinwand, das weiße Blatt Papier, der leere Raum sind alles Synonyme für den Neuanfang. Für uns Dramaturg*innen ist es ähnlich: In der dramaturgischen Praxis begleiten wir den künstlerischen Prozess einer Neuproduktion und versuchen, Verknüpfungsmomente zwischen den verschiedenen Elementen herzustellen. Die Aufgabe der Dramaturgie besteht darin, zwischen Anfang und Ende zu vermitteln, Handlungselemente zusammenzuführen und gleichermaßen die narrative Struktur für mehrere Lesarten zu öffnen. Eine gut funktionierende Dramaturgie ist wie ein narratives Scharnier: Sie ermöglicht Bewegung, ohne die Verbindung zu lösen und bietet damit keine bloßen Versatzstücke, sondern emotionale Knotenpunkte, die das Publikum auf eine introspektive Reise von Reflektionen und Identifikationen begleiten und den Tanz der Gedanken anregen. In den darstellenden Künsten bedeutet jede Produktion einen Neubeginn. Erst bietet jede einzelne Probe die Möglichkeit, Veränderungen zuzulassen, danach entspinnt sich auf der Bühne ein fortlaufender Prozess, der uns ständig fordert und neu inspiriert. Dabei sind kreative Prozesse häufig unabgeschlossen. So bedeutet jede Form des Wiederholens, des Rekonstruierens und damit auch des Neubeginns eine Fortführung der Geschichte. So auch am Staatsballett Berlin. Dieser Neubeginn ist keineswegs das Ende von allem, sondern ein bewusster Umgang, der Verbindungen zwischen alt und neu sucht und so Bewegungen innerhalb der Kunstform ermöglicht und gleichzeitig die Verbindung zur Tradition aufrechterhält.

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FORUM

Gefühle – Schönheit, Gewalt, Erinnerung Mit der neuen, dreiteiligen Gesprächsreihe Forum mit Dr. Mariama Diagne setzt das Staatballett Berlin den Dialog zwischen Theorie und Praxis fort, der mit Formaten wie Ballett for Future Diskussionsräume eröffnet hat. Gäste und Publikum sind eingeladen, sich im Foyer der Deutschen Oper Berlin an drei Abenden mit einem zentralen Aspekt der Darstellenden Künste auseinanderzusetzen: Wie werden Emotionen in künstlerischen Werken dargestellt? Welche Elemente in künstlerischen Körperpraktiken lösen auf welche Weise Emotionen aus? Welchen Einfluss haben sie auf Tanzen als Kunstform? Forum stellt die Ambivalenzen der drei Begriffe «Schönheit», «Gewalt», «Erinnerung» und ihrer Verzahnung mit der Bühnenkunst Tanz zur Diskussion. Die drei Begriffe bilden nicht nur Kernthemen der Tragödien und Komödien, die Leben wie Kunst bestimmen. Sie sind elementare Facetten des menschlichen Daseins. Durch sie artikuliert sich nicht nur kulturelle Identität, sondern auch Normen gesellschaftlicher Formen des (Zusammen-)Lebens. Doch was Schönheit, Gewalt und Erinnerung vor allem verbindet, ist, dass sie in höchster Weise mit Gefühlen aufgeladen sind. Im komplizierten Geflecht beeinflussen diese drei Begriffe menschliches Handeln und bilden ein Gewebe an Erinnerungsbildern aus gemeinsamen Erfahrungen. Für die erste Ausgabe von Forum kommen Kunstschaffende, Kunstrezipierende und Kunstforschende zusammen, um sich dem Dachthema Schönheit zu widmen: Mit Schönheit werden sowohl individuelle wie kollektive Vorstellungen von Idealen und Normen verbunden. Schönheit verführt zu gesteigerter Aufmerksamkeit. Es ist ein Konzept, das kulturelle Grenzen und historische Epochen bestimmt und zugleich verschiebt, indem es Entscheidungen beeinflusst, Bestrebungen formt und in künstlerischen Praktiken Widerhall findet. Darin zeigt sich zugleich ein komplexes Feld aus oft verdeckt subjektiven Perspektiven und vermeintlich objektiven Wertekategorien: Was heißt schon «schön»? Das Forum der Spielzeit 2023/24 findet in Kooperation mit dem Sonderforschungsbereich 1512 «Intervenierende Künste» der Freien Universität Berlin unter der Konzeption und Leitung von Dr. Mariama Diagne statt. Schönheit 13.11.23 Gewalt 21.2.24 Erinnerung 14.5.24 → 19.30 Uhr, Deutsche Oper Berlin, Foyer

Gespräch und Diskurs

Das Staatsballett Berlin lädt zu verschiedenen Gesprächsformaten ein, um mit dem Publikum in den Dialog zu treten: Matinéen führen in die Premieren ein, Ballettgespräche werfen einen Blick hinter die Kulissen und die Reihe Forum widmet sich dem Dialog von Theorie und Praxis des Tanzes. Einführungsmatinéen 11:00 Uhr 2 Chapters Love 26.11.23 Staatsoper Unter den Linden -> Apollosaal William Forsythe 4.2.24 Deutsche Oper Berlin -> Foyer Overture 14.4.24 Staatsoper Unter den Linden -> Apollosaal Ballettgespräch 11:00 Uhr 14.1.24 | 26.5.24 Staatsoper Unter den Linden -> Apollosaal 7.7.24 (Special Edition 20 Jahre Staatsballett Berlin) Deutsche Oper Berlin -> Foyer


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NEUANFANG

Ausgabe N°1 – 10/23 – 1/24

Kalender Oktober

2023

Fr 20. 19:30 Bovary URAUFFÜHRUNG DOB

Ferienkurs 1

Mo 23. 16:30

D2

SBB

50€

DOB

C2

Mi 25. 09:30

Familienvormittag SBB

5€

Fr 27. 16:00

Ferienkurs 2

SBB

40€

19:30 Bovary

DOB

D2

Mo 30. 19:30 Bovary

DOB

C2

Di 31. 19:30 Bovary

DOB

C2

DOB

C2

DOB

5€

DOB

D2

SBB

25€

Mo 13. 19:30 Forum Diskussionsreihe

DOB Foyer

5€

Mi 15. 19:30 Dornröschen

DOB

C2

Fr 17. 19:00 Dornröschen

DOB

D2

Di 21. 19:30 Dornröschen

DOB

C2

Mi 22. 19:30 Dornröschen

DOB

C2

Di 24. 19:30 Bovary

Zusehen, Mitmachen, Erleben: Mit einem umfangreichen Angebot ermöglicht das Education Programm des Staatsballetts Berlin, Tanz ist KLASSE!, jeder und jedem einen ganz persönlichen Zugang zum Ballett und dem Tanz zu finden. Bereits seit 2007 verantwortet Tanz ist KLASSE! die Vermittlungs- und Bildungsarbeit für Deutschlands größte Ballettkompanie. Da der Tanz so viele Facetten hat, wird in den Herbstferien ein Kurs angeboten, der sich explizit an Kinder mit Cerebralparese und deren Eltern richtet. In dem Bewegungslabor OFFSet können sich Jugendliche ab 12 Jahren einmal wöchentlich treffen, um sich auszutauschen und Tänze zu entwickeln. Neben einem fortlaufenden Kursprogramm sowie Partnerschaften mit Schulen und Kitas, leiten die Tanzpädagog*innen eine Vielzahl an Workshops, in denen die jungen und älteren Teilnehmer*innen den Tanz auch praktisch erfahren und gleichzeitig einen Blick hinter die Kulissen werfen können. Im Rahmen der Workshopreihe TanzTanz können Hobbytänzer*innen in den Ballettsälen des Staatsballetts Berlin Originalchoreographien klassischer oder zeitgenössischer Repertoirestücke erlernen. In einer Choreographiewerkstatt choreographieren Jugendliche selbst und präsentieren diese Tänze in Zusammenarbeit mit der Jungen Staatsoper und Musiker*innen der Staatskapelle Berlin. Das ausführliche Programm und die Anmeldemöglichkeiten finden Sie auf der Webseite des Staatsballetts Berlin unter Education.

November Do 9. 19:30 Dornröschen

WIEDERAUFNAHME

Fr 10. 17:00

Familienworkshop Dornröschen

19:00 Dornröschen Familienvorstellung

So 12. 11:00

TanzTanz Workshop

25. 15:00

TanzTanz Spezial

SBB

85€

So 26. 10:00

TanzTanz Spezial

SBB

85€

11:00 Einführungsmatinée SOB Apollosaal 2 Chapters Love

Dezember Sa 9. 09:30 Dornröschen

Preisgruppen SOB

5€

19:30 2 Chapters Love

SOB

D1

Mo 11. 19:30 2 Chapters Love

SOB

B1

Mi 13. 19:30 Dornröschen

DOB

C2

So 17. 14:00 Dornröschen

DOB

C2

19:30 Dornröschen

DOB

C2

Mo 18. 19:30 2 Chapters Love

SOB

B1

Mi 20. 19:30 Dornröschen

DOB

C2

Do 21. 19:30 2 Chapters Love

SOB

B1

Mo 25. 16:00 Dornröschen

DOB

D2

Di 26. 18:00 2 Chapters Love

SOB

C1

Familienvormittag SBB

5€

DiY-Workshop

SOB

5€

19:30 2 Chapters Love

SOB

C1

Familienvormittag

URAUFFÜHRUNG

Mo 29. 09:30 17:30

2 Chapters Love

Staatsoper Unter den Linden (SOB) A1 12€­ – 47€ B1 15€­ – 65€ C1 21€ – 80€ D1 25€ – 100€ Deutsche Oper Berlin (DOB) A2 16€ – 70€ B2 20€ – 86€ C2 24€ – 100€ D2 26€ – 136€ KOB = Komische Oper im Schillertheater Berlin SBB = Staatsballett Berlin = Veranstaltungen des Education Programms Tanz ist KLASSE!

Weitere Informationen und Tickets unter staatsballett-berlin.de

Familienvorstellung

Januar So 7. 11:00

Tanz Tanz Workshop

2024 SBB

25€

So 14. 11:00 Ballettgespräch

SOB Apollosaal

5€

Do 18. 19:30 Bovary

DOB

C2

Fr 19. 19:30 Bovary

DOB

D2

DOB

5€

DOB

C2

DOB

C2

So 21. 14:00

DiY-Workshop

Bovary

16:00 Bovary Familienvorstellung Mo 22. 19:30 Bovary

Kartenservice Unter den Linden 7 10117 Berlin tickets@staatsballett-berlin.de Tel +49 (0)30 20 60 92 630 Fax +49 (0)30 20 35 44 83 Tickets erhalten Sie außerdem an den Theater­ kassen der Staatsoper Unter den Linden, der Deutschen Oper Berlin und der Komischen Oper Berlin sowohl im Vorverkauf als auch jeweils eine Stunde vor Vorstellungsbeginn an der Abendkasse.

www. staatsballettberlin.de


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