Staatsballett Berlin Magazin

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Ausgabe 7 – Spielzeit 2016/2017

STAATSBALLETT BERLIN

Intendant Nacho Duato


TANZNOTIZEN

NEUES AUS DER C OMPAGNIE

In dieser Ausgabe des Staatsballett-Magazins nehmen wir Sie wieder mit hinter die Kulissen: Wir zeigen, wie intensiv die Proben zu Tschaikowskys Weihnachtsklassiker „Der Nussknacker“ verlaufen, welche Lebensgeschichten sich hinter den neuen Solotänzern verbergen und was passiert, wenn Muskeln am Limit sind. Und in der Mitte des Heftes können Sie den Nussknacker zum Leben erwecken

TANZTERMINE DER NUSSKNACKER Deutsche Oper Berlin 07 09 19 28 10 11 11 01 07 08 09 28 30 12 02 01

NEUE GESICHTER BEIM STAATSBALLETT BERLIN

MÄRCHENHAFTE PREMIERE DUATOS NUSSKNACKER Seit Anfang September stehen in vielen Supermärkten bereits Lebkuchen und Spekulatius in den Regalen. Und auch beim Staatsballett Berlin beginnt die Weihnachtszeit in diesem Jahr besonders früh, denn in der Deutschen Oper Berlin hebt sich schon am 07. Oktober 2016 das erste Mal der Vorhang für den Weihnachtsklassiker „Der Nussknacker“. Die Fassung von Nacho Duato bleibt der klassischen Bewegungssprache treu, wird aber mit modernen Elementen bereichert. „Der Nussknacker“ entführt alle Generationen in eine zauberhafte Welt und weckt die Erinnerungen an süße Weihnachtsmomente aus Kindertagen.

Auf dem Foto von links nach rechts: Shahar Dori, Denis Vieira, Cameron Hunter, Julia Weiss, Ekaterina Petina (stehend); Pamela Valim, Katherine Rooke, Ksenia Ovsyanick, Joaquin Crespo Lopes (sitzend); es fehlt: Alicia Ruben.

Zehn neue Tänzerinnen und Tänzer aus aller Welt begrüßt das Staatsballett Berlin zur neuen Spielzeit. Ksenia Ovsyanick kommt als Erste Solotänzerin vom English National Ballet aus London. Ihr Debüt am Staats​ballett Berlin hat sie am 19. Oktober 2016 in der Rolle der Clara in Nacho Duatos „Der Nussknacker“. Denis Vieira tanzt an ihrer Seite den Nussknacker-Prinz, er kommt vom Bal lett Zürich. Weitere Neuzugänge sind die Solotänzerinnen Ekaterina Petina vom Bayeris chen Staatsballett und Julia Weiss vom Semperoper Ballett Dresden. Das Corps de ballet wird durch Joaquin Crespo Lopes, Shahar Dori, Cameron Hunter, Katherine Rooke, Alicia Ruben und Pamela Valim ergänzt. Herzlich willkommen!

SCHWERELOSES MARMOR CANOVAS TANZMOTIVE

BALLETTKUNST, DIE BLEIBT DORNRÖSCHEN AUF DVD Das Besondere an der Ballettkunst ist ihre Vergänglichkeit. Doch zum Glück können die bezaubernden Momente der Schwerelosigkeit aufgezeichnet werden und immer wieder begeistern. Pünktlich zum Saisonbeginn erscheint nun die neue Staatsballett-DVD „Dornröschen“ in der Choreographie und Inszenierung von Nacho Duato zur Musik von Peter I. Tschaikowsky. Die Hauptpartien werden von Iana Salenko und Marian Walter getanzt, es musiziert das Orchester der Deutschen Oper Berlin. Bereichern Sie Ihre DVD-Sammlung oder verschenken Sie Ihre große Ballettliebe an Ihre Freunde – Weihnachten steht ja fast schon vor der Tür. Erhältlich ab dem 14. Oktober 2016 als DVD und Blu-Ray im gut sortierten Buch- und DVD-Handel (Verlag: BelAir Classiques).

Der Erste Solotänzer Marian Walter bringt die Titel-Figur von „Der Nussknacker“ zum Tanzen.

Antonio Canovas „Tänzerin“ ist ab Ende Oktober 2016 im Bode-Museum ausgestellt.

Antonio Canovas „Tänzerin“ zieht die Besucher des Berliner Bode-Museums in ihren Bann. Die Skulptur des italienischen Bildhauers (1757–1822) vereint vermeintliche Gegensätze: die Wucht des Marmors und die Schwerelosigkeit des Tanzes. Die Ausstellung „Canova und der Tanz“ (21. Oktober 2016 bis 22. Januar 2017) rückt die Figur in den Mittelpunkt. Um die Tänzerin gruppieren sich Gemälde, Grafiken, Zeichnungen und Skulpturen und lassen die Annäherung Canovas an sein Lieblingsmotiv – den Tanz – nachvollziehen. Das Staatsballett Berlin tanzt mit: Alicia Ruben und Giacomo Bevilacqua erklären mit Kunstvermittlerinnen des Museums in Führungen das besondere Verhältnis zwischen Tanz und Bildender Kunst. Für Jugendliche gibt es vom 24. bis 27. Oktober einen Ferienworkshop zur Ausstellung. Mehr Informationen unter: www.staatsballett-berlin.de

Titelfoto und diese Seite: Fernando Marcos (Nussknacker), Agnieszka Jasinska (Gesichter), Staatliche Museen zu Berlin, Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst (Canova)

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Ksenia Ovsyanick: Willkommen in Berlin (lacht)! Denis Vieira: Willkommen in Berlin! Wenn man sich bewusst macht, wie und wo der eigene Weg begann und wohin er führte, staunt man, oder? Ksenia: Ja, das stimmt. Ich bin in Minsk geboren und wusste mit vier Jahren, dass ich Tänzerin werden will. Mit Unterstützung meiner Eltern besuchte ich die Ballettschule in Weißrussland. Ich war aber neugierig und wollte wissen, was international möglich ist. Deshalb nahm ich an verschiedenen Wettbewerben teil, so auch am Prix de Lausanne. Schließlich wurde ich nach London eingeladen, an die English National Ballet School. Nach dem Studium wechselte ich in deren Compagnie. Um mich weiterzuentwickeln, tanzte ich beim Staatsballett Berlin vor. Tja, und nun bin ich seit einer Woche hier. Und Du, was führte Dich hierher? Denis: Du wirst es nicht glauben, aber vor 10, 15 Jahren war es gar nicht so leicht, in Brasilien – dem Land der Rhythmen! – Tänzer zu werden. Als Fußballer hätte ich es leichter gehabt. Aber ich hatte nun einmal den Rhythmus im Blut (lacht). Meine Mutter sagt, ich habe schon immer getanzt. Mit acht Jahren traf ich die Entscheidung, Balletttänzer zu werden. Ich wollte es unbedingt, musste aber hart dafür kämpfen. Tatsächlich bekam ich einen Platz an der Bolshoi Theatre School im Süden Brasiliens. Von dort ging ich mit 16 Jahren in die Compagnie des Teatro Municipal in Rio de Janeiro und schließlich zum Ballett Zürich. Als Künstler willst du dich ja immer weiterentwickeln. Das bedeutet, neue Herausforderungen zu suchen: ein neuer künstlerischer Einfluss, eine größere Compagnie, eine andere Stadt. Daher nun Berlin! Ksenia: Berlin ist toll, offen, im Wandel. Als ich eine neue Herausforderung wollte, suchte ich eine Stadt, die ähnlich international und weltoffen ist wie London. Berlin hatte mich immer begeistert. Die Atmosphäre, die Kunst-Szene, die Vielfalt. Denis: Im Gegensatz zu London und Berlin ist Zürich ein Dorf (lacht). Es ist schön, dort zu leben, aber Zürich erschien mir weniger offen, nicht so lebendig wie Berlin. Hier flirrt es, überall geht etwas ab, man kommt schnell mit den Menschen ins Gespräch. Ksenia: Wenn man die Compagnie wechselt, ein Zuhause aufgibt, ist es wichtig, möglichst schnell einen Zugang

zur neuen Umgebung zu finden. Am ehesten gibt mir wohl London das Gefühl, zu Hause zu sein – dort habe ich meine Jugendjahre verbracht, meine große Liebe kennengelernt, geheiratet und ein Haus gekauft –, aber ich fühle mich eigentlich in der ganzen Welt daheim. Ich liebe es, in neuen Städten zu leben und neue Kulturen kennenzulernen. Kennst Du dieses Gefühl auch? Denis: (lacht) Meine Heimat sind Ipanema Beach, meine Familie, Kokosnusswasser und viel Sonne. Aber ich finde auch, dass man überall ein Zuhause finden kann. Ich bin ein häuslicher Mensch, koche gern, und so war es für mich wichtig, eine schöne Wohnung zu finden. Die habe ich gefunden. Beim Staatsballett Berlin fühlte ich mich von Anfang an willkommen und geborgen. Dieser Ort gibt mir das Gefühl, mein Potenzial entfalten zu können. Das hat natürlich sehr viel mit den Menschen zu tun, mit denen man arbeitet. Nacho Duato ist nicht nur ein visionärer Choreograph, der die Tänzer fordert, sondern auch jemand, der uns als ganz individuelle Menschen sieht und fördert. Das ist toll!

Ksenia Ovsyanick und Denis Vieira geben am 19. Oktober ihr Debüt in „Der Nussknacker“. Bei einem Gespräch in Ksenias Garderobe tauschen sich die beiden neuen Solotänzer über ihre Ankunft in Berlin und ihre ersten Wochen beim Staatsballett aus.

Ksenia: Da gebe ich Dir recht. Auch ich möchte als Tänzerin und als Mensch wahrgenommen werden. Nur wer dieses Gefühl hat, fühlt, dass er am richtigen Ort ist. Die Menschen hier machen es einem wirklich leicht, anzukommen und sich wohlzufühlen: Nacho, die Kollegen der Compagnie und all jene aus den vielen Büros. Denis: Mein erster Eindruck vom Staatsballett Berlin war der eines reifen und gestandenen Hauses, etabliert und tief verwurzelt in der eigenen Kultur und Geschichte. Hier arbeiten zwar sehr viele Menschen, aber jeder weiß ganz genau, was er zu tun hat. Das mag ich. Ksenia: Als ich zum ersten Mal zur Audition hier war und mir eine Vorstellung ansah, fühlte ich mich an mein Theater in Minsk erinnert, an dieses spezielle „russische Flair“. Damit meine ich die Ernsthaftigkeit und den Anspruch an die Kunst. In Russland ist das Ballett wichtiger Bestandteil der Kultur, der Tanz hat dort eine lange Tradition. Und ein bisschen davon habe ich auch hier gespürt. Dieses Gefühl des Wiedererkennens war es, was mich so überzeugt hat (lacht). Denis: Ein derart guter Start schenkt Vertrauen für das, was nun vor uns liegt. Am 19. Oktober sind wir zum ersten Mal gemeinsam mit „Der Nussknacker“ auf der Bühne. Choreographiert und inszeniert von Nacho Duato. Ich bin sehr gespannt. Ksenia: Hast Du bestimmte Vorlieben: klassisches Ballett, neoklassisches oder zeitgenössisches? Denis: Ich tanze alles! Das Klassische liegt mir zwar, aber ich liebe es, mich auf Neues einzulassen. Daran wächst man. Wenn ich mir eine Rolle aussuchen dürfte, dann wäre das „Onegin“ von John Cranko nach dem Roman von Alexander Puschkin. Diese Rolle habe ich in Brasilien einmal getanzt, es war die wichtigste meines Lebens, würde ich sagen. Sie hebt einen als Künstler auf eine andere Ebene. Und auch als Mensch. Ksenia: Das Stück erforscht die menschliche Natur in großer Tiefe und in jeder Hinsicht. Bei mir wäre es übrigens die Tatjana auch aus „Onegin“. Es wäre wunderbar, diese Rolle zu tanzen. Denis: Na, dann lass’ uns gemeinsam daran arbeiten – willkommen Berlin.

TANZTERMINE in gemeinsamer Besetzung

DER NUSSKNACKER Deutsche Oper Berlin 19 28 10 08 09 12 Foto: Holger Talinski

NEUE HEIMAT

TÄ N Z E R I M G E S P R Ä C H

Ksenia Ovsyanick aus Weißrussland und Denis Vieira aus Brasilien sind zwei von zehn Neuzugängen des Staatsballetts Berlin. Im Gespräch über Heimat, Herausforderungen und Tanzträume lernen sich die beiden Ausnahmetalente kennen und auf Anhieb verstehen

GISELLE Staatsoper im Schiller Theater 10 11

DORNRÖSCHEN Deutsche Oper Berlin 28 11

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Kostümentwürfe für „Der Nuss­ knacker“ von Jérôme Kaplan: Der franzöische Bühnendesigner ist für seine Kreativität und Detail­ genauigkeit weltweit bekannt. Er schuf bereits Bühnenbilder und Kostüme für das Chinesische und Finnische Nationalballett und ­arbeitet regelmäßig mit einigen der international gefragtesten Choreo­ graphen zusammen. Darunter auch Nacho Duato.

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Hampelmann-Bauanleitung 1. Klebe die Doppelseite auf einen festen Karton. 2. Schneide die Einzelteile entlang der gestrichelten Linien aus. 3. Loche die weißen und schwarzen Punkte mit einem Papierlocher. 4. Verbinde die Beine mit dem Torso mithilfe zweier F ­ lachkopfklammern ­– das sind jene Messingklammern, mit denen man größere Brief­ umschläge verschließt. Diese Klammern steckst Du von oben durch die schwarzen Löcher im Torso und der Beine und biegst sie dann auf der Rückseite auseinander. 5. Den Hampelmann umdrehen und die beiden weißen Löcher der Beine mit einem Faden verbinden. 6. Den Faden in der Mitte mit einer Schnur verknoten, ans Ende der Schnur eine Holzkugel hängen. 7. Den Hampelmann in die Hand nehmen, an der Holzkugel ziehen und tanzen lassen.


Noch hat die böse Fee Carabosse das Schloss nicht in Schlaf versetzt, noch tanzt Dornröschen federleicht über die Bühnenbretter. In schimmernden Kostümen wirbeln die Gäste im Walzertakt durch den Ballsaal des Königs. Tutus wippen, Roben wehen, der Märchentraum glitzert in weißem Stuck. Das Publikum des Staatsballetts Berlin ist mittendrin in dieser Zauberwelt von Peter Tschaikowsky und dem Chefchoreographen Nacho Duato. Es ahnt nichts von dem Stress hinter der Bühne, von der Konzentration, dem Adrenalin. Während sich einige Tänzer an der Ballettstange aufwärmen, lassen sich andere – kaum dem Blick des Publikums entschwunden – auf die Matte fallen. Ein Schluck Wasser, Ballettschuhe aus, durchatmen, expressentspannen. Am Bühnenrand steht Physiotherapeutin Amelie Dengler schon bereit. „Hast du Zeit?“, fragt eine junge Tänzerin noch außer Atem. Ihre Schulter schmerzt. „Klar, wie viel Zeit haben wir?“, fragt Dengler und beginnt mit der Massage. „Bis zum dritten Akt.“ Das wird reichen. Physiotherapeuten gehören genauso zum Ballettbetrieb wie Bühnentechniker oder Maskenbildner. Sie packen an, wenn Sehnen schmerzen, Muskeln am Limit sind oder sich bei Arabesque, Pirouette oder Jeté Knochen millimeterweit verschoben haben. Ballett ist Spitzensport und geht nicht ohne die Hände der Physio-Profis. Zweimal schon hat Dengler an diesem Abend strapazierte Knöchel mit einem Tape-Verband versorgt. Und während sie die Ballerina mit der schmerzenden Schulter behandelt, behält sie auch jenen Tänzer im Blick, der nach langer Verletzungspause heute zum ersten Mal wieder auf der Bühne steht. „Wir beobachten die Tänzer und erkennen, wo es noch hakt.“ Die 28-Jährige studiert Osteopathie, zwei-, dreimal in der Woche betreut sie die Hauptstadtcompagnie. Sie liebt das Ballett, diese „Königsdisziplin des artistischen Spitzensports“. Der Weg zu den Physiotherapeuten des Staatsballetts führt auf verschlungenen Wegen bis unter das Dach. Rechts der Fitnessraum, links die Liegen der Physiotherapeuten. Heute haben Lukas Hinds-Johnson und Philip Mollenkott Dienst. Hinds-Johnson ist Physiotherapeut, Mollenkott ausgebildeter Osteopath. „Mich fasziniert der Körper und die Ästhetik seiner Bewegungen“, sagt Hinds-Johnson. „Es ist dieses ungeheuer feine Körperbewusstsein unserer Tänzer“, ergänzt Mollenkott. Schon

TANZTERMINE DORNRÖSCHEN

fünf Grad weniger Beweglichkeit in einem Gelenk machen für einen Tänzer einen gewaltigen Unterschied, ein normaler Mensch würde ihn nicht mal bemerken.

Deutsche Oper Berlin 27 28 11

Langgestreckt liegt Marina Kanno auf der Liege. HindsJohnson legt seinen Unterarm quer über ihre Beine und fährt mit Druck von unten nach oben. Gut zwanzig Minuten dauert die Behandlung, dreimal die Woche kommt die Japanerin im Moment zur Physiotherapie. Ohne kann sie es sich im Juni, am Ende der Saison, kaum noch vorstellen. Die Dauerlast zehrt am Körper. Gelenke blockieren, Muskeln schmerzen. Am Anfang einer Spielzeit kommen fünf bis zehn Leute am Tag, am Ende klopfen meist doppelt so viele an. Osteopath und Physiotherapeut ergänzen sich. Der eine setzt stärker am Bewegungsapparat an, der andere bezieht mehr die Wechselwirkung mit Organen mit ein. Tommaso Renda hat heute starke Schmerzen im Kreuz. Mollenkott nimmt seinen Oberkörper zwischen die Hände, biegt ihn langsam vor und zurück. Dann geht es auf die Liege. Die Hände übereinandergelegt stemmt er sich auf sein Kreuz, es knackt. „Oh ja“, seufzt Tommaso, „ihr seid doch die besten.“ Mollenkott lacht. „Die Menschen hier sind so verletzlich und doch unbesiegbar.“

Oben/Mitte: Osteopath Philip Mollenkott (oben) und Physiotherapeut Lukas Hinds-Johnson (rechts) behandeln die Muskeln und Gelenke der Tänzerinnen Marina Kanno (oben rechts) und Camille Proust (oben Mitte) und sind bei jedem Training und jeder Vorstellung anwesend.

Wer zwischendurch einfach nur mal eine Pause braucht, findet Ruhe in den Schlafkojen. Vier Stück davon gibt es am Ende des Ganges im Ruheraum neben den Ballettstudios, kaum größer als das Bett darin – ähnlich wie in einem Schlafwagen. Blümchen-Bettwäsche, kleine Leselampen, Vorhänge. Es duftet gut, aus kleinen Lautsprechern dringt Waldrauschen. Sarah Mestrovic nimmt hier oft einen Powernap. Mal zwischen den Proben, mal vor der Aufführung. Seit mehreren Jahren gibt es im Staatsballett diese Ruheräume bereits. „Der Tanzberuf ist so kurz, wir möchten unseren Tänzern die bestmöglichen Bedingungen bieten“, sagt Betriebsdirektorin und Stellvertretende Intendantin Dr. Christiane Theobald. „Wer ausgeruht ist, läuft natürlich auch weniger Gefahr, sich zu verletzen.“ Wissenschaftler der Charité haben das Schlafverhalten und die Physiodaten der Tänzer drei Monate lang dokumentiert. Ergebnis: Müdigkeit und Belastung glichen der von Schichtarbeitern. Für Theobald wenig überraschend. Wer oft bis kurz vor Mitternacht auf der Bühne steht, kommt kaum vor ein Uhr nachts ins Bett. Da um 10 Uhr morgens schon wieder das Training und die Proben beginnen, ist ein Schlafdefizit vorprogrammiert. Die gute Nachricht der Forscher: Schlafmangel in der Nacht ist kompensierbar – durch Zwischenschläfchen. Dafür braucht es diese Räume, die die Schlafwissenschaftler zusammen mit Akustikern der Philharmonie entwickelten. Auf der Bühne hebt sich der schwarze Dornenteppich. Gerade hat der Prinz Dornröschen wachgeküsst. Amelie Dengler legt ihre Hand auf das Brustbein ihrer Patientin, massiert sanft den Oberbauch. Schultern, Brust, Bauch, alles hängt zusammen. Vorsichtig muss sie dabei sein, ist sie zu kraftvoll, kann die Ballerina heute nicht mehr weitertanzen. Auch zu zaghaft darf sie nicht sein, sonst hilft es nichts. „Besser?“, fragt Dengler. Die Tänzerin nickt und lächelt. Aufstehen, tief durchatmen, und schon eilt sie mit leichten Schritten ins Rampenlicht.

Links: Tommaso Renda ist bei Osteopath Philip Mollenkott in guten Händen. Der Profitänzer spürt sein Limit vor allem im Kreuz. Unten: Weronika Frodyma und Federico Spallitta beim Krafttraining. Schultern, Brust, Bauch – alles hängt beim Tanzen eng zusammen.

Fotos: Holger Talinski

MUSKELN AM LIMIT

VOR ORT BEI HOCHLEISTUNGSSPORTLERN

Zwischen Pirouette und Physiotherapie: Während auf der Bühne noch das Stück läuft, lassen sich die Ballerinen in ihren kurzen Tanzpausen von Physio­ therapeuten und Osteopathen expressbehandeln


„Die Tänzer müssen ihre Seele in den Tanz legen, ihre Phantasie, ihre Liebe“, sagt Duato. „Ich versuche, ihre Schritte zu beleben und sie mit Bildern zu inspirieren.“ Heute, beim Pas de deux, ist es das Bild eines innigen Zwiegespräches. Wer es im Kopf hat, vergisst schnell den Raum um sich herum, sucht den Blick des Partners, tanzt das Wechselspiel von Für und Wider wie in einem Dialog.

Nacho Duatos neue Fassung von „Der Nussknacker“ bricht mit der Statik des klassischen Stils. Damit bringt er die Solisten ins Schwitzen, doch schafft er so auch ein lebendigeres Stück

Proben zu „Der Nuss­ knacker“: Erste Solotänzerin Iana Salenko (Vordergrund) tanzt die Clara in der Premiere am 07. Oktober 2016; im Hintergrund Ksenia Ovsyanick und Denis Vieira, die am 19. Oktober ihr gemeinsames Debüt geben. Foto: Yan Revazov

ANMUT OHNE FIRLEFANZ

IM S T U D I O M I T N A C H O D UAT O

Ein Dienstagmittag beim Staatsballett Berlin. Im Probenraum 3 herrscht höchste Konzentration. Sommerwolken ziehen an den hohen Fensterfronten vorbei, die Sonne malt Schatten auf das Linoleum. Seit einem Monat laufen die Proben für den Pas de deux im zweiten Akt, einem der Höhepunkte in der neuen Inszenierung des „Nussknackers“. Am 07. Oktober ist Premiere. Erst haben die Ballettmeister mit den Ersten Solisten Iana Salenko als Clara und Nussknacker-Darsteller Marian Walter die Choreographie technisch einstudiert. Jetzt feilt Chefchoreograph und Intendant Nacho Duato an den Feinheiten.

Behände läuft Clara dem Nussknacker-Prinz in die Arme, sie umkreisen sich, gleiten auseinander, durchmessen mit weiten, geschmeidigen Schritten den Probenraum. Ein lautloser Sprung, ein Griff um die Taille, und hoch in die Luft streckt der Nussknacker seine Ballerina. „Ah, nein, nein, nein. Schaut, ihr müsst das so machen“, ruft Nacho Duato. Die Musik verstummt, Duato nimmt Clara an den Händen, führt sie in die Drehung, den Rücken etwas mehr nach hinten, das Kinn ein wenig nach links, noch mehr Kraft in die Bewegung. „Titataa, titataa, Stakkato, okay?“ Ein Lächeln, ein Nicken. Duato setzt sich auf den Stuhl vor der Spiegelwand, die Musik ertönt, Nussknacker-Prinz und Clara stellen sich in Position, der Pas de deux beginnt von Neuem.

Nacho Duato weiß, wie es ist, beharrlich an einer Rolle zu arbeiten, den Tanz immer weiter zu perfektionieren. Jahrelang hat der Spanier selbst auf der Bühne gestanden. Er weiß, wie hart Ballett sein kann – und welche Kraft es gleichzeitig gibt. „Es lässt mich das Leben anders fühlen. Intensiver, besser.“ Bei den Proben, sagt Duato, müssen die Tänzer 100 Prozent präsent sein. Auf seine Ersten Solotänzer kann er sich verlassen.​ Iana und Marian sind Profis, motiviert bei der Sache, hart im Nehmen. Sie mögen seine Art, „streng, doch sehr freundlich und klar“, wie Iana betont. Beide schätzen seine Choreographie – raumgreifend, schnell, leicht und „mit viel mehr Schritten als im klassischen Ballett“, erklärt Marian. Mit seiner Inszenierung will Nacho Duato den „Nussknacker“ modernisieren. „Klassisch, aber mit dem Tempo und der Frische unserer Zeit“, nennt er seine Interpretation von Peter Tschaikowskys großer Märchenerzählung, die Duato ins Jahr 1913 verlegt. Auch, weil die leichten Seidenkleider und Smokings der Epoche mehr Bewegungsfreiheit für eine dynamische Choreographie lassen als die schweren Roben des 19. Jahrhunderts. Duato bricht die Statik des klassischen Stils auf, schafft eine starke, lebendige Anmutung ohne Firlefanz. Arme und Oberkörper biegen sich, der Bühnenraum wird bis in den letzten Winkel genutzt, die Männer sind aktiver als sonst im klassischen Repertoire. „Wir haben viel mehr zu tun“, sagt Nussknacker-Prinz Marian und lacht. Dabei orientiert sich Duato eng an Libretto und Musik des Originals. „Ich halte nicht viel davon, nur die Höhepunkte zusammenzubauen.“ Im Studio 3 ist nicht mehr zu hören als das schnelle Atmen von Iana und Marian. Schweiß glänzt in ihren Gesichtern, Trainingsshirt und Trikot sind dunkel gefärbt. Und dann beginnt Tschaikowskys Pas de deux von vorn. Duato federt um die Tanzenden herum, weist mit kleinen Bewegungen und Gesten den Weg. Bleibt stehen. Beobachtet. Der Nussknacker-Prinz und Clara drehen sich tief in die Pirouette. Duato klatscht. „Ja! So ist es richtig, so ist es ein wunderschöner kleiner Moment.“ 10 I 11


TA N Z LY R I K Ron Winkler hat Nacho Duatos Aufführung von „Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“ zum Anlass genommen, über gemeinsame Zustände von Bewegungen und dem Vokabular, das sie erzeugen, nachzudenken. Da für seine Arbeit die Konfrontation von Geschmeidigkeiten und Abruptem maßgeblich ist, geraten wir auch in diesem nach innen wie außen offenen Gedicht in einen Flow, der die Harmonien des Stücks aufgreift, ohne die Brüche zu übergehen.

TANZTERMINE VIELFÄLTIGKEIT. FORMEN VON STILLE UND LEERE Komische Oper Berlin 03 10 05 27 12 09 01

TICKETS:

PHALANX ZU EINEM TANZEN tief Atem holen | und rauben: einen Schritt | doch dann Arm zugeben, die Finger sich an Schwarm versuchen lassen | hinterm Rücken knicken | und wieder Atem zücken, alle Horizonte bilden Arme, Beine, man kann das Fliegen fliegen hören, oder floren, sich in großem Abstand aneinander schmiegen, mit einer Musik | dazwischen, die mittels Zehen dem Boden einen stillen Plan eindrückt, roher Blick, sich eine Position verschaffen, geschliffene Bewegung, und nicht nur ich, nein, synchrotopisch, skin-to-skin-kinetisch, ein Innehalten | schwingen und dann im Ungeformten mit dem Körper | ein neues Lied: beginnen. den Raum freischreiben, frei | sich vorstellen, der Raum bewege sich und die Bewegung stünde und ein Verharren stünde an, sei vorzunehmen auf der Ebene | eines Hörens | um sich aus sich selbst heraus zu hören als ein Detail | eines unbekannten unberaumten Zustands | oder Abstands, in dem man sich ineinander schmiegt | und wiegt wie ensembliert | und gleich und gleichzeitig auch singulär, das Federnde der Glieder, das keine Federn bildet, nur vielleicht einen Schwall an Schönheit, ein fremdes Land, eine gewonnene Begegnung: Hand. die vielen Instrumente | eines Tanzens: Geste, Finte, elegant galante Uneigentlichkeit, also Licht und Schweif: die Tautropfen, die jede Mühe der Hingabe aufsetzt, ich bin benetzt, umwirrt, ich schwirre mich im Anderen, ich korreliere Zeit an Zeit, verbreite Vielsamkeit, bin dem Momentanen eine Positur: gelöst und eingelöst, Verwandlung wie das durch mich gestellte Atmen: the light, the quiet. ich | erinnere mich, wir gingen uns ins Schweben, zum Beispiel | Knie gebeugt an einen Chor aus abgespreiztem Blick, groß hinter dem Komma einer Drehung | wieder Intimität, Hervorgehen, Haut ausüben (bring mir doch dein Allegretto), eine Fuge schwanken, die Gliedmaßen für Kosung | (the better hands) in Musik abändern, dies umwerben dann mit Schwarzstich: die Sehnen zum eigenen Tod gespannt.

Ron Winkler, geboren 1973 in Jena, lebt als Schriftsteller, Herausgeber und Übersetzer in Berlin. Er ist bekannt für seine konsequente, eigenwillige Lyrik und hat für seine Werke bereits mehrere Auszeichnungen erhalten, u.a. den Lyrikpreis München 2015 und den Basler Lyrikpreis 2016. In gemeinsamer Herausgabe mit Tom Schulz erschien zuletzt „Venedig. Der venezianische Traum“, eine Gedichtsammlung über die Stadt (Schöffling & Co 2015).

+49 (0)30 20 60 92 630 tickets@staatsballett-berlin.de IMPRESSUM HERAUSGEBER Staatsballett Berlin, Richard-Wagner-Straße 10, 10585 Berlin | INTENDANT Nacho Duato | ARTDIRECTION Bernardo Rivavelarde | VERLAG TEMPUS CORPORATE GmbH – Ein Unternehmen des ZEIT Verlags, Askanischer Platz 3, 10963 Berlin, info@tempuscorporate.zeitverlag.de I Geschäftsführung: Ulrike Teschke, Jan Hawerkamp I Projektleitung: Andreas Lorek, Kathleen Ziemann I Textchef: Dr. Joachim Schüring I Autoren: Anja Dilk, Selina von Holleben I Lektorat: Katrin Weiden I Layout: Mirko Merkel, Jessica Sturm-Stammberger | DRUCK Axel Springer Offsetdruckerei Ahrensburg | REDAKTIONSSCHLUSS 13.09.2016 | Änderungen und Irrtümer vorbehalten. Foto: Christiane Wohlrab (Ron Winkler)


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