Staatsballett Berlin Magazin

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Ausgabe 12 – Spielzeit 2017/2018

STAATSBALLETT BERLIN

Intendant Nacho Duato


TANZNOTIZEN

NEUES AUS DER C OMPAGNIE

Adiós! Nach vier Jahren verlässt der Intendant Nacho Duato das Staatsballett Berlin. Deshalb ist diese Ausgabe nicht nur ein Aus-, sondern auch ein Rückblick – auf eine Zeit mit Höhen und Tiefen (S. 8) und offenen Türen (S. 11). Duatos letztes Werk „Por vos muero“ ist Teil des Ballettabends „Doda I Goecke I Duato“ (S. 4). Seine unverwechselbare Bewegungssprache setzt die österreichische Fotografin Stefanie Moshammer in einem Berliner Hotel in Szene (S. 6).

PREMIERE IM MAI FREIHEIT UND VIRTUOSITÄT Mit Andersartigkeit zu brillieren – diese Gabe verbindet alle drei Choreographen, die den Abend „Doda | Goecke | Duato“ bestreiten: Den Anfang macht Gentian Doda, Choreograph und Erster Ballettmeister des Staatsballetts Berlin. In seiner Kreation „was bleibt“ tilgt er alles Überflüssige und lässt die Individualität der Tänzerinnen und Tänzer sprechen.

ABSCHIED

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Aufführungen waren im Verlauf von vier Spielzeiten unter der Intendanz von Nacho Duato zu sehen. Das Repertoire umfasste 24 Ballettabende mit insgesamt 33 Werken. Elf dieser Choreographien stammten von Nacho Duato selbst, ergänzt durch vier Gastspiele. Dabei standen 79 Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne, die von acht Ballettmeistern angeleitet wurden, begleitet von vier Pianisten bei den Proben. Mitarbeiter der drei Berliner Opernhäuser kümmerten sich um ­Kostüme und Technik, das Orchester des jeweiligen Hauses sorgte für die musikalische Untermalung. Die zwölf Büromitarbeiter ermöglichten, dass auch im Hintergrund alles reibungslos lief.

BALLETTWOCHE SIEBEN TAGE TANZ Eine Woche voller inspirierender Tanz-Tage erwartet die Zuschauer vom 15. bis 21. Juni 2018: Die Solisten und das Corps de ballet des Staatsballetts Berlin präsentieren fünf Produktionen – die Premieren und Höhepunkte der Saison. Drei Spielorte laden ein, den Charme und Charakter unterschiedlicher Bühnen zu erleben. Zu den Highlights zählen „Herrumbre“ von Nacho Duato in der Staatsoper Unter den Linden (15. Juni), „Don Quixote“, eine Choreographie von Víctor Ullate, in der Deutschen Oper (17. Juni) und der |  Goecke  |  Duato“ mit Werken von Gentian Abend „Doda  Doda, Marco Goecke und Nacho Duato in der Komischen Oper (18. Juni). „Schwanensee“, in der Fassung von ­Patrice Bart, zeigt das Staatsballett in der Deutschen Oper am 19. und 21. Juni, Nacho Duatos Interpretation von ­„Romeo und Julia“ ist am 20. Juni zum vorletzten Mal in diesem Jahr in der Staatsoper Unter den Linden zu sehen.

Aurora Dickie und Lucio Vidal in Duatos ­„Herrumbre“. Es ist das Eröffnungsstück für die Ballettwoche im Juni 2018.

Elena Pris tanzt die ­Rolle der Königin der Gitanos in „Don Quixote“. Den spanischen Klassiker in der Choreographie von Víctor Ullate zeigt das Staatsballett Berlin noch bis Anfang Juli 2018.

Eigensinn und Erfindungsgabe zeichnen auch Marco Goecke aus, dessen „Pierrot Lunaire“ auf Arnold Schönbergs Komposition zurückgeht. Berühmt für virtuose Spielarten des Port de bras sorgt sein Sinn für unorthodoxe, minimale Armbewegungen stets für Überraschungen. Er sei einer jener Menschen, die nicht in den Erwartungen anderer funktionierten, schrieb die Autorin Sibylle Berg – „ein Beleg großer persönlicher Freiheit.“

Nacho Duato bei Proben im Staatsballett Berlin. Der Intendant gilt als Erneuerer des neoklassischen Tanzes mit einem Hang zur Melancholie.

Eine Aussage, die auch auf den Gastgeber zutrifft: Nacho Duato, ein Erneuerer des neoklassischen Tanzes, dessen Hang zur Eleganz und Melancholie legendär ist, feiert die Berliner Erstaufführung seines Meisterwerks „Por vos muero“. 1996 uraufgeführt, basiert das Stück auf einer Zeile aus „Soneto V“, einem Liebesgedicht aus der Renaissance von Garcilaso de la Vega. Seine zeitgenössische Inszenierung ließ Duato mit spanischer Musik aus jener Zeit orchestrieren. Und so verspricht er den Zuschauern eine „Hommage an die Bedeutung des Tanzes im 16. Jahrhundert, der das Gefühl der einfachen Bevölkerung widerspiegelt.“

Titelfoto: Yan Revazov (Elisa Carrillo Cabrera und Shahar Dori in „Por vos muero“), Fotos diese Seite: Fernando Marcos (Bild­mitte „Don Quixote“, Ballettwoche und Duato)

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IM GESPRÄCH

err Doda, der Titel Ihres neuen Stücks lautet „was bleibt“. Was steckt dahinter? Gentian Doda: Der Titel entstand bei den Proben. Das Stück wirke, als ob ein komplexes System kollabiere, so beschrieben Sergio Correa und Joaquín Segade mir ihren Eindruck. Sergio ist der Dramaturg und Joaquín der Komponist. Aber mir geht es um das Gegenteil: Ich wollte alles Überflüssige tilgen, bis ein stabiler Kern übrig bleibt. Ist dieser Kern Sinnbild für etwas, das alles überdauert? Die ganze Kreation ist ein Prozess, und ich kenne das Ergebnis noch nicht, ich weiß noch nicht, was bleiben wird.

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err Goecke, in Ihrer Inszenierung von Arnold Schönbergs Komposition „Pierrot Lunaire“ überlagern sich Lyrik, Musik und Tanz. Wie funktioniert das? Marco Goecke: Diese drei Komponenten prägen alle meine Arbeiten. Was Tanz, Musik und Lyrik gemein ist? In ihnen steckt eine Qualität, die man als Zuschauer zunächst nur aufnimmt, in ihrem Zusammenwirken aber erst später fühlt. Der Gedichtzyklus von Albert Giraud, auf dem Schönbergs Komposition basiert, stammt aus dem Jahr 1884, die ­Musik entstand 1912. Weshalb inspirierte Sie dieses Werk zu einer zeitgenössischen Choreographie? Mich interessierte vor allem die Musik. Schönberg bringt die Leute nach wie vor auf die Palme. Das Atonale spiegele ich in den Bewegungen: Die klassische Grundordnung des Balletts ist ja vorhanden, aber als Choreograph ist es meine Aufgabe, sie zu stören. Ihr Stück ist nun schon acht Jahre alt. Wie hat sich Ihr Blick darauf seither verändert? Heute bin ich mutiger, verlange den Tänzern mehr ab – zeige aber auch mehr von mir. Bei den Proben eines „alten“ Stückes, wie jetzt bei „Pierrot Lunaire“, muss ich daher meine Füße stillhalten, dem Drang widerstehen, Dinge zu verändern. Ich versuche dann, mir selbst gegenüber barmherzig zu sein.

Und doch verschwinden sie häufig im Dunkel Ihrer Stücke. Weshalb arbeiten Sie so oft mit gedämpftem Licht? Damit schaffe ich Intimität. Deswegen sind meine Stücke auch nicht frontal aufs Publikum ausgerichtet: Wenn zwei Menschen auf der Straße streiten, drehen sie sich ja auch nicht zu den Zuschauern, sondern schaffen einen hoch kon­zentrierten Raum zwischen sich.

Ihr Werk wird zwischen den Choreographien von Gentian Doda und Nacho Duato als Teil eines Ballettabends ­gezeigt. Was ist das Besondere an dieser Kombination? Das kann man sich wie ein kaltes Büffet vorstellen, aus dem sich das Publikum einzelne Häppchen rauspicken kann. Wissen Sie, ich bin ja Wuppertaler und an 14-Stunden-Aufführungen von Pina Bausch gewöhnt. Wie würden Sie das Wesen des Berliner Staatsballetts unter Nacho Duato beschreiben? Ich bin seit zwölf Jahren Haus-Choreograph am Stuttgarter Ballett und kann das nur von außen beurteilen. Aber ich weiß, es braucht mitunter zähe Jahre, um die Identität einer Compagnie aufzubauen. Selbst in Wuppertal dauerte es Jahrzehnte, bis Pina Bausch vom Marco Goecke ist seit 2005 Publikum akzeptiert wurde. Bei Nacho Haus-Choreograph des Balletts. Im Duato wurde dieser Prozess sehr früh Stuttgarter kommenden Jahr wechselt er als Ballettdirektor an unterbrochen. Das ist bitter.

Das Frontale ist typisch für klassisches Ballett. Ist Ihnen das zu museal? Ich möchte nicht darüber urteilen. Aber sollte ich entscheiden, ein Stück so aufzubauen, bräuchte ich einen guten Grund.

die Staatsoper Hannover.

Probe zu „Pierrot Lunaire“ mit Tänzer Konstantin ­Lorenz: Das Atonale in Schönbergs Musik spiegelt Marco Goecke in den ­Bewegungen der Tänzer.

Was zeichnet seinen Stil als Choreograph aus? Als junger Tänzer habe ich mir alles angeschaut, was ich auf Video kriegen konnte. Bei ihm wusste ich, dass seine Technik, seine schnellen Schrittabfolgen von höchster Qualität sind. Manchmal denke ich: Schade, dass ich heute so abgeklärt bin und mich einfach nicht mehr so begeistern kann wie damals.

Gentian Doda ist seit 2014 Erster Ballettmeister am Staatsballett Berlin. Als Choreograph zeigt er seine Arbeiten an Bühnen u. a. in New York, Kopenhagen und Rotterdam.

Für dieses Stück schreibt der Komponist die Musik begleitend zur Choreographie. Warum? Ich möchte nicht, dass mein Stück von der Musik abhängig ist. Joaquín und ich entwickeln die Musik parallel zur Choreographie. Ja, die Musik soll die Stimmung unterstützen – aber die Choreographie muss in erster Linie für sich stehen. Es geht hier um abstraktes Ballett. Ich versuche Dinge, die mich inspirieren, in Verbindung zu setzen und in das Stück einzubringen. Etwa den Gedanken, dass wir am Ende des Tages mit uns selbst klarkommen müssen. Es heißt oft, wir seien alle gleich – das sind wir nicht! Sobald jemand eigen ist, wird er abgekanzelt von der Mehrheit. Deswegen nehme ich den Tänzern auch nicht ihre Individualität, im Gegenteil: Ich brauche sie.

Fotos: Yan Revazov

STÖRUNG UND REDUKTION

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Für den Dreiteiler „Doda | Goecke |  Duato“ engagierte Nacho Duato zwei Choreographen mit eigen­willigem Stil. Wir sprachen mit beiden über ihre Werke

Sie arbeiten seit langem mit dem Intendanten Nacho D ­ uato zusammen. Nun hören Sie nach dieser Spielzeit in Berlin zusammen mit ihm auf. Wie hat er Sie geprägt? Ich begann 2002 unter ihm als Erster Solotänzer. Nach meiner ersten eigenen Choreographie sagte er zu mir: ‚Du bist ein Choreograph, ich unterstütze Dich.‘ Das ist bis heute so. Die Gewissenhaftigkeit, mit der er auf Details achtet, zeichnet ihn aus. Alles ist, wie es sein soll: die Kostüme, das Licht, die Choreographie. Er hat mein eigenes Arbeiten stark beeinflusst. Wir haben über 20 Jahre miteinander verbracht. Er ist längst nicht nur mein Intendant. Er ist mein Freund.

Gentian Doda spielt in seiner Inszenierung „was bleibt“ mit über die Bühne gespannten Bändern, einem Bühnenbild von Yoko Seyama.

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Fotos: Stefanie Moshammer (Instagram Account @stefanie_moshammer); Maske: Andrea Lange; Location: Hotel-Pension Funk in Berlin

S T E FA N IE M O S H A M M E R

„Por vos muero“ (Für dich sterbe ich) heißt Nacho Duatos letztes Werk am Staatsballett Berlin. In ­dieser Ausgabe interpretiert die Wiener Fotografin Stefanie Moshammer das zeitgenössische Stück. Duatos ausdrucks­ starke Arm- und Körperhaltungen sind inspiriert von Gemälden aus dem Goldenen Zeitalter Spaniens. Seine unge­wöhnliche Bewegungssprache setzt Moshammer mit den Tänzern Rishat Yulbarisov und ­ Alexander Akulov vom Staatsballett Berlin in Szene. Die 29-Jährige gilt als eine der erfolgreichsten Nach­ ­ uchs­­künstlerinnen der internatiow nalen Fotografie­­ szene. Sie ist die Gewinnerin des ersten C/O B ­ erlin Talent Awards 2018 in der Kategorie Fotografie und ab dem 7. Juli 2018 mit der Einzelausstellung „Not just your face, honey“ zu sehen.


Für den Ersten Solotänzer Marian Walter (Mitte links) war die Zeit mit Nacho Duato die intensivste seines Lebens. Duatos weicher Bewegungsstil brachte auch Federico Spallitta, Xenia Wiest und Weronika Frodyma (unten v. l. n. r) manchmal bis an ihre Grenzen – dann lernten sie, locker zu lassen.

Oben: Corinna Erlebach ist Pressesprecherin des Staatsballets Berlin. Sie ­ erinnert sich an die ­Anfangszeit, in der Nacho Duato eine ­Plakatserie mit dem Titel „Ich bin das Staatsballett“ initiierte.

Im Studio „Tatjana Gsovsky“ endet gerade die Probe zu „Por vos muero“. Nacho Duato gibt letzte Hinweise zu einer B ­ ewegungsabfolge, dann bespricht er sie mit dem Ballettmeister, der die Choreographie in den nächsten Wochen mit den Tänzern einstudiert. Xenia Wiest markiert noch einmal ihren letzten Einsatz und macht ein paar Dehnungsübungen. Ihre Freundin Weronika Frodyma sitzt gegenüber auf dem Boden, plaudert mit einer Kollegin, beide im Seitspagat, ganz entspannt – Tänzerinnen eben. Dann schlüpfen sie in ihre warmen Trainingshosen und nehmen sich mit zwei weiteren Tänzern Zeit für ein Gespräch über die Jahre mit Nacho Duato. Sie haben auf kleinen Hockern Platz genommen, vor den riesigen Stellwänden der Deutschen Oper Berlin, aus dem Opern-Probensaal hört man Arienklänge.

Links: Kostümassistentin Elisabeth Schäning betreut die Anprobe neuer Trikots. Ob Nacho Duatos Materialvorstellungen umsetzbar sind, zeigt sich oft erst bei den Proben.

Wenn die Tänzer über Nacho Duatos Zeit sprechen, geht es häufig um Freiheit und Grenzen. „Ich habe gelernt, Abstand zu halten, von dem, was im Studio passiert“, erzählt Frodyma, und Wiest ergänzt: „Das Staatsballett ist ja nur ein Teil unseres Lebens. Aber weil dieser so intensiv ist, und weil wir ihn so sehr lieben, können wir nicht so leicht loslassen.“ Dabei werde der Abend auf der Bühne gerade dann gut, wenn die Tänzer zur Balance zwischen Spannung und Entspannung zurückfinden. Frodyma wippt mit ihren schwarzen Sneakern. Seit sie dies gelernt habe, fühle sie sich freier. „Ich grüble weniger, habe mehr Selbstvertrauen – und bin eine bessere Tänzerin geworden.“ So erging es ihr beispielsweise mit der Choreographie „Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“ zu der Musik von Johann Sebastian Bach. Am Anfang habe ihr immer alles wehgetan, doch irgendwann ließ sie sich von der Musik in die vertrauten Bewegungen tragen, „dann kommst du in einen Flow und empfindest pures Glück“.

„In der ersten Zeit mit Duato fühlte ich mich wie jemand, der eine neue Sprache lernen muss“, sagt Weronika Frodyma. Die 29-jährige Polin tanzt seit 2011 als Demi-Solotänzerin am Staatsballett Berlin. Das war am Anfang natürlich nicht leicht: „Da stolperst du und stotterst.“ Federico Spallitta erging es ähnlich. Er erzählt, wie detailgenau Duato sei. Alle Bewegungen sollten „groß“ sein und „viel Raum einnehmen“. Duato korrigiere ständig, achte auf jede Nuance. „Irgendwann denkst du so viel über alles nach, dass du dich selbst blockierst.“ Dennoch, diese weiche Form zu behalten, das hat Frodyma vor allem als positive Herausforderung empfunden. Genauso wie Xenia Wiest – bevor Duato seine Intendanz antrat, schaute sie sich Videos an, war fasziniert von seiner Bewegungssprache: „Sie ist heute ein wichtiger Teil meiner Karriere.“ Hier ein neuer Intendant, dort 80 neue Tänzer – es brauchte seine Zeit, bis beide Seiten zueinanderfanden. Jahre. „Erst dann kannst du im Tanz ganz bei dir selbst sein“, so Solotänzer Federico Spallitta. „Das ist dann dein Moment absoluter Freiheit.“ Für Marian Walter, einen der Ersten Solotänzer der Compagnie, war die ­ ­Intendanz von Nacho Duato „die intensivste Zeit“ seines Lebens. Er wurde oft als Erstbesetzung für Hauptpartien ausgewählt. „Locker lassen“, das vor allem habe er unter Duato gelernt. Für seinen Bewegungsstil sei es besser, fließend zu tanzen, mit weniger Spannung.

Die Zeit drängt, gleich geht es weiter mit den Proben. Wurde vormittags das klassische Ballett geübt, wechseln die Tänzerinnen und Tänzer für Hofesh Shechters „The Art of Not Looking Back“ nun in eine moderne Interpretation. „Das ist richtig hart“, sagt Wiest, und Frodyma erklärt dies mit den ganz unterschiedlichen Beanspruchungen der Muskeln.

Fotos: Holger Talinski

SCHRITT FÜR SCHRITT

VOR ORT

Es dauerte eine Weile, bis er und das Staatsballett Berlin ­zusammenfanden. Nach vier Jahren verab­schiedet sich Nacho Duato von seinen Mitarbeitern. Das Ensemble blickt zurück auf die Höhen und Tiefen der gemeinsamen Zeit

In den verschlungenen Gängen zwischen den Probesälen stehen einige Tänzer vor einem kleinen Raum, dort hinein hat Kostümassistentin Elisabeth Schäning eine Kleiderstange geschoben, mit Trikots zur ersten Anprobe. Duato arbeite mehr an den Kostümen mit, als sie es sonst kenne. Ob seine ungewöhnlichen Ideen in der Praxis funktionieren, zeigt sich meistens erst in den Proben. Mit den Kostümen, die häufig aus historischen 08 I 09


und minimalistischen Elementen bestehen, treffen die Kostümbildner die Erwartungen Duatos. Für sein Werk „Erde“ entwarf die Kostümbildnerin Beate Borrmann etwa Anzüge aus fast durchsichtigem Neopren, einem ziemlich sperrigen Material, aus dem man normalerweise Tauchanzüge macht. An so etwas traut sich sonst niemand ran, doch Borrmann, Schäning und Duato geht es immer um das Besondere und den Wunsch, Neues zu schaffen.

Und so besetze er eben auch mal einen Gruppentänzer als „Romeo“, fügt Pressesprecherin Corinna Erlebach

Am 4. Juli 2018 fällt für Nacho Duato in Berlin der letzte Vorhang. Elf eigene Werke hat er in den letzten vier Jahren inszeniert. Ungezählte Male hat er sich vor seinem Publikum verbeugt. Er wird seinen Mitarbeitern fehlen. Gracias y adiós, Nacho!

Herr Duato, was ist für Sie das Schönste, das Sie in Berlin erreicht haben? Dass mehr junge Leute im Publikum sitzen. Als ich hierher kam, sah ich zu viele ergraute Köpfe in den Zuschauerrängen. Aber nichts gegen graue Haare, die bekomme ich ja selbst gerade (lacht).

Foto: Valérie Schmidt

Natürlich geht es auch Duato um die physische Ästhetik, aber genauso zählen für ihn die Charaktere der Tänzerinnen und Tänzer. Weronika Frodyma, groß und sportlich, weiß, dass sie für manche Ballettfreunde zu muskulös wirkt. „Für Nacho war das kein Kriterium. Was ich vorher als Schwachpunkt sah, wurde zu meiner Stärke.“ Voll ausleben konnte sie das in ihrer Rolle als „Tod“ mit den raumgreifenden Bewegungen im Bach-Ballett, ihrer Lieblingschoreographie von Duato.

hinzu. Zu Duatos Stärken gehöre, dass er nicht hierarchisch arbeite. Er sehe das Ensemble als eine Einheit, in der jeder unverzichtbar sei, erklärt Erlebach. Das zeigt er auch nach außen. Zu Beginn seiner Intendanz initiierte er eine berlinweite Plakatserie unter dem Titel „Ich bin das Staatsballett Berlin“. Abgebildet waren nicht nur die Solotänzer, sondern jedes einzelne Ensemblemitglied. So manifestierte er einen starken Teamgeist, der Kraft gab, auch in kritischen Zeiten unbeirrt weiterzumachen. Besonders in der Anfangszeit musste Duato viel Medienkritik einstecken. Davon kann auch Petra Konerding berichten, die als Referentin der Intendanz und Betriebsdirektion eng mit Duato zusammenarbeitet. „Was mich am meisten an ihm beeindruckt, ist die Tatsache, dass er trotz aller Kritik bei sich geblieben ist und seine Überzeugungen lebt.“ Fotos: Holger Talinski

Neues schaffen, das wollte auch Xenia Wiest. Denn sie und andere Ensemblemitglieder wie etwa Arshak Ghalumyan, Alexander Abdukarimov oder Olaf Kollmannsperger tanzen nicht nur, sondern entwickeln auch eigene Choreographien, die sie auf verschiedenen Bühnen präsentieren. Nacho Duato macht das möglich, indem er bei den Besetzungen der Repertoirevorstellungen darauf Rücksicht nimmt. Wiest habe er gesagt: „Wenn du alles auf die Reihe kriegst und den Probenablauf nicht störst – mach’ es!“

Welchen künstlerischen Anspruch hatten Sie? Gute, moderne Choreographen zu holen wie Jiří Kylián mit gleich mehreren Inszenierungen, Hofesh Shechter oder Ohad Naharin. Solche Namen hatten gefehlt. Jetzt haben wir sie, und das ist großartig! Die klassischen Stücke wollte ich natürlich behalten, aber auffrischen, so wie meine Inszenierung von „Dornröschen“. Sie sind jetzt kürzer, pointierter, aufgeräumter. Die Tänzer mussten sich an die neuen Interpretationen gewöh-

nen, haben sich aber mit voller Energie darauf eingelassen. Mir geht es um Präzision, in jeder einzelnen Bewegung. Das haben sie jetzt verinnerlicht. Und die ­Zuschauer mögen es – die Ticketverkäufe sehen sehr gut aus! Wenn Sie jetzt Bilanz ziehen – wie sieht die aus? Gemischt. Vieles war positiv, manches vielleicht nicht negativ, aber doch frustrierend. Die Tänzer, die Orchester, die Häuser sind phantastisch, aber drei Häuser gleichzeitig zu bespielen, war eine echte Herausforderung. Wir haben lange gebraucht, uns alle aufeinander einzustellen. Und dass dann drei Jahre vor Vertragsende den Medien mein Nachfolger bekannt gegeben wurde – das geht einfach nicht! Ich empfand das als Beleidigung, die Tänzer hat dieses Verhalten sehr verun­

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Vormittags auf der Spitze, nachmittags barfuß: Während Duatos Intendanz probte das Ensemble häufig am selben Tag für klassische und moderne Stücke – eine große physische Herausforderung. Doch Duato ließ sich nicht beirren und blieb seiner Linie treu. Seine Referentin Petra Konerding (rechts) schätzte gerade das an ihm.

MEIN ABSCHIED

Nacho Duato blickt zurück auf seine Zeit als Intendant des Staatsballetts Berlin. Ein Gespräch über Glücksmomente, harte Zeiten und offene Türen

sichert. Zum Glück hatte ich zum Ensemble immer ein gutes Verhältnis, sodass wir uns letztendlich gegenseitig motivierten. Wie sieht Ihre Zukunft aus? Zunächst mache ich eine kleine Pause, um dann in Madrid eine Stiftung zu gründen, die Tänzer und den Tanz fördert – und meine Stücke verwaltet. Natürlich werde ich auch neue Stücke kreieren, zum Beispiel für Gauthier Dance in Stuttgart. Was werden Sie Ihrer Compagnie zum A ­ b­ schied sagen? Meine Tür steht den Berlinern immer offen. Mein Herz ebenfalls! Wer nach Madrid kommen und mich besuchen möchte, ist jederzeit willkommen. 10 I 11


TANZTERMINE Mai bis Ende der Spielzeit

DON QUIXOTE

DODA | GOECKE | DUATO

„Don Quixote“ ist ein Klassiker im Ballettrepertoire. Zur ­Musik von Ludwig Minkus gehen Lebensfreude und tänzerische Virtuosität eine ungewohnt natürliche Verbindung ein, allein mit den Mitteln des klassischen Tanzes. Die Fassung von Víctor Ullate betont zudem das spanische Flair, indem eine Flamenco-Gitarre die gewohnten Klänge bereichert.

Drei zeitgenössische Sichtweisen werden an diesem Ballett­ abend gezeigt: Gentian Doda tilgt in dem Stück „was bleibt“ alles Überflüssige und lässt die Individualität der Tänzerinnen und Tänzer sprechen. Basierend auf einer Komposition von Arnold Schönberg, zeigt der Körpervirtuose Marco Goecke mit ­„Pierrot Lunaire“­an diesem Abend seinen unverwechselbaren Stil. Nacho Duato vervollständigt den Abend mit der Berliner Erstaufführung seines Meisterwerks „Por vos muero“.

Deutsche Oper Berlin 04. Mai | 02., 17. Juni | 02. Juli 2018

Komische Oper Berlin Premiere am 24. Mai 2018 27. Mai | 01., 08., 18., 25. Juni | 04. Juli 2018

ROMEO UND JULIA

SCHWANENSEE

Die wohl bekannteste Liebesgeschichte der Weltliteratur als Ballett – Nacho Duato hat seine eigene Version von „Romeo und Julia“ in Szene gesetzt, weil er überzeugt ist, dass „die Partitur Prokofieffs das Beeindruckendste ist, das je für die Ballettbühne geschaffen wurde“. Lyrische Szenen wechseln sich ab mit dem pulsierenden Leben in einer italienischen Stadt und den Auseinandersetzungen der verfeindeten Familien.

Legendäre Schwanenformationen, große Ballszenen sowie die Musik von Peter I. Tschaikowsky begründen den Mythos dieses wohl bekanntesten Balletts der Tanzgeschichte. In Berlin ist es zu sehen in der Choreographie von Patrice Bart, der um den Prinzen herum ein psychologisches Drama entfaltet.

Staatsoper Unter den Linden 05., 13., 26. Mai | 12., 20., 23. Juni 2018

Deutsche Oper Berlin 10., 19., 21., 27. Juni 2018

POLINA & FRIENDS

HERRUMBRE

Dem Staatsballett Berlin ist es eine Ehre, zur Gala „Polina & Friends“ einzuladen. Die Berliner Kammertänzerin Polina Semionova wird auf der Bühne der Staatsoper Unter­ ­ den Linden mit Freunden, Tanzpartnern, Weggefährten, Publikumslieblingen, jungen Talenten und großen Stars für ­Überraschungen sorgen.

Intendant und Choreograph Nacho Duato beschäftigt sich in dieser Arbeit mit Folter und Gewalt. Auf einem Soundteppich aus realen Klängen, elektronischer Musik und Kompositionen für Violoncello wird ein politisches Thema in Tanz übersetzt. Staatsoper Unter den Linden 15. Juni 2018

Staatsoper Unter den Linden 17. Mai 2018

PROPS_AN_GRIMM TICKETS: +49 (0)30 20 60 92 630 tickets@staatsballett-berlin.de

100 Kinder und Jugendliche aus vier Kooperationsschulen von „Tanz ist KLASSE!“ haben sich über ein Schuljahr hinweg mit Märchen beschäftigt. Während dieser Zeit sind sie vielen Fragen nachgegangen, deren Ergebnisse sie nun als eigene Tanzstücke in einer abwechslungsreichen Inszenierung auf der Bühne der Deutschen Oper Berlin präsentieren. Deutsche Oper Berlin 02. Juli 2018

IMPRESSUM HERAUSGEBER Staatsballett Berlin, Richard-Wagner-Straße 10, 10585 Berlin | INTENDANT Nacho Duato | ARTDIRECTION Bernardo Rivavelarde | VERLAG TEMPUS CORPORATE GmbH – Ein Unternehmen des ZEIT Verlags, Alt-Moabit 94, 10559 Berlin, info@tempuscorporate.zeitverlag.de | Geschäftsführung: Jan Hawerkamp | Projektleitung: Kathleen Ziemann | Autoren: Hiltrud Bontrup, Anne Haeming, Kristina v. Klot, Barbara Schäfer | Lektorat: Katrin Weiden | Layout: Jessica Sturm-Stammberger | Bild­redaktion: B ­ eatrice Jansen | Herstellung: Oliver Nagel | DRUCK Axel Springer Offsetdruckerei Ahrensburg | REDAKTIONSSCHLUSS 26.04.2018 | Änderungen und Irrtümer vorbehalten


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