Staatsballett Berlin Magazin

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Ausgabe 8 – Spielzeit 2016/2017

STAATSBALLETT BERLIN

Intendant Nacho Duato


TANZNOTIZEN

NEUES AUS DER C OMPAGNIE

Stolz, Verführung und Inspiration prägen die aktuelle Spielzeit des Staatsballetts Berlin. Wir nehmen Sie mit hinter die Kulissen, wo sich die weltbekannten Intendanten Duato und Maillot über die Zukunft des Balletts austauschen, Tänzer ihre eigenen Stücke kreieren und das Ensemble zu „Daphnis et Chloé“ probt – einer Inszenierung des „Black Swan“-Choreographen Benjamin Millepied. Jedes Stück, jeder Tanz birgt neue Sichtweisen. Gestalten Sie mit und verleihen Sie dem Tanz in der Heftmitte Ihre ganz eigene Farbe

TANZTERMINE MAILLOT | MILLEPIED Deutsche Oper Berlin 22 01 03 10 11 02 14 17 03

FRANZÖSISCHE DOPPELINSZENIERUNG Vive le Ballet! Die Produktion „Maillot | Millepied“ feiert am 22. Januar 2017 Premiere und präsentiert jeweils ein Werk der Top-Choreographen Jean-Christophe Maillot und Benjamin Millepied. Beide verkörpern das moderne, zugleich eindeutig in der klassischen Tradition verankerte französische Ballett. Mit „Altro Canto“ führt das Staatsballett Berlin erstmals eine von Maillots facettenreichen Choreographien zu barocken Kompositionen von Monteverdi, Marini und Kapsberger in Kostümen des Designers Karl Lagerfeld auf. Benjamin Millepieds Choreographie zu Maurice Ravels „Daphnis et Chloé“ wurde 2014 vom Ballett der Opéra national de Paris aufgeführt und hat nun Deutschlandpremiere.

200. VORSTELLUNG „SCHWANENSEE“ FEIERT JUBILÄUM

Berlins große Liebe: Patrice Barts Version von „Schwanensee“ nach der Usprungsfassung von Marius Petipa und Lew Iwanow.

Sie ist die am längsten gespielte Produktion am Staatsballett Berlin: Tschaikowskys Klassiker „Schwanensee“. Seit 1997 im Repertoire, feiert das Stück am ­­­22. ­Februar­ 2017 großes Jubiläum – erstmals mit Liudmila Konovalova vom Wiener Staatsballett in der Doppelrolle der Odette/Odile. Zum 200. Mal erleben Zuschauer die Liebesgeschichte von Prinz Siegfried und der verzauberten Prinzessin, die in einer Schwanengestalt gefangen ist. Innige Pas de deux, virtuose Pirouetten und eine ausdrucksstarke Choreographie von Patrice Bart schaffen eine unverwechselbare Aufführung mit der klassischen Eleganz, für die „Schwanensee“ steht.

BÜHNENABSCHIED MICHAEL BANZHAF Solotänzer Michael Banzhaf feiert nach 19 Jahren Tänzerlaufbahn am 01. März 2017 seinen Bühnenabschied in der männlichen Hauptpartie in „Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“. 1998 erhielt Banzhaf sein erstes Engagement maligen Ballett der Staatsoper Unter beim da­ den Linden. 2001 stieg er dort zum DemiSolotänzer auf, 2005 zum Solotänzer beim neu formierten Staatsballett Berlin. Seitdem gehört Banzhaf zu den prägenden Gesichtern des Ensembles. Während seines Engagements interpretierte er große Rollen wie die des Dichters Lenski in John Crankos „Onegin“ oder des Siegfried in Maurice Béjarts „Ring um den Ring“. Kurz vor seinem Bühnenabschied ist Banzhaf am 28. Februar 2017 um 19.00 Uhr zu Gast bei der Ballett-Universität und spricht über Gestaltung und Identifikation mit männlichen Rollen im Ballett.

TEATRO REGIO DI TORINO „DORNRÖSCHEN“ IN ITALIEN Märchenhafte Kulisse: An sieben Terminen im Dezember 2016 war das Ensemble des Staatsballetts Berlin mit Nacho Duatos Neu-Inszenierung von „Dornröschen“ im Teatro Regio di Torino zu sehen. Insgesamt 119 Personen waren beteiligt, da­ runter 74 Tänzerinnen und Tänzer des Staatsballetts, zahlreiche Techniker, Ankleider und Maskenbildner der Deutschen Oper Debütvorstellung im Teatro Regio Berlin, ein Physiotherapeut und vier Kin- di Torino: Das Theater- und Opernhaus zählt zu den besten Spielstätten der. Einen Blick hinter die Kulissen kann ­Italiens. auch heute noch jeder werfen: Der Solotänzer und gebürtige Turiner Federico Spallitta hat für die Tour den In­ stagram-Account „staatsballettberlin“ übernommen und von den Erlebnissen des Ensembles online berichtet – vom Abflug bis zur Rückkehr.

Erste Solotänzer Mikhail Kaniskin und Elisa Carrillo Cabrera sind „Daphnis et Chloé“ in der Choreographie von Benjamin Millepied.

Michael Banzhaf als Siegfried in „Ring um den Ring“. Sein Wirken inspirierte Tänzer und Choreo­ graphen zugleich.

Titelfoto: Yan Revazov (Erste Solotänzerin Elena Pris in Jean-Christophe Maillots „Altro Canto“) Fotos: Yan Revazov (Bildmitte, Schwanensee), Lorenzo di Nozzi (Turin), Bettina Stoess (Banzhaf)

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Maillot: Ausgangspunkt für „Altro Canto“ war der androgyne Charakter der Barockmusik von Monteverdi. Ich habe mich schon immer gefragt, was genau die Weiblichkeit und was die Männlichkeit bei Tänzern auszeichnet. Schließlich ist es deren Qualität, beide Pole kraft ihrer körperlichen Präsenz zum Ausdruck zu bringen. Dann habe ich Karl Lagerfeld gefragt, ob er Kostüme schneidern könnte, die das Geschlecht im Unklaren lassen. Monteverdis Spiritualität und sein sensibler Blick auf die ambivalente Identität von Männern und Frauen haben mich tief berührt. Das wollte ich in zeitgemäßen Tanz umsetzen. Apropos: Ich habe „Dornröschen“ gesehen und war überrascht von Deiner Inszenierung eines klassischen Handlungsballetts! Duato: Ich war auch selbst von mir überrascht! Mein Anspruch war, mein Choreographen-Ego zurückzustellen,

um mich ganz auf die Tänzer vor Ort einzulassen. Ich habe diese Inszenierung 2011 am Mikhailovsky-Theater in St. Petersburg entwickelt. Es war nicht leicht, das Korsett des klassischen russischen Vokabulars überzustreifen und auf die gewohnten Freiheiten zu verzichten. Aber zugleich habe ich viel gelernt, etwa über die Raumwirkung von exakt vorgegebenen Bewegungen. Und vor ­allem ist da die Hingabe der Tänzer, die mehr als ­hundert Prozent geben. In Berlin ist das ganz ähnlich. Maillot: Da hast Du recht. Wann immer ich am Bolschoi-Theater arbeite, bin ich überwältigt von der ungeheuren Kraft, die von den Tänzern ausgeht – und von ihrem Stolz, der sie immer noch einen Schritt weitergehen lässt. Da kann europaweit nur noch Deutschland mithalten, Frankreich und Spanien dagegen nicht. Ich selbst habe das große Glück, seit 22 Jahren die Compagnie in Monaco zu leiten, was absolut einmalig ist. Duato: Das ist tatsächlich ein großes Glück! Ich durfte selbst 21 Jahre lang die Compañía Nacional de Danza in Madrid leiten.

Maillot: In Frankreich bringt man leider nicht so viel Geduld auf, weshalb dort auch kaum mehr klassisch geschulte Compagnien existieren. Es ist keine Frage, dass der zeitgenössische Tanz, der in den 1980er-Jahren aufkam, viel frischen Wind in die Szene gebracht hat. Aber warum musste das zulasten des klassischen Tanzes passieren?

Illustration: Alfredo Martin (links: Nacho Duato; rechts: J­ ean-Christophe Maillot)

INTENDANTEN IM GESPRÄCH

ANMUT UND HINGABE

Duato: Ich freue mich, dass Du meiner Einladung gefolgt bist und Deine Choreographie „Altro Canto“ mit dem Staatsballett Berlin einstudierst. Was war für Dich in der Vorbereitung wichtig?

Zwei Intendanten, ein­ Thema: Nacho Duato und ­Jean-Christophe Maillot, Chef der Ballets de Monte Carlo, sprechen kurz vor der Premiere von „Maillot | Millepied“ über klassische und zeitgenössische Formen des Tanzes. Sie sind sich einig: Nur ihre Koexistenz hat eine Zukunft

Duato: Du sprichst auf die Dominanz des sogenannten „Non-Dance“ an, wie wir Teile der französischen Szene nennen. (lacht) Maillot: Ja. In vielen Fällen fehlt den Stücken eine eigene Handschrift; und viele Choreographen sind oft nicht bereit, sich auch auf die jeweilige Compagnie einzustellen. Wenn Kollegen heute behaupten, dass man die Vergangenheit des Balletts getrost vergessen könne, kann ich nur sagen: Das ergibt doch keinen Sinn! Es käme ja auch niemand auf die Idee, die Berliner Philharmoniker nur noch Kompositionen von Hans Werner Henze aufführen zu lassen. Duato: Kein Anfänger beginnt mit dem Tanztheater einer Pina Bausch. Vielmehr übt man an der Stange in einem klassischen Konservatorium Pirouetten. Ich glaube, was uns beide als Ballettdirektoren verbindet, ist unsere Liebe zur Schönheit und Anmut klassisch ausgebildeter Tänzer und ihrer Technik.

Maillot: Als Ballettdirektor ist man ja ohnehin von der Verantwortung geleitet, Tänzern und Publikum eine breite Auswahl an exzellenten Stücken zu bieten. Aber es gibt einen Widerspruch in der Ballettwelt: Einerseits soll Tanz aktuelle Themen aufgreifen, und man sollte meinen, dass den Zuschauern gefällt, was nicht allzu weit entfernt ist vom eigenen Leben. Das bietet der zeitgenössisch-moderne Tanz. Andererseits sind es nach wie vor Klassiker, die die Häuser füllen – und nicht der moderne Tanz. Die dem Alltag entrückte idealisierte Schönheit hat also heute genauso ihre Berechtigung wie moderne Bewegungssprachen. Gerade weil sie als unerreichbare Vorstellung tröstlich und beflügelnd wirkt. Beide Formen von Tanz sind wichtig. Mein Plädoyer: Lasst sie nebeneinander existieren – alle beide! Duato: Das kann ich nur unterschreiben. 04 I 05


Kreativ-Entspannung Hier sehen Sie eine Szene aus Benjamin Millepieds Stück „Daphnis et Chloé“. Nun ist Ihre Vorstellungskraft gefragt: Kolorieren Sie die Kostüme von Holly Hynes und senden Sie uns Ihre Interpreta­tion bis zum 20. Februar 2017 an das ­Staatsballett Berlin, RichardWagner-­Straße 10, 10585 Berlin oder ­ ­ arketing@staatsballett-berlin.de. an m

Illustration: Susanne Kluge nach einem Foto von Eléna Bauer – Opéra national de Paris

Unter allen Einsendungen kürt Intendant Nacho Duato einen Gewinner, der 1x2 Tickets für die Vorstellung von „Maillot | Millepied“ am 14. März 2017 erhält.


Taras Bilenko, Ukraine Was mich inspiriert? Meine Ideen entstehen mit der Musik und der Bewegung. Monatelang habe ich ein Stück gesucht, das mich irgendwie berührt. Bis ich zufällig auf ­Ludovico Einaudi gestoßen bin. Das Stück „Night“ des italienischen Pianisten hat mir sofort zugesagt. Langsam, traurig, intensiv. Vielleicht geht es in meiner Choreographie um ein Mädchen und einen Jungen, die durchs Leben treiben. Inhatlich arbeite ich noch an der Geschichte. Lasst euch überraschen!

Joaquin Crespo Lopes, Argentinien An erster Stelle steht für mich die Musik. Gern klassisch, gern Barock. Ich habe den zweiten Satz aus dem „Italienischen Konzert“ von Johann -­ Sebastian Bach gewählt. Das Andante. Dazu gibt es ein Pas des deux – ein Mann, eine Frau, im Mittelpunkt ihre Beziehung. Der Tanz folgt den Rhythmen der Musik und ist doch immer wieder überraschend und unerwartet, kompliziert und geheimnisvoll. So wie das Duo, das vielleicht nicht mal ein Paar ist, seine Beziehung „umtänzelt“ – im Widerstreit zwischen Macht und Ausgleich Raum gibt und Raum nimmt.

Arshak Ghalumyan, Armenien Ein Besuch im Unterwassermuseum in Mexiko im S ­ ommer 2016 hat mich inspiriert. 500 lebensgroße Stein-Skulpturen auf dem Meeresboden, bewachsen von Moos und Algen. Man taucht an diesen Installationen vorbei, Fische schwimmen vorüber, die Sonnenstrahlen werfen blaue und grüne Lichtmuster auf die Exponate. Besonders berührt hat mich ein Mann aus Stein, der auf einem Sofa sitzt und fernsieht. Ich fragte mich: Was guckt er sich wohl gerade an? Um ihn dreht sich meine Choreographie. Sie ist eine Erzählung von einem jungen Paar sowie einer Mutter mit ihrem Sohn und einem alten Mann, die ihn nacheinander in ihre Phantasien mitnehmen und dabei die Szenerie rund um das Sofa zum Leben erwecken.

TANZTERMINE DANCE\\\RUPTION Tischlerei Deutsche Oper Berlin 04 05 03 Paul Busch, Rumänien Eine eigene Choreographie zu ent­ wickeln, heißt, sich künstlerisch ausleben zu können, über das Repertoire hinaus – welch ein Reiz für einen Tänzer wie mich. Inspiriert hat mich die elektronische Musik des Labels Calea. Langsam und mächtig. Sie passt wundervoll zu dem Moment aus dem Leben einer Frau, den ich zeigen will. In diesem Moment denkt sie an ihren Geliebten – mit dem sie nicht mehr zusammen ist. Die Frau fühlt sich unbeobachtet, vielleicht steht sie gerade in ihrer Ankleide, macht sich schön fürs Ausgehen. Unwill­ kürlich treiben ihre Gedanken zur gemeinsamen Zeit mit dem Mann. Intime Sequenzen entstehen.

Olaf Kollmannsperger, Spanien Ich möchte das Publikum mit meinen Choreographien zum Nachdenken anregen. In meinem Stück geht es um die Erde, die von den Menschen praktisch beschlagnahmt wurde. Wir gehen mit ihr um, als hätten wir Ersatz-Erden, auf die wir einfach umsiedeln können, wenn unsere ausgeschöpft ist. Diese Situation wird von zwei Außerirdischen beobachtet, die eine Reise in unser Sonnensystem unternommen haben. Beide wundern sich, wie die Spezies Mensch so einen wundervollen Ort kaputtmachen kann. Beide halten uns einen Spiegel vor: „Schaut, das seid ihr!“ Die Botschaft ist nicht neu, wichtig bleibt sie doch. Es ist mir ein Anliegen, dass die Botschaft viele Zuschauer anspricht. Die elektronische Sphärenmusik von Ryo¯ji Ikeda ist dafür wie geschaffen.

Vladislav Marinov, Bulgarien Die Karlsruher Technokünstler Kristian Beyer und Frank Wiedemann machen wunderbar soulige Deep House -­ Grooves. „Âme“ (franz.: Seele) heißt ihr Projekt. Den Klang ihrer Beats setze ich in Bewegung um. Es ist eine Komposition aus alltäglichen Moves. Gehen, Schlendern, Schweben, Springen. Simple Sequenzen und Silhou­etten, die einfach eine große Intensität entfalten – wie auch die Musik. Das ist meine Inspiration.

Fotos: Yan Revazov

ROLLENWECHSEL

V O M TÄ N Z E R Z U M C H O RE O G R A P H E N

Ein Abend, neun Stücke: In „DANCE\\\RUPTION“ zeigen Tänzer ihre eigenen Werke. Was sie dazu inspiriert hat, verraten sie in nur einer Pose. Ein Bilderrätsel mit Tiefgang

Lucio Vidal, Argentinien Meine Sprache ist der Tanz. Allein über die Bewegungen meines Körpers kann ich meine Gefühle zum Ausdruck bringen und sie direkt mit dem Publikum teilen. Deshalb konzentriere ich mich auf meine G ­ efühle. Ich arbeite mit einem Musiker zusammen, den ich vor einer Weile kennen gelernt habe. Sein Auftreten hat mich berührt, seine akus­tische Musik, seine Art, sie zu spielen. Ich will das Innere erkunden, die Verbindung zwischen zwei Menschen sichtbar machen. Wenn meine Choreographie das schafft, bin ich glücklich.

Xenia Wiest, Russland Seit einigen Jahren kreiere ich eigene Choreographien, meist im neoklassischen Stil, einer Mischung also aus modernen und klassischen Elementen. Meine Musik für diese Choreographie ist das „Streicherquartett“ von Claude Debussy in g-moll, meine Inspiration entspringt einem Motiv, das mich seit Jahren beschäftigt: die drei Affen, die sich Augen, Mund und Ohren zuhalten. Es gibt verschiedene Theorien darüber, woher sie stammen und welche Rolle sie in unserer Vergangenheit und Gegenwart spielen. Das finde ich faszinierend. Ich stelle mir die Frage: Wer sind diese drei Affen und welche Charaktere stecken dahinter? Vielleicht sind sie eine Familie oder drei Freunde, die zwar unterschiedliche Charakterzüge haben, aber gemeinsam ein starkes Team bilden. Das Stück soll leicht und unterhaltsam sein. Es diktiert definitiv die Musik.

Alexander Abdukarimov, Russland Es fasziniert mich, bestimmte Stimmungen auszu­ drücken. Inspiriert hat mich das Adagio aus dem „Streichquintett“ von Franz Schubert. Als er es komponierte, wusste Schubert, dass er bald sterben würde. Die Musik klang für mich wie der Weg in eine andere Dimension. Das ist das Thema meiner Choreographie: der Übergang vom Leben zum Tod. Der Tanz soll Schuberts Musik wie eine andere Ebene ergänzen. Wie eine zweite Schicht, die die Musik, ihre Atmosphäre, ihre Stimmung untermalt. Für mich ist das ein Experiment. In diesem Zusammenhang ist der Tod nicht nur eine Tragödie. Er ist auch ein Neuanfang. 08 I 09


Premiere am Staatsballett ­Berlin: Ab dem 22. Januar 2017 ist ­Benjamin Millepieds Choreographie „Daphnis et Chloé“ erstmals in Deutschland zu sehen. ­Geheimnisvoll innig zeigt das Ensemble ein romantisches Lehrstück über das Schicksal junger Liebender

Foto: Yan Revazov, Morgan Lugo (Millepied)

IM STUDIO MIT BENJAMIN MILLEPIED

KRAFT DER VERFÜHRUNG Inniger Pas de deux zu Ravels impressionistischer Musik: Solotänzerin Iana Balova und Erster Solotänzer Mikhail Kaniskin proben eine Szene, in der Chloés Nebenbuhlerin Lycéion Daphnis in die Liebe einführt.

„Black Swan“-Choreograph Benjamin Millepied steht für die vielfältige französische Balletttradition. 2017 inszeniert er zum ersten Mal am Staatsballett Berlin.

Millepied, der einem größeren Publikum dank seiner Choreographien für Darren Aronofskys Hollywoodfilm „Black Swan“ (2010) und der Hochzeit mit der Hauptdarstellerin Natalie Portman bekannt ist, begann seine Karriere 1994 als Tänzer beim New York City Ballet. Ab 2001 stand er dort als gefeierter Erster Solotänzer auf der Bühne, unter anderem mit Werken von George Balanchine, dessen neoklassische Ästhetik ihn stark prägte. „Millepieds Bewegungssprache hat einen natürlichen Fluss“, sagt Sébastien Marcovici, „‚Daphnis et Chloé‘ erzählt eine Geschichte, aber Benjamin nutzt seine Bewegungsformen, um die Geschichte zu transportieren, im Gegensatz zur pantomimisch erzählerischen Form, wie wir es aus alten Handlungsballetten kennen.“ Die Geschichte des Stückes beruht auf einem mythischen Hirtenroman des griechischen Dichters Longos aus der Antike. Sie handelt von zwei Liebenden, die das Schicksal voneinander trennt und erst über Umwege wieder zusammenbringt. Marcovici faszinieren an der Inszenierung vor allem die dynamischen Parts, in denen die männlichen Tänzer ihre Vitalität ausspielen können, während es für Taylor besonders jene Szenen sind, in denen das Geschehen auf der Bühne „luftig und geheimnisvoll“ erscheint. Während der Proben fällt auf, dass die impressionistische Musik Ravels, dessen komplexe Klangbilder ein Pianist am Flügel stets von neuem anstimmt, die wohl größte Herausforderung bedeutet. „One-two-three-fourfive-six“, schallt es wieder und wieder durch den hohen, lichtdurchfluteten Probensaal, während sich die Darsteller von Daphnis und Lycéion – einer Nebenbuhlerin von Chloé, die Daphnis in die Liebe eingeführt hat – hochkonzentriert den Ablauf ihres Pas de deux einprägen. Zwischendurch versammeln sich die Tänzer vor einem Monitor, um ihre Schrittfolgen mit denen der Original-Inszenierung von Paris abzugleichen.

Leise, aber bestimmt unterbricht Janie Taylor die neun Tänzerinnen im Probensaal, die sich mit raumgreifenden Schrittfolgen und synchronen Drehungen in Formation zur sphärisch-versponnenen Musik bewegen. „Der Tanz der Nymphen ist sehr feminin und manchmal fast geisterhaft“, sagt die amerikanische Ballettmeisterin und vollführt fließende Arm- und Beinbewegungen. Dabei erinnert die elfenhafte, strenge Physiognomie der 36-jährigen US-Amerikanerin an die aparte Strenge der Schauspielerin Tilda Swinton, konterkariert nur von einem chaotisch-voluminösen Haarknoten auf dem Kopf.

Einig sind sich beide Ballettmeister in ihrer Abneigung gegenüber einer inhaltlichen Überfrachtung der Kunstform Ballett. Um auf der Bühne für die Liebesgeschichte von „Daphnis et Chloé“ eine künstlerische Entsprechung zu finden, bedürfe es statt psychologischer Erklärungen einer starken formalen Symbolik: „Die Geschichte wird über die Choreographie erzählt, die Bewegungen und Formen des Körpers“, betont Taylor und verweist auf Balanchine, der einmal gesagt haben soll: „Wir sind beim Ballett schließlich nicht in einer ‚Soap Opera‘ – es ist und bleibt Tanz!“

Zusammen mit ihrem Kollegen Sébastien Marcovici aus Frankreich studiert Taylor Benjamin Millepieds Choreographie von „Daphnis et Chloé“ in Berlin ein. Dieses Stück von Maurice Ravel wurde 1912 von den Ballets Russe uraufgeführt.

Choreograph Benjamin Millepied teilt dieses Credo. Er wird vor der Premiere in Berlin sein. Gemeinsam mit den Tänzerinnen und Tänzern erarbeitet er letzte Korrekturen, damit die Inszenierung schließlich seine unverkennbare Handschrift trägt. 10 I 11


TA N Z LY R I K

NACHTDEKORATION

»junge römer – tanzen anders als die andern« | falco

frag’ junge tänzer nach neuen alten werten eine frage, so gut, dass die antwort versagen muss: kennt ihr die sonne noch? den gefangenen fuß? am boden bleiben, der schwerkraft zum gruß kennt ihr die sonne noch? sie kennt die sorgen der versuch, in die auslage zu greifen von den rängen, nicht ruchbar, bestimmt doch die nächsten schritte im kreis, rond de jambe, tour en l'air wonach bemisst sich der wert eines tänzers? frag’ junge römer auf den gepolsterten sitzen in den pausen – bei crémant frag’ baudelaire: ich hasse jedes schwanken aus den bahnen

Wie nähert man sich einem Stück, das keine Handlung hat? Inspiriert vom Funkeln der Juwelen hat George Balanchine „Jewels“ inszeniert, das durch die perfekte Kombination aus Tanz und Musik die Sinne betören soll. Sabine Scho verwandelt ihre Eindrücke in Sprache und zeigt einmal mehr ihr Talent, sich frei von jeglichen Genrebestimmungen zu machen.

TANZTERMINE JEWELS Staatsoper im Schiller Theater 10 24 26 03 01 02 06 04

der preis synthetischer juwelen lässt sich nur erahnen der preis geschürfter diamanten ist das leben: fragiler organischer stoff ungeschliffen, bebend frag’ junge tänzer, wie sie die figur gerade halten und heben, was sie alles nicht besitzen frag’ junge römer, wie sie im foyer die lippen spitzen: die ruby?! ja! aber es fehlt an solitären ich sehe die anstrengung in form eines brustkorbs, wie ein liftboy livriert, strassbesetzt schwer atmend, sich hebend ich sehe perfekt geformte beine weißes ballett, thrombosestrümpfe eine quietschfidele krankenstation ich glaube, die tänzer sind nett and that price is still to pay

Sabine Scho, geboren 1970 in Ochtrup, lebt nach längeren Aufenthalten in Münster, Hamburg und São Paulo heute als freie Autorin in Berlin. Zwei Gedichtbände und ein Band mit Prosaminiaturen sind bei kookbooks ­erschienen: „Album“ und „farben“ (2008) sowie „Tiere in Architektur“ (2013). Das Magazin „The Origin of S ­ enses“ erschien 2015 im Rahmen ihrer gleichlautenden k­ ünstlerischen Intervention im Museum für Naturkunde Berlin mit Zeichnungen von Andreas Töpfer. Zuletzt wurde sie 2012 mit dem Anke Bennholdt-Thomsen-Lyrikpreis der Deutschen Schillerstiftung ausgezeichnet. Daneben erhielt sie unter anderem den Leonce-und-Lena-Preis, den G ­ WK-Förderpreis für Literatur, den Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen für junge Künstlerinnen und Künstler und das Residenzstipendium der Villa Aurora in Los Angeles.

TICKETS:

+49 (0)30 20 60 92 630 tickets@staatsballett-berlin.de IMPRESSUM HERAUSGEBER Staatsballett Berlin, Richard-Wagner-Straße 10, 10585 Berlin | INTENDANT Nacho Duato | ARTDIRECTION Bernardo Rivavelarde | VERLAG TEMPUS CORPORATE GmbH – Ein Unternehmen des ZEIT Verlags, Askanischer Platz 3, 10963 Berlin, info@tempuscorporate.zeitverlag.de | Geschäftsführung: Jan Hawerkamp | Projektleitung: Kathleen Ziemann | Autoren: Anja Dilk, Kristina von Klot-Heydenfeldt | Lektorat: Katrin Weiden | Layout: Jessica Sturm-Stammberger, Susanne Kluge | Herstellung: Dirk Woschei DRUCK Axel Springer Offsetdruckerei Ahrensburg | REDAKTIONSSCHLUSS 30.12.2016 | Änderungen und Irrtümer vorbehalten. Foto: Matthias Holtmann (Sabine Scho)


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