Staatsballett Berlin Magazin

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Ausgabe 5 – Spielzeit 2015/2016

STAATSBALLETT BERLIN

Intendant Nacho Duato


Die Erste Solotänzerin des Staatsballetts Berlin, Beatrice Knop, nimmt am 24. Februar 2016 in der Rolle der Königin in Patrice Barts „Schwanensee“ ihren Bühnenabschied. Beatrice Knop hat in den vergangenen 25 Jahren ein außergewöhnlich großes Repertoire an Hauptrollen im klassischen Ballett getanzt und auch zahlreiche zeitgenössische Choreographen inspiriert. 1991 begann sie ihre Laufbahn beim Ballettensemble der Staatsoper Unter den Linden, seit 1998 ist sie Erste Solotänzerin am Staats­ ballett Berlin. Zum Bühnenabschied erscheint nun eine Biographie über Beatrice Knop im ­­ Verlag Theater der Zeit. Sie trägt den Titel: „Beatrice Knop – Die letzte deutsche Prima­ ballerina“.

Die Tänzerin Beatrice Knop ist seit 1998 Erste Solotänzerin am Staatsballett Berlin.

Im Anschluss an ihren letzten Auftritt wird Beatrice Knop eine Autogrammstunde geben. Spätestens für diesen Anlass empfehlen wir dringend den Buchkauf!

Kommen Sie in die Staatsoper im Schiller Theater und entscheiden Sie für sich, wer Ihre Lieblingsinterpreten sind! Aber Achtung: Die Entscheidung wird Ihnen schwer fallen. Mehr zum „Giselle“-Mini-Festival erfahren Sie im Gespräch zwischen Dr. Christiane Theobald und Christian Spuck auf den Seiten 4 und 5.

Anastasia Kurkova in „Herrumbre“. Die neue Choreographie von Nacho Duato feiert am 14. Februar Premiere. Eine Reportage zu den Proben finden Sie auf den Seiten 10 und 11.

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BÜHNENABSCHIED BEATRICE KNOP

„Ich bin Giselle“ – das könnte in An­­­lehnung an die bekannte StaatsballettKampagne das Motto unseres kleinen Festivals Anfang März sein. Denn vom 03. bis 06. März 2016 treten an vier Tagen in Folge vier unterschiedliche­­ Solistinnen in der Rolle der Giselle auf: Polina Semionova (04. März), Vikto­rina Kapitonova (03. März), Iana Salenko (06. März) und ein Über­ raschungsgast (05. März). Selbst­­­ verständlich tanzen sie an der Seite von vier unterschiedlichen Solisten: Denis Vieira (03. März), Alexander Jones (­04. März), Mikhail Kaniskin (05. März) und Dinu Tamazlacaru ­ (06. März).

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Für die Vorstellung am 07. April 2016 verlosen wir 3 x 2 Tickets (Der Rechtsweg ist ausgeschlossen). Einfach bis zum 15. März 2016 die Antwort auf die folgende Frage mit Namen und Adresse an marketing@staatsballett-berlin.de senden: In welchem Jahr wurde Henrik Ibsen geboren?

Viktorina Kapitonova und Denis Vieira als Giselle und Albrecht – zu erleben am 03. März in der Staatsoper im Schiller Theater.

EIN TA E E NZ IN JA MA HR L 20 IGE 16 KO NS TE LL AT IO N

Sind wir ehrlich genug, um von Lügen unberührt zu bleiben? Um diese Frage dreht sich Henrik Ibsens Drama „Ghosts“, in dessen Zentrum der Heimkehrer Osvald Alving steht. Lange Zeit lebte dieser als Bohemien in Paris. Mit seiner Rückkehr in die norwegische Provinz prallen zwei Welten In Gefahr durch die eigene Geschichte – Henrik Ibsens Drama „Ghosts“ als aufeinander. Alte Geheimgetanztes Theater. nisse treten zutage, Illusio­ nen zerbrechen. Aus Ibsens Theaterstück „Gespenster“ hat die Regisseurin Marit Moum Aune zusammen mit der Choreographin Cina Espejord für das Norwegische Nationalballett in Oslo 2014 einen modernen Tanzthriller gemacht, der nun als Gastspiel beim Staatsballett Berlin zu erleben ist. Die Aufführungen – die ersten außerhalb Norwegens – finden am 07. und 08. April 2016 auf der Bühne der Komischen Oper Berlin statt.

VIER MAL WELTKLASSE „GISELLE“MINI-FESTIVAL

Titelfoto: Fernando Marcos (Arman Grigoryan in „Herrumbre“)  Fotos: Gregory Batardon (Giselle), Erik Berg (Ghosts), Fernando Marcos (Herrumbre), Enrico Nawrath (Knop)

STAATSAFFÄREN

TA N Z N O T I Z E N

GASTSPIEL „GHOSTS“ VON IBSEN

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CHRISTIAN SPUCK

Dr. Christiane Theobald: Lieber Christian, wir kennen uns nun schon sehr lange. Seit wann eigentlich? Christian Spuck: Wir haben uns in der ersten Spielzeit von Vladimir Malakhov am Staatsballett Berlin kennengelernt. Das war 2002 – vor mehr als 13 Jahren schon! Theobald: Und jetzt haben wir wieder eine Kooperation. Im Jahr 2016 feiern wir hier das „Tanzjahr Deutschland“ und haben uns dafür ein besonderes Festival ausgedacht, sozu­ sagen ein Gipfeltreffen der „Giselle“. Es ist schwierig, Gäste in eine bestehende Produktion einzufädeln. Da ist es ideal, wenn es diese eine Produktion von Patrice Bart noch einmal gibt und man kooperieren kann. Wir haben „Giselle“ seit Dezember 2000 bei uns im Spielplan. Spuck: Wir seit der letzten Spielzeit – und ich bin glücklich, dass Du mich deswegen angerufen hast. Unsere drei Solisten platzen jetzt schon fast vor Stolz, dass sie in den Vorführungen im März in Berlin tanzen dürfen. Theobald: Und wir schauen voller Vorfreude auf die Tänzer, die für die Vorführungen zu uns kommen. Alexander Jones wird als Partner von Polina Semionova auftreten, das ist für das Berliner Publikum ein Debüt der ganz besonderen Art. Spuck: Ich freue mich ganz besonders, dass Viktorina Kapitonova, unsere Erste Solistin, mit dabei sein wird. Sie hat viele „Giselle“-Vorstellungen in Zürich getanzt. Insbesondere im zweiten Akt ist sie absolute Weltklasse – berührend, leicht und unnahbar. Mit ihr tanzt Denis Vieira, ein junger brasilianischer Tänzer, der bei uns fast alle Vorstellungen als Albrecht ganz wunderbar getanzt hat. Theobald: Und für das Publikum ist es fantastisch, jeden Abend „Giselle“ vollkommen neu zu sehen und zu erleben. Spuck: Es ist schön, dass wir die Karrieren der Künstler auf diese Art unterstützen können. Ich bin überzeugt, dass es wichtig ist, auch mal anderswo zu tanzen und sich inspirieren zu lassen. Der größte Feind der Kunst ist die Routine. Theobald: „Giselle“ bietet für Tänzer und Publikum so viel, weil es auf der einen Seite den realen ersten Akt gibt und dann im zweiten Akt das überhöhte romantische ‚ballet blanc‘. Nicht zu Unrecht gilt das Stück als ein Höhepunkt der romantischen Epoche. Patrice Bart behält das in seiner Inszenierung ja auch so bei. Spuck: Ja, er hat es aber auch ein bisschen entstaubt. Neben der traditionellen Choreographie hat es einen zeitgenössischen Zugriff. Dadurch wirkt es umso schöner und ist für die Zuschauer viel zugänglicher.

Fotos: Danielle Liniger (Spuck), Holger Talinski (Theobald), Marc Volk (Ballettstudio)

WIR SIND DER MOTOR

BALLETTDIREKTOREN IM GESPRÄCH

Die promovierte Kulturmanagerin Christiane Theobald ist Stellvertretende Intendantin des Staatsballetts Berlin, der Choreograph Christian Spuck Direktor des Balletts Zürich. Ein Gespräch über Spielplan-​ gestaltung, Führungsqualitäten und Patrice Barts „Giselle“

Theobald: Hättest Du jemals gedacht, dass Du einmal so viele Stücke aus dem Klassischen Ballett machen würdest? Spuck: Darüber habe ich nie nachgedacht. Ich bin als Tänzer aus der freien Szene zurück an ein Staatstheater gegangen. Interesse an klassischen Stücken hatte ich zwar schon immer, aber erst jetzt als Ballettdirektor habe ich gelernt, was diese Produktionen wirklich bedeuten. In Zürich schaue ich mir jede unserer Vorstellungen an und entdecke immer wieder Neues. Besonders der zweite Akt ist ja eigentlich vollkommen abstrakter Tanz und dadurch fast zeitgenössisch. Theobald: Ich bin auch als Tänzerin in der freien Szene gewesen und dann als Ballettdramaturgin wieder an ein Staatstheater gegangen. Unsere Aufgabe besteht aber nicht nur darin, Mainstream wie zum Beispiel den „Nussknacker“ zu produzieren. Das Publikum soll auch mit Neuem konfrontiert werden. Wir sind der Motor, der das Ensemble nach vorne bringt, mit Leben füllt und einer Zukunft ausstattet. Spuck: Ja, unsere Aufgabe ist es, dass das Ensemble funktioniert, dass ein Programm und die Gastspielplanung steht. Theobald: Wenn es dann unter den vielen Vorstellungen die eine gibt, bei der alles stimmt – Timing, Energie, Dirigent, Musiker, Technik – dann denkst du: „Ja! Genau das ist es! Deswegen machen wir das!“ Es gibt nichts Schöneres. Spuck: Ganz genau. Man ist mit den Tänzern und den Mitarbeitern den ganzen Tag zusammen. Ich lüge nicht, wenn ich sage, dass ich sie alle in mein Herz geschlossen habe. Auf der anderen Seite muss ich aber auch Abstand bewahren. Wenn man den Freundschaftsgedanken zu stark zulässt, tut man weder den anderen noch sich selbst einen Gefallen. Das ist eine nicht ganz leichte Gratwanderung, die man in einer Leitungs­position beherrschen muss. Theobald: Man muss damit umgehen können, dass man leider nicht Everybody‘s Darling sein kann. Spuck: So ist es. Außerdem sollen sich die Vorstellungen gut verkaufen. Daneben ist es aber auch von Bedeutung, den Tanz und das Ballett künstlerisch voranzutreiben. Theobald: Was ist Dir wichtig, wenn Du den Spielplan erstellst? Spuck: Zunächst einmal, eine künstlerische Vision zu ent­ wickeln und fortzuführen. Gleichzeitig bin ich ständig auf der Suche nach neuen, zeitgenössischen Choreographen. Nur so kommen neue Impulse. Genauso wichtig ist es aber, dass das Ballett Zürich auch die großen Werke der Tanzgeschichte zeigt. Wir müssen sie am Leben erhalten! Theobald: Das würde ich alles unterschreiben. Wir wollen auch Choreographen verpflichten, die neue Impulse für das Ensemble geben – bei gleichzeitiger Wahrung des Klassischen Balletts auf einem sehr hohen Niveau. Spuck: Das schönste Kompliment ist immer noch, wenn der Zuschauer entweder lacht oder weint. Wenn das, wofür wir leben, andere Menschen berührt und bereichert – das ist Erfolg. Theobald: Das gilt international! Was wünschst du dir eigentlich für die Zukunft des Balletts? Spuck: Tanz als Kunstform ist in den vergangenen Jahren schon bekannter und akzeptierter geworden. Ich wünsche mir, dass sie noch mehr zum Blühen kommt. Theobald: Ich bin überzeugt, dass der Tanz auf einem guten Weg ist. Aber er braucht noch Hilfestellung von außen und auch politische Unterstützung. Früher waren die „Klassiker“ und die freie Szene sehr viel disparater. Heute schaut man sich gegenseitig viel mehr zu und versucht, zusammen­ zuarbeiten. Deswegen wünsche ich mir auch, dass es solche guten Beziehungen wie zwischen Dir und mir in der ganzen Ballettszene gibt.

DR. CHRISTIANE THEOBALD

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Im Dunkel der Nacht: Der Fotograf Fernando Marcos hat in Nacho Duatos Choreographie „White Darkness“ den Verlauf der Zeit eingefroren. Das Ergebnis wirkt paradox, denn die Tänzer scheinen wie Gespenster über die Bühne zu schweben, wodurch gleichzeitig die Rasanz dieser Sequenz um so deutlicher wird. So haben Sie Ballett noch nie gesehen!


„Tanz ist KLASSE!“ zusammen mit Freiwilligen den Tanz ins Leben von Geflüchteten bringen

Wahrscheinlich passt diese Formulierung nirgendwo besser als hier, in einem notdürftig abgetrennten Raum der Messehalle 26 am Berliner Funkturm: „Sich mit Händen und Füßen verständigen.“ Am Boden liegen Bilder, auf denen Teile des menschlichen Körpers abgebildet und mit der dazugehörigen Bezeichnung versehen sind: Arm, Bein, Kopf, Knie, Bauch. Aus einem portablen Lautsprecher schallt Musik. Die Tanzpädagogin Bettina Thiel ruft eines der Wörter in die Gruppe, und Kinder fangen an zu tanzen. Sie bewegen dabei vor allem den Körperteil, dessen Name sie ­gerade lernen. Aufwärmübung und Sprachunterricht in einem – Not macht erfinderisch. „Tanz ist KLASSE!“ heißt das Education-Programm des Staatsballetts. Schon seit neun Jahren bringt es Kindern und Jugendlichen, die sonst eher nicht mit Ballett in Berührung kommen, den Tanz näher. ­ Die Programm-Macher richten Workshops an Schulen unter anderem in sogenannten sozialen Brennpunkten aus, bereiten mit Schülern Aufführungen vor und laden Klassen ins Haus ein, um ihnen einen Blick hinter die Kulissen zu ermöglichen. Angesichts der aktuellen Lage drängte sich den Verantwortlichen die Idee förmlich auf, diese Erfahrungen auch geflüchteten Kindern zu ermöglichen. „Wir haben Kontakt zu verschiedenen Flüchtlingsheimen aufgenommen“, berichtet Henriette Köpke, verantwortlich für die Koordination des Education-Programms. „Wir sind auf starkes Interesse gestoßen, aber der Bedarf lag in vielen Heimen erst einmal woanders.“ Und der Tanzpädagoge Stefan Witzel ergänzt: „Doch aus der Flüchtlingsunterkunft in den Messehallen hieß es: ‚Toll! Kommt und fangt an.‘“ Seit November 2015 tanzen Stefan Witzel und seine Kollegin Bettina Thiel nun einmal in der Woche mit Kindern und Jugendlichen: erst in der Messehalle und seit dem Umzug der Unterkunft im ICC. Der Andrang war von Anfang an groß und wird von Woche zu Woche größer. Von den 300 Kindern, die in der Notunterkunft untergebracht sind, kamen zu Beginn schon dreißig. Weil die Altersspanne dabei von drei bis achtzehn Jahren reicht, haben die beiden Pädagogen die Gruppe geteilt. Mit den Kleinen machen sie Spiele und Übungen rund um Themen wie Märchen oder Tiere. Die älteren Mädchen sind dagegen an Hip-Hop und Positionen aus dem klassischen Ballett interessiert. „Die Kommunikation ist natürlich schwierig. Die ­Kinder

gehen noch nicht zur Schule, sprechen kaum Deutsch, können sich teilweise auch untereinander nicht verständigen“, sagt Bettina Thiel. „Es ist eine schöne Sache, über den Tanz etwas von der Sprache zu vermitteln und damit zur Integration beizutragen.“ Viele Kinder seien außerdem traumatisiert, erzählt Thiel. „Wir versuchen mit den Übungen, die innere Anspannung zu lockern, auch wenn es nur für einen Moment ist.“ Und Stefan Witzel ergänzt: „Die Stimmung in der Unterkunft ist deprimierend. Aber das, was wir anbieten, macht den Kindern einen ungeheuren Spaß. So extrem habe ich diese Gegensätze noch nirgends erlebt.“ Die Erfahrung ist für die Pädagogen aber auch in anderer Hinsicht aufwühlend und be­ sonders: „Ich bin sehr beeindruckt von den vielen ­ Freiwilligen, die in der Unterkunft helfen und uns auch beim Unterricht unterstützen“, sagt Thiel. Ein freiwilliger Helfer ist auch Toan Tran Ngoc. Der 31-jährige Mathematik-Student, der mit seinen Eltern kurz vor dem Fall der Mauer aus Vietnam in die DDR kam, unternahm im Sommer eine Fahrradtour in den Alpen. Als er danach mit dem Zug nach Berlin zurückfuhr, saß er mit vielen Flüchtlingen zusammen, die auf der sogenannten Balkan-Route über Österreich nach Deutschland einreisten. „Dieses Erlebnis hat mich so berührt, dass ich mich seitdem für Geflüchtete engagiere.“ Tran Ngoc unternimmt Ausflüge mit Kindern und organisiert Besuche von Kulturveranstaltungen für Erwachsene aus mehreren Flüchtlingsheimen. Auf Einladung des Staats­balletts hat er schon drei Ballettinszenierungen besucht: das Kinderstück „Hänsel & Gretel“, „Onegin“ und „Duato I Kylián“. „Für die Geflüchteten ist Ballett besonders interessant, weil es ohne Sprache auskommt und intuitiv zu verstehen ist.“ Tran Ngoc sitzt zusammen mit Ahmad Aly Ayubi in einem kleinen Aufenthaltsraum in einer Notunterkunft tief im Osten der Hauptstadt. Ahmad Ali Ayubi stammt aus Afghanistan, seit Ende September lebt er mit seiner Frau und dem eineinhalbjährigen Kind in Berlin. Fünfzig Tage habe die Flucht über die Türkei und Griechenland gedauert, erzählt er in einem erstaunlich flüssigen Deutsch. Seit seiner Ankunft in Berlin nimmt er jede Möglichkeit wahr, die Stadt kennen­zulernen. Zweimal war er mit Tran Ngoc auch schon im Staatsballett. Die Erfahrung ist neu für ihn. „In Kabul gibt es kein Ballett“, sagt er. Besonders „Onegin“, das gefühlsintensive Drama nach dem Roman von Alexander Puschkin, habe ihm gefallen. „Man merkt, dass einige Besucher Schwierigkeiten mit der westlichen Frei­ zügigkeit zum Beispiel in Modefragen haben“, erzählt Tran Ngoc. Ahmad gehört nicht dazu. Männer in engen Strumpfhosen sind für ihn kein Problem. „So etwas müssen sie doch tragen, um sich bewegen zu können“, sagt er lachend. Zur nächsten Inszenierung soll unbedingt auch Ahmads Frau mitkommen, wünscht sich Toan Tran Ngoc. Das wird sie auch können, weil Toan sich in der Zeit um ihr Kind kümmern will.

Fotos: Daniel Sonnentag (Schwarz-Weiß-Bilder), Andreas Schäfer (Ngoc und Ayubi), Fotolia/Danielle Bonardelle (Karte)

MIT HÄNDEN UND FÜSSEN

VOR ORT MIT GEFLÜCHTETEN

Wie Pädagogen von

„Tanz is Pädag t KLASSE! “ o tanzt m ge Stefan W – Kinder it geflüchte itzel t Daniel n, fotografie en rt Sonne ntag. von

Recken und Strecken mit Bettina Thiel, ehemalige Erste Solotänzerin am Staatsballett Berlin.

Gem e Toan insam b e und Tran Ngo suchen A die A hmad A c l des S ufführun y Ayubi ge taats balle n t t s.

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HAUT AN HAUT

Studio III des Staatsballetts Berlin. Ein rechteckiger Raum mit der obligatorischen Spiegelwand. Vier Tänzer machen sich warm, probieren spielerisch Figuren, ein Pianist sitzt am Tonpult und spielt Musik ab. Da rauscht der Ballettmeister Gentian Doda herein,­­ der schon seit Jahren die Einstudierungen der Choreo­ graphien von Nacho Duato leitet. Wenige Worte ­ge­nügen, schon erfüllen poetisch-düstere Cello-Klänge den Raum und die vier Tänzer bilden zwei Paare: Mann und Frau, die schmerzhaft miteinander ringen. Die Gruppen­tänzerin Giuliana Bottino und der Solo­ tänzer Arshak Ghalumyan und ihre Zweitbesetzung Pauline Voisard und Alexej Orlenco proben Szenen aus dem Stück „Herrumbre“ – zu Deutsch „Rost“ – von dem Staatsballett-Intendanten Nacho Duato.

Oberkörper wie Klingen: Giuliana Bottino und Arshak Ghalumyan bei den Proben zu „Herrumbre“.

Fotos: Yan Revazov (großes Foto); Costas (Porträt)

I M S T U D I O M I T N A C H O D UAT O

Mit „Herrumbre“ plant das Staatsballett Berlin seine nächste große Premiere – mit einer Choreo­graphie von Nacho Duato.­ Ein Besuch bei den Proben

In „Herrumbre“ übersetzt Intendant Nacho Duato Folter und Terror in Tanz.

Sie rutschen unter dem anderen hindurch, springen sich auf den Rücken, wie Klingen schnappen die Oberkörper ineinander. „Stopp“, ruft Gentian Doda und korrigiert die Haltung eines Kopfes, den Winkel eines gebeugten Beines. Er dreht, verschiebt, erklärt und deutet die Abläufe selbst an, als wollte er eine Bewegungsskulptur in der Luft hinterlassen, in die die Tänzer beim nächsten Versuch nur hineinschlüpfen müssen. „You don’t have to dance“, sagt er. Und meint damit: Ihr müsst nicht tanzen im Sinne anmutigen Balletts. Doch worum geht es dann? Um das richtige Verhältnis zwischen dem Fließenden und dem Ab­ rupten, zwischen Zart- und Direktheit, zwischen dem Schönen und dem furchtbar Schrecklichen. „Herrumbre“ könnte man – da die Terroranschläge von Paris noch jedem im Gedächtnis sind – als Stück der Stunde bezeichnen. Denn es handelt von Terror, Folter und den Schrecken eines entmenschlichten Umgangs miteinander. Dabei entstand es schon vor zwölf Jahren, als Nacho Duato in Madrid die Compañía Nacional de Danza leitete. „Ich hatte ursprünglich die Idee zu einem eher abstrakten Stück über Folterinstrumente“, sagt er. „Das erschien mir aber bald zu eingeschränkt. Deshalb entschied ich mich, von der Folter selbst zu erzählen.“ Ausgangspunkt war ein Foto aus dem Gefängnis in Guantanamo, das Häftlinge in einer entwürdigenden Pose zeigt, kauernd zwischen Stacheldraht. Dann ereignete sich der Anschlag auf eine U-Bahn in Madrid im Jahr 2004, und damit kam der Terror im wahrsten Sinne bis vor Duatos Haustür, denn er lebte damals nur wenige Hundert Meter von dem Anschlagsort entfernt. Um den unmittelbaren Schrecken atmosphärisch auch auf die Bühne zu holen, beauftragte er den Komponis­ ten Pedro Alcalde und den Musiker und Konzeptkünst­ ler Sergio Caballero, ein elektronisches Gewebe aus authentischen Gefängnisklängen zu bilden und dieses mit Streichmusik von David Darling zu kombinieren. So hört man Schläge, metallisches Hallen oder einfach nur elektronisches Knistern, während das Ensemble in ​Tableaus unterschiedliche Formen gewalttätiger Beziehungen und verschiedene Aggregatzustände des Schreckens ins Bild setzt. Und zwischendurch – als ausgleichenden Kontrast – die schönen Cello-Klänge, zu denen sich Giuliana Bottino und Arshak Ghalumyan gerade bewegen. „Der Terror gehört inzwischen leider zu unserem Alltag. In ‚Herrumbre‘ will ich dem Zu­ schauer Zeit geben, um über diese Phänomene nachzudenken. Aber es ist ein schönes Stück, sonst gucken die Menschen nicht hin. Ich wollte etwas Schönes schaffen, das im Kopf Gedanken über etwas Furchtbares auslöst.“ Inzwischen ist Duato selbst zur Probe gekommen und verfolgt still die kraftaufreibenden Figuren der beiden Tänzer. Wovon sie handeln, bleibt unbestimmt. Es könnten Traumszenen sein, in denen eine Frau sich den inhaftierten Mann herbeisehnt und ihn wie ein Gespenst doch nie zu fassen kriegt. Oder die mühsamen Versuche von Migranten, eine Grenze zu erreichen. Ohnehin geht es nicht um Handlung, son­ dern um Intensität. Ein einziges Mal unterbricht Nacho Duato die Probe: „Das Thema ist so direkt und real, ihr dürft keine Angst haben. Körper an Körper. Gesicht an Gesicht.“ Dabei drückt er eine Handfläche fest auf die andere. „Ihr müsst vor allem eines: da sein.“ 10 I 11


TANZTERMINE Tradition und Aktualität: Im Frühjahr zeigt das Staatsballett Berlin vielfältige Produktionen

IM DUNKEL DER NACHT PREMIERE: HERRUMBRE Choreographie Nacho Duato Musik Pedro Alcalde, Sergio Caballero und David Darling Ein Foto aus den Folterkammern von Guantanamo war für Nacho Duato der Ausgangspunkt für dieses Ballett. In seiner Choreographie transformiert er die medial verbreiteten Bilder von Gewalt und Folter in Bewegung und will damit anregen, über ein Thema nachzudenken, das aktueller denn je ist. Staatsoper im Schiller Theater 14 16 18 21 26 28 02

TICKETS 030 20 60 92 630 tickets@staatsballett-berlin.de

FORM UND VOLLENDUNG VIELFÄLTIGKEIT. FORMEN VON STILLE UND LEERE Choreographie Nacho Duato | Musik Johann Sebastian Bach Nacho Duato hat dem Komponisten Johann Sebastian Bach mit dieser Choreographie ein tänzerisches Denkmal gesetzt. Mit großem Respekt übersetzt er die Kompositionen Bachs in bewegte und bewegende Bilder. In einer Symbiose aus Tanz und Musik fließen Formen und Emotionen ineinander. Komische Oper Berlin 25 02 11 28 31 03 10 14 25 04

TSCHAIKOWSKYS ZAUBER SCHWANENSEE Choreographie Patrice Bart nach Iwanow und Petipa Musik Peter I. Tschaikowsky Mit einer verzauberten Schwanenprinzessin, intriganten Verwandten und einem innerlich zerrissenen Prinzen ist „Schwanensee“ der Inbegriff des klassischen Balletts. Patrice Bart hat sich bei seiner Inszenierung an den überlieferten Vorlagen orientiert, aktualisiert die Rollenführung jedoch spürbar und öffnet das Stück der Gegenwart. Deutsche Oper Berlin 01 17 20 24 02

LIEBES LEID GISELLE Choreographie und Inszenierung Patrice Bart nach Coralli und Perrot Musik Adolphe Adam Tanz bis in den Tod: Giselle liebt nicht nur das Tanzen, sondern auch Albrecht. Der ist längst einer anderen versprochen. Darüber verliert Giselle den Verstand und stirbt. Nach ihrem Tod ist sie dazu verdammt, im nächtlichen Wald Männer zum Tanzen zu verführen, bis diese vor Erschöpfung sterben. Auch Albrecht trifft im Wald auf Giselle. Staatsoper im Schiller Theater 03 04 05 06 03 02 16 18 24 04

VOLL STARK DER KLEINE PRINZ Choreographie und Inszenierung Gregor Seyffert nach Antoine de Saint-Exupéry Wenn die Staatliche Ballettschule Berlin als Gast des Staatsballetts Berlin auf den großen Operbühnen der Stadt auftritt, ist dies stets eine „Gala“ – so besonders und schön sind die Vorstellungen. Genauso herzerwärmend ist auch das Stück, das im März zwei Mal an einem Tag präsentiert wird: die Suche des kleinen Prinzen nach Freundschaft und Liebe. Staatsoper im Schiller Theater 13 03

IMPRESSUM HERAUSGEBER Staatsballett Berlin, Richard-Wagner-Straße 10, 10585 Berlin | INTENDANT Nacho Duato | ARTDIRECTION Bernardo Rivavelarde | VERLAG TEMPUS CORPORATE GmbH – Ein Unternehmen des ZEIT Verlags, Askanischer Platz 3, 10963 Berlin, info@tempuscorporate.zeitverlag.de I Geschäftsführung: Ulrike Teschke, Jan Hawerkamp I Projektleitung: Andreas Lorek I Textchef: Roman Heflik, Fenja Mens I Autoren: Andreas Schäfer, Viviana Freyer I Lektorat: Viviana Freyer I Layout: Mirko Merkel, Jessica Sturm-Stammberger | DRUCK Axel Springer Offsetdruckerei Ahrensburg | REDAKTIONSSCHLUSS 01.02.2016 | Änderungen und Irrtümer vorbehalten. Foto: Fernando Marcos (Patricia Zhou in „Herrumbre“)


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