OLDENBURGER OPERNBALL DIE GEHEIMNISSE DER FÄCHERSPRACHE
VERNUNFT VS. LUSTPRINZIP
‚DAS HAUS AUF MONKEY ISLAND‘ VON REBEKKA KRICHELDORF
VERSAILLES ZU GAST IN OLDENBURG
‚LES PALADINS‘ UND DAS CENTRE DE MUSIQUE BAROQUE DE VERSAILLES
VIDEOKUNST IM OLDENBURGISCHEN STAATSTHEATER EINE KOLUMNE VON
EDIT MOLNÁR & MARCEL SCHWIERIN
JAN–APR
2019
OLDENBURGER OPERNBALL 2019 Hauptsponsoren:
Sponsoren:
Partner:
Audi Sport | Audi e-tron Partner
Catering-Partner:
RKS Consulting Weinberatung und Handel Rena und Kai Seeger
Freunde:
Der Oldenburger Opernball wird freundlich unterstĂźtzt von
EDITORIAL
Liebes Publikum, Willkommen im neuen Jahr! Wir hoffen, Sie sind gut gestartet. Hatten Sie schon Gelegenheit, Ihre guten Vorsätze in die Tat umzusetzen? Nicht? Vielleicht fehlt Ihnen einfach nur noch die richtige Belohnungsstrategie, um Ihr limbisches System zu überlisten. Im Gespräch mit Anna-Teresa Schmidt erklärt uns die junge Dramatikerin Rebekka Kricheldorf die Prinzipien von Neuromarketing und wie aus ihrer Beschäftigung mit dem Lustwesen Mensch „eine recht wilde Mischung aus Wissenschafts-Farce, Thriller, Science-Fiction und Psycho-Krimi“ wurde. Noch im Entstehen ist das neuste Werk von Liisa Hirsch. Annabelle Köhler stellt das Projekt ‚artist in residence‘ (a.i.r) vor und beschreibt, wie die Komponistin im Zusammenspiel mit Musiker*innen des Oldenburgischen Staatsorchesters ihre Komposition entwickelt. Den pastoralen Klang der Musette verbindet nicht jede*r unwillkürlich mit dem Prunk am Hof des Sonnenkönigs Louis XIV. Für Rameaus Comédie-ballet ‚Les Paladins‘ reisen neben dem typischen Barockinstrument noch viele weitere Kostbarkeiten aus Versailles nach Oldenburg. Stephanie Twiehaus stellt uns die Arbeit des Centre de musique baroque vor. Mit grenzenloser Fantasie und manch ausgefallener Verwendung unterschiedlichster Materialien lassen die Theaterplastikerinnen Carola Hoyer, Dina Dukule und Lena Schlecht ganze Welten entstehen. Amelie Jansen hat ihnen über die Schulter geschaut und manches Geheimnis um Hirsch und Freiheitsstatue gelüftet. Freie Entfaltungsmöglichkeit suchen auch die Protagonistinnen der Inszenierungen im Niederdeutschen Schauspiel. Vergleichbar den weiblichen Hauptfiguren in Pedro Almodóvars Filmen, finden sie sich in scheinbar unlösbaren Extremsituationen wieder. Dorothee Hollender gibt uns einen Überblick über die einfallsreichen Survival-Strategien der Heldinnen. Am Rande des Nervenzusammenbruchs befand sich das Publikum 1913 in Paris bei der Uraufführung von Igor Strawinskys ‚Le Sacre du Printemps‘. Nastasja Fischer hat die Ereignisse und einige markante O-Töne in einer kleinen Chronik zusammengefasst. Aus der ‚Mitte der Welt‘ berichtet Matthias Grön. Er traf sich mit Franziska Stuhr. Die junge Regisseurin erzählt von ihren Berufserfahrungen und ihrer ersten Inszenierung für das Junge Staatstheater. Dario Köster berichtet von den Visionen der Teilnehmenden des Projekts Schule.Spiel.Theater. Über vier Monate haben die Schüler*innen sich Gedanken gemacht, wie unsere Welt wohl im Jahr 2081 aussehen wird. Hanna Puka stellt mit ‚All of me‘ das Rechercheprojekt des Erwachsenenclubs vor. Der Blick der anderen auf das eigene Rollenverständnis ist wesentliches Thema der Spieler*innen. Von fünfhundert auf uns gerichteten Augenpaaren lesen Sie, wenn Sie ganz nach hinten blättern. Edit Molnár und Marcel Schwierin berichten, wie diese ‚Tausend Augen‘ an unseren neuen Treppenturm gelangt sind. Viel Spaß beim Lesen!
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Inhalt Seite 6
Seite 32
KULISSENGEFLÜSTER Neuigkeiten aus dem Theater
BÜHNENSEITEN Videokunst im Staatstheater
Seite 8
Seite 34
OPERNSEITEN Opernball – Fächersprache
SEITENBÜHNE Die Bühnenplastik
Seite 10
Seite 37
OPERNSEITEN Versailles zu Gast in Oldenburg Die Comedié-ballet ‚Les Paladins‘
Seite 12 SCHAUSPIELSEITEN Vernunft versus Lustprinzip Autorin Rebekka Kricheldorf im Interview
Seite 14 KONZERTSEITEN a.i.r. – Für eine lebendige Kunstmusik unserer Zeit
Seite 16 JUNGESEITEN Beruf: Regisseurin Franziska Stuhr im Gespräch mit Matthias Grön
Seite 17 JUNGESEITEN Der Kinderclub beim 8. Deutschen Kinder-Theater-Fest in Minden
Seite 18 BALLETTSEITEN Chronik eines Aufstands – Die Uraufführung von ‚Le Sacre du Printemps‘
Seite 20 JUNGESEITEN ‚All of Me‘ Das neueste Projekt des Erwachsenenclubs
Seite 21 JUNGESEITEN 2081 – Schule.Spiel.Theater.
Seite 22
OPERNSEITEN Mehr als nur Belcanto! Stephen Lawless über Gaetano Donizetti
Seite 38 BALLETTSEITEN „Es ist ein Geschenk für uns!“ Der Tanzclub
Seite 40 BÜHNENSEITEN Aus dem Stück gefallen ...
7SEITEN ‚O. – Eine Stadt sucht ein Drama‘ – Auswertung eines Experiments
Seite 41
Seite 26
BÜHNENSEITEN Auszeit mit ... Thomas Birklein auf dem Fliegerhorst
NIEDERDEUTSCHESEITEN Die können auch anders! – Frauenfiguren im Niederdeutschen Schauspiel
Seite 42
Seite 28 OPERNSEITE ‚Brundibár‘ – Eine Brücke ins Hier und Heute
Seite 30 OPERNSEITEN Dead Man Walking Vorbereitungen auf eine Premiere mit ungewöhnlichem Opernsujet
KINDERSEITEN Finde die Unterschiede!
Seite 44 GASTSEITEN Edit Molnár & Marcel Schwierin
NEWS
KULISSENGEFLÜSTER
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Oldenburger Tänzer bei Jubiläumsvorstellung des Bundesjugendballetts Hamburg Das Bundesjugendballett hat anlässlich des zehnjährigen Jubiläums seiner Vorstellungsserie ‚Im Aufschwung‘ am Hamburger Ernst-DeutschTheater im November 2018 zu einer besonderen Ausgabe eingeladen: Bei ‚Im Aufschwung X – Celebration‘ präsentierte die 2011 gegründete Compagnie Choreografien ihres Intendanten John Neumeier sowie Werke der Gastchoreograf*innen Sasha Riva, Maša Kolar und Edwaard Liang ebenso wie Eigenkreationen ihrer Tänzer*innen. Das Ensemble des Bundesjugendballetts setzt sich alle zwei Jahre neu zusammen, es hat keine feste Bühne, sondern tritt neben Theatern auch in Seniorenheimen, Schulen, Clubs und in Gefängnissen auf. Zur Jubiläumsausgabe waren auch alle ehemaligen Mitglieder eingeladen. So tanzte der Australier Joel Paulin, der seit dieser Spielzeit Ensemblemitglied der BallettCompagnie Oldenburg ist, noch einmal an der Mundsburg in Hamburg. 6
Komm vorbei — bezahlt hast du schon! Mit diesem Motto konnten wir die Student*innen der Carl-von-Ossietzky-Universität bei der ErstsemesterVeranstaltung begrüßen. Denn die haben seit diesem Wintersemester erstmalig die Möglichkeit, gegen Vorlage des Studierendenausweises kostenlos Karten für die Eigenproduktionen des Oldenburgischen Staatstheaters zu erhalten. Ganz nach dem Motto „Binge Watching“ kann man sich nun also, je nach Kartenverfügbarkeit, seine Lieblingsstücke ansehen. Ausgenommen von dieser Regelung sind Premieren, Gastspiele sowie Sonderveranstaltungen. Das Kulturticket bietet den Studierenden somit die großartige Gelegenheit, während eines stressigen Semesters oder ereignisloser Ferien in anderen Welten zu versinken.
Monterone preisgekürt Der Bariton Leonardo Lee, der in dieser Spielzeit als Monterone (‚Rigoletto‘) auf der Bühne des Staatstheaters steht und hier auch als Alberich in ‚Siegfried‘ debütierte, hat 2018 beim renommierten Gesangswettbewerb „Iris Adami Corradetti” in Padua vor einer internationalen Fachjury den ersten Preis gewonnen. Wir gratulieren und freuen uns, dass Leonardo Lee ab der Spielzeit 19/20 fest zum Ensemble des Oldenburgischen Staatstheaters gehören wird.
…
KULISSENGEFLÜSTER
25 Jahre Lichtenstein Nicht schlecht staunte Kammerschauspieler Thomas Lichtenstein, als er bei seiner interaktiven Lektüreshow ‚Lichtenstein liest‘ am 3. Oktober plötzlich selbst die Laudatio zu seinem 25-jährigen Bühnenjubiläum halten musste. Aber seine Hausregel ist eben, alles zu lesen, was ihm vom Publikum vor die Nase gelegt wird. Das kam dem offiziösen Termin mit Urkunde und Intendanten-Handshake gerade recht. Der Schauspielgrande ist seit 1993 am Haus und hat das Publikum seitdem in dutzenden großen und kleinen Rollen begeistert. Wir gratulieren herzlich.
Welcome to Oldenburg Das Oldenburger Publikum kennt sie längst, denn als Eurydike brannte Martha Eason schon zu Beginn der Spielzeit mit Pluto in die Unterwelt durch und verdrehte nebenbei auch noch schnell Göttervater Jupiter den Kopf. Seit November 2018 ist die junge US-amerikanische Sopranistin festes Mitglied des Oldenburger Opernensembles. Sie studierte an der Jacobs School of Music der Indiana University und war anschließend Mitglied des Resident Artist Program der Opera North in New Hampshire. 2017 gab sie mit Richard Strauss‘ Zerbinetta in ‚Ariadne auf Naxos‘ ihr Deutschland-Debüt und war seitdem u. a. an der Komischen Oper, der Oper Leipzig und der Pariser OpéraComique zu sehen. In Oldenburg ist sie u. a. als Gretel, Gilda sowie weiterhin als Eurydike zu erleben.
Publikumskonferenz endet mit Leiche ‚O. – Eine Stadt sucht ein Drama‘ hieß das Experiment, bei dem das geneigte Publikum zwei Monate lang aus vier modernen Theaterstücken eines für den Spielplan der kommenden Spielzeit auswählen sollte. Auf der abschließenden Publikumskonferenz wurde nach anregender Diskussion und spannender Abstimmung der Text ‚Über meine Leiche‘ von Stefan Hornbach gewählt. Das Stück feiert im April 2020 Premiere.
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OPERNSEITEN
OPERNBALL — FÄCHERSPRACHE Operngala, Balleröffnung, Mitternachtsshow und dazwischen noch zahlreiche Tanzrunden … Am Abend des Opernballs jagt ein Programmpunkt den nächsten, und bei so viel Unterhaltung kann man leicht ins Schwitzen kommen. Aber in diesem Jahr gibt es Abhilfe! Mit unserem Opernballfächer können Sie sich nicht nur frische Luft zufächeln und sich abkühlen. Der Fächer hilft Ihnen auch dabei, im Ballgetümmel nonverbal die Kommunikation aufrechtzuerhalten – und zwar mit der Original Oldenburger Fächersprache. Lilian Schepermann, unsere Teilnehmerin im FSJ Kultur, präsentiert Ihnen hier die wichtigsten Fächercodes:
„Wir sehen uns im Großen Haus!“ Fächer ganz aufklappen
„Wir sehen uns im Kleinen Haus!“ Fächer halb aufklappen
„Ich möchte tanzen!“ Offenen Fächer mit der rechten Hand flattern lassen 8
OPERNSEITEN
„Folgen Sie mir!“ Geschlossenen Fächer hinter den Kopf halten „Ich bin nicht interessiert!“ Offenen Fächer vors Gesicht halten
BU Gotham Bold 6 pt
„Ich habe Durst!“ Geschlossenen Fächer gegen die Wange tippen
„Küssen Sie mich!“ Den Stiel des Fächers auf den Lippen platzieren
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OPERNSEITEN
VERSAILLES ZU GAST IN OLDENBURG Eine enge Zusammenarbeit mit dem Centre de musique baroque in Versailles ermöglicht eine durch und durch französische Darbietung von Rameaus Comédie-ballet ‚Les Paladins‘.
I
n der Avenue de Paris in Versailles liegt, fußläufig vom Schloss entfernt, der Gebäudekomplex des einstigen Hôtel des Menus-Plaisirs, in dem König Louis XV. in den 1740er-Jahren (so wie es schon seine Vorgänger andernorts getan hatten) die Administration seiner Hofvergnügungen unterbrachte: Sorgfältig magaziniert warteten hier z. B. Theaterdekorationen, Kostüme und Musikinstrumente auf ihren Einsatz und wurden die Utensilien für das beliebte Sportspiel „Jeu de paume“ aufbewahrt. Hier wurden besondere Silberwaren, Wertstücke und die Garderobe des Königs gelagert. Zum Gebäudekomplex gehört ein großer Saal, der zu einem bedeutenden Schauplatz der französischen Geschichte wurde, als sich dort 1789 in den Anfängen der Französischen Revolution mehrfach die Generalstände versammelten; dort wurde die Abschaffung der Privilegien beschlossen und die Deklaration der Menschenrechte verlesen. Dann verlor das „Hôtel“ an Bedeutung, diente später als Kavallerie-Kaserne und zuletzt zur Unterbringung des technischen Dienstes der Stadtverwaltung von Versailles. Seit 1975 völlig ungenutzt, verfiel das Gebäude, bis 1989 erste Renovierungsarbeiten begannen und
1996 das Centre de musique baroque den Räumlichkeiten neuen Glanz verlieh: Das Hôtel des Menus-Plaisirs wurde wieder zu einem zentralen Ausgangspunkt kultureller Ereignisse.
Das Centre de musique baroque de Versailles Im Jahre 1987 von dem Musikwissenschaftler und Autor Philippe Beaussant (der u. a. die Vorlage für den Film ‚Der König tanzt‘ schrieb) sowie dem Musiker und Kulturpolitiker Vincent Berthier de Lioncourt gegründet, wurde das CMBV binnen kurzer Zeit zu einer führenden Institution in Sachen (französischer) Barockmusik, deren breit gefächertes Aufgabenspektrum Forschung und Lehre sowie die Produktion und Förderung kultureller Veranstaltungen und die Bereitstellung von Werken, Notenmaterial und Instrumenten umfasst. Zu den zahlreichen Veröffentlichungen gehört eine eigene Schriftenreihe ebenso wie die wissenschaftliche Neuedition der Werke französischer Barockkomponisten. Mit Knowhow und Geldern unterstützt das Zentrum jährlich ein internationales Barock-Projekt ganz besonders – und das ist in dieser Spielzeit die Oldenburger Produktion ‚Les Paladins‘,
Eingang zum Centre de musique baroque de Versailles
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OPERNSEITEN
Jean-Pierre Van Hees und seine Musette
der Anfang Dezember bereits das Barockkonzert ‚à la française‘ mit Werken von Jean-Philippe Rameau und Jean-Marie Leclair vorausging.
À la française So authentisch und französisch wie ‚Les Paladins‘ in Oldenburg kommen nicht viele französische Opern außerhalb Frankreichs auf die Bühne: An die Seite des französischen Barockexperten Alexis Kossenko, der die Produktion musikalisch leitet, tritt mit Regisseur François de Carpentries und Ausstatterin Karine Van Hercke ein französisch-belgisches Regieteam. Sie arbeiten wiederum eng zusammen mit dem aus Paris stammenden Oldenburger Ballettdirektor Antoine Jully, denn in der Comédie-ballet spielt das Ballett nach alter französischer Tradition eine handlungstragende Rolle. Und damit die Sänger*innen ihre Partien nicht nur sprachlich, sondern auch musikalisch bestmöglich beherrschen, ist der Künstlerische Leiter des Centre de musique baroque, Benoît Dratwicki, zweimal nach Oldenburg gereist, um mit ihnen zu arbeiten und sie in die Geheimnisse des französischen Barockgesangs einzuweihen. Es gibt große Unterschiede zwischen italienischer und französischer Barockoper – was ja bekanntlich im 18. Jahrhundert in Benoît Dratwicki Paris immer wieder zu heftigen künstlerisch-ästhetischen Auseinandersetzungen („Querelles“) führte: Während in Italien der musikalische Ausdruck und die sängerische Bravour höchstes Gebot waren, legte man in Frankreich seit den Anfängen der Operngeschichte großen Wert auf eine verständliche Deklamation des Wortes, das stets eine enge Verbindung mit der Vertonung einging. So gilt es beim französischen Gesang besonders, eine Reihe von Ausspracheregeln zu verinnerlichen, und vor allem: „Man sollte beim Singen immer die Idee des Tanzens im Kopf haben“, so empfiehlt Dratwicki, „am besten eine Sarabande.“ Sogar das Notenmaterial, aus dem die Oldenburger Comédie-ballet erarbeitet wird, erhebt höchsten Anspruch auf Authentizität, denn hier wird erstmals aus einer Neuedition gespielt, die in französisch-deutscher Zusammenarbeit von Bärenreiter vertrieben wird und gewissermaßen druckfrisch auf die Oldenburger Pulte kommt. Wissenschaftlich verantwortlich ist dafür im Auftrag des Centre de musique baroque der RameauExperte Thomas Soury, der die Quellenlage detailliert studiert und ausgewertet hat. Und wenn auch
‚Les Paladins‘ schon einmal – vor acht Jahren – in Düsseldorf gespielt wurde, so klang das Werk dort doch hie und da recht anders …
Musette Andere Klänge als die gewohnten hört man auch im Staatsorchester, und zwar immer dann, wenn die Musette zum Einsatz kommt: ein typisch französisches Barockinstrument, das mit seinem dem Dudelsack ähnlichen Klang vorzugsweise in pastoralen Situationen eingesetzt wurde (und ein eigenes Musikstück, die „Musette“, entstehen ließ). ‚Les Paladins‘ war eine der letzten Opern, die noch völlig selbstverständlich über die heute als „historisch“ kategorisierte Musette verfügten. Entsprechend ungewöhnlich ist die Suche nach jemandem, der den Musette-Part übernimmt; zugleich aber auch recht einfach, denn es gibt nur wenige davon – und eigentlich kommt ohnehin nur einer in Frage: der Belgier Jean-Pierre Van Hees. Der Musiker, Musikwissenschaftler und (mittlerweile emeritierte) Professor der Universität Leuven ist führender Musettist, auf CD-Aufnahmen verewigt und Autor einer umfassenden Kulturgeschichte des „Cornemuse“. Er ist Mitglied der englischen BagpipeSociety und nicht nur mit Musette-Demos auf youtube, sondern auch mit Konzerten in aller Welt zu erleben. Ehrensache, dass er auch in den Oldenburger ‚Paladins‘ (im doppelten Sinne) mitspielt und bereits im Barockkonzert die Zuhörerschaft mit den ungewohnten Klängen seiner Sackpfeife faszinierte. Stephanie Twiehaus
LES PALADINS
Comédie-ballet in drei Akten von Jean-Philippe Rameau Eine Koproduktion mit dem Centre de musique baroque de Versailles Musikalische Leitung — Alexis Kossenko Regie — François de Carpentries Choreografie — Antoine Jully Premiere am 16. Februar 2019, 19.30 Uhr, Großes Haus
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SCHAUSPIELSEITEN
VERNUNFT VERSUS LUSTPRINZIP Die Autorin Rebekka Kricheldorf hat ein neues Stück geschrieben, das Ende Februar in Oldenburg zur Uraufführung kommt, und damit vielleicht ein neues Genre geschaffen: Einen ScienceFiction-Wissenschaftsthriller, der einen in seinen Bann zieht und dabei immer wieder urkomisch ist. In ‚Das Haus auf Monkey Island‘ geht es um vier Wissenschaftler*innen, die eine Marketingstrategie für In-Vitro-Fleisch entwickeln sollen. Dafür wird aus tierischen Stammzellen echtes Fleisch gezüchtet. Wie bist du auf dieses Thema gekommen? Rebekka Kricheldorf: Auf Umwegen! In meinem Stück geht es ja grundlegend um die Funktionsweise des Belohnungszentrums, also die neurobiologische Grundlage unserer Lust an allem, was sich gut anfühlt: Essen, Sex, Drogen ... Ausgangspunkt ist der berühmte Rattenversuch zweier Neurowissenschaftler in den 1950er-Jahren: Auf der Suche nach dem Ursprung der Motivation verdrahteten sie bestimmte Areale von Rattenhirnen mit kleinen Hebeln, die die Ratten selbst betätigen konnten. Die Rat-
nur tierethisch, sondern auch geoökonomisch völlig neue Möglichkeiten. Also, mir gefiel daran, dass es ein bisschen Science-Fiction ist, aber gleichzeitig höchst real. Die Figur der Neurobiologin Ann sagt an einer Stelle, man müsse die potentiellen Konsument*innen von In-Vitro-Fleisch „süchtig nach dem Guten“ machen. Scheint, als würde für sie der Zweck die Mittel heiligen …? RK: Genau. Ich habe ein Produkt gewählt, das für die in meinem Stück auftretenden Figuren eine hohe ethische Wertigkeit besitzt. So haben sie die Möglichkeit, die manipulativen Methoden, mit denen sie arbeiten, vor sich selbst zu rechtfertigen. Das Gehirn macht keinen Unterschied zwischen „gutem“ und „schlechtem“ Verlangen. Das Gehirn ermutigt einen völlig wertneutral, immer und immer wieder zu tun, was sich gut anfühlt. Spricht man dann von Gewohnheit, von Produkttreue oder schon von Abhängigkeit? Diese verwaschenen Grenzen haben mich interessiert, auch im Hinblick auf die moralische Haltung der Figuren.
Die Entdeckung des Belohnungszentrums nach den Wissenschaftlern Olds und Milner 1954
ten hatten so die Möglichkeit, sich nach Belieben selbst zu stimulieren. Was sie dann auch so exzessiv taten, dass sie alles andere – Fressen, Trinken, Kopulieren – darüber vergaßen. So wurde das Belohnungszentrum entdeckt. Von dort aus kam ich auf das Neuromarketing, einen Zweig der Werbewissenschaft, der bewusst auf die Manipulation des Belohnungszentrums des Konsumenten abzielt. Das Hauptthema des Stücks ist ja eigentlich Manipulation, Verführung, Sucht. Das In-Vitro-Fleisch hat sich dann als eine Art Sub-Thema entwickelt. Anfangs wollte ich nur irgendein Produkt finden, das die Werbestrategen in meinem Stück bewerben müssen. Darüber bin ich auf das In-Vitro-Fleisch gestoßen und fand es gleich ziemlich spannend. Es war faszinierend für mich zu erfahren, wie viele Start Ups weltweit bereits an Alternativen zu konventionellem Fleisch arbeiten und wie weit sie mit der Entwicklung schon gekommen sind. Das eröffnet ja nicht 12
Ein zentrales Argument aus dem Stück ist, dass der Mensch kein Vernunftwesen, sondern ein Lustwesen ist, das auf größtmögliche Befriedigung ausgerichtet ist. Heißt das, wir müssen ständig gegen etwas in uns ankämpfen, um vernünftig sein zu können? RK: Ich glaube schon, dass in uns Impulse gegeneinander kämpfen, die unterschiedliche Ziele verfolgen. Ob man sie Vernunft und Lust nennt oder Über-Ich und Es, neurobiologisch stecken der Präfrontalcortex und das limbische System dahinter. Man muss unterscheiden zwischen dem Willen, der eher langfristige, übergeordnete Ziele verfolgt, und dem Lustprinzip, das einen dazu verführt, das zu tun, was sich gerade in dem Moment gut anfühlt. Das Gemeine ist, dass unser limbisches System hirngeschichtlich viel älter und damit viel mächtiger ist als der Präfrontalcortex, die Stimme der Vernunft also gegen die Stimme der schnellen Befriedigung einen schweren Stand
SCHAUSPIELSEITEN
hat. Das kennt, glaube ich, jeder, der irgendwann mal versucht hat, mit dem Rauchen aufzuhören, weniger Schokolade zu essen oder keine rein triebgesteuerte Partnerwahl mehr zu treffen. Das macht sich natürlich auch die Werbeindustrie zunutze, die versucht, gezielt das limbische Rebekka Kricheldorf System anzutriggern. Das Tröstliche daran ist, dass uns nicht nur finstere kapitalistische Mächte manipulieren können, sondern auch wir uns selbst. Jeder Mensch kann bis zu einem gewissen Grad sein Belohnungssystem umprogrammieren, indem er neue Belohnungsstrategien einübt. Das ist ein langwieriger Prozess, aber nicht unmöglich, was z. B. in der Suchttherapie sichtbar wird. Du hast das Stück – als Auftragsarbeit für das Oldenburgische Staatstheater – am HanseWissenschaftskolleg in Delmenhorst geschrieben, du warst „writer in residence“. Wie kann man sich das vorstellen? Und worin lag der Unterschied zu deiner üblichen Arbeitsweise? RK: Zuerst stand ich vor der Herausforderung, ein Stück über ein Thema zu schreiben, das mich zwar wahnsinnig interessierte, von dem ich aber noch nicht allzu viel Ahnung hatte. Da hieß es erst mal viel lesen und recherchieren. Ich wohnte vier Monate mit Fellows verschiedenster Fachbereiche und Nationalitäten im HWK und habe dort Einblick in sehr viele für mich völlig neuartige Themengebiete und Denkweisen erfahren. Ich traf auch auf andere „writers in residence“, die sich schon länger explizit mit der Frage befassen, wie man wissenschaftliche Erkenntnisse literarisch so verhandeln kann, dass auch Laien sie verstehen. Das war eine Hauptproblemstellung für mich: Wie gehe ich mit wissenschaftlichen Informationen in einem Theaterstück um, ohne dass es staubtrockenes Erklärbären-Theater wird? Ich war also viel mehr als sonst mit Fragen nach dem Verpacken von Informationen
befasst. In den meisten Fällen habe ich mich dann eher für eine Banalisierung zugunsten der Verständlichkeit entschieden. Aber ich habe versucht, der Grundidee treu zu bleiben, und zwar, einen theatralen Kosmos zu schaffen, in dem die Figuren eher neurobiologische als z. B. psychologische Selbst- und Welterklärungsmodelle benutzen. Dabei ging die übliche Lust am Absurden und der komödiantischen Übertreibung mit mir durch, so dass am Ende eine recht wilde Mischung aus Wissenschafts-Farce, Thriller, Science-Fiction und Psycho-Krimi herauskam. Ich bin gespannt, wie das dann auf der Bühne aussehen wird! Das Interview führte Anna-Teresa Schmidt.
‚Das Haus auf Monkey Island‘ ist mit Unterstützung durch das Hanse-Wissenschaftskolleg (HWK) in Delmenhorst entstanden. Die Autorin Rebekka Kricheldorf verbrachte im Rahmen eines Fellowships mehrere Monate als „Writer in Residence“ am HWK. Dort konnte sie in intensivem Austausch mit den anderen Fellows, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der unterschiedlichsten Disziplinen, ihre Ideen zum Stück diskutieren und reflektieren sowie kundigen Rat einholen. Das HWK, ein Institute for Advanced Study, ist eine Stiftung der Bundesländer Bremen und Niedersachsen und der Stadt Delmenhorst. Seit 1997 ermöglicht das Institut seinen Fellows und Wissenschaftler*innen aus aller Welt mehrmonatige Aufenthalte zur Arbeit an selbstgewählten Projekten in einer neuen, inspirierenden Umgebung. Neben den wissenschaftlichen Fellowships bietet das HWK auch Aufenthalte für bildende Künstler*innen sowie Autor*innen, so beispielsweise Rebekka Kricheldorf.
DAS HAUS AUF MONKEY ISLAND Uraufführung — von Rebekka Kricheldorf Regie — Matthias Kaschig
Hanse-Wissenschaftskolleg Institute for Advanced Study
Mit freundlicher Unterstützung des Hanse-Wissenschaftskollegs Premiere am 23. Februar 2019, 20.00 Uhr, Kleines Haus
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A.I.R. — FÜR EINE LEBENDIGE KUNSTMUSIK UNSERER ZEIT Im Rahmen des oh ton-Projekts ‚a.i.r.‘ wirkt die estnische Komponistin Liisa Hirsch 2019 in Oldenburg. Das Oldenburgische Staatstheater präsentiert ihr preisgekröntes Orchesterwerk ‚Mechanics of Flying‘ und freut sich auf eine Uraufführung.
V
iele Namen geisterten durch den Raum, als die Idee zu einem Projekt zur Förderung der zeitgenössischen Kunstmusik in OldenLiisa Hirsch burg entstand. Weshalb man sich für ‚a.i.r.‘ entschied, erläutert Eckart Beinke, der als Vorsitzender des Vereins oh ton – Förderung aktueller Musik und Künstlerischer Leiter des oh ton-ensembles das Projekt ins Leben gerufen hat: „‚a.i.r.‘ steht nicht nur für ‚artist in residence‘, sondern auch für „Lied“ oder „Melodie“ Der aus dem Barock stammende französische Titel und die dazugehörige Form findet sich bei J. S. Bach und anderen. Diesen doppelt befrachteten Begriff ‚a.i.r.‘ – sowohl aus der Musik-Geschichte wie auch als Förderprogramm der Vermittlung – nehmen wir auf, um Mensch und Person aus der Kunstmusik der Gegenwart einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen.“ So entstand ein Projekt, das es sich auf die Fahnen geschrieben hat, der Kunstmusik unserer Zeit breiteres Gehör zu verschaffen, wie Eckart Beinke erläutert: „In einer von Pop-Musik und Massengeschmack dominierten Zeit ist diese Musik von den meisten Menschen sehr weit entfernt. Zugleich braucht es viele Gelegenheiten zum Hören, um diesem Kunstgenuss nahe zu kommen. Diese Gelegenheiten sind aber sehr selten und werden nur von sehr wenigen Akteuren der Musiklandschaft angeboten. Das Projekt ‚a.i.r.‘ bietet die Möglichkeit, dies zu verändern und gleichzeitig die Aufgabe der Präsentation auf viele Schultern zu verteilen und möglichst viele Akteure – Chöre, Ensembles, Orchester, aber auch allgemeinbildende Schulen und die Musikschule – einzubinden.“ Konkret sieht das Projekt vor, jedes Jahr eine Komponistin oder einen Komponisten ausführlich in der Stadt und Region vorzustellen, mit den Oldenburger Akteur*innen in direkten Kontakt zu bringen und in der Zusammenarbeit zahlreiche Aufführungen, Workshops und öffentliche Proben zu realisieren. „Jeder Akteur, Chor oder jedes Ensemble hat sein Publikum und bringt ein Werk aus der Zusammenarbeit mit ‚a.i.r.‘ in sein Konzert-Programm 14
ein. So profitieren alle in der Musikstadt Oldenburg: Die Macher, die Hörer und der oder die Komponistin“, beschreibt Eckart Beinke das Potenzial des Projekts. Als erste Künstlerin „in residence“ wird 2019 die estnische Komponistin Liisa Hirsch nach Oldenburg kommen, die schon früh die Aufmerksamkeit von Generalmusikdirektor Hendrik Vestmann erregte, der das Projekt ‚a.i.r. ‘ im direkten Austausch mit Eckart Beinke von Anfang an begleitete: „Ich bin auf Liisa Hirsch schon aufmerksam geworden, bevor wir auf die Idee von ‚a.i.r. ‘ kamen, und zwar durch ihren Gewinn des Europäischen Komponistenpreises im Rahmen des Festivals Young Euro Classic, bei dem ‚Mechanics of Flying‘ von einem estnischen Orchester aufgeführt wurde. Als Eckart Beinke und ich Ideen entwickelten, welchen Komponisten oder welche Komponistin wir einladen könnten, war sie mein erster Vorschlag … natürlich auch, weil das eine schöne Verbindung zu meinem Heimatland Estland darstellt.“ Im 4. Sinfoniekonzert der Saison wird man sich im Oldenburgischen Staatstheater einen ersten Höreindruck verschaffen können, dann nämlich steht Liisa Hirschs Orchesterwerk ‚Mechanics of Flying‘ auf dem Programm, das die Komponistin folgendermaßen beschreibt: „Als ich nach dem geeigneten klanglichen Material für dieses Stück suchte, setzte sich ein Bild in meinem Kopf fest … als würde ich eine der riesigen windbetriebenen und sich selbst bewegenden Skulpturen des niederländischen Künstlers Theo Jansen bauen … Ich hoffte dabei, dass das Stück – falls meine Rechnung aufginge – ebenfalls den Wind einfangen und im Klang etwas offenbaren würde, was mir nicht bewusst war. Ich glaube, das war es auch, woraus der scherzhafte Titel des Stücks ‚Mechanics of Flying‘ entstand.“ Hendrik Vestmann schätzt insbesondere die große Sinnlichkeit von Liisa Hirschs Musik: „Mir imponiert, dass sie in ihren Werken eine bestimmte Atmosphäre erzeugt. Es sind Klänge, die im Raum eine besondere Wirkung entfalten … Werke, die einen Raum brauchen und gerade in der Live-Aufführung ihre Kraft entwickeln. Sie leben von
KONZERTSEITEN
Stimmungen und Farben. Das Orchester ist unglaublich differenziert aufgeteilt. Jede einzelne Streicherstimme ist separat notiert. Liisa Hirsch hat eine sehr eigene Musiksprache. Sie performt ihre Stücke oft selbst und ist als ausübende Musikerin sehr vertraut mit der Materie. In ihrem Werk herrscht eine große Vielfalt.“ Liisa Hirsch freut sich auf die Zusammenarbeit mit dem Oldenburgischen Staatstheater und ihrem Landsmann Hendrik Vestmann – und sie ist äußerst neugierig auf die gemeinsamen Proben: „Da jedes Orchester seine eigene Sichtweise hat, wird das Stück im Prozess auch etwas Neues enthüllen.“ Gerade im direkten Kontakt zwischen Komponist*in, Musiker*innen und Publikum erkennt Eckart Beinke eine der großen Chancen: „Nach unserer Erfahrung ist die ‚Kunstmusik der Gegenwart‘ sehr nachhaltig zu vermitteln, wenn die Urheber, also die Komponistinnen und Komponisten, als Person und Mensch zu erleben sind. So entstand der Gedanke, ähnlich wie bei ‚klangpol‘, sich mit anderen zusammenzutun, um diese Erkenntnisse in Stadt und Region anzuwenden und jedes Jahr eine andere Person für möglichst viele Besuche nach Oldenburg einzuladen.“ Im Oldenburgischen Staatstheater wird es noch eine weitere Gelegenheit geben, Liisa Hirschs Musik live zu erleben, wie Hendrik Vestmann erklärt: „Besonders freue ich mich, dass wir beim 6. Kammerkonzert eine Uraufführung von ihr präsentieren können. Die Idee dazu kam erfreulicherweise von den Orchestermusikerinnen und -musikern, die in diesem Kammerkonzert Strawinskys ‚Geschichte vom Soldaten‘ aufführen werden. Für diese Anregung bin ich sehr dankbar gewesen.“ Einer der Musiker, die das 6. Kammerkonzert mitgestalten werden, ist Kontrabassist Jochen Zillessen, für den gerade das Entstehen einer Uraufführung ein ganz besonderes Erlebnis ist: „Wenn man Konzerte und Aufführungen der sogenannten klassischen Musik besucht, fällt auf, dass wir heutzutage vornehmlich alte oder historische Musik aus vergangener Zeit spielen, die schon vielfach aufgeführt und eventuell in den letzten Jahrzehnten auch verschiedentlich eingespielt wurde. Sowohl Musiker als auch Publikum haben häufig eine Vorstellung oder Erwartung von dem, was in einer Aufführung zu Gehör gebracht wird und wie die Musik auf sie wirken wird. Bei einer Uraufführung haben Musiker und Publikum den Reiz des ‚Unerhörten‘. Die neue Komposition entfaltet erstmalig ihre Wirkung in einer Konzertsituation. Alles ist neu. Dies erfährt jedes Werk nur ein einziges Mal, eben bei der
Uraufführung. Das macht für mich den besonderen Reiz einer Uraufführung aus.“ Wenngleich es noch zu früh ist, Konkretes über das entstehende Stück zu sagen, lässt die Komponistin doch schon Ideen durchscheinen, die die Uraufführung prägen werden. Dabei ist es insbesondere die Wechselwirkung der beiden im Konzert gespielten Werke, die sie für äußerst spannend hält: „Ich finde einen Kontext im Konzert … oder sogar einen Kontrast zwischen Strawinskys Musik und meiner eigenen sehr interessant und ich hoffe, ich werde eine gute Balance zwischen diesen beiden musikalischen Welten finden.“ Als äußerst bereichernd erlebt Liisa Hirsch in der Vorarbeit den Austausch mit Jochen Zillessen und anderen Musiker*innen, die ihr Werk spielen werden: „Was könnte für eine Komponistin faszinierender sein, als zusammen mit den Musiker*innen an neuem Material zu arbeiten und Musik mit dem Ensemble zusammen zu finden!“ Der Kontakt zu den Oldenburger Musikschaffenden ist es auch, was Liisa Hirsch in Bezug auf das Projekt ‚a.i.r.‘ besonders interessiert: „Da es mein erster Besuch in Oldenburg sein wird, möchte ich vor allem vertrauter mit den Ensembles werden, mit denen ich arbeiten werde … ihre Aufnahmen und vielleicht sogar deren Konzerte hören. Dann werde ich hoffentlich auch einen Weg zu anderen Ereignissen finden.“ Und da wird es viel zu entdecken geben, wie Eckart Beinke erklärt: „Oldenburg hat eine sehr reiche Musikszene in den Kirchen, mit freien Chören, eine rege Arbeit im Schlagzeug-Bereich, Solisten, Ensembles und anderes mehr, wie z. B. die Musiklehrer-Ausbildung. Oldenburg ist eine Musikstadt und diese Kräfte werden in dem oh ton-Projekt zusammengeführt. Wir sind sehr froh, dass sich das Oldenburgische Staatsorchester an diesem oh tonProjekt beteiligt, denn das wird auch andere motivieren.“ Annabelle Köhler
4. SINFONIEKONZERT
Liisa Hirsch: ,Mechanics of Flying‘ Sergei Prokofjew: Klavierkonzert Nr. 3 C-Dur op. 26 Peter Tschaikowsky: 5. Sinfonie e-Moll op. 64 Musikalische Leitung — Hendrik Vestmann Solist — Alexej Gorlatch Oldenburgisches Staatsorchester gefördert von klangpol – Netzwerk Neue Musik Nordwest 13. Januar 2019, 11.15 Uhr, Großes Haus 14. Januar 2019, 19:30 Uhr, Großes Haus
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JUNGESEITEN
BERUF: REGISSEURIN Franziska Stuhr im Gespräch mit Matthias Grön Wie bist du das erste Mal mit Schauspiel in Kontakt gekommen? Franziska Stuhr: Meine Eltern haben mich als Kind immer mit in die Oper genommen. Tatsächlich habe ich lange Zeit gar nicht gewusst, dass es überhaupt Sprechtheater gibt. Später haben wir vereinbart, dass ich gerne mit ihnen in die Oper gehe, wenn sie anschließend mit mir eine Schauspielinszenierung besuchen. Wann entstand der Wunsch, Regisseurin zu werden? FS: Wie wohl die meisten habe auch ich lange gedacht, Theater machen heißt „Theater spielen“ und wollte daher zunächst Schauspielerin werden. Als es dann zum Vorsprechen an Schauspielschulen ging, habe ich aber schnell festgestellt, dass mir das nicht gefällt. Glücklicherweise habe ich beim Hospitieren und Assistieren am Düsseldorfer Schauspielhaus schnell andere Theaterberufe kennen gelernt. Der Beruf des Regisseurs schien mir aber zunächst weißhaarigen Männern vorbehalten zu sein, die als besonders schwierig gelten, irgendwie extrem sind, zu Allüren neigen und täglich einen cholerischen Anfall bekommen. Und was brachte die Wende? FS: Ich hatte das große Glück, die Regisseurin Nora Schlocker – damals 30 Jahre alt – kennen zu lernen. Bei ihr konnte ich sehen, dass es unabhängig vom Alter vor allem wichtig ist, dass jemand etwas zu erzählen hat und mit Argumenten für eine künstlerische Idee wirbt, statt Machtspiele auf den Proben zu inszenieren. Das hat mich sehr beeindruckt. Sie war es auch, die mich darin bestärkte, Regie zu studieren.
Du hast dich mit dem Musiker Philipp Koelges getroffen. Welche Rolle spielt die Musik in dieser Inszenierung? FS: Wir haben nach einer Klangwelt gesucht, die die verschiedenen Orte oder Stimmungen der Geschichte repräsentiert und sie miteinander in Beziehung setzt. Mit welchen Instrumenten kann das am besten umgesetzt werden? Und was könnte live von den Schauspielern übernommen werden? Diese musikalischen Überlegungen helfen natürlich auch inszenatorisch weiter zu denken. Ein schöner Prozess. Mit dieser Spielzeit endet auch ein Lebensabschnitt für dich. FS: Ja, dann geht es in die „Freiheit“. Ich freue mich auf das Arbeiten an verschiedenen Orten. Darauf, neue Ensembles kennen zu lernen und mich immer wieder in neue Stoffe hinein zu fuchsen. Bei all dem Neuen sind bekannte Gesichter aber auch wichtig. Bühnenbildnerinnen und Musiker, mit denen ich gerne zusammenarbeite. Und ich freue mich auch darauf, wiederzukommen. Das Interview führte Matthias Grön
Franziska Stuhr wurde 1993 in Tübingen geboren. Nach ihrem Abitur mit Schwerpunkt Musik assistierte sie am Düsseldorfer Schauspielhaus und begann kurzzeitig ein Komparatistik-Studium an der FU Berlin, um dann ab 2014 am Mozarteum in Salzburg Regie zu studieren. Ein Auslandssemester führte sie 2016 nach Barcelona
Zurzeit bereitest du dich auf die Proben zum Stück ‚Die Mitte der Welt‘ vor. Was interessiert dich an der Romanvorlage von Andreas Steinhöfel? FS: Mir gefällt sehr, dass es eine Geschichte für alle ist. Die Hauptperson, Phil, wächst in einer spannenden Familienkonstellation auf. Eine Familie, die zudem in einer selbst gewählten Opposition zur Bevölkerung einer Kleinstadt steht. Es ist die Geschichte einer ersten Liebe. Interessanterweise wird dieses Thema unter vielen Aspekten betrachtet: Das erste Verliebtsein und die Unsicherheit, die damit einhergeht. Der erste Sex, Ehrlichkeit, Betrug. Die Liebe zur Mutter, die selber kaum bindungsfähig ist. Die Liebe zwischen Geschwistern und vieles mehr. 16
ans Institut del Teatre, wo sie zwei Inszenierungsprojekte auf Spanisch realisierte. Mit ihren Inszenierungen war sie zum Furore Festival Ludwigsburg (Bonjour Tristesse) und zum UWE-Festival an der Theaterakademie August Everding in München (Und jetzt: Die Welt!) eingeladen. Seit der Spielzeit 17/18 arbeitet Franziska Stuhr als Regieassistentin am Oldenburgischen Staatstheater. Dort entstand in der Spielzeit 18/19 das Solo-Stück ‚Scherbenpark‘ von Alina Bronsky. Zurzeit bereitet sie sich auf ihre Diplominszenierung ‚Die Mitte der Welt‘ nach dem Roman von Andreas Steinhöfel vor.
DIE MITTE DER WELT
nach dem Roman von Andreas Steinhöfel | Fassung von Matthias Grön | ab 13 Jahren Regie — Franziska Stuhr Premiere am 22. Februar 2019, 20.00 Uhr, Exerzierhalle
JUNGESEITEN
DAS 8. DEUTSCHE KINDER-THEATER-FEST IM STADTTHEATER IN MINDEN WIR WAREN DABEI: DER KINDERCLUB ‚SENI SEVIYORUM. NUR WORTE?‘ Eine Jury aus Fachexpert*innen und Kindern hat die Inszenierung ‚Seni Seviyorum. Nur Worte?’ neben fünf anderen Stücken für das 8. Deutsche Kinder-Theater-Fest vom 27. bis 30. September 2018 in Minden ausgewählt. Veranstalter des Festivals waren die Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) Spiel und Theater NRW e.V., die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Spiel und Theater sowie das Stadttheater Minden. Unter dem Festivalmotto „Spiel(t)Räume“ sind den Teilnehmer*innen und dem Publikum vielfältige spielerische und ästhetische Formen präsentiert worden. Dabei schauten sich die Gruppen gegenseitig zu, spielten und sprachen in den „Rückspielen“ über das Gesehene und Erlebte. Gleichzeitig wurden viele Möglichkeiten geschaffen, um sich kennen zu lernen und ins Gespräch zu kommen: bei der Eröffnungsaktion, beim gemeinsamen Essen und in den Workshops. Bitte sagt uns kurz, worum es in eurem Stück geht. In unserem Stück haben wir uns mit Fragen auseinandergesetzt, warum es überhaupt Sprache gibt und welche Wirkung Worte haben können. Dann tauchen wir in die Geschichte der großen Wörterfabrik ein, in der Menschen Wörter kaufen und schlucken müssen, um sie aussprechen zu können. Nur reiche Leute wie Oskar können es sich leisten viel zu sprechen. Paul fehlen die Wörter. Für Marie. Er hat sie furchtbar lieb. Wie seid ihr auf diese Idee gekommen? Die Idee war, zweisprachig (deutsch und türkisch) spielerisch zu proben. Deshalb haben wir im Vorfeld Kinder gesucht, die auch türkisch sprechen. Der Wunsch, zum Thema „Liebe“ ein Stück zu entwickeln, kam von den Kindern. Mit der Vorlage des Bilderbuches ‚Die große Wörterfabrik’ haben wir beide Themen – Liebe und das Spiel mit Sprache und Wörtern – gut miteinander verbinden können.
brachte. Für uns Spielleiterinnen bot das Theaterfestival Gelegenheit, die eigene theatrale Position zu hinterfragen und im Austausch mit anderen über Bedingungen und Inhalte zu diskutieren. Lea Schreiber Kinder-Theater-Treffen in Minden
Kinderclub ‚Seni Seviyorum. Nur Worte?‘
Interviewausschnitt aus der Festivalzeitschrift mit den Spieler*innen und der Spielleitung Für alle war die Reise ein großes Erlebnis und eine Bereicherung; vor allem auch für die Kinder, da sie erlebt haben, wie andere Gleichaltrige ihre eigenen Themen und Geschichten erzählen und erlebbar machen. Das Festival entwickelte eine spezielle Kraft, indem es die Teilnehmer*innen aus der Gruppe mit den anderen Spieler*innen und Festivalteilnehmenden zusammen17
BALLETTSEITEN
CHRONIK EINES AUFSTANDS — DIE URAUFFÜHRUNG VON ‚LE SACRE DU PRINTEMPS‘ Im Jahr 1913 erlebte die Welt der Kunst und Kultur einen Modernitätsschub. In der Musik- und Tanzgeschichte ist kein Ereignis bezeichnender für diesen als die Uraufführung von ‚Le Sacre du Printemps‘ am Pariser Théâtre des Champs-Élysées. Sie löste den wohl größten Theaterskandal des vergangenen Jahrhunderts aus, und kaum eine andere Tanzaufführung lebt von so vielen Legenden, Augenzeugenberichten und Beschreibungen wie dieses Ballett und seine Entstehungsgeschichte, die einige der größten Künstler des 20. Jahrhunderts vereinte. Ein Blick auf die Ereignisse: 06. Februar 1909 Impresario und Gründer der Ballets Russes Sergej Diaghilew hört Igor Strawinskys ‚Scherzo fantastique‘ und ‚Feu d’artifice‘ bei einem der Petersburger Sinfoniekonzerte und beauftragt ihn mit der Instrumentierung einiger Chopin-Stücke für seine Compagnie. Der Beginn einer der fruchtbarsten Beziehungen zwischen Komponist und Ballettcompagnie.
Strawinsky hämmerte, gelegentlich mit den Füßen stampfend, auf und nieder springend.“ 25. Januar 1913 Die Proben für ‚Le Sacre‘ finden während der Europa-Tournee der Ballets Russes statt, Choreograf Nijinksy schreibt an Strawinsky: „Lieber Igor, ich war seit unserer Abreise aus Wien fünf Mal in der Lage zu proben. Das ist nicht viel, wenn man bedenkt, wieviel noch vor
1910 Bereits während der Entstehungsphase des Balletts ‚Der Feuervogel‘ hatte Strawinsky eine Vision zu seinem „Frühlingsopfer“, der Grundlage für ‚Le Sacre du Printemps‘: „Ich habe von einem heidnischen Ritual geträumt, in dem sich eine auserwählte Opferjungfrau zu Tode tanzt“, so Igor Strawinsky, der schnell Unterstützung bei Nicolas Roerich, Russlands führendem Experten für Folklore und altertümliche Rituale, sucht: „Wer sonst könnte mir helfen, wer sonst kennt die Geheimnisse der engen Verbundenheit unserer Vorfahren mit der Erde?“ August 1911 Nach der Uraufführung von ‚Petruschka‘, dem zweiten „Russischen Ballett“ mit der Musik von Igor Strawinsky, erteilt Sergej Diaghilew dem Komponisten offiziell den Auftrag, ‚Le Sacre du Printemps‘ zu komponieren. April 1912 „Heute 4./17. XI 1912 Sonntag habe ich unter unerträglichen Zahnschmerzen die Musik des ‚Sacre‘ beendet. I. Strav. Clarens, Châtelard Hotel“ Mai 1912 Igor Strawinsky trifft den Dirigenten der Uraufführung Pierre Monteux und spielt ihm Teile von ‚Le Sacre du Printemps‘ am Klavier vor: „Er hatte gerade erst angefangen, da war ich schon sicher, dass er komplett wahnsinnig war. Ohne die Orchesterfarbe, die eine seiner größten Stärken ist, wurde die Rohheit des Rhythmus deutlich, die Primitivität. Die Wände wackelten, als 18
Fotografie von Charles Gerschel zur Uraufführung ‚Le Sacre du Printemps' in Originalkostümen von Nicolas Roerich
uns liegt. Aber mit der Last der vielen Arbeit und den ermüdenden Reisen von Stadt zu Stadt […] war mehr nicht realisierbar. Ich habe so viel wie möglich aus den Proben herausgeholt und wenn ich so weitermache, dann werde ich wahrscheinlich Zeit genug für alles haben ohne meine Gesundheit zu gefährden und gleichzeitig gut in meinen anderen Vorstellungen zu tanzen. […] Ich bin sehr froh, wie sich alles entwickelt hat und wenn wir die Arbeit so fortführen, Igor, wird das Ergebnis großartig werden. Ich weiß, wie ‚Le Sacre du Printemps‘ sein wird, wenn alles so wird, wie wir uns das vorstellen: neu und für das gewöhnliche Publikum eine aufrüttelnde und emotionale Erfahrung. Für einige werden sich neue Horizonte öffnen […]“
BALLETTSEITEN
Für die Tänzer*innen des Ensembles war diese Vision weit weniger spürbar als die ungewohnte Arbeitsweise an der Choreografie. So berichtet Anatole Bourman, Tänzer in den Ballets Russes und einer der wenigen Vertrauten Nijinskys in der Compagnie: „Nijinsky probte ‚Le Sacre du Printemps‘ wie ein unersättlicher Dämon, bis er ungefähr in die richtige Bahn kam. Sprünge waren nicht mehr richtig über den Fuß abgerollt und mit leichtem ‚plié‘, sondern auf flachem Fuß und mit gestrecktem Bein, um so jede Leichtigkeit auszuschließen […] – was uns fast umbrachte. […] Des Öfteren suchte ich ihn auf mit einem Kopf, heiß wie die Hölle und von Schmerz zerrissen; ich fuhr ihn an: ‚Vaslaw, du wirst jeden von uns verrückt machen mit diesen Sprüngen! Und dabei haben wir nur halb so viel auszuhalten wie du! Ändere sie ab, bevor du uns ins Irrenhaus oder ins Grab gebracht hast!‘ Mein Erfolg war immer derselbe. Nijinsky bekam einen roten Kopf, und seine Augen schossen feurige Blitze auf mich: ‚Diese Schritte sind meine Erfindung, sie werden so bleiben. Geh‘ und tanze sie und quäl mich nicht mit deinen Klagen.‘“ Ende Januar 1913 Strawinsky schließt sich den Ballets Russes in London an und nimmt an den Proben teil. Nijinsky zeigt sich frustriert, da er der Meinung ist, die Compagnie verliert zu viel Zeit durch Strawinskys Vorträge über Musiktheorie. Die Tänzerin Marie Rambert beschreibt, wie während einer Probe in Budapest der Komponist das Spielen übernahm: „[Und dann] schubste Strawinsky den dicken deutschen Pianisten zur Seite, den Diaghilew ‚Koloss‘ nannte, und spielte selbst weiter, doppelt so schnell, wie wir es bis dahin kannten und tanzen konnten. Er stampfte mit den Füßen und hieb mit der Faust in die Tasten und sang und schrie, um uns die Rhythmen und die Farben des Orchesters klarzumachen.“ 28. Mai 1913 Der Abend der Generalprobe verläuft ruhig. Die eingeladenen Künstler*innen und Kritiker*innen verhalten sich unauffällig. „Mit Diaghilew, Nijinsky, Strawinsky, Ravel, Werth, Mme Edwards, Gide, Bakst usw. zu Larue, wo allgemein die Ansicht herrschte, dass es morgen bei der Premiere einen Skandal geben werde“, schreibt jedoch Mäzen, Kunstsammler und Diplomat Harry Graf Kessler in sein Tagebuch. Einen Tag später ergänzt er: „Eine ganz neue Choreografie und Musik. Eine durchaus neue Vision, etwas Niegesehenes, Packendes, Überzeugendes ist plötzlich da; eine neue Art von Wildheit in Unkunst und zugleich in Kunst: alle Form verwüstet, neue plötzlich aus dem Chaos auftauchend.“
29. Mai 1913 Im Premierenpublikum fanden sich neben der feinen Pariser Gesellschaft auch Coco Chanel, Marcel Duchamp, Rainer Maria Rilke, Pablo Picasso und Marcel Proust. Schriftsteller Jean Cocteau schreibt: „Der Saal spielte die Rolle, die er zu spielen hatte; er revoltierte sofort. Man lachte, höhnte, pfiff, blökte […] Der Tumult
‚The Fight of Spring‘: Karikatur der Daily Mail UK anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Uraufführung
artete in ein Handgemenge aus.“ Augenzeuge Carl van Vechten erzählt: „Der junge Mann, der hinter mir in der Loge saß, stand während des Balletts auf, um besser sehen zu können. Die starke Erregung, die ihn gefangen hielt, äußerte sich darin, dass er mit seinen Fäusten rhythmisch auf meinen Kopf einhämmerte. Ich war selbst so außer mir, dass ich die Faustschläge eine Zeitlang gar nicht bemerkte.“ Igor Strawinsky, der nach dem Gelächter und spöttischen Zurufen, die direkt nach dem Vorspiel begannen, den Zuschauerraum verließ, traf hinter der Bühne auf Nijinsky, der Kommandos brüllte und den Rhythmus hämmerte – ras, dwa, tri –, weil die Tänzer*innen die Musik vor lauter Geschrei nicht mehr hören konnten. Die Polizei meldete 27 Verletzte unter den Zuschauer*innen. 09. Juni 1913 Der fieberkranke Igor Strawinsky schenkt seinem Freund Claude Debussy den Klavierauszug mit der Widmung: „Meinem sehr lieben Freund zur Erinnerung an die Schlacht vom 29. Mai 1913.“ Die Chronik wurde erstellt von Nastasja Fischer
AM ENDE UNSER SCHATTEN | LE SACRE DU PRINTEMPS (Uraufführungen) Choreografien von Luca Veggetti und Antoine Jully Musiken von Arnold Schönberg und Igor Strawinsky Musikalische Leitung: Vito Cristofaro BallettCompagnie Oldenburg, Oldenburgisches Staatsorchester Premiere am 13. April 2019, 19.30 Uhr, Großes Haus
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JUNGESEITEN
ALL OF ME Ein Rechercheprojekt des Erwachsenenclubs über Frauen- und Männerbilder, Rollenzuschreibungen und Selbstinszenierungen
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n dieser Spielzeit hat der Erwachsenenclub Besonde- Hingegen wünscht sich eine Frau, „für einen längeren res vor. Getrennt in zwei Gruppen unter der Leitung Zeitraum [ein Mann zu sein], um herausfinden zu könvon Katharina Birch und Hanna Puka arbeiten derzeit 28 nen, wie ein Mann tickt. … Beeinflusst mögliche physische Überlegenheit das VerErwachsene im Alter zwi„Ich will ein Mensch sein, der halten?“ Und stimmt es, „dass schen 20 und 70 Jahren. Kurz Menschen wahrnimmt, und der [ein Mann] sich immerfort vor der Premiere treffen sie als Mensch von anderen Menbeweisen muss? Wenn ja, waaufeinander, um schlussendrum?“ Und am liebsten würde lich gemeinsam auf der Bühne schen wahrgenommen wird.“ zu stehen – 14 Frauen und 14 Teilnehmerin sie sich gerne einen „Typus“ Mann aussuchen, wenn sie das Männer. Sie erforschen ihre Weiblichkeit, ihre Männlichkeit und stellen sich die Fra- Geschlecht wechseln könnte. „Ob armes Würstchen, Bege, wie sie sich über ihr Geschlecht identifizieren und wie amter, erfolgreicher Manager oder Hausmann“, das mache sehr sie sich gesellschaftlichen Rollenzuschreibungen un- schließlich einen Unterschied. terwerfen. Über Frauen- und Männerbilder, Rollenzuschreibungen Die heutige Gesellschaft ist eine sehr diverse und komple- und Selbstinszenierungen nachzudenken ist ein heikles, xe, es gibt tausende von Möglichkeiten, sein Leben zu füh- vor allem persönliches Thema. Am Anfang des Prozesses ren: als Frau/Frau, Frau/Mann, als Mann/Mann, Mann/ waren sich alle einig: Klischees sollen auf der Bühne nicht Frau oder als weder das eine noch das andere. Mann liebt verhandelt werden. Ob Mann, Frau, Trans, Inter oder was Frau. Mann liebt Mann. Frau liebt Frau. Mann/Frau liebt ganz anderes – für die eigene Identität mache das Gebeides. Alles ist vorstellbar und nichts scheint unmöglich schlecht schließlich nur einen Bruchteil dessen aus, was einen als Menschen kennzeichnet. Aber je länger sich der zu sein. Erwachsenenclub diesem Thema stellt, desto schwieriIn der Regel denken die meisten Menschen nicht viel ger ist es, die eigenen Vorurteile und Rollenbilder über über ihr Geschlecht nach. Gesellschaftlich dominiert der Geschlechterfragen zu akzeptieren [Und ja, wir haben sie alle!] und selbst in Frage Gedanke, dass das Baby entwe„Weder Gebärmutter noch Gene, zu stellen. Der künstlerische der als Junge oder als Mädchen weder Neuronen noch Hormone Prozess bleibt immer eine auf die Welt kommt. Dass auch sind nachhaltig und hinreichend persönliche AuseinandersetKinder auf die Welt kommen, zung mit sich selbst: „Es ist die keinem Geschlecht oder geeignet, die Menschheit im auch beiden Geschlechtern zuSinne von ‚Frau‘ und ‚Mann‘ klar ein Wahrheit bringender Moment, zu hinterfragen und die geordnet werden können, bleibt zu unterscheiden.“ Wirklichkeit zu erkennen“, nicht selten im Verborgenen. Paula-Irene Villa so ein Teilnehmer. Darüber wird eben nicht gesprochen. Lieber teilen wir die Gesellschaft in zwei KateHanna Puka gorien auf, und jeder Mensch muss im Laufe seines Lebens lernen, damit umzugehen. Dem einen gelingt es leichter, die andere ringt zeitlebens mit ihrer Identität. Unter den befragten Teilnehmenden sagt beispielsweise ein Mann: Erwachsenenclub des Oldenburgischen Staatstheaters „Ich bin männlich und das war schon immer ganz selbstverALL OF ME ständlich vorgegeben für mich. Ich bin mir dessen bewusst Ein modernes Märchen und gehe z. B. aufs Männerklo!“ Ein anderer Mann wiederRegie/Leitung — Katharina Birch und Hanna Puka um stellt sich oft vor „wie es wäre, eine Frau zu sein. Ich habe Premiere am 02. März 2019, 20.00 Uhr, Exerzierhalle es mir in vielen Situationen teilweise auch gewünscht.“ 20
JUNGESEITEN
2081 — SCHULE.SPIEL.THEATER. Ausgehend von George Orwells Roman ‚1984‘ stellen sich 45 Schüler*innen die Frage, wie die Welt im Jahre 2081 wohl aussehen könnte. Hanna Puka, Lea Schreiber und Dario Köster (Theaterpädagogik Oldenburgisches Staatstheater) begleiten jeweils eine Schulklasse und erarbeiten mit ihr zusammen eine Werkschau. Die Proben finden wöchentlich im Probenzentrum statt und erstrecken sich über einen Zeitraum von vier Monaten.
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s geht um Macht, Manipulation, Kontrolle und Unterdrückung, aber auch um das Aufbrechen einer Dystopie, in der es sich nicht zu leben lohnt. Wie sieht eine solche Dystopie aus? Wie verändert man eine durch Macht kontrollierte Welt zum Positiven? Was für ein Leben wünschen sich die Schüler*innen für ihre eigene Zukunft? Das sind die Blickwinkel, unter denen das Projekt betrachtet werden soll. Das Schulprojekt findet in enger Zusammenarbeit mit den Lehrer*innen der jeweiligen Schulen statt. Um einen Einblick in die Projektarbeit zu erhalten, haben wir ein Kurzinterview mit zwei Lehrer*innen der Helene-Lange-IGS geführt. Warum denkt ihr, dass es wichtig sein könnte mit Schüler*innen eine mögliche Dystopie zu erarbeiten? Nicole Rademacher: Das Thema ist ziemlich aktuell, und ich glaube, dass es auch etwas ist, worüber sich Jugendliche viele Gedanken machen. Wie sieht die Welt in der Zukunft aus? Was sind mögliche Gefahren? Wo finde ich mich da wieder? Die Schülerinnen und Schüler können ihre eigenen Ideen einbringen. Das Gute ist, dass hier nicht gewertet wird, was sie sagen. Es ist schließlich nicht so, dass wir am Ende einen Aufsatz darüber schreiben. Eike Schaumburg-Roll: Im Spiel können die Schülerinnen und Schüler ihre Innenwelt kreativ ausdrücken. Sie können im Schutz einer Rolle, im Schutz einer fiktiven Situation eine Sache andenken, weiterdenken, darstellen, die sie so im normalen Alltag nicht ohne weiteres ausleben können. Sich körperlich und spielerisch auszudrücken und zu einem Thema zu arbeiten, kommt vielen Schülerinnen und Schülern wahnsinnig entgegen. Nehmt ihr eure Schüler*innen anders wahr als in der Schule? ESR: Das Wort „Noten“ habe ich schon ewig nicht mehr gehört. Ich glaube, den Schülerinnen und Schülern ist gar nicht mal bewusst, dass sie im Grunde immer noch im Unterricht sind. Sie finden es aufregend und inspirierend auf einer Probebühne vom Staatstheater zu spielen. Zum Teil sind sie auch engagierter, weil sie wissen,
dass es zu einer Aufführung am Staatstheater kommen wird. Im Unterricht müssen sie sitzen, sich zu Wort melden, schreiben, aber hier müssen sie agieren, das ist ein Unterschied.
Schüler*innen der IGS Helene-Lange-Schule
Was war für euch ein schöner Probenmoment? ESR: Ein wirklich schönes Bild war es, zu sehen, wie eine Förderschülerin und zwei weitere Schüler die Gruppe angeleitet haben. Das ist im Grunde das Idealbild, das wir haben, dass alle sich gegenseitig unterstützen, und das war genau dieser Moment. Auch im Unterricht sieht man so etwas in einigen Fällen. Ich glaube, dass solche positiven Erfahrungen auch einen positiven Einfluss auf den Unterricht nehmen und die Schülerinnen und Schüler so lernen, sensibler miteinander umzugehen. Dario Köster
Schule.Spiel.Theater. Schulprojekt des Oldenburgischen Staatstheaters
2081 - SCHULE.SPIEL.THEATER.
Eine szenische Auseinandersetzung mit Dystopien, ausgehend von George Orwells Roman ‚1984‘ Leitung/Regie/Bühnenbild — Hanna Puka, Lea Schreiber, Dario Köster Premiere am 13. Januar 2019, 11.00 Uhr, Exerzierhalle
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O. - EINE STADT SUCHT EIN DRAMA — AUSWERTUNG EINES EXPERIMENTS ‚O. – Eine Stadt sucht ein Drama‘ war der Titel eines Experiments. Hier stellte das Oldenburgische Staatstheater zwei Monate lang vier moderne Theaterstücke vor, über die Aufführung eines dieser Stücke sollte schlussendlich im Rahmen einer „Publikumskonferenz“ abgestimmt werden. Experimente können gelingen, Experimente können scheitern, Experimente können Ergebnisse haben, die man so nicht erwartet hat. In allen drei Fällen sind sie aber lehrreich. Die Versuchsanordnung Vom 29. September bis zum 1. Dezember 2018 wurden in vier aufeinanderfolgenden Lesungen Stücke jüngeren Datums präsentiert. Mit dabei waren die Texte ‚Über meine Leiche‘ von Stefan Hornbach, ‚Eine Frau‘ von Tracy Letts, ‚Die lächerliche Finsternis‘ von Wolfram Lotz und ‚Träum weiter‘ von Nesrin Şamdereli. Die Stücke wurden im Vorfeld in der Dramaturgie der Sparte Schauspiel kuratiert und dann für szenische Lesungen zu diesen vier Terminen eingerichtet. Die Social-Media-Kanäle des Theaters veröffentlichten Videoaufzeichnungen, in denen die Texte von Mitgliedern des Schauspiel-Ensembles gelesen wurden, gleichzeitig auch Kurzbeschreibungen der Stücke, Kommentare verschiedener Ensemblemitglieder, Erklärungen in Gebärdensprache und Portraits der Autor*innen. Zusätzlich begleiteten uns dabei Rundfunk und Zeitung mit entsprechenden Beiträgen.
Rundfunk und Zeitungen war die Resonanz während der Präsentationsphase verhältnismäßig gering. Die Zuschauerzahlen während der Lesungen überschritten nie ein paar Dutzend, und die hierbei erstellten Mitschnitte für das Internet kamen nicht über Klickzahlen im zweistelligen Bereich hinaus. Im Vergleich dazu konnten Stücktrailer – also die Kurzpräsentation regulärer Theaterproduktionen des Staatstheaters – im gleichen Zeitraum mehrere tausend Menschen erreichen. Auch der Zuspruch bei der abschließenden Publikumskonferenz blieb hinter den Erwartungen der Theatermacher*innen zurück. Zudem gab es häufig Verständnisfragen zum Prozedere des Projekts, die aus der Ungläubigkeit der Oldenburger Bürger*innen darüber resultierten, dass ihre Entscheidung tatsächlich Auswirkungen auf den Theaterspielplan hat. DAS ERGEBNIS
Der Vorgang der Abstimmung erfolgte dann auf doppeltem Wege: Zum einen gab es die Möglichkeit, seine Stimme vorab über die Homepage des Oldenburgischen Staatstheaters abzugeben. Ein programmierter Mechanismus verhinderte dabei, dass es zu Missbrauch durch mehrfache Stimmabgabe kommen konnte. Zum anderen folgte auf die achtwöchige „Präsentationsphase“ die Abstimmung auf der Publikumskonferenz, bei welcher die Stücke noch einmal zusammengefasst durch Vertreter*innen der Stadtgesellschaft präsentiert und schlussendlich zur Wahl gestellt wurden. Bei dieser Abstimmung zählte jede Stimme doppelt. Damit sollte verhindert werden, dass das Votum der Internetstimmen, welches letztendlich eine weltweite Umfrage ermöglicht, das Ergebnis aus der Stadt selbst überwiegt. Die Resultate beider Abstimmungen wurden dann zu einem Schlussergebnis zusammengefasst.
Der Verlauf Trotz aufwendiger medialer Begleitung wie Stadtplakatierung, Print- und Onlinewerbung oder Hinweise via 22
Bei beiden Abstimmungsmöglichkeiten, das heißt sowohl im Internet als auch vor Ort, wurden insgesamt 371 Stimmen gezählt, wobei das Gros von 297 Stimmen hiervon via Internet abgegeben wurde. Im Einzelnen stimmten für: ‚Träum weiter‘ von Nesrin Şamdereli: 95 Stimmen (25,6%) ‚Die lächerliche Finsternis‘: 57 Stimmen (15,4%) ‚Über meine Leiche‘: 168 Stimmen (45,3%) ‚Eine Frau‘: 51 Stimmen (13,7%)
Die Auswertung Obwohl wir uns als Theatermacher*innen für das Projekt eine größere Beteiligung aus dem Publikum gewünscht hätten, waren die Gespräche und Diskussionen, die wir während der ganzen 12 Wochen geführt haben, äußerst lehrreich für unsere Arbeit. Zunächst wäre zu konstatieren, dass das Publikum Texte vor allem bezüglich ihres Inhalts bewertete, also nach der Frage, welches Thema wird hier verhandelt und sind die Figuren überzeugend angelegt? Die wenigsten Wortmeldungen während der Lesungen bezogen sich auf Form der Darstellung bzw. auf die Möglichkeiten einer Umsetzung für die Bühne. Das
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Abschließende Diskussionsrunde bei der Publikumskonferenz v.l.n.r.: Jutta Moster-Hoos, Sascha Schröder, Thiemo Eddiks, Stefanie Ritterhoff
heißt, das Stück, wie es in der Lesefassung vorliegt, wurde von den meisten Menschen im Publikum als fertiges Kunstwerk wahrgenommen. Die Vorgänge der Interpretation und der praktischen Inszenierung auf der Bühne, die im Grunde genommen Kern jeder Theaterarbeit sind, werden nicht als Teil eines künstlerischen Prozesses ausgemacht. So gab es auch eine starke Differenz bezüglich der „Fachmeinungen“ zu den einzelnen Stücken und der Beurteilung durch das Publikum. Wolfram Lotz’ ‚Die lächerliche Finsternis‘ beispielsweise wurde seit seiner Uraufführung im September 2013 an dutzenden Theatern – also letztendlich von professionellen Dramaturg*innen – auf den Spielplan gesetzt. Beim Publikum in Oldenburg fiel das Stück allerdings durch. Zu kompliziert waren vielleicht die Diskussionen um die Möglichkeiten, Wahrheit und Authentizität auf der Bühne zu verkörpern, die das Stück in seinen Grundlagen führen möchte. Auch wurden zahlreiche außertextliche Bezüge auf andere Kunstwerke wie Francis Ford Coppolas Film ‚Apocalypse Now‘ oder Joseph Conrads Buch ‚Herz der Finsternis‘, die vom Text quasi vorausgesetzt werden, nicht ausgemacht. Autor und Dramaturg*innen scheinen sich hier in einem völlig anderen Diskurs zu befinden als das Publikum selbst. Goutiert wurden von letzterem stattdessen klarer zu interpretierende Texte wie Nesrin Şamderelis ‚Träum weiter‘ oder Stefan Hornbachs ‚Über meine Leiche‘, hier bestand offenkundig ein geistiger Gewinn bei der weniger vieldeutigen Interpretation der Zeichen und Symbole, die in diesen Texten genutzt werden. Auch gab es womöglich eine direktere Bezugnahme auf eigene Erfahrungen.
Ausblick Für das Gewinnerstück ‚Über meine Leiche‘ von Stefan Hornbach wird nun in den kommenden Wochen und Monaten ein/e Regisseur*in gesucht, der Text wird für eine Aufführung vorbereitet, Schauspieler*innen werden besetzt, Menschen für die Arbeit an Kostüm und Bühnenbild werden bestellt, und schlussendlich steht nach einer mehrwöchigen intensiven Probenphase eine Premiere des Stückes im April 2020 an. Das Experiment Publikumsabstimmung wird es in absehbarer Zeit nicht noch einmal geben. Dafür war das Interesse des Publikums, sich in derlei Prozesse einzumischen, zu gering oder anders gesagt, das Vertrauen in die Fähigkeiten der Expert*innen vor Ort, über derlei Dinge zu entscheiden, groß genug. Doch sollte die Suche nach weiteren Modellen, durch die Menschen vor Ort über Kunst und Theater in Austausch treten können, nicht abreißen. Jonas Hennicke
INHALT DES GEWINNERSTÜCKES ‚ÜBER MEINE LEICHE‘ Friedrich sieht aus wie ein Schlumpf. Sagt zumindest seine Mutter. Und die muss es ja wissen. Schließlich sieht sie ihn ständig, seitdem Friedrich wieder bei ihr eingezogen ist. Das Geschwulst sieht aus wie eine Dattel oder Pampelmuse oder Seegurke. Zumindest stellt Friedrich sich das so vor. Und erstaunlicherweise hat er eventuell keinen Tumor, sondern einen Humor. Zumindest glaubt Friedrich, dass der Arzt das gesagt haben könnte. Und das ist wirklich zum Totlachen. Auch wenn man bedenkt, dass ihn ausgerechnet jetzt seine Jugendliebe Jana mit so aggressiver Aufmerksamkeit überschüttet, dass es zum ersten Mal im Leben schön wäre, sie einfach irgendwie loszuwerden.
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OPERNSEITEN
24 Szene aus ‚Ein großer Aufbruch‘ von Magnus Vattrodt
SCHAUSPIELSEITEN
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NIEDERDEUTSCHESEITEN
DIE KÖNNEN AUCH ANDERS! — FRAUENFIGUREN IM NIEDERDEUTSCHEN SCHAUSPIEL „Wenn man im Mittelpunkt einer Party sein will, darf man nicht hingehen“, sagte einst Audrey Hepburn. Diese Losung kann man getrost den zentralen Frauenfiguren dreier zukünftiger Produktionen des Niederdeutschen Schauspiels zuordnen. Von der Gesellschaft vergessen, von Schicksalsschlägen gebeutelt oder in extremer Ausnahmesituation entwickeln sie gerade dadurch ihre Stärke, indem sie bekannte Denk- und Verhaltensweisen über Bord werfen. Und somit alles andere tun als das, was man von ihnen erwarten würde.
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e letzte Smökerin‘ beispielsweise: Es beginnt mit einer Einladung zu einem netten Essen unter Freundinnen. Die einzige Raucherin in der Runde – gespielt von Petra Bohlen – wird mit ihrem qualmenden „Nachtisch“ auf den Balkon verbannt, nur um nach einer Zigarettenlänge festzustellen, dass die Balkontür verschlossen und die Gesellschaft ohne sie zu einer Kneipentour aufgebrochen ist. Ausgesperrt mit 28 Zigaretten und einer Kiste Bier sieht sie sich gezwungen, die kühle Nacht unter freiem Himmel zu verbringen. Wer nun meint, dass sie um Hilfe schreit und auf Rettung hofft – weit gefehlt. „De letzte Smökerin up de Eer“ – die letzte Raucherin auf Erden – entdeckt ihren Abenteuergeist und nimmt ihr Publikum mit auf ihren tragikomischen Survival-Trip. Eingehüllt in den blauen Dunst lässt sie Erinnerungen wach werden, erzählt amüsante, berührende und skurrile Geschichten und macht damit aus der Not eine Tugend. Sie nutzt die nächtliche Gefangenschaft auf dem Balkon als eine einmalige Gelegenheit, um mehr über sich selbst zu erfahren. Völlig überraschend kam für die Darstellerin Petra Bohlen, Leiterin der August-Hinrichs-Bühne, die Möglichkeit, kurzfristig einzuspringen und die Rolle zu übernehmen. Gesagt – getan! „Diese Rolle ist eine tolle Chance“, sagt Petra Bohlen, „nach vielen Jahren einmal wieder ein Solo-Stück spielen zu können.“ Und aus der Stückvorlage von Mark Kuntz, die im Original ‚Der letzte Raucher’ heißt, wurde kurzerhand ‚De letzte Smökerin’. Jetzt erst mal eine rauchen? „Nee, ich rauche ja schon lange nicht mehr“, kommentiert Petra Bohlen, „mein Kopf dafür beim Proben und Textlernen umso mehr! Das Stück ist so spannend, weil es um viel mehr geht als nur um das Rauchen. Es geht um den Umgang mit Genuss und Lebensfreude in unserer Gesellschaft.“ 26
Für die Rentnerin Paulette aus dem gleichnamigen Stück hingegen sind die erhofften Freuden ihres Lebensabends in weite Ferne gerückt. Sie erleidet bittere Verluste. Zuerst geht ihr gut geführtes Restaurant in die Pleite, dann stirbt ihr Mann, der die Talfahrt ins gesellschaftliche Abseits genauso wenig verkraftet hat wie sie selbst. Paulette ist gezwungen, mit einer schmalen Rente auszukommen und auf dem Markt nach weggeworfenem Gemüse zu suchen. Verantwortlich für ihre Misere macht sie die „Utländer“, die ihr Restaurant gekauft haben, und diejenigen, die sie in den Straßen mit Drogen dealen sieht. Paulette ist verbittert. Sie empfindet es als eine Ungerechtigkeit, sich nach einem arbeitsreichen Leben in der Altersarmut wiederzufinden. Sie will raus aus ihrer unwürdigen Situation! Als sich durch Zufall die Gelegenheit bietet, zögert Paulette nicht lange und steigt selbst in den Handel mit Haschisch ein. Zu ihrer eigenen Überraschung entwickelt sie sich schnell zum Geheimtipp in ihrem Viertel – zur „Drogenoma“ –, und das, obwohl sie selbst gar keine Erfahrung mit dem Haschischkonsum hat. Niemand ahnt etwas von ihren illegalen Geschäftserfolgen – nicht einmal ihr Schwiegersohn, der als Polizist bei der Drogenfahndung arbeitet. Paulette scheut sich nicht, die Vorzüge zu nutzen, die ihr daraus entstehen, dass sie als ältere Frau von allen unterschätzt wird. Sie genießt ihren neuen Lebensabschnitt und entwickelt eine Bindung zu ihrem Enkelkind, das zuvor nur wenig Freude mit der hartherzigen Oma hatte. Alles könnte wunderbar sein, wenn Paulette sich nur nicht mit den falschen Leuten eingelassen hätte. Als ihr Drogenboss sie unter Druck setzt und ihr Enkelkind entführt, droht die Situation zu entgleisen. Doch wieder hat niemand mit Paulette gerechnet …
NIEDERDEUTSCHESEITEN
‚Paulette‘, basierend auf dem französischen Film unter der Regie von Jérôme Enrico, erzählt von der prekären Lage vieler älterer Menschen in Frankreich. Das Thema Altersarmut gewinnt leider auch in Deutschland immer mehr an Aktualität. Momentan berichten die Medien über Demonstrationen in Frankreich und Deutschland gegen zu geringe Löhne, überhöhte Mieten und den Verlust an Kaufkraft und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Die Handlung zeichnet aber auch das Bild einer starken Frau, die ihr Leben entgegen aller Konventionen in die Hand nimmt – mit viel Witz und Verve, mit Mut und Tatkraft. Und sie zeigt, dass es nie zu spät ist, Neues zu lernen. Paulette überwindet ihre Vorurteile gegenüber Menschen aus anderen Kulturen. Und sie lernt, dem Leben und den Menschen mit offenem Herzen zu begegnen. Was noch gesagt werden muss? Mit Rita Martens in der Hauptrolle erfährt Paulette eine Besetzung, die genauso stark ist wie dieses Stück. Rita Martens, langjährige Spielerin der AHB, ist begeistert von den Proben: „Ich kann mich in den Charakter von Paulette vollkommen einfühlen. Diese Rolle bildet den Höhepunkt aller meiner bisherigen Bühnendarstellungen." In dem berühmten Krimi-Klassiker ‚Bi Anroop – Moord‘ (‚Bei Anruf – Mord’) bezeichnet sich die weibliche Hauptrolle Sheila selbst als „bloßes Anhängsel“ ihres erfolgreichen Mannes Tony, der aber über Nacht einen Gesinnungswandel erfährt, sich ganz von seinem Egoismus verabschiedet und sich ihrer Partnerschaft zuwendet. Hier könnte und sollte Sheila stutzig werden. Wenn nicht die 1950er-Jahre noch vornehmlich von Frauenfiguren geprägt gewesen wären, die ein wenig naiv daherkommen. Tony zählt also ganz unbekümmert auf ihre Unbedarftheit, als er kaltblütig „den perfekten Mord“ an seiner Frau plant. Genau hier liegt sein Irrtum, denn das Opfer Sheila spielt im entscheidenden Moment nicht mit. Sie weiß sich zu wehren und tötet dabei den Auftragsmörder. Tonys Kalkül geht nicht auf. Ob der Autor Frederick Knott die Absicht hatte, mit Sheila eine höchst unterschätze Frauenfigur zu schaffen? Wohl kaum. Zwar gibt Sheila der Handlung eine verblüffende Wendung und könnte nun beginnen, ihren Mann zu durchschauen. Doch der Autor lässt sie in ihrer Naivität in die nächste Falle tappen. Tony legt alle Indizien so zurecht, dass Sheila als Mörderin dasteht und ihr das Todesurteil droht. Auch Alfred Hitchcock hat in seiner späteren Verfilmung von 1954 nur wenige Facetten dieser alles entscheidenden Rolle ausgelotet. Tatsächlich jedoch hängt die gesamte Konstruktion dieses Krimis davon ab,
Rita Martens (Paulette), Alina Müller (Sheila in ‚Bi Anroop Moord'), Petra Bohlen (De letzte Smökerin)
dass die Hauptfigur ihr eigenes Rollenklischee nicht bedient. Die Schauspielerin Alina Müller freut sich darauf, die Rolle der Sheila zu verkörpern. Nach einigen Jahren im Engagement in Wilhelmshaven und Heidelberg studiert sie derzeit an der Universität Oldenburg auf Lehramt für die Grundschule und hat sich dabei auch für die niederdeutsche Sprache als Unterrichtsfach entschieden: „Schauspielen und Plattdüütsch snacken – das ist für mich momentan eine perfekte Kombination. Ich bin sehr gespannt darauf, London, die 50er-Jahre und Niederdeutsch in der Rolle der Sheila zu vereinen und freue mich insbesondere auf die sprachliche Herausforderung, die mich meiner Wahlheimat, dem Norden, noch etwas näher bringt.“ Dorothee Hollender
DE LETZTE SMÖKERIN
von Mark Kuntz für die Bühne bearbeitet von Kai-Uwe Holsten Niederdeutsch von Kerstin Stölting Regie — Marc Becker Premiere am 18. Januar 2019, 20.00 Uhr, Bar in der Exerzierhalle
PAULETTE
von Jérôme Enrico, Blanca Ohlsen, Laurie Aubanel, Cyril Rambour für die Bühne bearbeitet von Anna Bechstein Niederdeutsch von Cornelia Ehlers und Christiane Ehlers Regie — Anja Panse Premiere am 10. Februar 2019, 18.00 Uhr, Kleines Haus
BI ANROOP — MOORD
von Frederick Knott Niederdeutsch von Cornelia Ehlers und Christiane Ehlers Regie — Alexander Marusch Premiere am 24. März 2019, 18.00 Uhr, Kleines Haus
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OPERNSEITEN
BRUNDIBÁR — EINE BRÜCKE INS HIER UND HEUTE Aninka und Pepiček versuchen mit Straßengesang Geld für ihre kranke Mutter zu sammeln, aber der gemeine Leierkastenmann Brundibár hindert sie daran. Mit Hilfe ihrer (tierischen) Freunde gelingt es dem Geschwisterpaar jedoch, Brundibár zu überlisten …
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ls Beitrag für einen Wettbewerb schrieb der tsche- mit den besonderen historischen Umständen der Entstechoslowakische Komponist Hans Krása 1938 die hungszeit der Oper und ihrer Rezeptionsgeschichte. Aus Kinderoper ‚Brundibár‘. Drei Jahre später wurde das dieser Auseinandersetzung entstand ein szenischer ProStück als Geburtstagsgeschenk für Rudolf Freudenfeld, log, der in den Aufführungen Krásas Werk vorangestellt den Direktor des jüdischen Waisenhauses Hagibor in wird. Darin wird in Kombination mit Musik aus Wilfried Prag, uraufgeführt – allerdings in aller Heimlichkeit, denn Hillers Jugendchorzyklus ‚Theresienstädter Tagebuch‘ Juden und Jüdinnen war zu diesem Zeitpunkt bereits nicht nur die Geschichte von ‚Brundibár‘ aufgearbeitet, die Teilnahme am öffentlichen KulKlangHelden des Oldenburgischen Staatstheaters bei der Probe zu ‚Brundibar‘ turleben verboten. Kurz nach dieser im Verborgenen stattfindenden Premiere wurde Hans Krása ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Rudolf Freudenfeld, dem einige Monate später das gleiche Schicksal widerfuhr, schmuggelte den Klavierauszug von ‚Brundibár‘ ins Ghetto, wo Krása die Oper entsprechend der in Theresienstadt verfügbaren Musiker*innen instrumentierte. Am 23. September 1943 wurde ‚Brundibár‘ in der Magdeburger Kaserne des Ghettos erneut aufgeführt und im folgenden Jahr ca. 55 Mal gespielt – bis im Herbst 1944 die meisten der internierten Künstler*innen und Musiker*innen nach Auschwitz gebracht wurden. Auch wenn dort ein sondern auch eine Brücke von der Vergangenheit ins Hier großer Teil der mitwirkenden Kinder sowie Hans Krása und Heute geschlagen, und die zentralen und zeitlosen selbst den Tod fanden, wurde der Finalchor in ‚Brundibár‘ Fragen, die die Oper aufwirft, werden thematisiert: Was „Ihr müsst auf Freundschaft bau’n, den Weg gemeinsam bedeutet es, fremd zu sein? Was macht mir Angst? Was geh’n“ zur heimlichen Hymne Theresienstadts und ge- ist für mich Gut und Böse? Was bedeuten Hoffnung, Glück und Freundschaft? mahnt bis heute an Menschlichkeit und Solidarität. Christina Schmidl Für das Oldenburgische Staatstheater erarbeiten die Mitglieder des Kinder- und Jugendchors KlangHelden, ihr Musikalischer Leiter Thomas Honickel und RegisBRUNDIBÁR seur Jens Kerbel, der in Oldenburg bereits die Familien-, Jugendoper in zwei Akten von Hans Krása Kinder- und Jugendtheaterproduktionen ‚Pinocchios Prolog mit dem Liederzyklus ‚Theresienstädter Tagebuch' von Wilfried Hiller (Texte von Alexander Jensen nach Dokumenten Abenteuer‘, ‚The Piper of Hamelin‘ und ‚Das Tagebuch von Kindern des Konzentrationslagers Theresienstadt) der Anne Frank‘ inszenierte, nun gemeinsam die szeniMusikalische Leitung — Thomas Honickel sche Umsetzung von Krásas Oper. Im Vorfeld der szeniRegie — Jens Kerbel schen Proben beschäftigten sich die Kinder und JugendPremiere am 27. Januar 2019, 11.00 Uhr, Exerzierhalle lichen dabei auch in mehreren Workshops sehr intensiv
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OPERNSEITEN
DEAD MAN WALKING — VORBEREITUNGEN AUF EINE PREMIERE MIT UNGEWÖHNLICHEM OPERNSUJET Am 23. März 2019 feiert Jake Heggies Oper ‚Dead Man Walking‘ ihre Premiere am Oldenburgischen Staatstheater. Mezzosopranistin Melanie Lang wird dann in der weiblichen Hauptrolle als Sister Helen Prejean auf der Bühne stehen und dabei in große Fußstapfen treten …
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ieben Jahre sitzt Elmo Patrick Sonnier in der Todeszelle des Louisiana State Penitentiary, bevor er am 4. April 1984 mit dem elektrischen Stuhl hingerichtet wird – für die Vergewaltigung und den Mord an der 18-jährigen Loretta Ann Bourque und den Mord an Bourques 17 Jahre altem Freund David LeBlanc. Als Zeugin wohnte damals auch die katholische Ordensschwester Helen Prejean der Hinrichtung bei. Sie hatte Sonnier zuvor, zunächst als Brieffreundin, später in persönlichen Treffen im Gefängnis, als Seelsorgerin über mehrere Jahre hinweg bis zu seiner Exekution begleitet. Die Erfahrungen, die Helen Prejean dabei mit ihm und anderen im Todestrakt Inhaftierten machte, verarbeitete sie schließlich in dem 1993 erschienenen Buch ‚Dead Man Walking‘ (ein Ausruf, der in US-amerikanischen Gefängnissen den letzten Gang eines zum Tode verurteilten Häftlings von seiner Zelle zum Hinrichtungsraum ankündigt). Helen Prejeans Aufzeichnungen sind aber nicht nur ein Bericht über ihre Begegnungen mit den Todeshäftlingen, sondern gleichzeitig auch ein moralisch-religiös-philosophischer Diskurs über die Vertretbarkeit der Todesstrafe und den generellen Umgang mit Schuld, Strafe und Vergebung. ‚Dead Man Walking‘ wurde zum Bestseller und zwei Jahre später zur Grundlage für das Drehbuch des gleichnamigen und mit Preisen überhäuften Films von Regisseur Tim Robbins. Darin spielt Sean Penn den arroganten und keine Reue zeigenden Vergewaltiger und Mörder Matthew Poncelet; Susan Sarandon – für ihre darstellerische Leistung mit einem Oscar als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet – verkörpert Schwester Helen Prejean. Nicht lange nach der Veröffentlichung des Films begann der Dramatiker Terrence McNally zusammen mit dem Komponisten Jake Heggie im Auftrag der San Francisco Opera an einer Musiktheaterversion des Stoffes zu arbeiten. Am 7. Oktober 2000 feierte die Oper ‚Dead Man Walking‘ in San Francisco ihre Uraufführung und entwickelte sich in ihrer Folgezeit – auch außerhalb der USA – zu einer der meistgespielten amerikanischen Opern überhaupt. 30
Grund für den großen Erfolg des Werkes ist dabei nicht nur die zugängliche, oft an Filmmusik erinnernde und Popularmusikstile wie Gospel oder Blues zitierende Partitur, sondern auch die Erzählperspektive des Stückes: „Das Publikum begegnet Joseph De Rocher (so der Name des Todeshäftlings in der Oper) als bereits überführten und verurteilten unsympathischen Vergewaltiger und Mörder. An seiner Täterschaft besteht kein Zweifel. Im Laufe der Oper lernen die Zuschauer den Verbrecher immer besser kennen, die moralische Eindeutigkeit der Geschichte und des Urteils beginnt sich aufzulösen. Und während Schwester Helen nicht nur dem Mörder, sondern auch den Angehörigen der Opfer Fragen nach Schuld, Verantwortung, Rache und Vergeben stellt, muss sich das Publikum im Laufe des Abends die Frage stellen, ob es dieser Mensch trotz seines Vergehens verdient hat, getötet zu werden“, bringt Melanie Lang Dramaturgie und Wirkung des Stückes auf den Punkt. Die Mezzosopranistin, die seit der Spielzeit 14/15 am Oldenburgischen Staatstheater engagiert ist und hier u. a. Rollen wie Carmen, die Hexe in ‚Hänsel und Gretel‘, Fricka in ‚Die Walküre‘, Maddalena in ‚Rigoletto‘ oder Maria Eufrosina in ‚Cristina, Regina di Svezia‘ sang, tritt bei der Oldenburger Erstaufführung von ‚Dead Man Walking‘ als Sister Helen Prejean in die Fußstapfen Susan Sarandons und sucht im Moment nach einer ganz eigenen Annäherung an die Rolle: „Ich habe nicht unbedingt Susan Sarandon im Hinterkopf, sondern die echte Sister Helen, und versuche, mir ein klares Bild von ihr zu schaffen. Ich mag ihre Leichtigkeit und will diese auch auf die Bühne bringen. Diese Frau, die gar nicht dem gängigen Klischeebild einer überbarmherzigen Frau entspricht, beeindruckt mich: Sie ist ein lebenslustiges SüdstaatenGirl, hat ordentlich Pfeffer im Hintern, ist witzig, bodenständig und direkt und strahlt trotzdem eine unsagbare innere Stärke und Ruhe aus.“ Im Hinblick auf die szenische Umsetzung sieht Melanie Lang vor allem die Dramaturgie der Oper als darstellerische Herausforderung:
OPERNSEITEN
Helen Prejean
„Es passiert eigentlich gar nicht so viel im Stück. Die Oper beginnt mit einer Szene im Kinderheim. Von dort aus bricht Schwester Helen mit dem Auto in Richtung Gefängnis auf. Dort spricht sie ein paar Mal mit Joseph De Rocher, trifft die Angehörigen der Opfer. Dann wird De Rocher zur Hinrichtung geführt. Das war’s. Die eigentliche Handlung, der wirklich wichtige Inhalt spielt sich in den Dialogen ab. Und die gilt es, interessant und ergreifend umzusetzen.“ Seit einigen Wochen hat sich Melanie Langs Studium der Rolle intensiviert – zum einen in der Beschäftigung mit der Thematik des Stückes, zum anderen aber auch auf musikalischer Ebene: „Es ist eine gewaltige Aufgabe, diese Rolle zu lernen. Ich sitze momentan mehrere Stunden daran. Heggie verwendet oft sehr subtile Rhythmen, die sich teilweise nur im kleinsten Detail voneinander unterscheiden, sodass man jede Phrase eine halbe Stunde vor sich hinsummen muss, bevor man sie musikalisch wirklich begreift. Es gibt zum Beispiel eine Stelle in einer Gesprächssituation zwischen Sister Helen und Joseph De Rocher, in der Heggie Helen den Ton von Joseph aufnehmen lässt und ihn dann im weiteren Verlauf in kleinen, chromatischen Schritten abändert: Helen versucht hier sozusagen auch auf musikalischer Ebene, an Joseph ranzukommen.“ In der musikalischen Vorbereitung hilft Melanie Lang zudem die intensive Zusammenarbeit mit dem Musikalischen Leiter der Produktion, Kapellmeister und Studienleiter Carlos Vázquez: „In den Proben dis-
Melanie Lang
kutieren wir tatsächlich fast über jedes einzelne Wort, fragen uns, auf welche Art und Weise man diesen Satz, diesen Rhythmus oder das musikalische Intervall am besten interpretiert. Ist Sister Helen hier sauer? Oder doch nur enttäuscht? Was meint sie wirklich mit diesem Satz? Muss diese Phrase schneller gesprochen werden, da sie hier insgeheim in Panik gerät und sie dadurch schneller und wahrnehmbarer atmet?“, beschreibt Melanie Lang die Probenarbeit und freut sich auf den szenischen Probenbeginn mit dem Regieteam um Olivia Fuchs, die zum ersten Mal eine Inszenierung für das Oldenburgische Staatstheater erarbeiten wird. Dann ergibt sich für Melanie Lang endlich die Gelegenheit, sich auch darstellerisch an Sister Helen Prejean anzunähern und sich einer weiteren Herausforderung zu stellen: „Ich stehe als Sister Helen Prejean fast durchgehend auf der Bühne. Und vor allem eröffne ich die Oper a cappella, ohne Orchester – ohne vorher einen Ton zu bekommen, ganz mutterseelenalleine. Da muss man schon so in der Rolle sein, dass man den Mut aufbringt, überhaupt anzufangen!“ Christina Schmidl
DEAD MAN WALKING
Oper in zwei Akten von Jake Heggie Musikalische Leitung — Carlos Vázquez Regie — Olivia Fuchs Premiere am 23. März 2019, 19.30 Uhr, Großes Haus
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BÜHNENSEITEN
VIDEOKUNST IM STAATSTHEATER Mit seiner Videoinstallation ‚Tausend Augen‘ sowie einem Video zur konzertanten Aufführung von Hector Berlioz' ‚La Damnation de Faust‘ präsentiert sich der renommierte Videokünstler Christoph Girardet erstmals am Oldenburgischen Staatstheater. Zeit für ein paar Fragen! Seit November ist Ihre Videoinstallation ‚Tausend Augen‘ im Treppenturm des Staatstheaters zu sehen. Was steckt hinter diesem Titel? Christoph Girardet: Am Anfang des Prozesses standen zunächst Überlegungen sowohl hinsichtlich der Institution Theater, die ja ein Ort des Schauens und des Dialogs ist, als auch bezüglich der für die Installation vorgesehenen räumlich sehr schwierigen Situation, die ich dann wie eine kleine, von außen zu betrachtende Bühne aufgefasst habe. Dann fiel die Wahl auf ein emblematisches Motiv, das in Spielfilmen ständig wiederkehrt, nämlich die extreme Großaufnahme von Augenpaaren. Nachdem ich begonnen hatte, diese zu sammeln, war es notwendig, die Recherche zu begrenzen, sonst wäre die Arbeit jetzt noch nicht fertig. Über hundert Einstellungen waren relativ schnell beisammen, doch die Anzahl stimmte für mich nicht im Verhältnis zu der Zahl der Menschen, die diese Institution fast täglich besuchen. Fünfhundert Augenpaare ergeben eintausend Augen, und das ist natürlich eine massivere Menge. Da man diese Bilder nun nicht gleichzeitig sieht, soll zumindest der Titel darauf hinweisen. Und es gibt eine Entsprechung in der Filmgeschichte: Fritz Langs letzter Film heißt ‚Die 1000 Augen des Dr. Mabuse‘, sein Titel ist allerdings nur eine Metapher für Überwachung, Kontrolle und die damit verbundenen Ängste. Aber eine gewisse Unheimlichkeit liegt meiner Arbeit ja ebenfalls zugrunde. Kern Ihres künstlerischen Schaffens ist eine Art von Collagetechnik. Könnten Sie diese etwas näher beschreiben? ChG: Ich arbeite weitestgehend mit Bildern, die nicht meine eigenen sind, sondern Fremdmaterial (Found Footage) aus der Filmgeschichte. Motive und Themen werden zumeist langwierig recherchiert, dabei finde ich oft auch ganz zufällig andere Bilder als gedacht oder ganz neue Motivkreise. Manche verarbeite ich dann ebenfalls irgendwann. Es gibt zwar große Unterschiede zwischen meinen Arbeiten hinsichtlich Konzeption und zeitlichem Aufwand, doch tatsächlich ist die Form wesentlich geprägt durch die filmische Montage, die der Collagetechnik entspricht, nur eben auf einer zeitlichen Ebene. 32
Im Fall der ‚Tausend Augen‘ aber habe ich auf eine gelenkte Choreografie völlig verzichtet und einen streng konzeptionellen Ansatz gewählt: Die Abfolge der Bilder ist zufallsbasiert. Zwar ist schnell klar, dass hier jeweils Blick auf Blick folgen wird, aber man kann bei der Menge der Einstellungen nun nicht annähernd vorhersagen, welches Bild und damit welche der vielfältigen Emotionen und Mikroerzählungen als nächstes zu erwarten ist. Von welchem filmischen Material haben Sie sich im Falle von ‚Tausend Augen‘ inspirieren lassen? ChG: Großaufnahmen von Augen findet man quer durch die Filmgeschichte und quer durch alle Genres. Ganz zufällig stammt eines der frühesten Bilder aus Fritz Langs ‚Dr. Mabuse, der Spieler‘, dem ersten Film dieser Reihe von 1922. In den 20er-Jahren ist das Motiv zunächst eher im Avantgardefilm verortet, bevor es ein gängiges Stilmittel im Spielfilm wurde. So richtig eingängig wurde das Motiv dann in den Italowestern und besonders in Horrorfilmen, wahrscheinlich lässt sich blankes Entsetzen nicht besser darstellen als mit weit aufgerissenen Augen in Großaufnahme. Aber glücklicherweise gibt es genügend andere Beispiele, in denen die Mimik der Augen deutlich subtiler geraten ist. Im Gegensatz zum Großteil Ihrer anderen Werke entstand Ihr Video zu ‚La Damnation de Faust‘ in direkter Auseinandersetzung mit einem musikalischen Werk. Wie haben Sie diese Arbeit erlebt? Welche besonderen Herausforderungen barg sie? ChG: Da ist zunächst einmal die Länge von über zwei Stunden. In dieser zeitlichen Dimension habe ich vorher noch nicht gearbeitet. Auch sind die inhaltlichen Sprünge bei Berlioz ja enorm. Denen muss auf der visuellen Seite entsprochen werden, denn Film kann das im Gegensatz zum Bühnenbild ja unmittelbar leisten. Und die Kopplung an ein live aufgeführtes Event ist etwas, was ich bisher immer vermieden habe, denn eine Qualität vieler meiner Arbeiten liegt in ihrer rhythmischen Struktur und im Timing. Aber bei einer so komplexen konzertanten Aufführung verhält sich genau das ja jedes Mal etwas anders. Ich muss also ein stückweit die Kontrolle abgeben. Und nicht zuletzt ist da natürlich die Qualität der Musik selbst,
BÜHNENSEITEN
‚La Damnation de Faust‘ - konzertante Aufführung mit Videoinstallation; Jason Kim, Opernchor und Extrachor
die auch ganz ohne zusätzliche Visualisierung, aber eben auch, wie ich finde, ohne die Sichtbarkeit der Musiker und Sänger auskommen könnte. Man könnte auch einfach im Dunkeln sitzen und zuhören. Bereits bei Berlioz treten szenische Gedanken und die Idee einer absoluten Musik, die aus sich heraus den Inhalt vermittelt, miteinander in Widerstreit, denn Berlioz fügt seinem Notentext detaillierte Szenenanweisungen hinzu, betont aber gleichzeitig, dass das Werk für den Konzertsaal geschrieben sei. Wie gehen Sie als bildender Künstler mit diesem (scheinbaren) Widerspruch um? ChG: In gewisser Weise verhält sich Berlioz’ szenischer Aufbau ja ebenfalls collageartig, das kam meiner Arbeitsweise natürlich entgegen. Diese Szenenanweisungen waren zunächst für mich wichtiger als die Musik selbst. Ich habe das Video erst einige Wochen lang ganz ohne die Musik entworfen und – nur vom Libretto inspiriert – inhaltlich passende Bilder bzw. Motive gesucht, die auch über die Distanz des Stückes zueinander passen und sich nachvollziehbar verbinden lassen. So funktioniert die filmische Arbeit letztlich analog zur musikalischen Komposition. Denn es gibt durchaus erzählerische Momente, die sich aber nicht durch eine klassische Narration zusammenfügen, sondern über die Charakteristik der Bilder und ihre formale Aufbereitung mittels Wiederholung, Loops und Versatz der Einstellungen über drei Leinwände.
Welches filmische Material ist dort eingeflossen und weshalb fiel Ihre Wahl genau darauf? ChG: Das Material stammt fast ausschließlich aus den 30er- bis 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Dabei ist die Bildauswahl sehr reduziert auf kurze und emblematische Sequenzen, die als Loops scheinbar endlos lang gedehnt sind. Von Bedeutung ist etwa die visuelle Analogie zu Fausts Streben nach Erkenntnis und der Attitüde des Mephisto, dem selbsternannten Hüter der Geheimnisse des Lebens und der Zeit. Einstellungen aus populärwissenschaftlichen Lehrfilmen zu einer ganzen Reihe von Themen wie die Körpererforschung durch Röntgenstrahlen, Farbenund Wahrnehmungslehre, Grundlagen von Gravitation und Zeit, Weltraumreisen oder chemische und physikalische Prozesse greifen diese Thematik auf. Oft wird auch auf die Bedingungen des Kinos selbst verwiesen, sei es durch den Ort, repräsentiert durch einen Kinovorhang, die Zeit, in Form von Zeitlupen bzw. Zeitrafferaufnahmen, oder auch durch das Zelluloid als Trägermaterial, das am Ende von Margaretes Arie im Projektor schmilzt. Darüber hinaus spiegeln sich Handlung und Emotionen in kurzen Spielfilmzitaten, die in Abfolgen von gleichen Motiven montiert sind, z. B. das männliche Zeichnen eines Frauenportraits in Fausts Traum. Es sind aber auch bekanntere Zitate z. B. aus Filmen von Alfred Hitchcock in die Komposition eingeflossen. Das Interview führte Annabelle Köhler. 33
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DIE BÜHNENPLASTIK Alles aus Plastik in der Bühnenplastik? Ganz im Gegenteil! In ihrer Werkstatt arbeiten Carola Hoyer, Lena Schlecht und Dina Dukule an verschiedensten plastischen, also dreidimensionalen Objekten für Bühnenbilder. Ob Säulen, Statuen, Tiere, Pflanzen, selten auch Kostümteile: Die Arbeit der Bühnenplastikerinnen des Oldenburgischen Staatstheaters ist abwechslungsreich.
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ühnenplastiken werden für einzelne Produktionen gen sich Carola Hoyer und ihre Mitarbeiterinnen selbst nach Planung der Bühnenbildner*innen angefertigt. eine Möglichkeit zur Umsetzung aller Anforderungen. Ein lebensgroßer, naturgetreuer Hirsch wird beispiels- Zur Verfügung stehen dazu in der Werkstatt unter andeweise für die Oper ‚Lucia di Lammermoor‘ benötigt. rem Styropor, Stoff, Papier, Farbe, Leim, Kunstfell und „Äußern die Bühnenbildner ihren Wunsch nach einem Iso-Matten. Ausgefallenere Gegenstände besorgt Carola Hoyer im Baumarkt. Die Plasbestimmten Objekt auf der „Die Arbeit ist nie genau die tikerinnen erstellen als erstes Bühne, wie zum Beispiel dem gleiche, diese Abwechslung ein Modell des Hirsches und Hirsch, stellen wir vor dem schätze ich neben der Kreativiexperimentieren mit verschieArbeitsprozess zwei wichtige Fragen: Was muss mit dem tät dieses Berufes besonders.“ denen Materialien. Um das Objekt auf der Bühne gemacht Dina Dukule Original so naturgetreu wie möglich nachzubauen, werden werden? Wie strapazierfähig muss es sein?“, berichtet Lena Schlecht. Eine erste Idee Fotos des Wildtieres in jeglichen Positionen gesammelt. des ‚Lucia‘ -Teams war, den Hirsch vom Schnürboden auf Auch ein Anatomiebuch für den exakten Körperbau darf die Bühne herabzulassen. Dafür braucht er zunächst ein nicht fehlen, um zunächst eine genaue Modellzeichnung bestimmtes Gewicht, damit seine Bewegungen so natür- anzufertigen. lich wie möglich aussehen. Die Beine brauchen Gelenke und gleichzeitig Stabilität, damit sie beim Aufsetzen Die Plastikerinnen arbeiten eng mit anderen Werkstätnicht abknicken. Der Kopf muss sicher am Körper befes- ten zusammen. Schlosserei und Tischlerei haben nach tigt werden, damit er auch nach mehrmaligem Gebrauch der Zeichnung ein „Skelett“ aus Metall und Holz für der Figur noch hält. Damit beginnt der kreative Teil der den Kopf des Hirsches gebaut, der besonders stabil sein Arbeit. Für den Hirsch und jedes andere Objekt überle- muss. Dieses Gerüst wird mit Styropor beklebt, anschließend schnitzt Lena Schlecht es mit Küchenmesser, Schleifpapier und Drahtbürste in die Form eines Hirschkopfes. Nun wird der Kopf noch mit Papier und Leim kaschiert, bevor er ein Fell übergezogen bekommt. Der Körper des Hirsches besteht ebenfalls aus einem Skelett aus Holzlatten und Seil. Er wird mit Styroporkugeln und Watte gefüllt. Damit der Kopf sicher auf dem Körper sitzt, verläuft im Innern des Hirsches von Kopf bis Gesäß ein Drahtseil. Um das entsprechende Gewicht zu erreichen, arbeitet Carola Hoyer eine Eisenkette in den Körper ein. Aus Holzlatten und Seil sind auch die Beine des Hirsches gefertigt, sie werden mit Netzgewebe umspannt und bekommen so ihre Recherchematerial richtige Form. Zum Schluss wird der 34
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ganze Hirschkörper in Fell gekleidet und sieht seinen „Artgenossen“ damit zum Verwechseln ähnlich. Dina Dukule erzählt: „Manchmal muss richtig getüftelt oder auch einmal Material zweckentfremdet werden, bis das Objekt den Anforderungen entspricht.“ Borsten eines handelsüblichen Handfegers werden da schon manchmal zu Wimpern für Tiere umfunktioniert. Ab und zu wird in der Werkstatt auch einmal wirklich mit Plastik gearbeitet, nämlich zum sogenannten „Tiefziehen“. Eine VakuumMaschine bringt hierbei Plastikplatten nach einem Modell und exakten Einstellungen in eine neue Form. Dieses Prozedere vereinfacht die Serienherstellung von bestimmten Objekten, die aus stabilem Kunststoff sein dürfen oder müssen. Eine Hirsch-Plastik entsteht Einige ihrer Arbeiten bleiben den Plastikerinnen in besonderer Erinnerung. „Für das Stück ‚Titanic‘ haben wir eine riesig große Ausbildung in der Bühnenplastik absolviert. „Die Arbeit Freiheitsstatue angefertigt, die schon allein wegen ihrer ist nie genau die gleiche, diese Abwechslung schätze ich Größe aufwendig zu gestalten war“, erinnert sich Dina neben der Kreativität dieses Berufes besonders.“ Dukule. Lena Schlecht denkt auch an den Tierschädel Amelie Jansen ähnlich einer Jagdtrophäe, der im Stück ‚Ein großer Aufbruch‘ in einem Rahmen an der Bühnenwand hängt. Hier waren mehrere Herausforderungen gleichzeitig zu bewältigen. „Der Schädel sollte mit einem Mechanismus ausgestattet sein, sodass ein einzelnes Horn oder auch der Schädel insgesamt auf Knopfdruck zur Seite kippen kann. Ich habe eng mit der Betriebstechnik und Schlosserei zusammengearbeitet, die mir bei der Umsetzung der Mechanik sehr geholfen haben.“ Dazu kam noch die detailreiche Verzierung des aus Styropor geschnitzten Schädels, die einige Zeit und Mühe gekostet hat. Doch genau wegen solcher Herausforderungen lieben die Plastikerinnen ihre Arbeit. „Ich kann mir keinen anderen Beruf für mich vorEine Szene aus ‚Lucia di Lammermoor‘ stellen“, erzählt Dina Dukule, die ihre 35
OPERNSEITEN
MEHR ALS NUR BELCANTO! Weltweit gefragt, stellte sich Opernregisseur Stephen Lawless mit seiner Inszenierung von ‚Lucia di Lammermoor' erstmals dem Oldenburger Publikum vor. Hier äußert er sich zur oft übersehenen Komplexität von Donizettis Opernschaffen.
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018 war mein „Donizetti-Jahr“. Im März habe ich ‚Anna Bolena‘ in Toronto inszeniert, im September ‚Roberto Devereux‘ in San Francisco und nun diese Produktion von ‚Lucia di Lammermoor‘. In den vorangegangenen 20 Jahren habe ich auch viele Male ‚Maria Stuarda‘, ‚Don Pasquale‘ und ‚L’elisir d’amore‘ auf die Bühne gebracht. Als ich zu inszenieren begann, hatte Donizetti einen schlechten Ruf (nicht nur in Italien), eine Reaktion auf die Jahre, in denen Callas und Sutherland für ihn kämpften. Er wurde als ein Komponist für Liebhaber von „Zwitschervögeln“ gesehen … als MelodienSchmied ohne echten dramatischen Gehalt, dessen ernste Werke als banal angesehen und dessen Komödien als läppische buffa-Opern behandelt wurden. Im Laufe der folgenden 30 Jahre hat sich dies grundlegend geändert und Donizetti wird inzwischen selbst als einer der größten Opernkomponisten gesehen (und nicht mehr nur als Sprungbrett für Verdis Genie). Meine Meinung hat sich radikal gewandelt, als ich 1996 angefragt wurde, an der Oper in Los Angeles ‚L’elisir d’amore‘ zu inszenieren. Ich weiß noch, wie überrascht ich war, als ich die Partitur aufschlug und sah, dass Donizetti die Oper als „melodramma“ beschrieb, nicht als Opera buffa. Das weckte meine Neugier … Was meinte er mit „melodramma“? Obwohl es eine der größten Opern-Komödien ist, gibt es doch auch eine dunkle und ernste Seite in ‚Elisir‘ (wie auch in ‚Don Pasquale‘), und ich schloss daraus, dass es sich dabei um eine Komödie handelte, die die Fähigkeit besaß, ins Tragische zu kippen. Das zeigte mir, dass ich es mit etwas zu tun hatte, das – wie die Worte seines Schöpfers beweisen – dramaturgisch wesentlich anspruchsvoller war, als es mir zunächst erschienen war. Später sollte ich Donizettis „Tudor-Trilogie“ – ‚Anna Bolena‘, ‚Maria Stuarda‘ und ‚Roberto Devereux‘ – inszenieren. Obwohl diese Stücke augenscheinlich tragische Stoffe behandeln, lässt Donizetti doch einen dunkel ironischen/komödiantischen Zug in die Dramaturgie dieser Opern einfließen. Man spottet oft über ihn, weil er in seinen Dramen ernste Ereignisse wie zufällig mit Musik versieht, die in einer seiner komischen Opern nicht fehl am Platz wäre, ich aber würde behaupten, er tut dies ab36
Doppelseitiges Bild in der Heftmitte. BU Gotham Bold 6 pt
sichtlich, um einen Effekt von Ironie zu erzeugen (meist um das Ego männlicher Figuren oder ihr Machtstreben zu unterhöhlen). Das bewahrt seine Opern davor, rein sentimental zu sein, und verleiht diesen (zusammen mit seiner kraftvollen Orchestrierung) eine individuelle dramatische Stärke. (Verdi sollte sich später derselben Mittel bedienen.) ‚Lucia di Lammermoor’ ist wahrscheinlich sein berühmtestes Werk – möglicherweise aus den falschen Gründen. Lucias „Wahnsinns“-Szene ist berühmt als Paradestück für Soprane. Dabei ist die gesamte Oper mit großartigem Geschick konstruiert. Ich weiß anhand der früheren Opern, die ich inszeniert habe, dass Donizetti unglaublich starke Rollen für Frauen schreibt – und ‚Lucia‘ ist keine Ausnahme. Es ist keine Oper über eine schwache Frau, die von zwei starken Männern vernichtet wird, sondern eher das Gegenteil … eine Oper über eine starke Frau, die von zwei schwachen Männern vernichtet wird (ähnlich wie Violetta in ‚La traviata‘). Ihre berühmte „Wahnsinns“-Szene (der Begriff ist mir zu allgemein) ist nicht nur eine Zurschaustellung, sondern wurde mit tiefem psychologischen Verständnis für eine traumatisierte Frau geschrieben. Normalerweise bedient sich Donizetti der Ironie in der musikalischen Behandlung seiner männlichen Opernfiguren. Es handelt sich bei ihm um einen meisterhaften Dramatiker auf der Höhe seiner Kraft. Das Bühnenbild dieser Produktion wurde vom belgischen Bühnenbildner Benoît Dugardyn entworfen, der im März 2018 verstarb. ‚Lucia‘ wäre unsere 31. gemeinsame Produktion gewesen. Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, Benoîts zu gedenken und dem Bühnenbildner Lionel Lesire (einem früheren Schützling von Benoît) zu danken, der die praktische Ausführung der Entwürfe übernahm. Übersetzung: Annabelle Köhler
37 Sooyeon Lee als Lucia
BALLETTSEITEN
„ES IST EIN GESCHENK FÜR UNS“ Jeden Montagabend treffen sich 40 Frauen und Männer im Probenzentrum des Oldenburgischen Staatstheaters, um gemeinsam zu tanzen. Den Tanzclub gibt es jetzt schon in der zweiten Spielzeit und er erfreut sich so großer Beliebtheit, dass bereits ein Aufnahmestopp erfolgen musste. Antoine Jully, Ballettdirektor und Chefchoreograf, arbeitet in diesem Mehrgenerationen-Tanzprojekt mit Teilnehmer*innen von 16 bis über 70 Jahren.
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ontagabends, wenn die Tänzer*innen der BallettCompagnie Oldenburg mit dicken Wärmeschuhen über den Füßen das Ballettstudio in der Probebühne 2 verlassen haben, um nach einem langen Probentag den wohlverdienten Feierabend zu genießen, kommen wenige Minuten später schon wieder Frauen und Männer in Trainingskleidung, mit Wasserflaschen in den Händen und begrüßen sich fröhlich. Bei dieser zweiten Gruppe fällt auf, dass einige sehr junge Gesichter dabei sind, aber auch mehrere bereits ergraute Köpfe. Es sind fast alles Frauen, doch auch ein paar Männer, die sogleich mit ein paar Dehnübungen beginnen und sich eifrig über Smartphone-Bildschirme beugen, um sich mit Hilfe kleiner Filme die beim letzten Mal gelernte Choreografie wieder in Erinnerung zu bringen. Als Antoine Jully den Raum betritt und „Let’s go!“ ruft, stellen sich alle in Windeseile in langen Reihen auf. Aus den Lautsprechern erklingen Musik und die Stimme des belgischen Sängers Jacques Brel, und alle setzen sich in Bewegung. Nach wenigen Takten, zu denen die Tanzenden noch auf ihren Plätzen vor allem die Arme, Hände und Oberkörper bewegt haben, formieren sich plötzlich vier Gruppen, die jede ihre eigene Choreografie zu tanzen beginnt. Jede Formation hat eine Schrittfolge, die auch im Raum variiert. Nicht nur die Raumrichtungen ändern sich, sondern auch die Ebenen, wenn ein Bodenteil integriert wird, und ebenso die Phrasierung innerhalb der Musik.
38 Der Tanzclub bei den Proben
Man sieht es den Körpern an, dass sie ganz unterschiedliche tänzerische Erfahrungen haben. Antoine Jully sagt: „In der Spielzeit 17/18 haben wir uns im Tanzclub auf die Reise begeben, um zu erforschen, welche Ausdrucksmöglichkeiten unseren Körpern innewohnen. Wir wollten herausfinden, welches Bewegungsrepertoire in uns verborgen liegt und ob dieses sich sehr unterscheidet zwischen einem jungen Körper und einem, der schon länger gelebt hat. In dieser Spielzeit setzen wir diesen Weg fort – mit einer deutlich größeren Gruppe. Jede*r Einzelne darin ist natürlich ein Individuum, dennoch möchte ich, dass sie versuchen, an manchen Stellen der Choreografie wirklich unisono zusammen mit ihren Körpern zu sprechen.“ Immer zehn Tänzer*innen haben ihr choreografisches Muster. Antoine Jully geht von Gruppe zu Gruppe und übt die Abfolgen wieder und wieder. Da fast alle Teilnehmer*innen des Tanzclubs aus der Spielzeit 17/18 auch diesmal wieder dabei sind, hat Jully sie auf die vier Kleingruppen aufgeteilt, und sie proben mit ihrem Team konzentriert weiter, sobald der Choreograf sich dem nächsten zuwendet. Für einige von den „Neuen“ waren dieses selbständige Proben und das Tempo, in dem die Choreografie voranschreitet, zunächst ungewohnt. Im Gespräch betonen aber mehrere Teilnehmer*innen, dass gerade diese Herausforderung, die die Choreografie für sie bedeutet, den Reiz des Tanzclubs ausmache. Die mit 16 Jahren jüngste Teilnehmerin im diesjährigen Club erzählt: „Ich tanze schon mein ganzes Leben und
‚Together‘ bei der Hauptprobe im Juni 2018 in der Exerzierhalle
ich freue mich sehr, dass ich diesen Tanzclub jenseits vom Wettkampfbereich gefunden habe. Ich genieße es, dass hier ein Anspruch da ist, es aber immer auch noch Spaß macht!“ In der letzten Spielzeit nahm nur ein Mann am Tanzclub teil. Jetzt hat er zwei Freunde und einer von ihnen wiederum einen Freund mitgebracht. Einer, der selbst HipHop unterrichtet, sagt: „Wir sind es schon gewohnt, dass beim Tanz fast nur Frauen sind. Deshalb haben wir es hier nicht anders erwartet. Wir finden es aber schade, dass so viele Männer sich solch eine Erfahrung entgehen lassen.“ Und in anderer Teilnehmer, dessen Tanzerfahrung bisher auf zwei Standardtanzkursen beruht, fügt hinzu: „Mehr Hemmungen, als hier einer der wenigen Männer unter vielen Frauen zu sein, hatte ich damit, mich in so eine große Gruppe zu begeben. Inzwischen habe ich aber bemerkt, dass mir die Teilnahme am Tanzclub jetzt schon hilft, mich in größeren Menschenansammlungen besser zu fühlen.“ Häufig stellt sich Ballett- und Tanzpublikum die Frage, wie sich Tänzer*innen eigentlich die vielfältigen und langen Choreografien merken können. So ist es auch ein weiteres Thema des Tanzclubs, herauszufinden, wie das Körpergedächtnis eigentlich funktioniert. Wie oft muss man eine Passage zu einer Musik üben, bis der Körper sie quasi „automatisch“ tanzt, sobald die Musik erklingt? Eine Teilnehmerin innert sich: " Ich habe die Postkarte mit der Ankündigung des Tanzclubs in der letzten Spielzeit ganz zufällig im Foyer entdeckt, als ich Theaterkarten gekauft habe. Das hat mich dann neugierig gemacht und ich habe es ausprobiert“. Jetzt ist sie schon im zweiten Jahr dabei. Eine andere berichtet: „Im letzten Jahr hat es eine Weile gedauert, bis wir uns als Gruppe gefunden hatten. Wir haben dann in der Weihnachtszeit eine kleine Zusammenkunft mit Plätzchen verabredet und erstmal die Namen der anderen gelernt. Schnell gab es eine WhatsApp-Gruppe, erste Verabredungen zu Proben in
Kleingruppen im privaten Wohnzimmer und vor allem immer die Freude auf den nächsten Montag, wenn wir uns alle wiedersahen!“ Als sich der Zeiger der Uhr langsam der Acht nähert, greifen immer mehr Tänzer*innen zu den Wasserflaschen. Doch Antoine Jully bittet noch einmal alle, sich in die Grundformation mit den langen Reihen zu stellen. Jetzt feilt er akribisch an den Arm-, Hand- und Kopfhaltungen der ersten Takte. Es sieht einfach anders aus, wenn die Ellenbogen exakt nach vorn zeigen, als wenn sie bei einigen nach unten weisen. Beim letzten Durchlauf der bis jetzt angelegten Choreografie geben sich alle noch einmal besonders große Mühe. Hier und da ist mal jemand zu schnell oder vergisst einen Schritt, aber es kommen ja noch viele Montagabende bis zur Premiere des Stückes ‚Together II‘ am Eröffnungswochenende der Jugendtheatertage im Juni 2019. Als ich nach dem Training noch kurz mit einigen zusammensitze, bekomme ich noch einen Auftrag: „In den Artikel gehört auf jeden Fall unser großer Dank an Antoine Jully! Wir sind so glücklich, dass er sich neben seinen vielen Proben mit der BallettCompagnie und anderen Verpflichtungen so viel Zeit nimmt, mit uns Laien zu arbeiten, dass er uns ernst nimmt, seinen Anspruch deutlich zeigt und uns alle fordert. Das ist alles nicht selbstverständlich und wird von uns sehr wertgeschätzt: Es ist ein Geschenk für uns!“ Telse Hahmann hat die Probe des Tanzclubs im November 2018 besucht.
TOGETHER II
Eine Produktion des Tanzclubs Leitung / Choreografie — Antoine Jully Premiere am Eröffnungswochenende der Jugendtheatertage am 22./23. Juni 2019, Exerzierhalle
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M E D AUS STÜ
CK
N E L L A F GE
Keine Requisite und kein Kostüm, weder ein Klang noch ein Bühnenbildteil sind hier verloren gegangen. Nein, gleich eine ganze Figur ist aus einem unserer Premierenstücke gefallen. Glückwunsch: Sie haben die Figur gefunden und müssen jetzt nur noch erkennen, um wen es sich hier handelt und in welche Produktion dieser Spielzeit sie zurückgebracht werden muss! Nach dem Knobeln finden Sie die Lösung in der nächsten Ausgabe der Bühnenseiten. Darlings, was soll ich sagen – über mich gibt es nichts Neues, über das sich die Leute in der Stadt nicht schon das Maul zerrissen hätten. Ich bin und bleibe eine Aussätzige, was aber ein weniger großes Problem ist, als die „Jenseitigen“, die Menschen auf der anderen Seite des Flusses, immer denken. Ich kann einfach nicht verstehen, wie man unter gesellschaftlichem Zwang glücklich leben kann! Ich brauche meine Freiheit, und die habe ich in unserem abgelegenen Reich, dem riesigen alten Haus mit dem verwunschenen Garten, gefunden. Ich wurde sehr früh Mutter, aber nichtsdestotrotz sind aus meinen Kindern zwei starke, unabhängige Persönlichkeiten geworden und ich bin sehr stolz auf die beiden. Ich bekam auch immer Hilfe von meiner besten Freundin, die gute Seele ist meinen Kindern beinahe eine zweite
Mutter. Einzig mit den Männern halte ich es nicht lange aus. Nachdem meine Beziehung zu Nummer Drei schon vor der Geburt der Zwillinge gescheitert ist, habe ich lange niemanden getroffen, mit dem es nicht schon nach kurzer Zeit gewaltig gekracht hätte. Nur mein jetziger Partner ist wirklich ein Guter, er kommt sogar mit meinen Kindern aus und sorgt an Weihnachten für eine echte Tanne mit echten Kerzen! Darlings, wer hätte gedacht, dass ich mir von jemandem meine Lichterkette ersetzen lasse. Ich lasse mir nämlich wirklich ungern in meine Angelegenheiten reden, so viel ist klar …
Amelie Jansen
Lösung aus dem letzten Heft: Marietta Tripelli aus ,Effi Briest‘
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BÜHNENSEITEN
AUSZEIT MIT ... ... Thomas Birklein auf dem Fliegerhorst Vom Rat der Stadt Oldenburg wurde der Ausbau eines Flugplatzes im Mai 1932 auf der Alexanderheide beschlossen, am 18. Juni 1933 erfolgte die Grundsteinlegung für eine erste Flugzeughalle auf dem Gelände. Thomas Birklein, Schauspieler am Oldenburgischen Staatstheater, wollte auch einst den Pilotenschein. Das aber wird nicht mehr passieren, glaubt er, und so hat er die Elemente zu seinem Vorteil verkehrt: In einer der Hallen des ehemaligen Fliegerhorsts lagert sein Segelboot. Das roch damals wie eine Moorleiche, als er es vom Onkel einer Freundin übernahm. „500 Euro, und alles ist gut“, sagte der Onkel. „Wenn du Zeit hast zum Basteln, dann nimm’s!“, sagte ein Freund. Nach vier Jahren intensiven „Bastelns“, in denen Birklein jeden Quadratzentimeter des Bootes auslotete, kamen erste Erkenntnisse: Auf der Fahrt nach Hamburg, die mit dem Segelboot eine Woche dauerte, setzte Entschleunigung ein. Das wäre für jemanden seines Berufsschlags ideal, meint Thomas. In durchschnittlich sechs Wochen Probenzeit für neue Stücke müssen stets kleine Wunder vollbracht werden, und das Segeln zeigt: Es gibt darüber hinaus aber auch Dinge, die dauern einfach. Wenn das Wetter nicht mitspielt, kannst du nicht mit Gewalt segeln wollen. Mit Gewalt kannst du auch keine Kunst machen. Birklein bedauert die zeitweilige Planungsunsicherheit seines Berufes. Sich an den Wochenenden eben mal vorzunehmen, rauszusegeln, ist schwierig. Dazu ist es zu aufwendig, das Boot zu kranen und auf das Wasser zu bringen. Unvergessen dann erst recht die Momente, in denen man in Elsfleth am Steg festgemacht hat und die
Kühe auf der anderen Flussseite in die Hunte staksen – da fühle man sich plötzlich wie am Ganges. Das Segeln ist Birkleins kleinere Version vom Fliegen. Und der Fliegerhorst selbst? „Ich hab Zeiten erlebt“, erzählt Birklein, „in denen die Landebahn noch frei war, jetzt gibt es da drei Kilometer weit Solarzellen von hier bis Metjendorf. Das ist toll, dass diese Fläche für regenerative Energien verwendet wird.“ Auch schwärmt er: Die Tiere haben die Abwesenheit des Menschen für Rückeroberung genutzt. Abends stehen Rehe auf den Straßen, sind Feldhasen unterwegs, wenn man das Gelände betritt. In den frühen Morgenstunden erspäht man Habichte, andere erzählen von großen Uhus, Füchse können auch passieren. So verträumt sich das Gelände zeigen kann, ist es aber auch eines dieser Paradiese, die unweigerlich verschwinden werden. Dorothee Emsel
IMPRESSUM Spielzeit 18/19 Herausgeber: Oldenburgisches Staatstheater Generalintendant: Christian Firmbach Redaktion: Dramaturgie und Öffentlichkeitsarbeit Chefredaktion: Dorothee Emsel, Christine Post Bildnachweise: S. 6 Foto Leonardo Lee: Leonardo Lee, S. 10 Foto Gebäude Centre musique baroque: Pierre Grobois, S. 11 Foto Benoît Dratwicki: Centre de musique baroque, S. 12 Rattenbild: http://acces.ens-lyon.fr/acces/thematiques/neurosciences/actualisation-desconnaissances/circuit-de-la-recompense/enseigner/contenus-et-figures-activites-pedagogiques/images-relatives-a-lactivite-pedagogique/experience-de-olds-milner-1954, S. 13 Foto Rebekka Kricheldorf: Karoline Bofinger, S. 14 Foto Liisa Hirsch: Andres Teiss, S. 17 Foto Kinder-Theater-Fest Minden Paul Olfermann, S. 18 Abbildung Kostüme ‚Le sacre du printemps‘: Tanz über den Gräben. 100 Jahre ‚Le Sacre du Printemps‘. Kongress, Gespräche, Aufführungen, S. 19 Abbildung Fight of Spring: www.dailymail.co.uk/home/event/article-2318428/ Stravinsky-Nijinskys-worst-ballet-They-choreographed-worst-opening-night-ever.html, S. 30 Foto Helen Prejean: Scott Langley, S. 34 u.35 Fotos Bühnenplastik: Amelie Jansen, S. 44 Abbildung Augen: found footage, Videoinstallation 'Tausend Augen' von Christoph Girardet, alle weiteren: Stephan Walzl (Wir haben uns bemüht, alle Inhaber von Bildrechten zu recherchieren. Sollten Sie als Rechteinhaber*in nicht aufgeführt sein, neben Sie bitte Kontakt zu uns auf.) Layout und Satz: Gerlinde Domininghaus, Christine Post Druck: Prull-Druck GmbH & Co. KG, Oldenburg Stand der Drucklegung: 28.12.2018, Änderungen vorbehalten. www.staatstheater.de | Theaterkasse 0441. 2225-111
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KINDERSEITEN
Finde die Unterschiede Beide Bilder sind gleich? Da muss man schon genauer hinsehen: Findet heraus, welche 10 Fehler sich in Bild Nummer 2 geschlichen haben!
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AUSSTELLUNGSPROGRAMM
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23.02. – 02.06.2019
UNSER LEHM IST DER KUNZ GEWEINT
Sammlung Hajo und Angelika Antpöhler Gernot Bubenik, Naturgeschichte, 1966, Siebdruck Kunsthalle Bremen – Der Kunstverein in Bremen VG Bild-Kunst, Bonn 2018
23.03. – 01.09.2019
TIERISCHER AUFSTAND
200 Jahre Bremer Stadtmusikanten in Kunst, Kitsch und Gesellschaft Maurizio Cattelan, Love Saves Life, 1995 und Love Lasts Forever, 1997 Die Kunsthalle Bremen – Der Kunstverein in Bremen © Maurizio Cattelan, Foto: Karen Blindow
22.06. – 29.09.2019
KARIN KNEFFEL
Karin Kneffel, Ohne Titel, 2018 Privatsammlung München, VG Bild-Kunst Bonn 2018
19.10.2019 – 01.03.2020
IKONEN
Yves Klein, Monogold (MG 17), 1960 Louisiana Museum of Modern Art Long-term loan: Museumsfonden af 7. december 1966 VG Bild-Kunst, Bonn 2018
kunsthalle-bremen.de Besuchen Sie uns auch hier 43
GASTSEITEN
Tausend Augen
Bild aus der Videoinstallation ‚Tausend Augen‘ von Christoph Girardet
EDIT MOLNÁR & MARCEL SCHWIERIN
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as moderne Gebäude des Oldenburgischen Staatstheaters hat seit 2016 einen neuen Turm. Nicht aus ästhetischen Gründen, sondern als Fluchtweg. Entsprechend sieht er aus, nüchtern, funktional, mit einem Lichthof und grauen, leeren Betonwänden zwischen großen Glasfronten. Kein einladender Turm, sondern eher einer zum „Davonlaufen“. Aber das ist er ja auch – ein Fluchtturm eben. Das sollte so nicht bleiben, und so lud der Generalintendant Christian Firmbach mehrere Oldenburger Expert*innen für zeitgenössische Kunst zu einer gemeinsamen Ortsbegehung ein. Er hatte die Idee eines Kunstwerks, welches den leeren Lichthof in der Mitte des Turmes füllen könnte. So standen wir als Leitung des Edith-Russ-Hauses für Medienkunst zusammen mit Jutta Moster-Hoos vom Horst-Janssen-Museum und Rainer Stamm vom Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte im, am und um den Turm herum und wälzten Ideen. Die Aufgabe war nicht leicht. Ein statisches Kunstwerk, etwa eine Skulptur, so war unsere Befürchtung, würde man nach dem zweiten oder dritten Besuch des Theaters gar nicht mehr wahrnehmen, das typische Schicksal der Kunst am Bau. Auch ist die visuelle und technische Situation im Lichthof sehr speziell. Nach einer Weile kam die Idee auf, die leeren Betonwände als Projektionsflächen zu nutzen. Glücklicherweise kannten wir durch ein ähnliches Problem im Edith-Russ-Haus einen Videokünstler, der einige Erfahrung mit Installationen an Architektur besitzt. Christoph Girardet ist international bekannt geworden für seine Arbeiten mit Found Footage, „gefundenem“ Fremdmaterial, das er in virtuosen Montagen in einen neuen Bedeutungskontext überführt. Seine ein Jahr später fertiggestellte Installation ‚Tausend Augen‘, die immer ab Sonnenuntergang im Turm zu sehen ist, besteht aus 500 Filmausschnitten von Augenpaaren, zusammengestellt aus 100 Jahren Spielfilmgeschichte. Die Installation war technisch eine enorme Herausforderung, die Glasscheiben reflektieren die Lichtkegel der Projektoren in alle Richtungen. So bedurfte es nicht nur der Kenntnisse des Künstlers, sondern auch das technische Knowhow beider Häuser, um sie zu vollenden. Doch die Mühe lohnt sich auch langfristig, denn die Projekti44
onen sind als Blaupause angelegt; andere Künstler*innen werden künftig von Staatstheater und Edith-Russ-Haus eingeladen, um neue Arbeiten zu entwickeln. So wird im Laufe der Jahre eine kleine Sammlung von Werken entstehen, die alle für diesen Turm geschaffen wurden. Für uns hat dieser Ort aus kuratorischer Perspektive einen besonderen Reiz. Während die Besucher*innen des Edith-Russ-Hauses von Anfang an wissen, dass sie auf zeitgenössische Kunst treffen werden, so ist die Begegnung mit der Installation im Staatstheater für Theatergänger*innen unmittelbar. Die dabei wahrscheinlich immer wieder auftauchende Frage „Was soll denn das?“ entspricht dabei durchaus dem, was Theodor W. Adorno mit dem Begriff des „Rätselcharakters“ als das Wesen der Kunst bezeichnete. Das Edith-Russ-Haus in der Katharinenstraße
Übrigens: Während unserer ersten Besprechung mit Christoph Girardet vor Ort engagierte Christian Firmbach den Künstler gleich auch noch für die Visualisierung von Hector Berlioz’ konzertanter Oper ‚La Damnation de Faust‘. Aber das ist eine andere Geschichte. Edit Molnár & Marcel Schwierin Anmerkung der Redaktion: Ein Interview mit dem Künstler Christoph Girardet lesen Sie auf den Seiten 32/33. Edit Molnár und Marcel Schwierin leiten das Edith-Russ-Haus für Medienkunst in Oldenburg. Der Fokus ihrer kuratorischen Arbeit liegt auf zeitgenössischer internationaler Kunst. Edit Molnár ist Kuratorin, sie studierte Kunstgeschichte in Budapest und kuratorische Praxis in Amsterdam, sie war Kuratorin an der Kunsthalle Budapest, leitete die Studio Galerie in Budapest und das Contemporary Image Collective in Kairo. Marcel Schwierin ist Filmemacher und Kurator, er studierte Bildende Kunst in Braunschweig und war Filmkurator der transmediale, Co-Gründer der Werkleitz Biennale, der Medienkunst Datenbank cinovid und des Arab Shorts Festivals in Kairo.
45 Videoinstallation ‚Tausend Augen‘ von Christoph Girardet
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