BühnenSeiten Februar-April

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BÜHNEN

Seiten Magazin des OldenburgischeN Staatstheaters

Die BallettCompagnie Oldenburg tanzt ,Schläpfer/Jully (UA)/Blaska‘ Dem REality-TV auf der Spur: ,DOKUSOAP. EPISODE 451‘ Der Erwachsenenclub untersucht: ,Kriegsschatten‘

Von Männern, die wie Frauen singen, und Frauen, die wie Männer aussehen Interview mit dem Theaterhafen-Team Eine Kolumne von Matthias Brandt

FEB–APR

2018


Wir danken Hauptsponsoren:

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Freunde:

Catering-Partner:

sowie:

und vielen anderen, durch deren UnterstĂźtzung der dritte Oldenburger Opernball zu einem unvergesslichen Erlebnis wurde. Vielen Dank!


EDITORIAL

Liebes Publikum, in den aktuellen Debatten zur Regierungsbildung ist die Frage nach sozialer Gerechtigkeit ein bestimmendes Thema. Jedes fünfte Kind in unserem Land lebt unterhalb der Armutsgrenze und muss auf vieles verzichten, was für Mitschüler*innen selbstverständlich zum Aufwachsen dazu gehört, wie mit Freunden ins Kino zu gehen oder sie zu sich nach Hause einladen zu können. Armut bedeutet ausgegrenzt und auf sich allein gestellt zu sein. Katharina Birch möchte in ihrer Inszenierung von ‚Mein ziemlich seltsamer Freund Walter‘ Kindern Leichtigkeit und Mut mitgeben, „eine Tür aufmachen“, um mit der Welt um sie herum umgehen zu können. Im Interview erzählt die in Ostfriesland aufgewachsene Regisseurin von ihren Erfahrungen mit sozialen Unterschieden in England, aber auch von der Musikalität und den schönen Bildern des Kinder- und Jugendtheaters sowie von der Kraft des Theaters „als Zauberkiste“. Lange bevor Film- und Videotechnik dabei halfen, Bewegungsabläufe zu erinnern, ermöglichten komplizierte Tanzschriften die Reproduktion von Choreografien. Damit vergleichbar sind die wertvollen Aufzeichnungen unserer Ballettmeisterin Carolina Francisco Sorg, die sie für die Werke der Choreografen Martin Schläpfer, Antoine Jully und Félix Blaska angefertigt hat und die für ihre Arbeit mit den Tänzer*innen im Ballettsaal unverzichtbar sind. Ihr Porträt veranschaulicht die tägliche Probenarbeit der BallettCompagnie Oldenburg. Eine großzügige Portion detektivischen Spürsinn benötigt Martina Poelmann. Ob die Orchesterfassung direkt vom italienischen Arrangeur kommt oder die Noten in den USA aufgestöbert und zugeschickt werden: Jede Partitur, jeder Klavierauszug und jede Stimme gehen einmal durch ihre Hand. Die Herrin der Notenbibliothek behält mit stoischer Gelassenheit den Überblick über einen sich niemals vollends lichtenden (Noten-)Blätterwald. Das Dschungelcamp kann 2018 längst nicht mehr an die Aufregung seiner Anfangszeit anknüpfen, und die Medien beschwören einhellig das Ende der Sendung. Dennoch beschert das Reality-TV den Privatsendern nach wie vor traumhafte Einschaltquoten. Die Medienkünstlerin Luise Voigt nimmt in ‚Dokusoap. Episode 451‘ die scheinbare Authentizität solcher Formate unter die Lupe, um diese lustvoll zu dekonstruieren. Im Interview gibt sie Einblick in ihre Arbeit. Auf eine besondere Reise an die oszillierende Grenze zwischen Fiktion und Realität begibt sich unser Gastautor Max von Goslar. Er berichtet von der Entstehung des Textes zu ‚Alice im Wunderland: L-S-Dreamland‘ und gibt uns eine erste flüchtige Ahnung des Spektakels zu Land, zu Wasser und in der Luft, das in den Uferpalast am Theaterhafen einziehen wird. Und wir haben Matthias Brandt eingeladen und freuen uns, dass er in der theatralischen Kolumne seine Erinnerungen an die Zeit am Oldenburgischen Staatstheater mit uns teilt. Er macht uns darauf aufmerksam, wie wichtig es ist, eine lebendige Fehlerkultur zu entwickeln, damit wir scheitern können, ohne gleich fallengelassen zu werden. Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre! Herzlich

Christian Firmbach Generalintendant

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Seite 6

Seite 26

Seite 31

Kulissengeflüster Neuigkeiten aus dem Theater

SchauspielSEITEN ,Alice im Wunderland: L-S-Dreamland‘

OpernSeiten Meisterkurs

Seite 28

OpernSEITEN ,Maria‘ von Roman Statkowski

Seite 7 BallettSeiten … mit dem Körper gehen

Seite 32

OFFENESEITEN Redakteurin macht Theater

Seite 8

Seite 34 Seite 30

BallettSeiten Alles im Blick

BallettSEITEN Die perfekte Illusion

NiederdeutscheSEITEN ,Adams Appeln‘

Seite 10

Seite 36

OFFENESeiten ,Kriegsschatten‘

Seiten World Press Photo-Ausstellung

Inhalt

Seite 11 Seite 38 BÜHNENSeiten Auszeit mit Franziska Werner

JungeSeiten Mein ziemlich seltsamer Freund Walter

Seite 12

Seite 40 OPERNBALL Bilder einer Nacht

JungeSeiten Das Nathan-Projekt

Seite 16 Seite 42 OpernSEITEN Die Barockoper als Travestieschuppen

SeitenBühne Der Theaterhafen

Seite 18

Seite 44

Rätsel Quartett

Seite 20 SchauspielSEITEN Wie bei einem chemischen Experiment

Seite 22 KonzertSeiten Den Noten auf der Spur

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ir sehen einen Ausschnitt des Titelbildes zu Antoine Jullys Choreographie ‚Der Tod und das Mädchen‘, die innerhalb des Ballettabends ‚Schläpfer/ Jully (UA)/ Blaska‘ Ende Januar Premiere hatte. „Die Konfrontation von Gegensätzen durchzieht die Choreographie, verleiht ihr Humor und Spannung“, schrieb die FAZ. Erfahren Sie mehr auf den Seiten 7-9. Bis zu unserem vorübergehenden Umzug in den Uferpalast im Mai können Sie den Ballettabend bei uns im Großen Haus ansehen – bis dahin blühen die Blumen hoffentlich genau so bunt wie auf unserem Cover!

Rätsel Aus dem Stück gefallen

Seite 45 TheaterGeheimnis Toi Toi Toi

Seite 46 GASTSEITEN Matthias Brandt


KulissenGeflüster

NEWS … # kulturschnack Barockoper ,Siroe‘ auf Reisen Nach der Premiere von Johann Adolph Hasses Barockoper ,Siroe‘ am 2. Dezember 2017 blieb dem Regieteam Jakob Peters-Messer und Markus Meyer keine Zeit zum Ausruhen, denn nur wenige Tage später starteten sie nach sechs Wochen Probenzeit in Oldenburg in die ,Siroe‘-Probenphase in Enschede. In den Niederlanden ist ,Siroe‘ als Koproduktion des Oldenburgischen Staatstheaters mit der Nationale Reisopera seit dem 26. Januar 2018 in acht verschiedenen Städten, u. a. in Amsterdam, Utrecht und Den Haag, zu sehen. Zu erleben sind dabei auch Sänger*innen der Oldenburger Besetzung: Countertenor Nicholas Tamagna in der Titelrolle, Hagar Sharvit als indische Prinzessin Emira und Myrsini Margariti, die bei der Premiere in Oldenburg kurzfristig als Laodice eingesprungen war. Nach dem Zwischenstop der Produktion in den Niederlanden kehrt ,Siroe‘ im März 2018 für vier Vorstellungen auf die Bühne des Oldenburgischen Staatstheaters zurück.

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#Kulturschnack Jetzt wird gebloggt! Die Oldenburger Kulturszene lädt auf dem neuen Blog www.kulturschnack.de zu einer Reise hinter die Kulissen der beteiligten Kultureinrichtungen ein. Hier werden Persönlichkeiten der Institutionen, vom Künstler bis zur Mitarbeiterin, vorgestellt. Sie erzählen von Ausstellungen, Veranstaltungen, Workshops und Hintergründen, hautnah, aktuell und garantiert mittendrin – Kulturschnack eben. Mit dabei sind das Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, das Landesmuseum Natur und Mensch, das Horst-Janssen-Museum, das Stadtmuseum Oldenburg, das Edith-RussHaus für Medienkunst und natürlich das Oldenburgische Staatstheater.

Raphael Hillebrand Hip Hop-Choreograf Raphael Hillebrand, der gemeinsam mit Antoine Jully ‚Die Sieben letzten Worte‘ (Premiere am 07.04.2018) kreieren wird, ist nicht nur für seine Choreografien bekannt, sondern auch für sein politisches Engagement. Er hat im Mai 2017 die Partei ,Die Urbane. Eine HipHop Partei‘ gegründet. Diese orientiert sich an den Anfängen der Hip HopBewegung und kämpft für soziale Gerechtigkeit. Zur Bundestagswahl war die Partei, die bereits über 200 Mitglieder hat, nur in Berlin aufgestellt und hat 4000 Stimmen erhalten. Sich weiterzuentwickeln hat nun oberste Priorität. Das nächste Ziel ist, in allen Bundesländern vertreten zu sein und in zwei Jahren ins Europaparlament einzuziehen.


BALLETTSEITEN

„Man muss mit dem Körper gehen und nicht dagegen“ Kostümbildner Thomas Ziegler über den Arbeitsprozess an Antoine Jullys Uraufführung ‚Der Tod und das Mädchen‘ im Ballettabend ,Schläpfer/Jully (UA)/Blaska‘

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s ist Mitte Dezember, und für den Schweizer Kostümund Bühnenbildner Thomas Ziegler steht ein weiterer Besuch am Oldenburgischen Staatstheater an. Es ist an der Zeit, einen Prototyp des Kostüms, das er für Antoine Jullys ‚Der Tod und das Mädchen‘ entworfen hat, gemeinsam mit den Tänzer*innen sowie den Gewandmeister*innen Sabine Klemm und Joachim Meiners anzuprobieren. So kann überprüft werden, ob das ausgesuchte Material und der Schnitt am Körper funktionieren. Doch bis es zu diesen ersten Anproben kommt, ist es für Thomas Ziegler ein langer Weg. Dem eigentlichen Kostümentwurf gehen zunächst eher strukturelle Gedankengänge voraus: Wie sehen die Tänzer*innen aus? Welche Körperformen und Proportionen haben sie? In einem Konzeptionsgespräch haben sich Choreograf und Kostümbildner zunächst ausgetauscht und erste Richtlinien festgesteckt: Die Tänzer*innen können dieselbe Silhouette haben, aber Individualität soll sich durch die Stoffe bemerkbar machen. Antoine Jully hat Ziegler viel Freiheit in der Gestaltung des Kostümbildes gelassen. So konnte er sich ganz auf sein eigenes Empfinden verlassen: „Ich finde es schwierig, wenn man die Sachen zerredet. Wenn man sich nicht nah ist, muss man viel reden. Aber mit Antoine Jully fühle ich mich sehr wohl und kann intuitiv arbeiten. Es gibt einen großen Respekt.“ Woher aber nimmt der Künstler seine Inspiration, inwieweit beschäftigt er sich mit dem Stoff? Inspiration bekommt Thomas Ziegler vor allem, wenn er sich die ausgewählte Musik anhört. Sie hilft ihm, sich in eine bewusste Stimmung zu versetzen und auf den Moment zu warten, an dem die Kostümidee „wie ein Schmetterling vor seinem inneren Auge herbeifliegt“. Nachdem die Entwürfe für die Kostüme entstanden sind, werden – ganz konkret – erste Stoffmuster ausgewählt. Diese Phase ist sehr aufregend, aber auch stressig. Thomas Ziegler reist oftmals selbst zu den Hersteller*innen, um Stoffe zu begutachten. Nachdem er eine Auswahl getroffen hat, schickt er diese gemeinsam mit den Figurinen an Antoine Jully. Bestätigung und positives Feedback beschreibt der Kostümbildner als beinahe befreiendes Moment: „Das gibt einem wieder Sauerstoff.“

Perfekte Menschen werden rasch uninteressant Wie ist es nun, Kostüme für Tänzer*innen zu entwerfen? Was muss man dabei bedenken? „Vor allen Dingen darf man im Tanz den Körper nicht verpacken oder verstecken. Man muss mit ihm gehen und nicht dagegen“, sagt Thomas Ziegler. Die Körperformen der heutigen Generation von Tänzer*innen haben sich stark geändert. Es gibt nicht mehr den Anspruch, eine normgeformte Compagnie zu haben, sondern verschiedene Körper und Charaktere auf der Bühne zu sehen, das ist das Spannende. Und eben nicht nur für den Choreografen, sondern auch für den Kostümbildner: „Nur perfekte Menschen werden rasch uninteressant.“ Besonders für ein Ballett-Kostümbild müssen Einschränkungen im Material mitgedacht werden. Die Stoffe haben auf der Bühne einiges auszuhalten, werden im wahrsten Sinne des Wortes auf die Zerreißprobe gestellt und brauchen immer eine gewisse Elastizität. Einschränkungen sind für Thomas Ziegler auch ein Kanal, um zu einem neuen Resultat zu kommen: „Einengungen sind für mich nicht negativ konnotiert. Meine spannendsten Kostüm- und Bühnenbilder sind aufgrund von komischen Grundsituationen entstanden.“ Worauf kommt es an beim perfekten Kostümbild? Für Thomas Ziegler sind taugliche Stoffe, die auch visuell attraktiv sind und das Auge locken, einer der wichtigsten Aspekte. Materialien auszuwählen, Stoffe, in denen sich die Tänzer*innen gut fühlen, somit den Respekt vor dieser Kunstform zu zeigen. „Das Kostüm muss die Tänzer*innen in ihrer Kunst unterstützen und sich gut tragen lassen“, beschreibt Thomas Ziegler sein Anliegen. Die Zusammenarbeit mit der Kostümabteilung ist daher sehr wichtig für ihn. Er freut sich, wenn den Gewandmeister*innen und Schneider*innen die Figurinen und Stoffe gefallen, und sieht die Arbeit mit der Schneiderei als fruchtbare Zusammenarbeit an, in der im gegenseitigen Respekt gemeinsam an den Kostümen gefeilt wird. Nastasja Fischer

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BALLETTSeiten

Alles im Blick Die Aufgaben der Ballettmeisterin der BallettCompagnie Oldenburg Carolina Francisco Sorg und die Einstudierung der Premiere ‚Schläpfer/Jully (UA)/Blaska‘

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echs Tage die Woche um 10 Uhr stehen die Tänzer*innen der BallettCompagnie Oldenburg an den Ballettstangen und beginnen mit dem Training – und fast jedes Mal geht eine zierliche dunkelhaarige Frau zwischen ihnen auf und ab. Sie gibt die Übungen vor, gibt hier einen Tipp und macht dort eine Korrektur: Es ist die Brasilianerin Carolina Francisco Sorg, die seit 2014 Ballettmeisterin in Oldenburg ist. Vorher stand sie 20 Jahre lang selbst als Tänzerin auf der Bühne. „Mir hat das Analysieren der von den Choreograf*innen kreierten Schritte und Bewegungen im Ballettsaal immer mindestens so viel Spaß gemacht wie der Auftritt am Abend“, sagt Carolina Francisco Sorg auf die Frage, wie sie den Übergang von der aktiven Karriere als Tänzerin zur Ballettmeisterin empfunden hat. „Künstlerisch ging es nach der Ausbildung in Brasilien und Leipzig immer aufwärts für mich.“ Nach dem ersten Engagement am Theater Meiningen ging es über das Ballett Chemnitz zum ballettmainz zu Martin Schläpfer, der sie später auch mit nach Düsseldorf an das Ballett am Rhein nahm. Martin Schläpfer und Carolina Francisco Sorg proben ,Violakonzert‘

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Der Übergang zur zweiten Karriere als Ballettmeisterin gestaltete sich ganz natürlich, als sie mit ihrem Mann Antoine Jully und der kleinen Tochter 2014 nach Oldenburg ging. „Unterrichtet habe ich eigentlich schon immer“, sagt sie lachend. Schon als Ballettschülerin in Brasilien vertraute die Lehrerin ihr eine Klasse an, und später am Theater wurde sie angerufen und gefragt, ob sie einspringen und das Training geben könne, als der Ballettmeister krank war. So sitzt sie heute in den allermeisten Proben der BallettCompagnie Oldenburg, und ihrem aufmerksamen und prüfenden Blick entgeht fast nichts. Das heißt, sie sitzt oft nicht besonders viel, denn meist springt sie auf und zeigt einer Tänzerin, wie sie eine Bewegung phrasieren soll, um den gewünschten Ausdruck und die Dynamik zu erzielen. Es ist einfach phänomenal zu erleben, wie schnell Carolina Francisco Sorg überblickt und begreift, wo es „hakt“, wenn z.B. eine Hebung nicht glücken will. „Fass deine Partnerin lieber am Oberarm an und nicht am Handge-


Die Ballettmeisterin beim Training

BALLETTSEITEN

lenk, dann kannst du sie höher heben“, erklärt sie einem Tänzer. Ihr eng beschriebener Collegeblock, in dem all ihre Notizen zu sämtlichen Partien der Choreografien stehen, ist ihr ständiger Begleiter. Wenn Antoine Jully kreiert, schreibt sie gleich mit. Diese Aufzeichnungen sind häufig eine bessere und objektivere Erinnerungsstütze dafür, wie eine Bewegung genau ausgeführt werden soll, als die Videoaufzeichnung, die heute natürlich auch zur Einstudierung der Choreografien eingesetzt wird. Denn diese bilden auch immer gleich die Interpretation der Tänzer*innen ab. Außerdem ist es besonders der Erfahrungsschatz, den die Ballettmeisterin in vielen Jahren tänzerischer Arbeit mit zahlreichen Choreograf*innen erworben hat, den sie an die neue Tanz-Generation weitergibt. Dazu gehört auch viel psychologisches Gespür, um das Ensemble zu motivieren, wenn ihm eine Choreografie nicht sofort verständlich ist und es sich durch Schrittkombinationen erst einmal „durchbeißen” muss. Nachdem Carolina Francisco Sorg im Dezember viel mit den Tänzer*innen an den klassischen Variationen und Pas de deux für ,Ballett impulsiv I‘ gearbeitet hat, steht jetzt die Vorbereitung der Premiere von ‚Schläpfer/Jully (UA)/ Blaska‘ im Zentrum der täglichen Arbeit. Das morgendliche klassische Training, das in allen Ballettcompagnien auf der ganzen Welt in seiner Struktur ähnlich aufgebaut ist, da es die Tänzer*innen auf jegliche Form von Choreografie und Bewegung vorbereitet, passt Carolina Francisco Sorg mit Übungen an die Anforderungen der jeweiligen Produktion an. So fällt etwa auf, dass sie besonders großen Wert legt auf die Akzentuierung der Bewegungen und die genaue Phrasierung in der Musik. Diese Dynamik ist, genauso wie die Geschmeidigkeit des Rumpfes, für die Choreografien von Antoine Jully, der gerade ‚Der Tod und das Mädchen‘ kreiert, sehr wichtig. Ebenso verwendet Martin Schläpfer, Künstlerischer Direktor und Chefchoreograf des Ballett am Rhein Düsseldorf Duisburg, der in die-

ser Spielzeit zum zweiten Mal mit der BallettCompagnie Oldenburg arbeitet, seine eigene Bewegungssprache. Mit dieser hat Carolina Francisco Sorg viel Erfahrung, in Mainz hat sie selbst in einem Satz von ‚Violakonzert‘ getanzt. Ihre ehemalige Kollegin, die Tänzerin Yuko Kato, ist jetzt als Gast in Oldenburg, um die Choreografie einzustudieren. Den dritten Satz arrangiert und kreiert Martin Schläpfer in Oldenburg neu. Carolina Francisco Sorg lernt alle Partien mit und übernimmt die Probenleitung für alle Vorstellungen, wenn die Gäste aus Düsseldorf wieder abgereist sind. In dieser Spielzeit bietet Carolina Francisco Sorg zum ersten Mal ein Training mit Spitzenschuhen für fortgeschrittene Laientänzerinnen an. Es macht ihr viel Freude, ihre Erfahrungen mit diesem besonderen „Ballettinstrument“ weitergeben zu können. Sie vermittelt den Teilnehmerinnen zum Beispiel den Unterschied zwischen französischer und russischer Spitzentanztechnik. Während bei ersterer eher auf die Spitze gesprungen wird, rollt man für die zweite den Fuß mit viel Muskelkraft nach oben und erzielt mit jeder Variante eine andere Wirkung. Und der Fußmuskulatur widmet sich auch die erste Übung des Trainings, das sie der BallettCompagnie Oldenburg jeden Morgen an der Ballettstange gibt. Telse Hahmann

,Schläpfer/Jully (UA)/Blaska‘ ,Violakonzert‘/ ,Tam Tam et Percussion‘ (DE)/ ,Der Tod und das Mädchen‘ (UA) Choreografien von Martin Schläpfer, Félix Blaska und Antoine Jully BallettCompagnie Oldenburg Vincent Bauer und Adriano Tenorio, Perkussion sowie das Ventapane Quartett des Oldenburgischen Staatsorchesters Nächste Termine am 15./17./22. Februar, Großes Haus

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OFFENESeiten

AUF SPURENSUCHE: ,Kriegsschatten‘ Ein Theaterprojekt des Erwachsenenclubs

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er Krieg wirkt in Menschenleben weiter, auch wenn wusst hat man Verhaltensmuster übernommen, die man die Trümmer beseitigt, Häuser, Dörfer und Städte versucht abzustreifen oder auch nicht. wiederaufgebaut sind. Im Krieg wird die Würde der Menschen mit Füßen getreten. Verletzungen und Wunden gra- Interessant bei all den Recherchen sind die vielen Paralleben sich tief ins Seelenleben ein, bleiben meistens verbor- len der unterschiedlichen Familien: Jeder kennt das Phägen und können sich zu einem inneren Panzer entwickeln. nomen, dass der Opa oder die Oma immer noch Hunderte Welche Folgen hat dies für die nachkommenden Generati- von Einweggläsern im Keller einlagert, das Essen hortet und abends alle Jalousien des Hauses onen? Wie verfolgen uns ihre und unherunterlässt. Oder man erinnert sich sere Kriegsschatten im Hier und Jetzt? „Wie verfolgen uns an Personen, die sich über den Krieg Selbst 70 Jahre nach Ende des Zweiten hinweg verändert und sich in andere Weltkrieges, nimmt die KriegsgeneKriegsschatten im Welten zurückgezogen haben. Oder ration in Europa und im Speziellen in aber es passiert, dass der Vater bzw. Deutschland Einfluss auf ihre NachHier und Jetzt?” die Mutter in Anbetracht ihres eigefahren – Kinder, Enkel, Ur-Enkel, gar Ur-Ur-Enkel. Ihre Verbrechen, Verluste und Traumata le- nen Todes plötzlich Erinnerungsfetzen und Bilder äußert, ben in uns fort – in Erzählungen, in Erinnerungsstücken, die anscheinend mit Kriegserlebnissen verbunden sind, im Unausgesprochenen und Schweigen. Was haben unsere von denen man selbst als Tochter bzw. Sohn jedoch noch Vorfahren erlebt, verbrochen und erlitten? Welche Macht niemals etwas gehört hatte. haben ihre im Krieg zerstörten und gebrochenen Herzen Vor allem aber wurde nach dem Krieg und eigentlich bis noch heute in unserem Denken, Fühlen und Handeln? heute in vielen Familien wenig bis gar nicht über den Krieg Der Erwachsenenclub begibt sich auf Spurensuche – mit gesprochen und erzählt. Nur hin und wieder kamen einMenschen, die sich mit ihren Kriegsschatten in ihren Fa- zelne Erinnerungen hoch, die jeder anders einzuordnen milien oder gar eigenen Kriegserfahrungen auseinander- wusste und einordnen wollte. In der Schule, ja, da setzte man sich intensiv mit der deutschen Vergangenheit aussetzen. einander und durchleuchtete den Krieg intellektuell, aber Und das jetzt schon seit drei Monaten. Zwölf Erwachsene über die ganz persönlichen Erfahrungen und Haltungen zwischen 22 Jahren und 59 Jahren sind eingetaucht in die von Familienmitgliedern während des Krieges weiß man vergangene Zeit: Sie stöbern und recherchieren in ihrer viel weniger. Die Eltern, Großeltern und Ur-Großeltern, Familiengeschichte, entdecken alte Fotos von Eltern und die den Krieg aus erster Hand erfahren haben, wollten Großeltern aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges, finden das Ganze nur vergessen und nach vorne schauen, deren persönliche Briefe oder Urkunden, die seit Langem nicht Kinder haben meistens aus Respekt nicht nachgefragt. Die mehr von Interesse waren. Aber vor allem finden viele Enkel wiederum stellen heute eher Fragen, wobei auch Gespräche statt, und alte Familienmitglieder werden tele- die Kriegsgeneration im hohen Alter geneigter ist, darauf fonisch ausfindig gemacht und um Auskünfte und längst zu antworten. Doch die Zeit läuft davon, in wenigen Jahvergessen geglaubte Bilder und Erinnerungen gebeten. ren, vielleicht einem oder zwei Jahrzehnten wird es keiDas ist nicht leicht: Entweder wird man immer wieder mit ne Zeitzeugen mehr geben. Aber die Erinnerungen leben Leerstellen und blinden Flecken in der eigenen Familien- weiter in uns, ob wir es wollen oder nicht – eine emotiobiografie konfrontiert oder aber überschwemmt mit alten nale Verarbeitung steht in vielen Fällen noch aus. Erinnerungsfetzen, die nicht leicht einzuordnen sind, die Hanna Puka verunsichern oder gar weh tun. Sich mit der eigenen Familie auseinanderzusetzen, ist meistens hoch emotional. ,Kriegsschatten‘ Schließlich ist jeder Teil seiner eigenen Familie und aus Leitung: Hanna Puka, Amelie Maresté genau dieser Familie hervorgegangen: Man wurde zu dem Premiere am 14. April 2018, Exerzierhalle erzogen, der man heute ist, und ob bewusst oder unbe10


BühnenSeiten

Auszeit mit … … Franziska Werner in Dangast

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eit der letzten Ausgabe der Bühnenseiten stellen wir Ihnen Ausflugsziele vor, die unsere Künstlerinnen und Künstler besuchen, wenn sie einmal eine neue Umgebung entdecken wollen, die Seele baumeln lassen oder sich etwas frischen Wind um die Nase wehen lassen möchten. Weil die theaterüblichen Arbeitszeiten der Proben oder abendlichen Vorstellungen oftmals keine spontanen, weiteren Reisen zulassen, fragen wir nach Zielen in der Oldenburger Region, die für unsere Künstler*innen auf kurzem Weg zu erreichen sind und vielleicht auch Ihnen Lust auf eine Entdeckungstour machen. Unser zweites Ziel, Dangast, kommt von Franziska Werner. Sie ist seit der Spielzeit 2014/15 am Oldenburgischen Staatstheater engagiert und seitdem in Oldenburg zuhause. Wenn sie nicht gerade für eine neue Produktion probt oder unter anderem für ,Supergute Tage oder die sonderbare Welt des Christopher Boone‘, ,Sein oder Nichtsein‘, ,Utøya‘ oder ihr eigenes Stück ,Eurydike. Orpheus.‘ auf der Bühne steht, genießt sie in ihrer Freizeit gerne ausgiebige Radtouren. Wer ein paar Tage Zeit hat, kann wie Franziska Werner mit dem Fahrrad nach Leer fahren, um von dort aus am Meer entlang zurück gen Heimat zu radeln. Bei Franziska Werner weckt die wunderschöne Umgebung dabei Erinnerungen an Küstenurlaube zu Kindertagen. Die letzte Etappe, von Hooksiel zurück nach Oldenburg, führt sie für einen Zwischenstopp nach Dangast (Stadt Varel).

serviert, dient er nicht nur Radfahrer*innen als süße Stärkung. Tipp von Franziska Werner: Bestellen Sie sich am besten gleich zwei Stücke Kuchen, dann müssen Sie sich nicht erneut in die Warteschlange einreihen … Für diejenigen, die es lieber herzhaft mögen, bietet sich ab dem Frühling die Gelegenheit, im Hafen von Dangast Krabben frisch vom Kutter zu kaufen – ein wahrer Gaumenschmaus für Nordseefreunde. Dangast hat darüber hinaus ein vielfältiges Angebot an Unternehmungen zu bieten. Für Kunstliebhaber*innen lohnt sich beispielsweise ein Spaziergang entlang des Kunstpfades oder ein Besuch des zum Kunstmuseum umgebauten Wohnhauses des Malers Franz Radziwill. Im Sommer lockt das ,Watt En Schlick Fest‘ Kulturbegeisterte nach Dangast, um ein Wochenende voller Musik, Kunst, Theater und Literatur mit Blick auf das Wattenmeer zu erleben. Als Alternative zu einer mehrtägigen Fahrradtour schlägt Franziska Werner eine kürzere Variante vor: Man kann auch prima von Oldenburg aus in etwa zwei Stunden über Rastede und Varel nach Dangast radeln, Kuchen essen und bei Bedarf den Zug von Varel aus zurück nach Oldenburg nehmen. Amelie Jansen

Ein absolutes Muss bei einem Aufenthalt in Dangast ist ein Stück Rhabarberkuchen, für den der Ort überregional bekannt ist. An Wochenenden im Kurhaus ofenwarm

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OPERNBall

Bilder einer Ballnacht Beinahe 1000 Gäste verbrachten beim dritten Oldenburger Opernball im Staatstheater eine durchtanzte Nacht voller Höhepunkte

Die Ruhe vor dem Sturm

Die Sportakrobatikgruppe ,New Power Generation‘


OPERNBall

Christian Firmbach mit Unternehmer Peter Wendeln und dessen Ehefrau Anne

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m13. Januar 2018 verwandelte sich das Staatstheater über Nacht zum dritten Mal in einen festlichen Ballsaal!

Unter der Leitung von Generalmusikdirektor Hendrik Vestmann stellten Ensembles und Solist*innen ein vielfältiges musikalisches Programm auf die Beine. Nach einem festlichen Gala-Konzert und einem mitreißenden Rahmenprogramm tanzten und feierten die 1000 Gäste bis in den frühen Morgen. Tagelang hatten die Mitarbeiter*innen das Haus dekoriert, poliert und arrangiert. Im gesamten Haus wartete eine Fülle von Sinneseindrücken auf Augen und Ohren. Ob Konfetti-Regen, Luftballon-Arrangements oder Stelzenläufer*innen, der dritte Opernball übertraf die Erwartungen vieler Gäste. Zu den Höhepunkten des Abends zählte neben der Musik der renommierten Tanz-Band ,Chris Genteman Group‘ auch der mitternächtliche Auftritt der Akrobatinnen ,New Power Generation‘. Natürlich war der dritte Opernball auch wieder ein Fest der schönsten Abendkleider, zu dem sich die Männer ebenfalls herausgeputzt hatten. So erschien der TV-Moderator Jörg Pilawa in einem edlen Frack. Mit seiner einmaligen Atmosphäre knüpfte der dritte Opernball zu unserer großen Freude an die Erfolge der Vorjahre an.

Opernsängerin Martyna Cymerman

NWZ-Chefredakteur Lars Reckermann mit Tochter


OPERNBall

Die Sportakrobatikgruppe ,New Power Generation‘ sorgte mit den Jesus People aus ,Jesus Christ Superstar‘ für ein fulminantes Mitternachtsspezial

Sooyeon Lee, Hendrik Vestmann, Philipp Kapeller und das Oldenburgische Staatsorchester

Jörg Pilawa und seine Ehefrau zeigten sich erneut begeistert: „Wir sind Wiederholungstäter. Wir waren letztes Jahr auch schon da. Es gefällt uns sehr gut! Ich war schon auf so vielen Opernbällen, wie Nürnberg und Dresden, aber dies hier ist der schönste und kuscheligste.“

Die Jesus People aus ,Jesus Christ Superstar‘

Trio infernale - Ballermann im Smoking mit Klaas Schramm, Jan Breustedt und Fabian Kulp

Kammersänger Paul Brady


OPERNBall

Die „Torte“ zu Mitternacht überraschte in diesem Jahr mit vielen kleinen Köstlichkeiten

Ehepaar Diekers und Freunde

Kim Hellbusch und Stella Denkena in Traumroben

Boutique Inhaberin Gabriele Mann feierte ausgelassen mit Freundinnen

Astronaut Thomas Reiter fühlte sich mit Begleitung beim dritten Opernball „schwerelos“, wie er Christian Firmbach und Stephanie Twiehaus-Firmbach auf dem Roten Teppich verriet


OpernSeiten

VON MÄNNERN, DIE WIE FRAUEN SINGEN, UND FRAUEN, DIE WIE MÄNNER AUSSEHEN Die Barockoper als historischer Travestieschuppen

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it jedem Besuch einer Theateraufführung geht das Publikum eine Verabredung ein – für die begrenzte Zeit der Vorstellung an die Fiktionalität auf der Bühne zu glauben. Im Fall eines Opernabends bedeutet das, die enorme Künstlichkeit dieser Kunstform, in der die Figuren singend miteinander kommunizieren, für einige Stunden als Wirklichkeit zu akzeptieren. Und im besonderen Fall einer Barockopernproduktion wie ,Siroe‘, die ab dem 25. März 2018 wieder im Oldenburgischen Staatstheater zu sehen ist, heißt das auch, den Sängerinnen Yulia Sokolik und Martyna Cymerman ihre Männerrollen abzukaufen. Für das Publikum des 18. Jahrhunderts waren solche Travestierollen völlig alltäglich. Je weiter man in der Geschichte der Oper und ihrer Aufführungspraxis zu den Anfängen zurückkehrt, desto häufiger tauchen in der Opernliteratur Figuren auf, bei denen das Stimmfach der Rolle nicht ihrem Geschlecht oder dem Geschlecht der Darsteller*innen entspricht. Da bis ins 18. Jahrhundert hinein auf europäischen Bühnen oftmals nur Männer als Sänger, Schauspieler und Tänzer auftreten durften, mussten auch die Frauenrollen von männlichen Darstellern übernommen werden. Im Elisabethanischen Theater zu Zeiten William Shakespeares taten das die „boy actors“, und in Italien, wo die Kirche die

König Cosroe mit seinen ungleichen Söhnen Medarse (Yulia Sokolik) und Siroe (Nicholas Tamagna)

Mitwirkung von Frauen auf der Bühne verbot, weil Musik „in höchstem Maße der für das weibliche Geschlecht ziemlichen Bescheidenheit“ schade (Papst Clemens XI.), sangen – laut Überlieferung – die mit engelsgleichen Stimmen ausgestatteten Kastraten auch die Frauenpartien und nicht nur die heroischen Männerfiguren. (Bei letzteren Partien empfand man zur damaligen Zeit im Übrigen keine Diskrepanz zwischen der hohen Singstimme und dem virilen Rollencharakter.) Und so wimmelte es vor allem im 18. Jahrhundert auf den Bühnen nur so von Sängern in Frauenkleidern, die damit manches Opernhaus in eine Art historischen Travestieschuppen verwandelten. Bereits im 17. Jahrhundert begannen aber allmählich auch Frauen als Sängerinnen, Schauspielerinnen oder Tänzerinnen auf die öffentlichen Bühnen zu drängen. In England lösten 1660 mit der Wiedereröffnung der Londoner Theater nach zwölfjähriger Schließung Schauspielerinnen die boy actors auf den Bühnen ab. Kurze Zeit später stellten Frauen sogar die bisherigen geschlechtsspezifischen Rollenkonzeptionen auf den Kopf, indem sie – vor allem als jugendliche Helden – in Männerkleidung auftraten. Zu einer Zeit, in der es Frauen strengstens verboten war, sich in der Öffentlichkeit in Hosen zu zeigen, war eine Frau in einem solchen Aufzug, der ihren Körper zur Schau stellte, eine (erotische) Sensation. Und wie gierig das damalige Publikum nach solch einer Sensation war, zeigt die Tatsache, dass knapp ein Viertel der fast 400 Dramen, die zwischen 1660 und 1700 in London aufgeführt wurden, mindestens eine Rolle für eine Schauspielerin in Männerkleidung enthielt. Das Konzept der sogenannten Hosenrolle war damit geboren und hielt bald darauf auch Einzug in die Oper. Dass Opernsängerinnen fortan nicht nur in Frauen-, sondern auch in Männerrollen auftraten, führte zu einem großen Durcheinander der Geschlechter auf der Bühne – sowohl in stimmlicher als auch in physischer Hinsicht: Es gab Produktionen, in denen der Kastrat die Frauenpartie sang und die Primadonna den Helden, oder den besonders kuriosen Fall, dass Sängerin und Sänger während der Aufführung ihre Rollen einfach tauschten. Das soll wäh-

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König Cosroe (Phillipp Kapeller) und Arasse (Martyna Cymerman) staunen: Der Vertraute des Königs - Idarspe - scheint eine Frau zu sein (Hagar Sharvit)

OpernSEITEN

rend der Uraufführung von Carl Heinrich Grauns ,Cesare e Cleopatra‘ 1742 am Königlichen Opernhaus in Berlin passiert sein. Die Sopranistin Maria Giovanna Gasparini sang in den ersten beiden Akten die Partie der Cleopatra, der Kastrat Paolo Bedeschi die männliche Hauptrolle. Um die Gesangspartien bewältigen und die Oper musikalisch beenden zu können, tauschten beide im letzten Akt ihre Rollen. Gesteigert wurde das Geschlechtswirrwarr noch in Claudio Monteverdis musikalischem Drama ,Die Krönung der Poppea‘ (1642/1643), in der ausgerechnet neben all den hohen Frauen- und Kastratenstimmen die beiden Frauenrollen der Ammen Nutrice und Arnalta von einem Tenor gesungen wurden. Und auch die Uraufführungsbesetzung von Georg Friedrich Händels ,Xerxes‘ aus dem Jahr 1783 mutet verwirrend an: Ein Kastrat verkörperte die Titelrolle, die Rolle von Xerxes’ Bruder war als Hosenrolle angelegt, wurde also von einer Frau in Männerkleidung dargestellt, und die Partie von Xerxes’ Braut wurde zwar von einer Frau gesungen, jedoch verkleidete diese sich im Laufe der Handlung als Mann. Die barocke Konvention, auch Frauenrollen mit einer hohen Männerstimme – damals einem Kastraten, heute einem Countertenor – zu besetzen, bildet mittlerweile die Ausnahme. Eine solche war die Einspielung der Oper ,Artaserse‘ von Leonardo Vinci im Jahr 2012, bei der alle sechs Rollen – darunter auch zwei Frauenfiguren – mit Männern besetzt waren: mit fünf Countertenören und einem Tenor! Heute ist es zumeist die Regel, die Partien, die früher von Soprankastraten verkörpert wurden, mit einer

Sopranistin zu besetzen, da die meisten Countertenöre in Alt- und nicht in Sopranlange singen. Für Mezzosopran oder Alt komponierte Männerrollen werden heute sowohl von Countertenören als auch von Mezzosopranistinnen gesungen, sodass letztere Besetzung aus diesen Partien eine Hosenrolle macht. Wenn Johann Adolph Hasses virtuose Barockoper ,Siroe‘ über den persischen Königssohn ab dem 25. März 2018 für vier Vorstellungen auf die Bühne des Großen Hauses des Oldenburgischen Staatstheaters zurückkehrt, ist eine Mischbesetzung inklusive vokalem und physischem Cross-Dressing in barocker Manier zu sehen – mit Countertenor Nicholas Tamagna in der Titelpartie, Mezzosopranistin Yulia Sokolik und Sopranistin Martyna Cymerman in den Hosenrollen Medarse und Arasse und Mezzosopranistin Hagar Sharvit in der Rolle der Prinzessin Emira, die sich zur Tarnung als Mann verkleidet. Christina Schmidl

,SIROE‘ Johann Adolph Hasse (1699 — 1783) Opera seria in drei Akten Libretto von Pietro Metastasio in italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln Musikalische Leitung — Wolfgang Katschner, Thomas Bönisch Regie — Jakob Peters-Messer Nächster Termin am 25.03.2018, 18 Uhr, Großes Haus

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BÜHNENSeiten

QUARTETT Vier Bilder, eine Gemeinsamkeit – welche?*

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Bร HNENSEITEN

* Die Auflรถsung finden Sie im Impressum auf Seite 45. 19


SchauspielSeiten

Wie bei einem chemischen Experiment Die Regisseurin Luise Voigt im Gespräch In den späten Neunziger Jahren taucht etwas Neues auf den Bildschirmen der Republik auf. Ein Bastard, eine Promenadenmischung, eine Kreuzung aus Seifenoper und Reportage, aus dem Handlungsmuster einer Serie und dem verheißungsvollen Versprechen angeblich wahrer Begebenheiten: die Dokusoap. Bevorzugt behandelt werden kleine Geschichten, „die das Leben schreibt“ und die trotzdem voller Dramatik sind. Sie zeigen vermeintlich Glanz und Elend, Glück und Pech, Alltagskomik und knallharte Dramatik aus dem Leben der „einfachen Leute“. Die Medienkünstlerin Luise Voigt beschäftigt sich in ihrem neuen Projekt ‚Dokusoap. Episode 451‘ mit diesem Produkt der Fernsehkultur. Folgendes Interview entstand in einem E-Mail-Verkehr zwischen der Regisseurin und ihrem Dramaturgen Jonas Hennicke. Frau Voigt, in Ihrem neuen Projekt beschäftigen Sie sich mit dem Phänomen Dokusoap, das heißt mit Fernsehformaten wie ‚Die Auswanderer‘, ‚Die strengsten Eltern der Welt‘ oder ‚Zuhause im Glück‘. Lohnt sich solch eine Beschäftigung denn überhaupt noch? Ist Fernsehen im Zeitalter von Mediathek und Streaming-Diensten nicht längst tot? Luise Voigt: Ihre Frage impliziert, dass sich eine künstlerische Beschäftigung nur dann lohnt, wenn der Gegenstand der Auseinandersetzung im Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit steht. Das sehe ich nicht so. Denn gerade in alltäglichen und vermeintlich banalen Phänomenen, wie dem Schwall an Dokusoaps auf privaten Sendern, kann man Dokumente unserer Zeit sehen, die, gerade weil sie vieles nicht reflektieren oder mitbedenken, indem sie einfach nach Einschaltquoten lechzen, offenbaren, wie wir als Gesellschaft unbewusst gestrickt sind, und damit: woran wir eigentlich untergründig glauben. Zum Tod des Fernsehens sei gesagt – solange es Fußball gibt, gibt es auch das Fernsehen. Vielleicht ändert sich die Struktur der Sender und die Art des Konsums, aber jeder, der schon mal (wie ich) bei offenem Fenster ein WM-Finalspiel über WLAN verfolgt hat, und die Gäste der Pizzeria nebenan wussten zwei Sekunden früher, ob 20

der Elfmeter reingeht oder nicht, lernt die Vorzüge dessen kennen, was es heißt, dass es nur diesen einen in die Jahre gekommenen Übertragungsweg gibt, um den sich alle scharen wie um ein Lagerfeuer. Eine herrliche Sache. Und wie bringen Sie dieses nostalgische Lagerfeuer nun ins Theater? Fernsehen arbeitet doch sehr mit Schnitten, Kameraeinstellung und Postproduktion und weniger mit Vorhang und Guckkastenbühne. LV: Dieses Lagerfeuer muss ich gar nicht erst ins Theater bringen, das lodert dort schon seit mehreren tausend Jahren. Es ist also ganz klar, wer hier „Erste“ war. Die Guckkastenbühne mit ihrer Idee, eine Illusion von Wirklichkeit zu erzeugen, ist die Vorgängerin vom Kino und schließlich auch vom Fernsehen. Und nicht zuletzt ist der Vorhang eine frühe Form der Montage, indem er Schnitte zwischen verschiedenen Orten und Zeiten der Bühnenhandlung erfahrbar macht. Aber sowohl die Guckkastenbühne als auch der Vorhang sind in der Exerzierhalle, wo wir spielen, nicht vorhanden. Hier ist es eher der Studiound Laborcharakter des Raumes, der für unser Projekt interessant ist, da er es leichter macht, Konventionen des Erzählens zu erweitern und zu verschieben, etwas Neues auszuprobieren. Sie bringen in ihrem Labor also zusammen, was auf den ersten Blick nicht zusammen gehört? LV: Genau, das ist der Reiz daran. In unserem Fall heißt das: zwei diametral entgegengesetzte Kulturpraktiken (das Theater und das Fernsehen) miteinander zu konfrontieren, so als würde man zwei Substanzen das erste Mal zusammen mischen und gespannt warten, was passiert. Wie bei einem chemischen Experiment. Und dann knallt's? LV: Das hoffe ich. Konkret werden wir das Ergebnis einer ausgefeilten Postproduktion (den fertigen Schnitt einer Folge Dokusoap) live nachspielen, was schon allein des viel schnelleren Timings wegen eine große Herausforderung wird. Man wird sehen können, wie streng konventionalisiert und durchrationalisiert ausgerechnet das ist, was uns als authentisch verkauft wird, um ein Vielfaches mehr als jede Theaterinszenierung.


SchauspielSEITEN

beispielhaft die Abbildung eines Ehepaares, das sich die Übertragung einer Ballettaufführung in feinster Abendgarderobe ansieht – im eigenen Wohnzimmer! Aus heutiger Sicht völlig absurd. Der Beginn der Filterblase durch die Einführung des Fernsehens. LV: Ja, und zwar als ein Symptom für den Zerfall des öffentlichen Raumes – der ja von vielen Soziologen der Moderne attestiert wird. Die Frage aber, ob das Huhn oder das Ei zuerst da war, nämlich der Fernseher oder der Zerfall des öffentlichen Raumes, ist müßig. Viel wichtiger ist es mir, mit künstlerischen Mitteln zu erforschen, warum gerade die Formate, die ausschließlich der Distinktion dienen, an denen ich mich also als Zuschauer*in aufrichten kann, weil es den anderen noch schlechter geht als mir, zum absoluten Publikumsrenner geworden sind, während sich anspruchsvolle und informative Formate in der Geschichte der Dokusoaps nicht durchsetzen konnten. Wie steht es also um das gesellschaftliche und damit auch um das politische Bewusstsein, wenn Formate, die ausschließlich der Befriedigung narzisstischer Bedürfnisse dienen, so gefragt sind, dass sie das Fernsehprogramm regelrecht überfluten können?

Sie wollen uns zeigen, wie wenig reell Reality-TV ist. LV: Ja. Was aber jenseits des Formatierten den Unterschied zum Theater ausmacht und für mich eine ebenso große Rolle spielt, ist, dass ich, um ein Geschehen auf dem Fernseher zu verfolgen, keinen Fuß in den öffentlichen Raum setzen muss. Ich muss mich dabei also nicht selbst in einen gesellschaftlichen Kontext stellen, mich nicht in die Öffentlichkeit begeben und mich nicht in einem Umfeld von Anderen wahrnehmen. Das scheint heute das Normalste von der Welt zu sein. Frühe Reklamebilder für den eigenen Fernsehapparat beweisen, dass es ein großer Einschnitt gewesen sein muss, Ereignisse, die seit jeher dem öffentlichen Raum angehörten, von zu Hause aus mitzuerleben: Man findet dort

Spielen hier nicht auch finanzielle Erwägungen eine Rolle? Laien sind um vieles günstiger als gut ausgebildete Schauspieler*innen. LV: Da gibt es gegensätzliche Darstellungen zu. Die Laiendarsteller*innen verdienen natürlich wenig, das ist richtig, so eine Produktion insgesamt ist aber nicht unbedingt kostengünstiger als beispielsweise eine normale Vorabendserie. Wie dem auch sei, das viel Interessantere ist meiner Meinung nach: Es muss ja billig und schlecht gemacht aussehen, weil eine Story dadurch viel glaubwürdiger und echter, eben „authentisch“ rüberkommt. Die Ursache für eine wackelnde Kamera ist ja gerade nicht der schlecht ausgebildete Kameramann. Die Wackelkamera ist längst ein Stilmittel, das bewusst eingesetzt wird, um Authentizität vorzutäuschen. Das Interview führte Jonas Hennicke.

,DOKUSOAP. EPISODE 451‘ (UA) Ein Projekt von Luise Voigt Regie — Luise Voigt Premiere am 23.02.2018, 20 Uhr, Exerzierhalle

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KonzertSeiten

Den Noten auf der Spur Wenn im April der Spielplan der Spielzeit 18/19 vorgestellt wird, ist wieder einmal ein grundsätzlicher Teil der planerischen Arbeit geschafft.

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eben dem eingehenden Studium bisheriger Spielpläne und Konzertprogramme, der Abstimmung möglicher Stücke auf die Bedürfnisse und Möglichkeiten des Ensembles, der Suche von Regieteams und notwendigen Gästen, mussten vor allem auch wesentliche Fragen der Disposition berücksichtigt werden: Wie viele Orchesterdienste und Endproben verlangt ein Stück, welche Bühnen und Probenräume stehen zur Verfügung, wo gibt es Überschneidungen der einzelnen Sparten …? Wurde dieses Puzzle erst einmal in unzähligen Besprechungen zusammengesetzt, steht zwar der Spielplan – aber nun geht es an die Realisierung. Und während die Regieteams in aller Ruhe in Pariser Cafés, in der Leipziger Mansardenwohnung oder auf der Insel ihr Konzept entwickeln, ist im Staatstheater in Sachen Aufführungsmaterial Basisarbeit angesagt, damit am Ende auch alle aus den richtigen Noten musizieren.

Detektivische Recherche Zentrale Anlaufstelle im Oldenburgischen Staatstheater ist hierfür Martina Poelmann in ihrem zur „Notenbibliothek“ umfunktionierten Büro, das sich im Theater-Verwaltungsgebäude am Theaterwall befindet. Kaum stehen Spielplan und Konzertprogramm fest, recherchiert sie – in enger Zusammenarbeit mit den Dirigent*innen und der Dramaturgie – die verschiedenen Notenausgaben einzelner Werke. Bei Opern stellt sich dabei in der Regel die Frage nach den verschiedenen Fassungen, und da bieten eini-

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ge Opern, wie z. B. Offenbachs ‚Hoffmanns Erzählungen‘ oder Verdis ‚Don Carlos‘, eine erstaunliche Bandbreite an Möglichkeiten … Geradezu detektivisch wird die Arbeit aber vor allem bei Gala-Konzertprogrammen, sobald etwas ausgefallenere Werke gewünscht sind: Wurde der spanische Song exklusiv für Carreras geschrieben und ist gar nicht als offizielles Arrangement zu bekommen? Wo findet man eine Orchesterfassung von ‚El Vito‘ ohne Mandolinen? Warum hüllt sich der amerikanische Verlag trotz eindringlicher Nachfragen in Schweigen? Kann man den italienischen Arrangeur von ‚Cielito lindo‘ auf ein akzeptables Honorar herunterhandeln, damit er seine Noten zur Verfügung stellt? Ist die Tonhöhe für die Sopranistin die richtige oder muss man eine Ausgabe in anderer Tonart suchen? Ansichtsmaterial wird angefordert, mit dem sich Dirigent*innen zurückziehen und Singende die Umsetzbarkeit testen – und nicht selten zurückgeschickt. Oft werden die Noten in großen Paketen geliefert, (eigens für den Notenversand wurde ein großer Vorratsstapel an geeigneten Kartons angelegt). Manchmal trifft das Material aber auch digital ein, sodass es noch ausgedruckt, sortiert und geheftet werden muss. Wenn dann endlich alle Noten für ein Konzert in der Bibliothek vollständig versammelt sind, ist die Versuchung groß, mit einem Glas Prosecco anzustoßen …


KonzertSeiten

Nach dem Konzert ist vor dem Konzert Wenn nach dem Konzert der letzte Applaus verklungen ist, geht auch die Noten-Versorgung in die abschließende Runde: Das Orchestermaterial wird von den Orchesterwarten wieder eingesammelt und in die Notenbibliothek zurückgebracht. Nicht selten jedoch gehen auf geheimnisvolle Weise einzelne Stimmen eigene Wege und verschwinden spurlos, andere wiederum tauchen unerwartet aus dem Nichts auf: Im ersten Fall glühen die Telefonleitungen und werden Schränke und unzählige Notenstapel durchforstet. Für den zweiten Fall hat Martina Poelmann augenzwinkernd das Fach ,Fundstücke der Woche‘ eingerichtet, in dem die Findelkinder ihres rechtmäßigen Besitzers oder Verwahrungsplatzes harren.

Martina Poelmann in ihrem Büro

Nun geht es ans Verteilen: In einem großen Regal ihres Büros deponiert Martina Poelmann das Material, nach Produktionen sortiert. Dort holen sich die Sängerinnen und Sänger ihre Noten selber ab, um sie in ihren Korrepetitionsstunden zu erarbeiten. Chorbeauftragte bringen den Chorsatz ins Probengebäude, und die Orchesterstimmen wiederum werden von den Orchesterwarten über die Straße ins Orchesterbüro transportiert. Dort überprüft Orchesterdirektor Andreas Bertz, ob möglicherweise für ungewöhnliche Instrumente oder große Besetzungen Gäste nötig sind, und legt die Noten für die Orchestermitglieder aus, damit auch sie sich rechtzeitig auf das Konzert vorbereiten können.

Leihmaterial muss sehr bald, nachdem es abgespielt ist, an die Verlage zurückgeschickt werden (auch andere Theater geben Konzerte). Falls die Noten gekauft wurden (was erstaunlicherweise manchmal preiswerter ist als zu leihen), werden sie ins theatereigene Notenarchiv überführt: einen großen Raum im dritten Stock des Verwaltungsgebäudes, in dessen langen Regalreihen Noten aus weit über hundert Jahren lagern. Doch gleich, ob gekauft oder geliehen: Fast immer sind GEMA-Gebühren fällig, die je nach Stück, Verlag, Länge und Anzahl der Aufführungen, Größe des Zuschauerraumes etc. variieren und von Martina Poelmann detailliert abgerechnet werden. Dann werden endlich die Ordner geschlossen und ins Regal gestellt, während in den Köpfen bereits das nächste Konzertprogramm reift ... Stephanie Twiehaus

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Szene aus der Barockoper ,Siroe‘ mit Hagar Sharvit und Statisterie

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und am Ende steht ein Meisterwerk – Bericht aus der Schreibstube Unser Autor Max von Goslar auf Besuch bei den Vätern von ‚Alice im Wunderland: L-S-Dreamland‘

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er Autor steht wartend vor dem verklinkerten Ol- der Berliner Weltzeituhr. Es riecht nach Sportbeutel und denburger Bahnhof. Es ist Dezember und kühl. kaltem Rauch. Kein Computer. Keine Schreibmaschine. Norddeutsches Wetter. Der Regen scheint mal wieder Nirgends. In regelmäßigen Abständen hört man das Klavon allen Seiten zu kommen. 100% Luftfeuchtigkeit. ckern der Bowlingpins. Der Overall hockt im Schneidersitz Ein privater PK W, kein Taxi, fährt vor. Der Fahrer zeigt auf einem gelben Gymnastikball in einer Sofalandschaft. auf den Autor. Er – also ich – steige ein. Grußlos geht es Keine Ahnung, wie er das Gleichgewicht hält. Er öffnet mir in den Norden der Stadt. Oder fahren wir östlich? Nach ungefragt eine Dose Uludagˇ und weist mir den Platz zu sei15 Minuten kreuz und quer durch kleine Gassen, vorbei an ner Linken. Ich setze mich. Die Weltzeituhr schlägt elf. Erfreut sei er gewesen, als er von meinem Gründerzeithäusern, alten FabrikanKommen hörte, die beiden Künstler lagen und Matratzenfachgeschäften, „Man muss die abbekämen selten Besuch. Er sieht mich habe ich schlichtweg die Orientierung verloren. Nach noch einmal 15 gefahrene Story von nicht an. Mit seinen Fingern faltet er während des ganzen Gesprächs unMinuten halten wir an der Laderampe eines leerstehenden Supermarkts. Lewis Carroll mit an- ablässig Seerosen und kleine Tiere aus Kein Mensch, nirgends. Der Fahrer Papier. Was ich denn wissen wolle. Er deren Geschichten bedeutet mir radebrechend, er würde stellt einen kleinen, weißen Kranich mich nach einer Stunde wieder hier auf den Tisch vor mich hin. Ich weise kombinieren. Und abholen. Na mijeszo! Genau hier! Die mich als großer Kenner des Werkes Tür im Schloss. Der Wagen rast davon. der beiden aus, zitiere ausgiebig aus schon hebt das ab!” Hier soll ich also die Autoren des neu‚Dracula‘ und ‚Titanic‘, spiele kleine en Staatstheaterkassenschlagers trefSzenen an und erkundige mich ganz fen. ‚Alice im Wunderland: L-S-Dreamland‘. Doch darauf beiläufig nach dem Stand der neuen Arbeit. „Nun ja.“ Eiweist zunächst nichts hin. An der schweren Stahltür der gentlich sei der Text ja schon fertig. Lewis Carroll, der alte Rampe hängt ein Schild. Questron. Davor ein Fußabtreter. Schwerenöter, habe ihnen den Großteil der Arbeit schon Salve. vor über 150 Jahren abgenommen. „Und seine Geschichte erzählen wir auch.“ Der Erlebnispädagoge wirft einen Ich trete ein und befinde mich am Anfang eines langen Strike. Grinsekatze, Märzhase, Alice, Jabberwocky – das Ganges, der von vollen Bananenkisten gesäumt ist. Darin seien alles Großgestalten der Popgeschichte – unsterbliche bunte Krocketbälle. Product from Mongolia. Ich rufe. Keine Rockstars seit vielen Generationen. Man müsse sie jetzt Antwort. Ich rufe noch einmal. Dann hallt ein schriller Pfiff nur unbedingt ihre Geschichte etwas anders erleben lasden Flur entlang. In 50 Metern Entfernung winkt ein bärti- sen. Er faltet einen kleinen Hund. „Das Feuer wachhalten ger, etwas verlebt wirkender Mann in einem weißen Over- – nicht die Asche anbeten.“ Dafür müsse man die „abgeall. Er deutet auf seine Armbanduhr. Ich laufe in seine Rich- fahrene Story von Carroll mit anderen Geschichten kombitung, doch bevor ich ihn erreiche, ist er durch eine weitere nieren. Geschichten von anderen toten, weißen Männern kleine Tür zu meiner Rechten verschwunden. Nur welche? (und Frauen!). Und schon hebt das ab!“ Was denn das für Nach mehreren Fehlversuchen, die nacheinander in einer Tote seien, frage ich. „Richtige Geistesgrößen wie Karl May Art Kühlraum, einer Sauna und einem kleinen Atelier mit und Simone de Beauvoir, aber auch ein paar böse, garstige Aquarium enden, finde ich den weißen Overall wieder. Er Menschen – Leni Riefenstahl, Ernst Jünger, Walt Disney. sitzt in der Mitte eines großen Raumes, der sich bei nähe- Letztendlich wurde doch alles schon einmal gesagt, nur rer Betrachtung als eine Bowlinghalle entpuppt. 10 Bahnen eben nicht von jedem.“ Ob das denn auch etwas für Kin– alle leer. Nur auf der letzten schiebt ein weiterer Mann, der sei? „Klar!“ Da gäbe es für ihn keinen Unterschied. „ErTyp Erlebnispädagoge, einsam seine Kugeln. In meinem wachsene sind ja auch nur große Kinder mit Handtaschen Rücken: ein riesiger Elektrogrill, dahinter eine 1:1-Kopie und Bärten.“ Die eigentliche Frage sei allerdings die der In26


ScHAuspielSEITEN

szenierung. „Schwierig. Aber das wird der schon machen“, sagt der weiße Overall und weist auf den Erlebnispädagogen, der gerade eine Kugel in die Höhe stemmt. „Das kann der. Guter Typ. Immer lässig.“ Was man denn da erwarten könne? Kurzes Schmunzeln – ihm ist gerade ein besonders komplizierter Papier-Drache gelungen. „Wahrscheinlich viel Nebel, viel Schaum, viel Konfetti und jede Menge geile Musik aus den 70ern. Schönes Licht gibt es bestimmt auch. Und diese heißen Boys und Girls aus dem Oldenburger Ensemble.“ Da freue er sich besonders drauf. „Wie die tanzen können! Vor allem dieser dicke Amerikaner.“ Ob es denn auch wieder einen Part zum Mitmachen gäbe, fragt der Autor. Wie damals bei ‚Titanic‘, als beim Untergang die ersten vier Zuschauerreihen auf die Bühne evakuiert wurden? „Sicher wird er irgend sowas wieder machen. Dickes Spektakel. Vielleicht Limbotanzen mit den Zuschauern oder Massenkaraoke. Niedrigschwellige Publikumspartizipation, da steht Oldenburg drauf. Da sind die ganz weit vorne. Aber es wird keiner genötigt. Alles kann, nichts muss. Eigentlich eine recht einfache Sache:

Großer Text, große Show, und am Ende steht ein Meisterwerk. Aber die spektakulärste Nummer des Abends wird …“ – das uralte, riesige Handy des Overalls klingelt. Radetzkymarsch. Offenbar Mutter. Er bedeutet dem Autor, dass es länger dauern könnte und verlässt den Raum. Dieser wartet noch zehn Minuten, trinkt seine Dose Uludag ˇ aus und geht. Der Erlebnispädagoge wirft einen letzten Strike. Die Weltzeituhr ist stehen geblieben. Max von Goslar

,ALICE IM WUNDERLAND: L-S-DREAMLAND‘ (UA) von Robert Gerloff und Jonas Hennicke Regie — Robert Gerloff Premiere am 19.05.2018, 20 Uhr, Uferpalast

Impressionen der Begegnung, collagiert vom Autor © MvG

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OffeneSeiten

Redakteurin macht Theater Für das Theater hat sich NWZ-Redakteurin Jantje Ziegeler schon immer begeistert. In einer multimedialen Dokumentation lässt sie die Leser*innen an ihren Erlebnissen – bis zu den Premieren der Theaterclubs im April 2018 – teilhaben.

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ldenburg – „Oooh, schon Viertel vor!“, schallt eine Frauenstimme über den Flur. Jetzt aber flott. Der Andrang und der Trubel sind einfach zu groß, als dass es heute pünktlich um 19.30 Uhr hätte losgehen können. Es kommt mir vor, als läge das kreative Potenzial der gut 50 TheaterBegeisterten, die ins Probenzentrum des Oldenburgischen Staatstheaters gekommen sind, fast greifbar in der Luft. Sie alle wollen mitmachen! Selbst Theater spielen! Eine eigene künstlerische Welt entwickeln! Und ich, Online-Redakteurin der NWZ, bin mittendrin. Erwachsenenclub Der Erwachsenenclub des Staatstheaters bildet sich zu Beginn jeder Spielzeit neu und endet mit den Aufführungen im April. In dieser Spielzeit wird es zwei Erwachsenenclubs geben. Beim heutigen Kennenlern-Workshop wollen die verantwortlichen Theaterpädagoginnen Hanna Puka und Sandra Rasch ihr jeweiliges Thema vorstellen und die Teilnehmer*innen ein bisschen kennenlernen. Sandra Raschs Projekt lautet ,Losing my religion‘, Hanna Pukas heißt ,Kriegsschatten‘. Wer in welcher Gruppe mitmachen möchte, sollte seine Entscheidung nicht nur vom Dieter Wendt, Teilnehmer des Erwachsenenclubs

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Die BallettCompagnie Oldenburg in Antoine Jullys ,Generation Y‘

Thema abhängig machen, sondern auch das Organisatorische bedenken. Insbesondere die Tage vor der Premiere werden sehr probenintensiv. Die Gruppe muss sich auf jeden Einzelnen verlassen können – „Sonst sorgt das für schlechte Stimmung im Team“, weiß Sandra Rasch. Ach, und übrigens: Wer es hasst, auf Socken oder barfuß zu laufen, für den ist das Ganze hier nicht geeignet. Schuhe dürfen im Probenraum nicht getragen werden. Kreative Köpfe „ Ach! Hallo!“ Völlig überrascht entdecke ich zwei bekannte Gesichter unter den Interessenten. Das eine Gesicht gehört zu einem alten Schulkameraden, mit dem ich zu Schulzeiten an der Theater-AG mitgewirkt habe; das andere der inzwischen pensionierten Gymnasiallehrerin, die besagte AG geleitet hat. Die beiden haben sich kürzlich zufällig auf dem Wochenmarkt getroffen, da hat sie ihm vom Theaterclub erzählt. Keine Frage: Er wollte auch mitmachen. Überhaupt, so scheint mir, ist hier niemand dabei, der noch nie etwas mit künstlerischem Schaffen zu tun hatte.


Probenfoto ,Kriegsschatten‘

OffeneSeiten

Jetzt gibt es erstmal ein paar Aufwärmübungen. Wir beginnen durch den Raum zu laufen. Auf ein Zeichen hin sollen wir bestimmte Aufgaben möglichst schnell erfüllen. Zum Beispiel eine Fünfergruppe bilden, von der sechs Beine, drei Arme und ein Kopf den Boden berühren. Oder zu neunt ein Familienfoto stellen. Eigene Entwicklung Warum werden wir eigentlich ein eigenes Stück entwickeln? Warum spielen wir nicht einfach ,Nathan der Weise‘? Die Theaterpädagoginnen werden das oft gefragt.

Erwachsenenclub ,Kriegsschatten‘

„Klar, wir könnten auch ,Nathan der Weise‘ spielen und sagen: „Jetzt zieh dir mal ‘nen Mantel an und lauf von da nach da … Gut! Und jetzt mal in traurig“, erklärt uns Sandra Rasch, „aber das würde euch in eurer künstlerischen Entwicklung nicht viel bringen.“ Stattdessen sind unser Selbsterlebtes, unsere Erfahrungen und Gedanken gefragt. Zwei Wochen später Ich habe eine Mail von Hanna Puka bekommen. Ich bin beim Theaterclub dabei! Auf zum ersten Treffen, um meine Gruppe kennenzulernen! „Es war sehr schwierig, eine Gruppe zusammenzustellen, da so viele spannende Persönlichkeiten beim Kennenlern-Workshop anwesend waren“, erzählt Hanna Puka seufzend. Doch da erfahrungsgemäß nur eine Gruppe mit maximal 13 Teilnehmer*innen gewährleistet, dass jeder darin wahrgenommen werden kann, mussten die Theaterpädagoginnen vielen absagen. Unsere ,Kriegsschatten‘Gruppe besteht – neben Hanna Puka und Amelie Maresté, die ein Freiwilliges Soziales Jahr am Theater absolviert – aus zwölf Männern und Frauen unterschiedlicher Generationen und Nationalitäten. Jantje Ziegeler Mit freundlicher Unterstützung der NWZ Was wir gemeinsam erleben und entwickeln? Das erfahren Sie in der Multimedia-Dokumentation unter

www.nwzonline.de/theaterclub

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BALLETTSeiteN

Die perfekte Illusion Wie ein Schuh die Ballettwelt veränderte Der Spitzenschuh gilt als das Symbol der schwebenden Ballerina. Trotzdem suchen auch heute noch zeitgenössische Choreograf*innen fern der großen klassischen Ballette nach neuen Interpretations- und Einsatzmöglichkeiten der Spitzenschuhe. So sind sie weiterhin ein wesentlicher Bestandteil der Ballettkunst – mit einer Geschichte, die über zwei Jahrhunderte zurückgeht. Eine Spurensuche. Wer hat den Spitzenschuh erfunden und wer als erste Tänzerin getragen? Darüber streiten sich die Historiker*innen bis heute. Konkretere Aufzeichnungen über den Einsatz von Spitzenschuhen gibt es seit Beginn des 19. Jahrhunderts, als die Epoche der Romantik Einzug in die Künste hielt. Das Interesse an einer anderen Welt, einer Welt des Jenseits, wuchs, und so setzten sich Künstler*innen das Ziel, die Darstellung des Märchenhaften und Schwerelosen, von Naturgeistern und Feen auf der Bühne noch glaubhafter zu machen. Tänzerinnen wurden beispielsweise an Schnüren befestigt und hochgezogen, sodass sie für einen Moment auf den Zehen tanzen konnten und den Eindruck des Schwebens erweckten. Doch man stellte sich die Frage, wie dieser Schwebeeffekt ohne aufwendige Bühnentechnik realisiert werden konnte. Der Spitzenschuh kam ins Spiel, und es war die Tänzerin Marie Taglioni, die als Starballerina des romantischen Balletts den Spitzentanz verfeinerte und als sublimes, künstlerisches Ausdrucksmittel einsetzte. Für die Premiere des Balletts ‚La Sylphide‘ im Jahr 1832 gelang der Tänzerin durch

den Einsatz der Spitzenschuhe als Erster die perfekte Illusion der schwebenden Waldfee. Allerdings konnte sie mit ihren wenig verstärkten Schuhen nur einige Minuten auf Spitze tanzen. Eine Weiterentwicklung war nötig. Erst im Übergang zum 20. Jahrhundert wurde die sogenannte harte „Box“ entworfen, die das Tanzen auf den Zehenspitzen maßgeblich erleichterte. Bis heute wird an dem perfekten Spitzenschuh gearbeitet, und neue Technologien werden erforscht, die Schmerzen und das Verletzungsrisiko senken sollen. Hinter dem Einsatz des Schuhs, der auf der Bühne Leichtig- und Schwerelosigkeit suggerieren soll, steht nicht nur sehr viel Anstrengung und technische Präzision der Tänzerinnen, sondern auch die Herstellung bis hin zum Einsatz der Schuhe ist wahrhaft eine besondere Kunstform. Spitzenschuhe werden handgemacht, und jede Tänzerin hat ihren eigenen Spitzenschuh mit personalisierten Größen-, Breiten- und Längenangaben. Sogenannte „Maker“ stellen die Schuhe her. Je nach Beliebtheit des Makers kann die Lieferung bis zu neun Monate dauern. Die geeigneten Spitzenschuhe zu finden, ist ein langer Prozess, denn sie müssen der Tänzerin perfekt passen und wie eine zweite Haut sitzen. Doch obwohl der Herstellungsprozess aufwendig ist, halten Spitzenschuhe meist nicht länger als zwei Wochen. Je nach Intensität des Gebrauchs sind sie dann zu weich und „ausgetanzt“. „Meine Schuhe überstehen nicht mal einen ‚Schwanensee‘!“, soll eine Tänzerin einmal ausgerufen haben. Bevor die Schuhe das erste Mal zum Einsatz kommen, haben Tänzerinnen noch viel Arbeit vor sich. Zunächst einmal müssen Gummi- sowie Stoffbänder als Halt an die Schuhe genäht werden. Was danach passiert, gestaltet jede Tänzerin individuell. Einige nässen die Schuhe, nachdem sie fertig genäht sind, um die Form zu lockern und sie den Füßen und der Bewegung anzupassen, andere klopfen sie gegen Wände und Böden. Außerdem kann Schellack (üblicherweise für Holzpolitur gedacht) auf die Spitze aufgetragen werden, die dadurch härter wird und Halt gibt. Der Grat, die richtige Härte zu finden, ist ein sehr schmaler, und jede Tänzerin muss selbst herausfinden, was nötig ist, um den für sie perfekten Schuh zu gestalten. Nastasja Fischer

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OPERNSEITEN

OFFENER MEISTERKURS MIT OPERNSTAR VIVICA GENAUX

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or zwei Jahren war die gefeierte Mezzosopranistin Vivica Genaux schon einmal am Oldenburgischen Staatstheater zu Gast: als Romeo in einer konzertanten Aufführung von Bellinis Belcanto-Oper ‚I Capuleti e i Montecchi‘ im Rahmen des 27. Bremer Musikfestes. Jetzt kehrt der gefeierte Weltstar zurück. In Vorbereitung auf die Neuproduktion von Rossinis ‚La Cenerentola‘ gibt die Spezialistin für atemberaubende Koloraturen, die selbst schon als Rossinis Aschenputtel u.a. an der Hamburgischen Staatsoper, der Semperoper Dresden oder am Théâtre des Champs-Elysées in Paris zu erleben war, für das Opernensemble des Staatstheaters einen Meisterkurs zur Stilrichtung des Belcanto. Am 9. März 2018 werden die Ergebnisse dieses Meisterkurses um 20 Uhr in einer offenen Probe im Kleinen Haus interessiertem Publikum präsentiert.

Offener Meisterkurs mit Vivica Genaux 09.03.2018, 20 Uhr, Kleines Haus

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OPERNSeiteN

Maria, unschuldiges Opfer skrupellosen Machtstrebens Deutsche Erstaufführung der Oper ‚Maria‘ des polnischen Komponisten Roman Statkowski

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m Grunde genommen müsste sie ‚Wacław‘ heißen, diese Oper, die in einem dramatischen Bilderbogen einen Vater-Sohn-Konflikt beschreibt, der, angetrieben von der eiskalten Machtgier des Vaters, das Glück eines jungen Paares radikal zerstört: Die Handlung ist im 17. Jahrhundert im Gebiet der heutigen Ukraine angesiedelt: Wacław, der Sohn des Woiwoden, soll nach Willen des Vaters die polnische Königstochter heiraten, um somit für den gesellschaftlichen Aufstieg der Familie zu sorgen und deren Macht zu vergrößern. Dieser aber hat im Geheimen bereits seine große Liebe Maria geheiratet, die sein Vater für nicht standesgemäß hält. Der Woiwode nimmt die Auflehnung des Sohnes gegen seinen Willen nicht hin und setzt alles daran, die Verbindung zu zerschlagen. Unter dem Vorwand, er werde Wacław und Maria doch noch seinen Segen geben, sobald sich sein Sohn kriegerische Ehren erworben hat, lockt er diesen zusammen mit Marias Vater in den Krieg und lässt die junge Frau unterdessen ermorden. Als Wacław bei seiner Rückkehr vom Tod seiner Geliebten erfährt, schwört er blutige Rache am eigenen Vater.

Hochromantische Vertonung eines polnischen National-Epos Grundlage der Oper ist das gleichnamige Epos Antoni Malczewskis (1793 – 1826), das zu den wichtigsten NationalEpen der romantischen polnischen Literatur zählt. Malczewski verarbeitet in diesem 1825 erschienenen Werk eine historische Begebenheit aus dem Jahre 1771, nimmt sich dabei jedoch zahlreiche künstlerische Freiheiten. Nicht zuletzt verlegt er das Geschehen ins Gebiet der heutigen Ukraine, um das im 16. bis 18. Jahrhundert immer wieder kriegerische Konflikte zwischen Polen, Russland und dem Osmanischen Reich entbrannten, und datiert es um rund ein Jahrhundert zurück. Dabei lässt er in seine Verserzählung zahlreiche folkloristische Elemente einfließen und gibt sich somit als typischer Vertreter einer polnischen Nationalliteratur zu erkennen, die stets um eine Stärkung der eigenen Identität bemüht war. Gleichzeitig verleiht er dem Geschehen einen ausgesprochen düsteren und leidenschaftlichen Charakter, der das Werk in die Nähe der englischsprachigen schauerromantischen Literatur rückt und die Begeisterung 32

ihres Schöpfers für dessen bedeutenden und stilbildenden Vertreter Lord Byron erahnen lässt. Dass der Kompositionswettbewerb der Warschauer Philharmonie im Jahre 1904 ausgerechnet auf dieses Werk zurückgriff und es zum Thema einer neu zu schaffenden Oper machte, entbehrt nicht einer gewissen Logik, war es doch eine Zeit, in der das Land einen wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung erlebte und sich somit in einem von Nationalstolz geprägten Epos in idealer Weise repräsentiert sah. Dass mit Roman Statkowski (1859 – 1925) dann ein Komponist den Wettbewerb gewann, der sich einer traditionsorientierten Musik verpflichtet fühlte, unterstreicht dies noch. Traditionsbezug oder Wendung zur Moderne – eine künstlerische Entscheidung Allgemein war die Zeit um das Jahr 1900 in Europa von großen Umbrüchen geprägt: Gesellschaftsformen wandelten sich, Weltbilder zerbrachen, Traditionen wurden kritisch hinterfragt, die Ideen der Moderne brachen sich Bahn. Selbstverständlich nahm die zeitgenössische Kunst all diese Veränderungen höchst sensibel wahr und spiegelte sie in all ihren Facetten wider. Für Künstler*innen stellte sich dabei die zentrale Frage der eigenen Positionierung: Bewahren der Tradition oder radikaler Aufbruch zu neuen Ufern? Auch an der polnischen Kunst, in der die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und der tiefe Wunsch einer nationalen Identität stets von besonderer Bedeutung waren, ist diese Thematik deutlich erkennbar. So bildete sich um die Jahrhundertwende einerseits die Gruppe ,Junges Polen‘, die Künstler*innen aller Gattungen in dem Wunsch vereinte, sich den modernen Strömungen der Zeit zu öffnen. Dem gegenüber stand die Gruppe der Kunstschaffenden, deren Anliegen es war, sich auf die eigenen Wurzeln zurückzubesinnen und eine typisch polnische kulturelle Identität für die Zukunft zu bewahren. Roman Statkowski, der sich zu dieser Zeit bereits im polnischen Kulturleben etabliert hatte, ist zweifellos letzterer zuzuordnen. Und so schafft er mit seiner Oper ‚Maria‘ ein Werk, in dem der Geist einer polnischen Nationaloper, wie er Mitte des 19. Jahrhunderts von Stanisław Moniuszko mit ‚Halka‘ begründet worden war, fortlebt.


OPERNSeiten

Wacław an seinem Vater, der Malczewskis Epos beschließt, durch den Freitod des jungen Mannes ersetzt, der sicherlich nicht von ungefähr Assoziationen an Isoldes Liebestod wachwerden lässt.

Zwischen Tschaikowsky und Wagner Sein Kompositionsstudium absolvierte Roman Statkowski zunächst in Warschau, dann jedoch zog es ihn ans renommierte Konservatorium in St. Petersburg, das – 1862 von Anton Rubinstein gegründet – als eine der bedeutendsten Ausbildungsstätten seiner Zeit galt. Als Schüler von Nikolai Solowjow und Nikolai Rimski-Korsakow befasste er sich intensiv mit der russischen Musik und erhielt durch sie wichtige Impulse für sein eigenes Schaffen. Seine Oper ‚Maria‘ zeigt diese Einflüsse sehr deutlich: Im ebenso romantischen wie melancholischen Gesang der Titelfigur meint man Tschaikowskys Tatjana aus ‚Eugen Onegin‘ zu hören, folkloristisch geprägte Tanz- und Chorszenen erinnern an die großen Tableaux eines Borodin oder Rimski-Korsakow, ausgedehnte, hoch atmosphärische Zwischenspiele führen in die Welt der russischen Sinfonik, und das Zitat orthodoxer Kirchenmusik verleiht dem Werk eine weitere Nuance slawischen Lokalkolorits. Bei all dem zeigt sich Statkowski den modernen musikalischen Strömungen seiner Zeit aber keinesfalls verschlossen. Insbesondere seine Begeisterung für die Musik Wagners ist unüberhörbar: So arbeitet er mit leitmotivischen Techniken, wie beispielsweise im Falle des Liebesthemas, das bereits in der Ouvertüre etabliert wird und im Folgenden das gesamte Stück durchzieht, und nimmt außerdem sogar deutlich Bezug auf konkrete Werke des Komponisten, wenn etwa das Vorspiel des zweiten Aktes, in dem der wilde Ritt eines Kosaken dargestellt wird, deutlich an die Gewitterszene aus Wagners ‚Walküre‘ erinnert, oder er den Rachemord des

Ein musikdramatisches Juwel Dass sich Roman Statkowskis Oper ‚Maria‘ nicht im europäischen Opernbetrieb etabliert, ja, mehr als 100 Jahre nicht einmal den Sprung über die Grenzen seines Entstehungslandes geschafft hat, dürfte an der vergleichsweise in sich geschlossenen polnischen Opernszene gelegen haben, möglicherweise auch an der wenig verbreiteten polnischen Originalsprache beziehungsweise fehlenden Übersetzungen des Werks. Sicherlich ist diese Tatsache aber in einer fehlenden Bühnenwirksamkeit des Werkes nicht begründet, denn das hat alles zu bieten, was mitreißendes Musiktheater braucht. In einer überaus atmosphärischen, farbenreichen und sinnlichen Musiksprache bringt Statkowski, der auch selbst das Libretto der Oper schrieb, den blutigen Vater-Sohn-Konflikt auf die Bühne. Der Woiwode erscheint hier als ein Herrscher, für den ein Menschenleben schlichtweg nichts bedeutet, als ein Mann, der es ebenso in Kauf nimmt, den eigenen Sohn im Krieg zu verlieren, wie er ungerührt den Befehl zur Ermordung der verhassten Schwiegertochter gibt. Sein Sohn Wacław ist gegen diese Gewalt machtlos. Er flüchtet sich in seine Liebe zu Maria, die ihm als einziger Rückzugsort erscheint, unter den gegebenen Bedingungen aber nahezu utopisch ist. Letztendlich wählt er den einzigen Weg, der ihm zum Widerstand gegen den Vater bleibt, denn mit seinem Selbstmord stirbt er nicht allein einen romantischen Liebestod, sondern entscheidet sich vielmehr noch bewusst dafür, die familiäre Linie nicht weiterzuführen. Er wählt somit also das radikalste Mittel, die väterliche Macht für alle Zeit zu brechen. Maria gerät dabei zwischen die Fronten. Auch sie schöpft Kraft und Hoffnung aus der Liebe, doch lassen ihre stetig wiederkehrenden dunklen Ahnungen vermuten, dass sie – möglicherweise rein instinktiv – die Ausweglosigkeit der Lage erkennt. Und so wird sie am Ende zum unschuldigen Opfer eines skrupellosen Machtspiels. Annabelle Köhler

,MARIA‘ Oper in drei Akten Libretto vom Komponisten nach einem Gedicht von Antoni Malczewski In polnischer Sprache mit deutschen Übertiteln Musikalische Leitung — Hendrik Vestmann Regie — Andrea Schwalbach Premiere am 17.03.2018, 19.30 Uhr, Großes Haus

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NIEDERDEUTSCHESeiten

„PLATTDEUTSCH ZU SPRECHEN IST FÜR MICH ETWAS SEHR PRIVATES“ Regisseurin Hanna Müller gibt mit ,Adams Appeln‘ ihr Debüt in Oldenburg Hanna, du bist gebürtige Ostfriesin und kommst aus Fehnhuen im Südbrookmerland. Was ist dein persönlicher Bezug zur plattdeutschen Sprache? Hanna Müller: Mich verbindet die Sprache natürlich sehr mit meiner Heimat, mit meinen Großeltern, mit deren Generation und mit meinem Dorf. Dort wird Platt gesprochen und meine Mutter ist auch komplett plattdeutsch aufgewachsen. Für sie ist das wirklich die erste Sprache, für mich eher die zweite. Irgendwie habe ich immer das Gefühl, dass sich die ostfriesische Mentalität in dieser Sprache nochmal klarer ausdrücken kann. In jeder Sprache liegt ja auch immer eine Seele. Und die ostfriesische Seele, die ist für mich ganz eng mit dieser Sprache verbunden. Also, die Landschaft, die Menschen und die Sprache, das gehört für mich sehr eng zusammen. Du arbeitest seit fünf Jahren deutschlandweit als freiberufliche Regisseurin. Ist ,Adams Appeln‘ deine erste plattdeutsche Inszenierung? HM: Ich habe ein paar Mal den plattdeutschen Jugendclub in Hamburg am Ohnsorg Theater geleitet. Das war immer sehr schön, weil man da die Jugendlichen an die Sprache heranführt und es für sie zu Beginn erstmal ganz fremd ist. Wir haben dort mit der Zweisprachigkeit von Plattund Hochdeutsch gearbeitet. Aber dass ich ein komplettes Stück auf Plattdeutsch inszeniere, ist das erste Mal. Das ist Hanna Müller während einer Probe

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anders, weil ich hier das Gefühl habe, dass es ganz stark um das Bewahren der Sprache geht. Um Kulturpflege. Das ist für mich nochmal ein neuer Aspekt im Umgang mit der Sprache. Ich finde es immer lustig, dass auf den Proben eigentlich gar kein Plattdeutsch gesprochen wird, sondern Hochdeutsch. Das Plattdeutsche ist für viele keine aktive Sprache. Auch für mich ist Hochdeutsch die Arbeitssprache. Plattdeutsch zu sprechen ist für mich sehr privat und persönlich. Was ist dir in der Theaterarbeit mit der plattdeutschen Sprache besonders wichtig? HM: Auf der Bühne ist es mir immer wichtig, dass es einen Sinn hat, weshalb die Spieler*innen Plattdeutsch sprechen. Ich finde, man kann nicht jedes Stück einfach auf Plattdeutsch machen. ,Adams Appeln‘ ist aber in einem Milieu angesiedelt, in dem es total Sinn macht. In einer Kirchengemeinde auf dem Dorf, da kann ich mir gut vorstellen, dass Plattdeutsch die erste Sprache ist, in der sich die Bewohner*innen unterhalten. Die Produktion ,Adams Appeln‘ ist wie alle Produktionen der August-Hinrichs-Bühne mit Amateurschauspieler*innen besetzt. Worin siehst du dabei eine Herausforderung? HM: Man muss sehr viel genauer in den Situationen arbei-


NiederdeutscheSeiten

ten. Man muss genauere Vorgaben machen und konkretere Angaben zu den Szenen. Ich schmeiße Schauspieler*innen auch gerne mal in die Szenen rein und gucke, was passiert, was man davon verwenden kann. Und dann begibt man sich in den gemeinsamen Diskurs: „Was hat uns gefallen oder was wollen wir nochmal ganz anders machen?“ Mit Amateur*innen braucht es eine konkrete Herangehensweise. Dadurch arbeitet man direkter und zum Teil auch effektiver. Was fasziniert dich am meisten an dem Stoff von ,Adams Appeln‘? HM: ,Adams Appeln‘ ist zwar ein Stoff, der viele christliche Aspekte hat und sich auf biblische Motive bezieht, aber keine frömmliche Angelegenheit ist. Es ist ein Stück, das eine Idee und eine Fantasie von Gutmenschlichkeit vermittelt, und davon, dass es wichtig ist, das Gute im Menschen zu suchen. Ohne dabei naiv oder kleingeistig zu sein, erlaubt es sich eine Bösartigkeit und Abgründigkeit und eine Aus-

einandersetzung mit den Tiefen und Schattenseiten von Menschsein und Menschlichkeit. Dabei äußert der Stoff den naiven Wunsch, dass das Gute im Menschen stärker ist als das Schlechte. Das finde ich eine große Stärke. Es gibt sehr viele Motive, die auf den unterschiedlichen Ebenen verarbeitet wurden. Die Hiob-Geschichte, den strafenden Gott. Und dann ist man darüber auch sofort in einem politischen Diskurs, der es schafft, alle diese Themen aufzugreifen, ohne einen zu überladen. Oder moralisch zu werden. Sondern es bleibt die ganze Zeit leicht und unterhaltsam. Das Interview führte Sarit Streicher.

,ADAMS APPELN‘ von Anders Thomas Jensen Niederdeutsch von Arne Christophersen Regie — Hanna Müller Premiere am 11.02.2018, 18.30 Uhr, Kleines Haus

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World Press Photo-Ausstellung Das Oldenburgische Staatstheater ist Kooperationspartner der diesjährigen Ausstellung und an drei Veranstaltungen beteiligt

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om 17. Februar bis zum 11. März 2018 wird die World Press Photo-Ausstellung zum dritten Mal im Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte im Oldenburger Schloss zu sehen sein. In den vergangenen zwei Jahren sahen sich in Oldenburg über 30.000 Besucher*innen die Ausstellung der besten Pressefotos der Welt an. Weltweit wird die Ausstellung in 100 Städten in 45 Ländern gezeigt und von circa vier Millionen Menschen jährlich besucht. Nach Oldenburg geholt hat die Ausstellung vor drei Jahren das Team der Medienagentur Mediavanti um deren Gründer Claus Spitzer-Ewersmann. Zu seinen Beweggründen, die Ausstellung in Oldenburg zu zeigen, schreibt er: „Ich habe die Ausstellung in Singapur gesehen und war sehr beeindruckt, auch von den Reaktionen der Besucher. Die Motive zei­gen auf sehr prägnante Art und Weise die Umstände, unter denen wir heute leben – die Katastrophen und Konflikte,

aber auch die heiteren Seiten. Mich haben diese Bilder tief berührt. Nicht umsonst gilt der World Press Photo Contest als einer der wichtigsten Fotowettbewerbe der Welt.“ Was die Ausstellung vor Ort so besonders macht, ist neben den großartigen Bildern das umfangreiche und kreative Rahmenprogramm, das das Team von Mediavanti zusammenstellt und organisiert. Es wird Diskussionen, Vorträge, Multimedia-Aktionen und einen Fotosprint geben, an denen sich die Besucher*innen aktiv beteiligen können. „Mit dem Rahmenprogramm wollen wir den Facettenreichtum der Fotografie aufzeigen und vor allem Menschen erreichen, die sich sonst eher nicht dafür interessieren. Deshalb lassen wir Fotografen unterschiedlicher Couleur von ihrem Alltag berichten, ihre Arbeiten zeigen, ihre Ideen und Ansätze verdeutlichen“, so Spitzer-Ewersmann.

Das diesjährige Siegerfoto des Fotografen Burhan Ozbilici

Fotograf: Francis Peréz

Fotograf: Christoph Bangert

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Seit 1955 werden die weltweit besten Pressefotos professioneller Fotografen gekürt. 1960 gründete sich die Stiftung World Press Photo. Eine jährlich wechselnde internationale Jury, bestehend aus 19 Fachleuten unterschiedlicher Bereiche des Fotojournalismus, wählt aus mehreren Kategorien die besten Fotos aus. So entsteht eine Ausstellung ausdrucksstarker, teils ikonenhafter Bilder – ein Spiegel politischer, kultureller und gesellschaftlicher Ereignisse. Der Wettbewerb zeigt mit seinen bewegenden, teils schönen, aber auch oft erschütternden Bildern ein Berufsbild, das gleichermaßen Hingabe wie Mut und Entschlossenheit erfordert: „Es ist die Gesamtheit der Aufnahmen, die niemanden kalt lässt. Es sind die Aufnahmen aus Regionen der Welt, die wir in keiner Tagesschau sehen, die wir nicht täglich in den Zeitungen finden. Die Fotografen, die sich dort aufhalten, riskieren oft genug ihr Leben, um uns das Grauen und den Schrecken näherzubringen und uns die Augen zu öffnen“, erzählt Spitzer-Ewersmann. Für die aktuelle Ausstellung wurden aus 80.408 eingereichten Fotos von 5.034 Fotografen aus 125 Ländern letztendlich Bilder von 45 Fotografen aus 25 Ländern ausgewählt. Neben einem jährlichen Pressefoto des Jahres, zeigt die Ausstellung Serien und Einzelbilder in den Kategorien Allgemeine Nachrichten, News, Zeitgenössische Themen, Alltägliches Leben, Portrait, Natur, Sport und Langfristige Projekte. Das diesjährige Siegerfoto stammt von dem türkischen Fotografen Burhan Ozbilici und zeigt den 22-jährigen türkischen Polizisten und Attentäter Mevlüt Mert Altıntas˛ kurz nachdem er bei einer Ausstellungseröffnung in Ankara im Dezember 2016 den russischen Botschafter Andrej Karlow erschossen hat. Im Hintergrund ist der leblose Botschafter auf dem Boden zu sehen, während der Attentäter im Vordergrund in der Rechten die Waffe hält und den linken Zeigefinger triumphierend in die Luft streckt. Das Foto löste eine kontroverse Diskussion darüber aus, wo die Grenzen des Zeigbaren sind. Ist es notwendig, den Vorgang unmittelbar zu zeigen oder bietet man dem Attentäter dadurch eine ungewollte Plattform? Eine Frage, die sich auch das Team der Medienagentur Mediavanti und der World Press Photo-Ausstellung Oldenburg gestellt hat, und in einer Veranstaltung des Rahmenprogramms diskutieren möchte. Am 20. Februar wird im NWZ Pressehaus eine Diskussionsrunde zum Thema ,Die Grausamkeit der Geste – Wie weit dürfen Pressefotos gehen?‘ stattfinden. Neben Lars Reckermann (Chefredakteur der NWZ), Prof. Dr. Rainer Stamm (Leiter Landesmuseum

für Kunst und Kulturgeschichte) und Dr. Kerstin Brandes (Direktorin des Instituts für Kunst und visuelle Kultur der Universität Oldenburg) wird auch Generalintendant Christian Firmbach auf dem Podium sitzen und von seinen Erfahrungen mit brutalen und grausamen Bildern berichten. Auch der Vortrag, der im Rahmen der World Press PhotoAusstellung von dem Kriegsfotografen Christoph Bangert im Oldenburgischen Staatstheater gehalten wird, beschäftigt sich mit der Grausamkeit der Bilder. Am 22. Februar wird er im Spielraum über seine Arbeit als Fotograf in Krisenregionen berichten. Er war unter anderem in Palästina, Japan, Darfur, Afghanistan, Indonesien, Pakistan, USA, Libanon, Nigeria, Zimbabwe und dem Irak tätig. Seine Bilder werden in der internationalen Presse veröffentlicht, außerdem gewann er bereits einen World Press Photo Award. In seinem neuesten Fotoband ,Hello Camel‘ zeigt er die absurde und surreale Seite des Krieges. Er stellt unserer klischeehaften Vorstellung des modernen Krieges als rasantes, dramatisches und heroisches Ereignis einen ruhigen und aufgeräumten, aber auch eigenartigen und fremden Blick auf die Kriege in Afghanistan, Gaza und dem Irak entgegen. Gleichzeitig dokumentiert er das Streben nach Normalität im Angesicht von Gewalt und Chaos. Um eine ganz andere Art von Bildern geht es bei einer der Sonntagsmatineen des Rahmenprogramms. Unser Theaterfotograf Stephan Walzl wird gemeinsam mit Jörg Landsberg, Fotograf vom Theater Bremen, über die Besonderheiten der Bühnenfotografie berichten. Wie schafft man es, unter schwierigen Lichtverhältnissen in abgedunkelten Räumen und während des schnellen Spiels auf der Bühne den perfekten Moment abzulichten? Gesine Geppert

Theater trifft auf das Rahmenprogramm der World Press Photo-Ausstellung ,Die Grausamkeit der Geste‘ 20.02., 19 UHR, NWZ-PRESSEHAUS

,Der Krieg im Bild‘ CHRISTOPH BANGERT 22.02., 19 UHR, SPIELRAUM, OLDENB. STAATSTHEATER

,BÜHNENBILDER – GEDANKEN ZUR THEATERFOTOGRAFIE‘ 25.02., 11 UHR, Buchhandlung Isensee

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JUNGESeiteN

Mein ziemlich seltsamer Freund Walter Interview mit Regisseurin Katharina Birch ,Walter‘ ist Katharina Birchs erste Regiearbeit in Oldenburg. Grund genug für ein Gespräch. Du bist hauptsächlich in Ostfriesland aufgewachsen, hast dann die Region für Studium und Beruf verlassen, einige Jahre in England gelebt und bist jetzt wieder zurückgekehrt. Welche Gründe gibt es für die Rückkehr? Katharina Birch: Wir sind wegen einer guten Mischung aus privaten, politischen und damit natürlich auch beruflichen Gründen zurückgekommen. Ich wollte anfangs gar nicht so wirklich nach Deutschland zurück. Als wir nach sechs Jahren London aufs Land gezogen sind, in die „English Countryside“, wurden wir plötzlich mit einem stark entwickelten ZweiKlassen-System konfrontiert, in dem wir uns so gar nicht wiederfinden konnten und wollten. Im Pendlergebiet von London hält man es eigentlich nur aus, wenn man konservativ oder wohlhabend ist. Beides trifft auf uns nicht zu, und London war inzwischen leider keine Option mehr für uns. Das englische (Sozial-)System erschwerte es uns, die Rollenverteilung zu Hause nach unseren Wünschen zu leben. Der Wiedereinstieg in die (Theater-) Arbeit als junge Mutter ist wahnsinnig schwierig, als Selbständige im Allgemeinen. Man muss es sich buchstäblich leisten können, als Mutter arbeiten zu können … Rückblickend würde ich sagen, dass wir damals schon die ersten Schübe der fürchterlichen Brexit-Stimmungsmache zu spüren bekamen. Ich fühlte mich mit unserem freien, internationalen Familienleben immer unerwünschter und fehl am Platz. Leider. Es war eigentlich mein Mann, der die Idee hatte, nach Deutschland zu ziehen. Er hatte Lust auf „ Ausland“. Unsere Kinder sind in England geboren und wir haben eine sehr liebe Familie dort. Der Abschied fiel also schon schwer. Hat sich dein Blick auf die Heimat verändert? KB: Ja, definitiv. Im Ausland reflektiert man ja zwangsläufig über seine sogenannten Wurzeln, über den Begriff „Heimat“ und über die eigene Identität. Ich schätze unsere persönliche Freiheit hier in Deutschland. Es ist nicht selbstverständlich, so beschützt und frei zugleich leben zu können. Ich bin mir sehr der sozialen Ungleichheiten in Deutschland bewusst und 38

verzweif le daran. Vieles ist jedoch auch eine Frage der Perspektive. Es geht uns schon ziemlich gut hier – im Weltvergleich sowieso. Und trotzdem gibt es so einiges, für das wir noch auf die Straße gehen müssen! Ich bin unendlich dankbar, in einem demokratischen Land zu leben, in einer grundsätzlich weltoffenen Gesellschaft, in der es Platz für Kunst, freies Denken und Menschen auf der Flucht gibt. In den acht Jahren in England habe ich gespürt, wie sehr ich doch geprägt bin. Das war ein Prozess, das anzunehmen. Dass ich es beispielsweise aus meiner Heimat kenne, Dinge in Frage zu stellen und mich anschließend zwischen Optionen entscheiden zu können. Dass es überhaupt eine (Aus-)Wahl für Dinge gibt (In welche Schule schicke ich meine Kinder? Welche/r Hausarzt/-ärztin sagt mir zu? Welchen Wohnort wähle ich?). Das wollte ich nie missen. Die Umgangsformen unter den Deutschen hingegen halte ich für unterirdisch. Der Umgangston, die Wortwahl – da tut mir mein englisches Ohr oft weh. Ich wünsche mir einen anderen Sprachgebrauch und viel mehr Höflichkeiten. Mir war früher nicht klar, wie unhöflich die Deutschen oft sind. Was liebst du an Ostfriesland? KB: Die schiefen Bäume, die Entschleunigung im Alltag


JUNGESeiten

und die Nähe zu Hamburg. Nicht aber den Tee, den bringe ich mir immer aus England mit. Wie meisterst du die Herausforderung, Mutter zu sein und gleichzeitig einen künstlerischen Beruf auszuüben? KB: Das frage ich mich manchmal auch. Es ist nicht immer einfach und geht nur mit Unterstützung anderer. Die größte Herausforderung ist es dabei, dass meine Kinder Theater nicht als das „gemeine Etwas“ sehen, das ihnen ihre Mutter immer wegzieht. Ich hoffe, dass sie sich von der Theaterwelt angezogen fühlen. Bis jetzt klappt es ganz gut und sie gehen sehr gerne ins Theater. Probenphasen sind natürlich schwieriger, da ist es besonders abends blöd, wenn ich gehen muss. Aber spätestens bei der nächsten Premierenfeier sind sie dann wieder ganz stolz und verzaubert. Was lernst du von deinen Kindern in Bezug auf das Inszenieren von Kinder- und Jugendtheater? KB: Ich bin beeindruckt und gerührt von ihrer Ernsthaftigkeit: Alles ist intensiv, oder es ist nichts. Diese Gabe, komplett in eine Sache abtauchen zu können, sich mit dem ganzen Körper und dem Herzen auf eine Sache zu konzentrieren, das wird mir von meinen Kindern täglich vorgelebt. Natürlich bin ich je nach Alter meiner Kinder näher an bestimmten Themen dran – aus Kinderaugen, meine ich. Aber das bedeutet leider nicht zwangsläufig, dass ich sie als Erwachsene immer völlig klar verstehe … Vor allem, glaube ich, habe ich das Spielen nie ganz verlernt: uneitel sein zu können, albern sein zu können – und das dann auf die Bühne bzw. in die Proben oder Workshops zu übernehmen. Sie erinnern mich auf jeden Fall daran, wie gute kleine Dramaturgen, eine Klarheit beim Erzählen nicht zu verlieren. Und ich habe durch sie meine erwachsene Hemmung vor Kitsch ein wenig verloren. Wenn aus dem Theaterhimmel Glitzer schneit, dann ist das einfach wunderbar magisch und zum Heulen schön. Da kann mir niemand mehr etwas Gegenteiliges erzählen. Was reizt dich daran, das Stück ,Mein ziemlich seltsamer Freund Walter‘ zu inszenieren? KB: Ich mag Lisa, die Hauptfigur im Stück, sehr und denke, dass sich viele Kinder (leider) mit ihr identifizieren können. Ein Kind, das oft auf sich allein gestellt ist und erkannt hat, dass Vieles in der Welt ungerecht und gemein ist. Trotzdem oder gerade deshalb ist Lisa aber super kreativ, klug und wach. Es wäre kein Stück von Sibylle Berg, wäre es nicht angereichert mit Pessimismus und scharfer Beobachtungsgabe. Ohne diese typischen Beschreibungen

unserer realen Welt zu verlieren, möchte ich den Kindern ein Stück Theatermagie anbieten und sie mit auf die Reise nehmen. Unsere reale Welt ist durch und durch verkopft, digitalisiert und aggressiv – ich würde den Kindern gerne etwas Gutes, etwas Schönes mit auf den Weg geben; Leichtigkeit und Mut, um mit ihrer eigenen Welt umgehen zu können. Oder eine Tür aufmachen in eine andere oder neue Welt – so wie Lisa sich eine alternative Welt wünscht und erschafft. Kannst du einen Fakt benennen, in dem sich deutsche und englische Inszenierungen unterscheiden? KB: Werktreue. In England geht es vielmehr um das Handwerk der Regie, das Beste aus den Schauspieler*innen rauszuholen und dem Geschriebenen möglichst nahe zu kommen, das heißt, dem Werk möglichst treu zu sein. Es geht sehr um die Autor*innen und ihr Werk. Inszenierungen fast ohne Textstriche, definitiv ohne Fremdtexte und schon gar nicht mit einer erkennbaren Idee oder Aussage der Regie. Alles im Sinne des Werkes selbst. Und wie sieht es mit dem Unterschied zwischen englischen und deutschen Inszenierungen für Kinder und Jugendliche aus? KB: Ich erlebe das Kinder- und Jugendtheater dort als verspielter und musikalischer. Gleichzeitig wird es meiner Meinung nach ernster genommen. Auch von den Beteiligten. Oft werden wunderschöne Bilder gefunden, und die Umsetzung ist dabei so herrlich kompakt. Das Kindertheater ist irgendwie Kopf-freier, weniger intellektuell. Die Engländer haben es raus, Geschichten gut zu erzählen. In England funktioniert das „Make believe“ einfach besser. Theater als Zauberkiste. Was sind deine Pläne für die Zukunft? KB: Mehr Theater zu machen, auf kleinen und großen Bühnen, für meine Kinder da zu sein, Soundinstallationen zu entwickeln, irgendwann mal für eine kleine Weile in Südfrankreich zu leben, neue Instrumente spielen zu lernen und für den Weltfrieden und den Naturschutz zu kämpfen. Das Interview führte Sandra Rasch.

,Mein ziemlich seltsamer Freund Walter‘ von Sibylle Berg ab 8 Jahren Regie — Katharina Birch Premiere am 28.04.2018, 16 Uhr, Exerzierhalle

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Jungeseiten

DAS NATHAN-PROJEKT oder: WIE HÄLTST DU ES MIT DER RELIGION? In dieser Spielzeit wird Lessings Klassiker ‚Nathan 2. Frage an Gott: Wer ist größer: Allah oder Gott? der Weise‘ am Oldenburgischen Staatstheater JS: Schneewittchen hinter den sieben Bergen, bei den Warum betet man immer so förmlich mit Hände falten? Ich rede mit Dir eingroßgeschrieben. Das Schauspiel-Ensemble fei- sieben Zwergen, ist tausendmal größer als du. Scherz! (Ich fach so, wie ich immer rede, Du kennst mich ja und weißt wer ich bin. ert am 25. Februar 2018 mit der Inszenierung habe Humor, bestes Beispiel ist das Schnabeltier). Diese von Klaus Schumacher Premiere, und unter dem Wörter „ Allah“ und „Gott“ sind nur Bezeichnungen für Titel ‚ZUSAMMENLEBEN?! – NATHAN PROJEKT‘ mich in verschiedenen Sprachen. Auf Arabisch werde ich haben sich im Rahmen des Programms ‚Schule. Allah genannt (sowohl von Muslimen als auch von ChrisSpiel. Theater‘ junge Erwachsene theatral mit ih- ten), auf Deutsch werde ich Gott genannt (sowohl von rem Glauben und ihrer Religion auseinanderge- Christen als auch von Juden). Aber beide Namen meinen setzt. Dabei entstanden Fragen an Gott, Jahwe mich. Das ist wie Anton auf Deutsch, Antonio auf Spabeziehungsweise Allah. Stellvertretend beant- nisch und Anatolij auf Russisch. Gibt es den Himmel wirklich? Und wenn ja, bleibt man da nach dem Tod auch ewig? worten Religionsvertreter des Judentums (Jona YC: Auf was sitzt du in der Schule? Auf einem Stuhl oder Simon, Rabbiner), des Islams (Yakup Castur, Di- einem chair? alogbeauftragter der DITIP Gemeinde) und des UW: Ich habe noch nicht nachgemessen! Christentums (Ulrich Welz, Schulpastor) einige dieser Fragen. 3. Frage an Gott: Warum betet man immer so förmlich mit Hände falten? Ich rede mit Dir einfach so, 1. Frage an Gott: Wie alt bist du? wie ich immer rede, Du kennst mich ja und weißt, Jona Simon: Ich war immer schon, ich bin jetzt, und ich wer ich bin. werde immer sein. Und jetzt rechne! JS: Natürlich weiß ich, wer du bist. Die Hände zu falten Yakub Castur: Unendlich! ist nur eine Art, deinen Energiekreis zu schließen. DaUlrich Welz: Ich war immer für dich da, und ich werde durch ruhst du mehr in dir selbst. Wenn alle um dich herimmer für dich da sein. Und das gilt fürgetan? alle anderenWarum um ihre Hände falten,ich und du das Gefühl hast, dass dasEbenen bei Was habe ichauch dir werde immer auf allen Menschen. dir nicht funktioniert, frag mal deinen Pastor oder deine Pastorin, was du machen kannst.

Warum gibt es dich? Wie lange gibt es dic

Weißt du, wann ich meinen ersten festen Freund kriegen werde?

Wie lange lebe ic

Was soll ich tun, in meiner jetzigen Situation? Was ist für mich un

Wieso soll ich dir glauben, dass DU die Welt erschaffen hast und nicht Bakterien oder andere nachweis Kannst du mir vielleicht beim nächsten Mal verraten, was in der Klassenarbeit alles vorkommt?

Warum tust du nichts gegen den Krieg? Wie viele Menschen hast du gerettet?

Wem hast du schon oben im

Hast Du Geld?

Wie viel Prozent der Menschen werden im Himmel sein?

Passt du auf die M

Woher weiß ich, dass es dich wirklich gibt?

Warum ist Religion so oft Anlass für brutale Unruhen? 40


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Welches ist der „richtige“ Gott? Kannst du eigentlich sehen, was ich so alles auf der Erde mache? Welche Lebensaufgabe hast du dir für mich ausgedacht?

Wie geht es meiner Oma oben bei dir? UW: Natürlich kannst du mit mir reden, wie du möch- 6. Frage an Gott: Warum hast du mir _______ wegtest. Mach es so, wie es dir gefällt und du dich am besten genommen? Wie soll ich ohne ihn oder sie weiterkonzentrieren kannst – probiere doch unterschiedliche leben? Haltungen aus. Manchmal hilft es durchaus, die Hände zu JS: Ich habe ihn nicht „weggenommen“. Ich nehme falten, um sich nicht ablenken zu lassen. Jedenfalls finde nichts und niemanden weg. Sollte er gestorben sein, ist seine Seele, also das,Du wasmir ihn wirklich ausgemacht hat, daich Ist gut,es dass du mitwenn mir redest falsch, ich immer nur zu Jesus gebetet habe, weil Angst machst? hin zurückgekehrt, von wo sie gekommen ist. Wenn ihr 4. Frage an Gott: Warum ist Religion so oft Anlass füreinander bestimmt seid, werden eure Seelen sich eines Tages wiedertreffen. Sollte er dich verlassen haben, war für brutale Unruhen? JS: Weil ihr Menschen, entschuldige bitte, echt bescheu- das seine Entscheidung. ert seid. Würdet ihr mich wirklich verstehen, würdet ihr YC: Alles kommt von mir und kehrt zu mir zurück. Wenn du zum Beispiel dein Fahrrad jemandem ausleihst und gar nicht erst auf solche Ideen kommen. Ich binWillen ihr und ihrhaben Wieviel an freien wir Menschen wirklich? seid ich. Wer einen anderen Menschen tötet, tötet einen dann wieder zurückforderst, bist du dann ein Böser? Teil von mir, und wer ein Menschenleben rettet, rettet 7. Frage an Gott: Wann komme ich zu dir? eine ganze Welt. YC: Warum schreiben viele Schüler schlechte Noten in JS: Du bist schon bei mir. Und ich bei dir. Und das wird sich niemals ändern.Wenn Was ist also deine Frage? bist du der Schule? Ist der Schuldirektor daran schuld? ich sterbe, YC: Wenn deine Prüfung abgelaufen ist. dann wirklich da oben? 5. Frage an Gott: Wie viel an freiem Willen haben UW: Falsche Frage. Freue dich auf dein Leben, sei optimistisch, auch (ein bisschen) ehrgeizig, genieße das Leben wir Menschen wirklich? Warum hast du mir _______ und Familie, sei neugierig, sei abenteuerJS: Alles, was ihr wollt, so habe ich euch geschaffen. Ich mit Freunden weggenommen? Wie soll ich sei nicht – und sei habe euch in Form der Tora eine Gebrauchsanweisung an lustig, sei mitmenschlich, ohne ihn oder sie nachtragend weiterleben? die Hand gegeben, aber es ist an euch, ob ihr euch daran dankbar für das alles, was du bist und hast! Das andere erhalten wollt. Wie bei einer Mikrowelle: Du solltest keine gibt sich schon … Katze darin trocknen, tust du es doch, ist sie zwar trocken bestraft? Die Fragen stellten Schüler*innen des aber auch ziemlich Ihr seid dazu in der Lage, das abWer tot. ist größer: Allah oder Gott? Landesbildungszentrums für Hörgeschädigte. solut Falsche zu tun (Holocaust, Inquisition, Conquista), aber auch, das absolut Gute zu tun. YC: In deinen Handlungen bist du ganz dein eigener Herr.

ch schon?

Wann komme ich zu dir?

Wie alt bist du?

ch noch?

nd alle anderen der beste Weg?

sbare wissenschaftliche Belege?

Kann ich für dich auch etwas tun? Warum hast du meine Gebete nicht erhört? Himmel „Hallo“ gesagt?

Wie ist es dort oben?

Hast du ein Lieblingsessen? Oder fühlst du gar keinen Hunger?

Menschen hier unten auf?

Magst du Bäume? Was mache ich in 20 Jahren? 41


Der Spielplan SeitenBühne

Ausblick: Der Theaterhafen Ein Gespräch mit Clara Kaiser und Holger Beckschebe

I

n der ganzen Stadt sieht man bereits die Vorboten unseres Sommers am Theaterhafen. Blaue Fahrräder, Plakate, Sticker und Banner künden in heller Vorfreude davon, dass auf dem ehemaligen Gelände der Rhein Umschlag für sechs Wochen ein neues, buntes Treiben Einzug halten wird. Bereits im April packen wir unsere Koffer, um im Großen und Kleinen Haus Platz zu machen für weitere wichtige Baumaßnahmen. Der Uferpalast am Theaterhafen wird ab dem 19. Mai zu unserer Ausweichspielstätte.

Bei manchen Produktionen bin ich auch selbst für Bühnenbild und Kostüme verantwortlich, beispielsweise für ‚Das Helmi‘ oder ,Der Golem‘. Momentan sitze ich über den Kostümentwürfen für ‚Dokusoap. Episode 451‘. HB: Ich bin Projektleiter und Bühneninspektor. Meine Aufgabe ist, die künstlerischen Entwürfe für das Bühnenbild so anzupassen, dass die Werkstätten die Pläne umsetzen können. Zudem betreue ich die Proben und Vorstellungen technisch auf der Bühne.

Neben vier Produktionen wird es dort ein buntes Rahmenprogramm aus Jahrmarkt, Strand mit Feuerkorb, Liegestühlen, Konzerten, DJs, Kino und leckerster Gastronomie geben. Ein solches Projekt bedeutet hinter den Kulissen viel Arbeit, Ideen und Zusammenhalt. Um Ihnen einen Einblick in unsere Planungen zu geben, haben wir Clara Kaiser und Holger Beckschebe aus dem Vorbereitungsteam des Theaterhafens auf den Zahn gefühlt.

Und was sind eure Aufgaben für das Projekt ‚Theaterhafen‘? HB: Hier übernehme ich die Technische Leitung, d. h. die technische Planung und Umsetzung der künstlerischen Ideen. Ich bin verantwortlich dafür, dass nachher jede Schraube am richtigen Platz ist, die gesamte Infrastruktur steht und alle das haben, was sie zum Arbeiten benötigen. Zudem übernehme ich die Zusammenarbeit und Koordination mit den Behörden und Dienstleister*innen. CK: Ich bin für die Gesamtarchitektur verantwortlich. Mein Ziel ist es, gemeinsam mit den Kolleg*innen einen Ort zu gestalten, an dem sich die Besucher*innen gerne aufhalten. Ganz unabhängig vom künstlerischen Programm.

Schön, dass ihr euch trotz der vielen Arbeit bereit erklärt habt, uns einige Fragen zu beantworten. Ihr kommt gerade mitten aus einem TheaterhafenMeeting. Dennoch drehen wir noch einmal kurz zurück: Clara, du bist seit knapp drei Jahren hier am Oldenburgischen Staatstheater. Holger, du bist seit Anfang der Spielzeit hier. Was habt ihr vorher gemacht, und was hat euch nach Oldenburg geführt? Clara Kaiser: Ich komme ursprünglich aus Essen, habe aber in Hamburg an der Hochschule für Bildende Künste Bühnenraum studiert und bin seit der Spielzeit 15/16 als Produktions- bzw. Ausstattungsassistentin hier am Haus. Mein Freund kommt aus Oldenburg. Und der war natürlich überglücklich, dass er mit mir zurückkehren durfte. Holger Beckschebe: Ich bin gebürtiger Bremer und habe zunächst in Berlin Theater- und Veranstaltungstechnik studiert. Dann ging es in den Süden, u. a. nach Bonn und Stuttgart. Zuletzt war ich am Nationaltheater Mannheim Technischer Leiter der Schillertage. Ich wollte schon länger sehr gerne wieder in den Norden, kannte schon vorher einige vom Team hier am Haus und hatte Lust, wieder mit ihnen zusammen zu arbeiten. Könnt ihr uns ganz kurz beschreiben, was hier am Haus normalerweise eure Aufgabe ist? CK: Ich betreue die Kostüm- und Bühnenbildner*innen. 42

Und auf welchen Moment freut ihr euch besonders? HB: Auf das Ankerschlagen. Den großen Moment, wenn die über 130 Erdnägel für das Roncalli-Zelt in den Boden geschlagen und die vier Hauptmasten hochgezogen werden, die die Kuppel tragen. Und natürlich auf den StreetFood-Market und das leckere Essen. CK: Ich freue mich auf den Moment, in dem sich unsere gestaltete Landschaft zum ersten Mal mit Menschen füllt. Und auf das schöne Wetter natürlich, eine gute FestivalZeit, den Feierabend im Liegestuhl, Sonnenuntergänge, ein kühles Bier in der Hand oder Stockbrot am offenen Feuer. Was ist aus eurer Sicht die größte Herausforderung? HB: All die vielen Ideen aus dem Team in den Rahmen unseres Budgets zu kriegen. Das ganze Projekt ist extrem umfangreich. Wir machen ja nicht nur ein Musical im Zelt, sondern planen auch ein vielfältiges Rahmenprogramm: Konzerte, Filme, Buden und Gastronomiestände, eine Strandbar, eine Outdoorbühne, und und und…


SEITENBühne

Performance von Ensemblemitgliedern beim Pressetermin zum Theaterhafen

CK: Und wir müssen ja wirklich bei Null anfangen. Auf dem Gelände ist erst einmal nichts. Jede Steckdose müssen wir bedenken und mitbringen. Der Weg nach Hause ist zwar nicht so weit, dennoch steigt täglich unsere Aufregung, nichts zu vergessen. Das ist eben wie ein etwas sehr großer Campingurlaub … Werdet ihr eure Erfahrung nutzen und direkt vor Ort schlafen? CK: Eher nicht. Dazu werden wir kaum Zeit haben (seufzt). HB: Vielleicht ist es zwischendurch auch einmal ganz angenehm, dem Trubel zu entfliehen. CK: Zur Not haben wir vor Ort unsere Sofaschaukel … Bei so einem außergewöhnlichen Projekt wird man immer wieder vor neue Herausforderungen gestellt. Was, denkt ihr, wird die kniffligste Aufgabe sein, die ihr lösen müsst? HB: Für mich ist das Kniffligste, dass wir parallel nicht versäumen dürfen, uns um die anderen Projekte zu kümmern, für die wir zuständig sind. Nach dem Theaterhafen stehen wir ja auch wieder vor einer neuen Spielzeit. Wir dürfen bei aller Begeisterung nicht vergessen, diese auch vorzubereiten. CK: … und die große blaue Kranbahn anzumalen. Das wird nicht einfach. Nicht nur wegen der Höhe und der Witterung. – Aber unsere Kollegen aus der Malerwerkstatt stehen mit Hubsteiger und Farbe allzeit bereit … Ihr habt momentan den besten Überblick: Wo auf dem Gelände werdet ihr euch vermutlich am liebsten aufhalten? CK: Ich bin immer da, wo das Feuer ist. Nicht nur wegen der Liegestühle und des schönen Bambushains, den wir dort planen. Ich stelle mir die Stimmung dort sehr chillig vor. Bestimmt bin ich aber auch oft im Zelt und träume mich hoch in die Kuppel. HB: Die Atmosphäre backstage werde ich sicher genießen. Da ist immer so ein herrlich geschäftiges Gewusel. Als Ausgleich freue ich mich auf unser Produktionsbüro im alten Rhein Umschlag-Gebäude. Da haben wir von oben sicher einen schönen Blick über das Gelände und gleichzeitig Ruhe zum Arbeiten.

Können euch die Leser*innen erkennen, wenn sie euch auf dem Gelände begegnen? CK: Nein. Ich bin grundsätzlich inkognito unterwegs (lächelt). (Anmerkung der Redaktion: Clara trägt oft herrlich rote Turnschuhe!) HB: Mich erkennt man an der Ruhe, die ich ausstrahle (lacht). Und am gepflegten schwarzen Theatertechniker-Outfit. Was macht die Zeit am Theaterhafen für euch reizvoll? HB: Die besondere Situation. Die besondere Herausforderung, die Atmosphäre am Wasser und das maritime Flair. CK: Das Gelände ist so schön roh und unverbraucht. Der Industriecharme macht das noch zusätzlich reizvoll. Es macht Spaß, dass wir uns den Platz kreativ aneignen und ihn gestalten können. Was macht ihr in der Sommerpause nach Ende des Projekts – campen? CK: Vielleicht. Im Moment ist das noch nicht ausgeschlossen. Vielleicht brauche ich danach aber auch zum ersten Mal einen Club-Urlaub mit ‚all inclusive‘-Service … HB: Zelten gehe ich wohl eher nicht. Nach der langen Zeit mit vielen Menschen am Wasser besteige ich vielleicht gerne alleine einen hohen Berggipfel. Wer weiß … Könnt ihr zum Abschluss für uns in einem Satz eine Prognose geben, wie es wird? CK: Strandurlaub und Theater auf einem Fleck, besser geht’s nicht! HB: Großartig! Das Interview führten Gesine Geppert und Angela Weller.

43 Holger Beckschebe und Clara Kaiser


BühnenSeite

M E D AUS STÜCK

N E LL

A F E G

Keine Requisite und kein Kostüm, weder ein Klang noch ein Bühnenbildteil sind hier verloren gegangen. Nein, gleich eine ganze Figur ist aus einem unserer Premierenstücke dieser Spielzeit gefallen. Können Sie erraten, um welche Figur es sich handelt? Nach dem Knobeln finden Sie die Lösung im Impressum auf der hinteren Umschlagseite.

Der gesuchte junge Mann ist ein unfreiwillig gemütlicher, bequemer Zeitgenosse, der seinen Tag am liebsten mit den Aktivitäten gestaltet, die sich unsereins normalerweise für den Feierabend oder die Freizeit aufhebt. Seine ihm von der Obrigkeit zugeteilte Aufgabe ist es, ein Auge auf den Alltag seines Mitbewohners zu werfen, in dessen Haushalt er sein Zuhause auf Zeit eingerichtet hat. Dabei gibt er vor, jemand zu sein, der er gar nicht ist, und kommt damit seinem größten Traum vermeintlich ein Stückchen näher. Der Gesuchte lenkt die Aufmerksamkeit seines Gegenübers so oft es geht auf sein liebstes Hobby, für das ihm leider jegliches Talent fehlt. Er ist sehr ehrlich – manchmal zu ehrlich – und drückt sich nur zu gern besonders gewählt aus. Unfreundlichkeit ist ihm zuwider, genau wie das Lügen, das er ebenfalls absolut nicht beherrscht. In einer schwierigen Situation greift er gern auf eine Weisheit

44 Seit 25 bzw. 10 Jahren am Staatstheater: Die Köchin Anke Heinemann …

aus seiner Familie zurück, die jedoch leider nicht wirklich zum Gelingen beiträgt, sondern lediglich dazu aufruft, Problemen auf altbekannt gemächliche Art und Weise aus dem Weg zu gehen. Gemeinsam mit seinem Partner gerät er in ein waghalsiges Unterfangen und das, obwohl die beiden verschiedener nicht sein könnten. Doch der Zufall hat die beiden zueinander geführt und nach einigen Startschwierigkeiten lernen sie einander schätzen und sind bald ein gutes Team. Unser junger Mann ist stets gut gekleidet und warm angezogen. Er ist meistens nicht besonders schwungvoll bei der Sache, wenn es jedoch auf etwas ankommt, packt ihn der Tatendrang, und er beweist großen Mut in brenzligen Situationen – beispielsweise wenn es einmal hoch hinausgeht … Amelie Jansen


TheaterGeheimnis

TOI TOI TOI T

heatermenschen sind abergläubisch. Nach einer Probe verbeugen sich die Schauspieler*innen nicht, im Theater darf nicht gepfiffen und auf der Bühne kein echter Spiegel verwendet werden – und das sind nur einige wenige von zahlreichen Beispielen.

Theatermenschen sind abergläubisch, weil sie das Unglück fernhalten wollen, das hinter jeder Ecke lauert und eine Vorstellung gefährden könnte. Einer der bekanntesten Bräuche ist das ‚Toi Toi Toi‘, das sich das Team vor einer Premiere wünscht. Auch außerhalb des Theaters ist dieser Ausspruch bekannt. Doch woher er eigentlich kommt, wissen die wenigsten. Einem alten Volksglauben nach wurden positive Äußerungen allgemein gefürchtet, weil sie böse Geister aufschrecken und neidisch machen konnten. Um kommendes Unheil abzuwenden, fügte man daher den Ausdruck „unberufen“ (auch „unbeschladdert“ oder „unbeschrien“) hinzu. Er wurde der Erwähnung glückhafter Umstände hintan- oder vorangestellt, um nicht das Gegenteil heraufzubeschwören. Um

auf unvorsichtige Bewunderung oder voreiliges Lob keine Strafe folgen zu lassen. Oftmals wurde diese Abwehrformel noch durch dreimaliges Klopfen auf Holz oder ein „Toi Toi Toi“ verstärkt, das lautmalerisch für dreimaliges Ausspucken stand (Speichel galt als unheilbannend), das von einigen Sprachwissenschaftler*innen aber auch vom jiddischen „tow/tojw“ („gut“) hergeleitet wird. Als weiterer möglicher Ursprung gilt außerdem die verkürzte dreimalige Nennung des Teufels, wie in einer alten schwäbischen Redensart: „No kommt mer in’s Teu-Teu-Teu-felskuchen bey ihm.“ Um 1930 ist die Wendung „Unberufen, Toi Toi Toi“ durch einen Schlager wieder in der Öffentlichkeit bekannt und üblich geworden. Heutzutage wird sie ohne „unberufen“, manchmal aber mit einem angedeuteten Ausspucken über die Schulter des Gegenübers gebraucht – über die linke Schulter wohlgemerkt, Theatermenschen sind abergläubisch! Anna-Teresa Schmidt

Impressum Spielzeit 17/18 Herausgeber: Oldenburgisches Staatstheater Generalintendant: Christian Firmbach Redaktion: Dramaturgie und Öffentlichkeitsarbeit Chefredaktion: Caroline Schramm, Anna-Teresa Schmidt Bildnachweise: S. 6 Verena Brandt, Ferry Dietel , S. 11 Amelie Jansen, S. 31 Christian Steiner, S. 38 Catherine Lippert, S. 46 Mathias Bothor, alle weiteren: Stephan Walzl, Bianca von Husen (Praktikantin) Layout und Satz: Gerlinde Domininghaus Druck: Prull-Druck GmbH & Co. KG, Oldenburg Lösung S. 18/19: ,Cyrano', ,Carmen‘, ,Michael Kohlhaas' und ,Die Möwe' – in allen vier Produktionen sterben am Ende die Hauptfiguren. Lösung S. 44: Kater Maurizio di Mauro aus ,Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch‘ Stand der Drucklegung: 31.01.2018, Änderungen vorbehalten. www.staatstheater.de Theaterkasse 0441. 2225-111

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GASTSEITEN

Eine theatralische Kolumne von …

Matthias BrandT

I

mmer noch mein Theater, dachte ich neulich auf dem Weg nach Oldenburg. In diesen Brettern fände man noch mein Blut, meinen Schweiß und meine Tränen. Mich bindet eine sanfte Anhänglichkeit an diesen Ort und an die Zeit in der ich hier begann, Schauspieler zu werden. Ich denke noch oft an die Menschen, die damit verbunden sind. Manchmal auch etwas melancholisch an den, der ich damals war. Es war eine wirklich gute Schule. Ich kam an ein von seinem Publikum geliebtes Theater mit ein paar sehr guten Schauspielern, von denen ich mir viel abgucken konnte. Mein Beruf ist nicht zuletzt ein Handwerksberuf, wir lernen von den Könnern. Die Leitung des Hauses war zwar denjenigen, die hier arbeiteten, zugewandt, aber die Atmosphäre war durchaus auch noch autoritär-patriarchal geprägt. Was gut für mich war, schließlich brauchte ich etwas, an dem ich mich reiben konnte. Denn auch das war wichtig: aufbegehren und Fehler machen zu können, ohne deswegen gleich fallengelassen zu werden. Im Grunde war dieses Theater für mich wie ein gutes Zuhause. Womit dann auch gleich erklärt wäre, warum ich sofort das Weite suchte, als ich flügge war (oder meinte, es zu sein). Als ich jetzt im Theater angekommen war, begegnete mir auf der Treppe ein junger Mann, offenbar ein Kollege, der Blick dafür schärft sich über die Jahre. Ich nickte ihm zu, und er runzelte die Stirn und schaute ostentativ durch mich hindurch. Er fragte sich offensichtlich, was der Typ von ihm wollte. Dabei dachte ich in diesem Moment nur daran, dass er hier hoffentlich den gleichen Vorschuss an Vertrauen in sein Talent und seine Besonderheit bekommt, wie ich. Übrigens bin ich damals in dem, was ich mir vorgenommen hatte, meistens gescheitert. Nicht gerne oder womöglich absichtlich, aber ich war eben noch sehr ungelenk. Natürlich wünscht man sich als Künstler den Erfolg. Aber auf dem Weg dahin, davon bin ich mittlerweile absolut überzeugt, ist das Scheitern unausweichlich. Und wenn es aus aufrichtigen Gründen geschieht, weil man sich etwas traut, etwas riskiert, dann ist es ein notwendiger Bestandteil unserer Arbeit. Dass dieses wiederkehrende Scheitern der Menschenoptimierungs- und Effizienzmentalität widerspricht, die unsere Welt immer mehr bestimmt, darauf könnten wir eigentlich stolz sein. Ich habe etwas übrig für fehlerhafte Menschen 46

und deren ebenfalls fehlerhafte Produkte. Diese Fehler machen uns zu dem, was wir sind. Ich mag die, die ihre eigenen künstlerischen Entscheidungen treffen und diese dann vertreten und gegen Widerstände verteidigen. Selbst wenn ich mit dem, was dabei herauskommt, mal nichts anfangen kann. Es gibt in unserer Arbeit so oft Interessen, die stärker sind als die der Kunst. Aber ich finde nicht, dass es die Aufgabe eines Künstlers ist, diese vorauseilend mitzudenken. Wenn wir von Menschen erzählen, sollte uns im besten, ehrlichsten, traurigsten und lustigsten Sinne nichts Menschliches fremd sein. Nur dann ergibt unsere Arbeit Sinn. Mit diesen Gedanken im Kopf bin ich dann nach dem Besuch in meinem alten Theater wieder nach Hause gefahren. Mit dem Gefühl, dass es ein guter Ort in meinem Leben ist, und dass ich hier angefangen habe, zu spielen und darüber nachzudenken. Ich sollte bald wiederkommen, dachte ich noch. Matthias Brandt

Matthias Brandt wurde 1961 in Berlin geboren und gehört zu den bekanntesten deutschen Schauspielern. Sein erstes Engagement nahm er 1985 am Oldenburgischen Staatstheater an. Seit 2000 ist Brandt regelmäßig in Film- und Fernsehrollen zu erleben und wurde für seine Leistungen schon mehrfach ausgezeichnet. So erhielt er für seine Rolle als Kommissar in der Krimireihe ,Polizeiruf 110‘ u.a. den Bambi und den Bayerischen Fernsehpreis. 2016 erschien sein erstes Buch ,Raumpatrouille‘. Mit Auszügen daraus und zusammen mit dem Pianisten Jens Thomas begeisterte Brandt noch vor Kurzem das Oldenburger Publikum bei dem Gastspiel ,Life – Raumpatrouille & Memory Boy‘.


»A LL ES, WAS ICH ERZÄH LE, I ST E RF UN DEN. EINIGES DAVON H AB E I C H ERLEBT. MANCH ES VO N D EM, WAS ICH ERLEBT HABE, HAT STATTGEFUNDEN. « M ATTHI AS BRANDT

A B 8 . MÄ RZ ALS TASCH EN B U CH IM H A N DEL

Ungekürzte Autorenlesung I 3 CDs

Taschenbuch. € (D) 9,99. Verfügbar auch als E-Book

www.roofmusic.de

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