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Bad Vilbel: Das Musical »Sister Act« Theater Willy Praml: »Serotonin«

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Sommerwerft 22

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Um Himmels Willen

Bad Vilbel: Das musical »Sister Act« rockt die Wasserburg

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Bloß nicht nachdenken: Sonst quält man sich gleich zu Beginn mit der Frage, was um Himmels Willen die Nachtklubsängerin Deloris denn an ihrem Lover Curtis gereizt haben mag. Außer, dass er Geld hat – was man ihm über das Goldkettchen im offenen Hemd hinaus aber nicht ansieht – und die Macht, sie zum Star zu machen! Und schon deshalb ließe sich auch darüber nachsinnen, ob die beiden nicht doch zusammenpassten, gäbe es diesen brutalen Mord nicht, den Curtis an einem Verräter seiner Bande verübt. »Sister Act«-Regisseur Christian H. Voss tischt den von Raphael Löb verkörperten Halbwelt-Verschnitt in seiner Vilbeler Inszenierung als amoralisches Ekelpaket auf, und seine Kostümfrau Monika Seidl serviert ihn frisurtechnisch als Combover an – mit dem also, was der Volksmund einen Sardellen-Look nennt. Doch auch Tamara Wörners im knallroten Disco-Glitzer losrokkendes Energiebündel Deloris wird nicht eben als zartbesaitete Feengestalt mit elaboriertem Sprachcode aufbereitet. »Zeig mir den Himmel« singt sie da und muss erfahren, dass Curtis das sehr wörtlich nimmt, nachdem sie als Augenzeugin jenes Mordes zu gefährlich für ihn wird. »Ich will sie, ich kill sie«, reimt der Gangster mit der Sch(l)ussfolgerung »Ich knall sie ab«. Gott sei Dank für das Musical, das nach der etwas holprig konstruierten Ouvertüre doch rasant in die Gänge kommt. Das auf Whoopi Goldbergs legendärem Film von 1992 basierende Musiktheater (2006) erzählt die Geschichte dieser sich in einem katholischen Nonnenkloster als Sister Mary Clarence nicht nur versteckenden, sondern – nach dem Kulturschock (»Heilige Scheiße, was ist das für ein Schuppen?«) – auch läuternden Soulsister. Mit ihrem Temperament, ihrer Geradlinigkeit und ihrem Talent mischt sie zwar den liturgisch verstaubten Laden auf, weiß ihren erstaunlich jungen und durchweg weißen Schwestern in Ordenstracht aber auch viel zu geben. Dass es trotzdem zum Clash mit ihren kriminellen Verfolgern, zur dramatischen Showdown und einem glücklichen Ende für alle außer Curtis kommt, versteht sich. Den tanzenden Papst, den verliebten Polizisten und auch die Russen (!), die das Kloster erst kaufen wollen, und dann mit Spenden übersäen, sparen wir uns hier mal aus. Whoopi-verwöhnte Fans werden sich freilich über den Funk & DiscoSound Alan Menkens verwundern, doch auch ohne Mitsing-Filmhits wie »Oh Happy Day« und »I will Follow Him« geben Musik, Gesang und mitreißende Choreografien (Kerstin Ried) gepaart mit sinnfreiem Spaß und blasphemischen Zutaten im Übermaß jeden Anlass, die kleinen Ungereimtheiten der Handlung schnell zu vergessen. Im Mittelpunkt natürlich Tamara Wörners emphatisch treibender Roar, aber auch Helena Lenns hochvariable Stimme als Postulantin Mary Robert (»Die Welt, die ich nie sah«) bleibt in Erinnerung. Zu den Höhepunkten des Abends gehören vor allem die choralen Passagen der vom heimischen Bel-Voce-Ensemble nicht nur gesanglich verstärkten Betschwestern – inklusive deren köstliche Kakophonien. Überdies macht es große Freude, die schrägen Profile der Schwesterschaft um Mary Theresa, Mary Lazarus & Co über das gesamte Stück individuell zu verfolgen. Am Ende steht das Publikum der glücklich wiederaufgenommenen Vilbeler Erfolgsproduktion aus dem Corona-Jahr 2021 frenetisch applaudierend auf den Bänken. Was will man mehr!

Winnie Geipert Termine: 31. Juli und 7. August, jeweils 18.15 Uhr; 1.–3., 8., 17., 18. August, jeweils 20.15 Uhr www.kultur-bad-vilbel.de

Arme Aprikosen

Theater Willy Praml: houellebecqs »Serotonin« als eurovision

Captorix nennt sich die erfundene Medizin, die der Agrarexperte Florent-Claude Labrouste auf Anraten seines Arztes täglich zu sich nimmt, um seinen Vervenhaushalt zu stabilisieren. Das Anti-Depressivum hält den Protagonisten von Michel Houellebeqs 2019 erschienenem Roman »Serotonin« an einem Leben, das er – gesellschaftlich gesehen – mit immer weniger Menschen teilt. Der fehlenden Liebe wegen, aber auch angesichts einer unrettbaren Welt. Das Theater Willy Praml hat Houellebecqs Roman für die Bühne aufbereitet und folgt dort »einem Menschen, der der Welt nichts zu geben hat, und dem die Welt nichts gibt«. Regisseur Michael Weber liest die aus der Ich-Perspektive geschilderte Geschichte als die eines in völliger Isolation mündenden Ausstiegs aus einer Welt, die der Protagonist in seinem verdunkelten Zimmer im obersten Stock eines Hochhauses nicht einmal mehr ansehen mag. So, wie der Autor früher selbst, im Landwirtschaftsministerium angestellt, wird die Figur zu einem leidenden Chronisten des Untergangs der regionalen Erzeugerkultur der Bauern: die Aprikosen des Roussillon, der Käse, die Kühe der Normandie, weggeschwemmt von der viel zu billigen Milch, dem viel zu billigen Fleisch. Nichts, das man nicht teilen würde. Mit seinem Schopenhauer-geprägten Blick zeichne Houellebecq eine »Tragödie der Umstände«, für die es keine Schuldigen gebe, meint Weber: »Es gibt niemanden, der etwas Böses will, und doch geht alles zugrunde, gibt es Tote«. Nicht nur in Frankreich. Webers Bühnenfassung führt den Zusatz »Eurovision« und wird von Marc-Antoine Charpentiers Te Deum akustisch untermalt. Florent-Claude Labrouste sei ein stummer Beobachter der gesellschaftlichen Verhältnisse, der – so die Homepage des Theaters – »nicht einmal mit den Achseln zuckt. (…) Er könnte wie Jeanne d‘Arc versuchen, Frankreich zu retten, das Schwert gegen Freihandelsabkommen und EU-Richtlinien zu erheben, aber er ist nicht in der Lage, den kleinen Finger zu rühren, für den Selbstmord fehlt ihm die Entschlusskraft, lieber einfach die Tür hinter sich zumachen. Fertig.« Am bitteren Ende im HochhausAppartement führe Houellebecqs Titelheld ein inneres Zwiegespräch, vielleicht gar mit Gott. Dass die wie eine Hostie zu brechende CaptorixTablette voll religiöser Symbolik steckt, ist für Weber, der die Werbeplakate für seine Inszenierung mit dem Deckengemälde der Steingadener Wieskirche schmückt, offensichtlich. Drei Frauen und drei Männer geben auf einer mehrteiligen in die Halle hinein verlegten 40 Meter breiten Bühne aus Vorhängen den Ich-Erzähler, als einzige Fremdfigur tritt der Arzt in Molière-hafter Aufmachung wie eine sich ins falsche Stück verirrende Figur in Erscheinung. Molière? Man könne das extrem distanziert geschilderte Grauen gar nicht anders als mit clownesken Elementen auf die Bühne bringen, meint Weber. Die Sprache fungiere als Schutzpanzer und mache das Grauen zur Farce. Tragödie oder Komödie – eine Frage der Perspektive von alters her.

Termine: 26.–28. August, 2.–4., 9.–11., 16.–18. und 23.–25. September, jeweils 20 Uhr www.theaterwillypraml.de

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