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Fashion on Demand statt Fast Fashion

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Editor's Letter

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Die Versprechen der Digitalisierung sind groß. Doch wie sieht es in der Praxis aus? Eine Reise nach Frankreich gibt Einblicke in die automatisierte und personalisierte Produktion von Mode. Text: Joachim Schirrmacher. Fotos: Lectra.com

Die Digitalisierung scheint so einfach wie ein Wisch auf dem Tablet. In der Adidas Speedfactory soll es statt wie bisher drei Monate künftig nur noch fünf Stunden von der Bestellung individueller Mode bis zu Auslieferung dauern. Viele Medien stellen diese Aussichten als neue Realität dar. Lectra, ein Anbieter für Software und Zuschnittsysteme, hat die erste Lösung für individualisierte Mode vorgestellt. Sie kann sogar anspruchsvolle Couture-Stoffe verarbeiten.

EINE STRAHLENDE ZUKUNFT

Lectra lädt nach Bordeaux, wo das Unternehmen 1973 gegründet wurde, ein. Die Stadt hat sich in den letzten Jahren neu erfunden: Das Ufer der Garonne wurde zur Naherholungszone mit der Cité du Vin, der kompakte Stadtkern wurde von der Unesco als Weltkulturerbe anerkannt, die Digitalwirtschaft schuf neue Arbeitsplätze und der Flughafen platzt aus allen Nähten. Wenn die Mode sich so erneuert, wie diese Stadt, steht ihr eine strahlende Zukunft bevor.

DREI LÖSUNGEN

Im Technologiezentrum im Vorort Cestas präsentiert Lectra Experten aus Deutschland, Rumänien, Kroatien und Schweden sein neues Produkt. Fashion on Demand ermöglicht mit seiner Soft- und Hardware individualisierte Mode so schnell und qualitativ hochwertig wie große Stückzahlen zu produzieren. Der laut Lectra erste automatisierte On-Demand-Fertigungsprozess von der Bestellung bis zum Zuschnitt, wurde jüngst mit dem „Texprocess Innovation Award“ in der Kategorie „New Process“ ausgezeichnet. Es gibt drei Lösungen: Das Paket „Made to Order“ ist für Einzelaufträge, Exklusivmodelle oder kleine (Muster-)Serien. Der Entwurf und die Maße werden dabei nicht verändert. Bei „Customization“ können die Produkte in Farbe, Muster oder mit Stickerei personalisiert werden. „Made to Measure“ ermöglicht zudem die Fertigung nach Maß, der vorhandene Schnitt wird dafür an die individuellen Maße laut Bestellung automatisch angepasst.

DIE TÜCKE STECKT IM DETAIL

100 Experten haben vier Jahre an der Lösung gearbeitet, 35 Millionen Euro wurden investiert. Ein hoher Betrag für ein Unternehmen mit 1.700 Mitarbeitern und 2018 einem Umsatz in Höhe von 283 Millionen Euro. Insgesamt arbeiten

Die Revolution ist auf den ersten Blick kaum auszumachen: Lectra ist europaweit eines der ersten Unternehmen, das eine digitale und automatisierte Produktion von Mode möglich macht.

410 Mitarbeiter aus zehn Nationen mit 30 Technologien in der Produktenwicklung. Dabei gibt es kaum IT-Experten mit Mode-Know-how. Auch der Entwicklungsleiter Guillaume Choimet kommt aus der Automobilindustrie. Die Tücken liegen im Detail: Es musste nicht nur eine Softwarearchitektur für die integrierten bisherigen Lösungen und Technologien gefunden werden, denn fast jedes Modeunternehmen hat einen anderen Fertigungsstandard. Viele unterschiedliche Modelle, Varianten und Optionen sind bei der Auftragsfertigung an der Tagesordnung. Und es gibt eine enorme Vielfalt an Stoffqualitäten mit unterschiedlicher Elastizität oder Schrumpfungsverhalten.

SCHNELLER UND PRÄZISER

Beim Mittagessen im Pavillon wird diskutiert. Wenn die neue Lösung so gut wie der Grand Cru Classé vom Château Haut Bailly ist, werden alle Augen glänzen. Lectra verspricht eine schnellere, günstigere und präzisere Produktion bei reduziertem Personaleinsatz: „Die Herstellung von drei Hemden mit ‚Fashion on Demand‘ schaffen zwei Personen in zwölf Minuten weitgehend automatisch und ohne Fehlerquellen. Im Vergleich dazu fallen bei der herkömmlichen Produktion für die identischen drei Hemden zwei Stunden und 45 Minuten Arbeitszeit bei fünf am Prozess beteiligten Personen an“, sagt Jacqueline Kellner von Lectra Deutschland. Fashion on Demand bietet zudem die Chance neue Geschäftsmodelle zu entwickeln, Angebot und Nachfrage abzustimmen und somit Überproduktion zu vermeiden. Auch verbessert sich der Cashflow von Unternehmen, wenn Verbraucher für ihre Bestellungen im Voraus bezahlen. Kann Fashion on Demand eine Alternative zur Fast Fashion werden?

ES BLEIBEN FRAGEN

So beeindruckend es klingt, es bleiben Fragen. Lectra spricht zwar von einer Komplettlösung, dies umfasst aber nur die Bestellung bis zum Zuschnitt. Weitere Schritte wie Entwurf, Konfektionierung, Qualitätskontrolle, Verkauf, Versand oder Buchhaltung fehlen. Gar nicht zu sprechen von anderen Produktgruppen wie Strick, der eine zentrale Rolle in der digitalen und automatisierten Produktion von Bekleidung spielt. Um eine durchgehend digitale Kette von „Sheep to Shop“ zu realisieren, müsste sich die zersplitterte Modeindustrie auf Standards einigen. Zudem ist es eine große Herausforderung, die Kultur in den Betrieben zu ändern, die meist auf große Aufträge eingestellt sind: „Ob 5.000 Teile in acht Wochen oder ein Teil in fünf Tagen gefertigt werden, sind völlig unterschiedliche Prozesse“, sagt Andreas Guggenbühl, Gründer des Maßanbieters Selfnation. Das Angebot ist schwierig mit anderen Systemen, z. B. von Assyst oder Gerber Technology, zu vergleichen. „Jeder Anbieter versucht ein in sich geschlossenes System zu bieten“, sagt Iris Schlomski, Chefredakteurin Textile Network, Fachmagazin für die textile Produktionskette. „Einen detaillierten Überblick über den Markt von Schnittsystemen und deren Unterschiede gibt es meines Wissens bisher nicht.“ Dafür fehlen in allen Redaktionen die Ressourcen für die aufwändigen Recherchen. Also muss sich jedes Unternehmen selbst an die Arbeit machen. Am intensivsten wurde aber diskutiert, wie die Maße am Kunden ermittelt und später interpretiert werden. Selbst gut geschulte Mitarbeiter machen Fehler und Apps wie der Zozosuit überzeugen Experten wie Tim Weber von Tailor Hoff, Josef Klein von Hugo Boss oder Michael Kuhn von Kuhn Maßkonfektion noch nicht. Wer prüft die Validität der Maße? Wie sieht ein Slim-Fit aus, den ein Kunde in Größe 56 bestellt? Wie wird der Kunde die Möglichkeit der Personalisierung nutzen? Erscheint das vermeintliche Paradies bald als Qual der Wahl? Nicht zu vergessen: Was kostet „Fashion on Demand“? Dazu schweigt Lectra noch.

PARISER COUTURE

Offiziell herrscht auch Schweigen, wer schon das Produkt nutzt. Neben Corneliani darf nur ein Name genannt werden: Belles Roches Couture. Schon früh setzte Inhaber Jean-Yves Collet auf die Optimierung der Produktionsprozesse. Bereits 1996, als er die Firma gründete, kaufte er ein automatisches Schneidesystem von Lectra und spezialisierte sich auf den Zuschnitt von gemusterten Stoffen. Dabei werden die Schnittteile seit 2012 automatisch auf dem Musterrapport platziert. Doch die Anforderungen an Präzision und Geschwindigkeit steigen: „Es ist eine große Herausforderung, beim Zuschnitt der lose gewebten Waren, die sich ständig verschieben und verziehen, die Qualitäts- und die Maßanforderungen der Couture-Häuser zu erfüllen“, sagt Direktor Jean-Yves Collet in einem Lectra-Video. Zudem hilft „Fashion on Demand“ bei der wachsenden Geschwindigkeit der Mode mit ihren zunehmenden Capsule-Kollektionen und Drops mithalten zu können. Monsieur Collet will daher bisherige Lösungen durch „Fashion on Demand“ ersetzen und seine Produktion weiter automatisieren. Vielleicht wird einst Wirklichkeit, wovon die Medien heute schon schreiben. Die Kundin geht gar nicht mehr ins Geschäft, sondern bestellt ihr individualisiertes Kostüm von Chanel oder Saint Laurent nach Maß einfach per Smartphone.

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