Über Lebensbücher Muster 2024

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Uschi Korda

LEBENS ÜBER BÜCHER 17

Caroline Peters

Mira Ungewitter

Proschat Madani

Iris Radisch

Andrea Fischer

Xenia Hausner

Anna Jeller

Barbara Staudinger

Heidi List

Ulla Lohmann

Dorli Muhr

Eva Voraberger

Renate Bertlmann

Waltraud Hable

Barbara Stöckl

Ursula Strauss

Maria-Christina Piwowarski

Aus dem Inhalt DIE ÜBERLEBENS

Renate

Bertlmann, Künstlerin

I Ging. Das Buch der Wandlungen.

Andrea Fischer, Gletscherforscherin

Mariana Leky: Was man von hier aus sehen kann.

Waltraud Hable, Reise­Autorin

Mitch Albom: Dienstags bei Morrie. Die Lehren eines Lebens.

Xenia Hausner, Malerin

Ingeborg Bachmann, Max Frisch: „Wir haben es nicht gut gemacht.“ Der Briefwechsel.

Anna Jeller, Buchhändlerin

Joseph Roth: Hiob. Roman eines einfachen Mannes.

Heidi List, Journalistin

Harry Mulisch: Die Entdeckung des Himmels.

Ulla Lohmann, Vulkanforscherin

Michael Ende: Momo.

Proschat

Madani, Schauspielerin

Zadie Smith: Zähne zeigen.

Dorli Muhr, Winzerin

Inge Merkel: Eine ganz gewöhnliche Ehe: Odysseus und Penelope.

BÜCHER VON

Caroline Peters, Schauspielerin

Ingeborg Bachmann: Der Fall Franza. Requiem für Fanny Goldmann.

Maria­Christina Piwowarski, Bookfluencerin

Christine Brückner: Jauche und Levkojen.

Iris Radisch, Journalistin

François Jullien: In der Weite des Empfindens.

Barbara Staudinger, Museumsdirektorin

Peter Ackroyd: Die Uhr in Gottes Händen.

Barbara Stöckl, Moderatorin

Daniel Schreiber: Zuhause. Die Suche nach dem Ort an dem wir leben wollen.

Ursula Strauss, Schauspielerin

Gabriel Garcia Marquez: Hundert Jahre Einsamkeit.

Mira Ungewitter, Theologin

Katherine May: Überwintern. Wenn das Leben innehält.

Eva Voraberger, Boxerin

Rola El­Halabi: Stehaufmädchen.

Stand: Mai 2024 Änderungen vorbehalten

ANNA JELLER

Der Charme, keine Wahl zu haben

Buchhändlerin Anna Jeller über einen literarischen göttlichen Moment –und wie es ist, mit bloßen Füßen im Radieschenbeet zu stehen

„Ich betrat die Buchhandlung und dachte nur: Wow, das ist meine Welt, da will ich zu Hause sein.“ Das war vor über vierzig Jahren und das damals überraschende Glücksgefühl ist Anna bei der Erinnerung daran noch heute anzusehen. So wohlig nach Büchern geduftet wie jetzt hat es in der kleinen Buchhandlung in Wien Wieden allerdings noch nicht. Drinnen saßen drei Herren und rauchten genüsslich Kette, wenig später sorgte ein Brand dafür, dass es noch nach Jahren bei Niederdruckwetter ein bisschen geselcht roch. Dem guten Spirit, der in diesem sehr hohen Raum steckte, in dem sich die Bücherregale bis hinauf zum Plafond ziehen, konnte das alles nichts anhaben. Vor allem als Anna mit 25 Jahren ins kalte Wasser sprang und die Buchhandlung nach dem Tod des Besitzers übernahm.

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„Ich hatte gerade einmal das Geld für die Stempelmarken“, sagt Anna, „aber ich war mutig, fest entschlossen und hatte eine genaue Vorstellung davon, welche Art von Buchhandlung ich haben wollte.“

Denn Anna und die Bücher, das ist eine Geschichte, die schon lange vorher begann. Aufgewachsen in einer Arbeiterfamilie und mit vier Geschwistern auf engstem Raum in der Großfeldsiedlung jenseits der Donau in Wien Floridsdorf, war die Welt der Bücher der einzige Rückzugsort, in der einen niemand störte. Bücher waren zwar Luxus, aber es gab Donauland, eine Buchgemeinschaft, deren Mitglieder Bücher zu sehr günstigen Preisen kaufen konnten. Gerade in Arbeiterkreisen gehörte es einst zum guten Ton, hier dabei zu sein. Aus diesem Repertoire stammte vermutlich auch ein Buch, das sie als 14-Jährige von ihrer Mutter zum Geburtstag geschenkt bekam, das sie nachhaltig in Bann zog. In „Siebzehnter Sommer“ von Maureen Daly ist ein junges Mädchen auf der Suche nach sich selbst und das Einzige, das sie weiß, ist, sie will lernen, sie will wissen. „Mit dieser Heldin namens Angie konnte ich mich identifizieren“, sagt Anna, auch weil sie ein tolles Mädchen war, gescheit und attraktiv, aber das selbst nicht wusste. Für Angie ist in diesem Sommer alles neu und aufregend und unendlich schön. Aber als sie Jack zum ersten Mal sieht, steht sie mit bloßen Füßen im Radieschenbeet und alles, was sie denken kann, ist: wenn er nur nicht bemerkt, dass ich keine Schuhe anhabe.

„In Geschichten eine Beiläufigkeit herzustellen, ist sehr schwierig und das können die amerikanischen Schriftsteller sehr gut“, sagt Anna. Der Roman aus den 1940er Jahren war ein Kultbuch in Amerika, geriet aber in Vergessenheit. Also wagte sich Anna 2017 daran, es selbst zu verlegen. Mit großem Spaß und mit großem Erfolg. „Es hat meinen Blick auf die Buchbranche nochmals erweitert“, sagt Anna. Da es ihr ein Anliegen war, Schrift-

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stellerinnen, die im Laufe der Zeit im allgemeinen Bewusstsein verloren gingen, wieder aus der Versenkung zu holen, legte sie mit „Grünes Wasser, grüner Himmel“ der Kanadierin Mavis Gallant noch ein Buch nach. „Das war es jetzt aber mit dem Verlegen“, sagt Anna. So eine Buchhandlung auf Trab zu halten und den Nimbus des Besonderen zu pflegen, ist formatfüllend genug.

Als sie einst mit 20 Jahren das erste Mal die Buchhandlung betrat und neben ihrem Job in der Taxifunkzentrale hier zu arbeiten begann, sah das Sortiment noch ganz anders aus. Es war eine typische Grätzelbuchhandlung mit riesigem Angebot und mit einem Schwerpunkt auf Anthroposophie, den Lehren von Rudolf Steiner. Nachdem Anna übernahm, flog das als erstes raus und sie machte den Ort nach und nach zu einem Treffpunkt für Freunde guter Literatur. Die Gegend bei der Margartenstraße in Naschmarktnähe war in den 1990er Jahren bei Schriftstellerinnen und Schriftstellern eine beliebte Wohngegend, die alle gerne vorbeischauten. Deshalb kommen sowohl die Buchhandlung als auch Anna selbst immer wieder in Romanen vor. Die Karawane zog zwar irgendwann weiter, aber eine blieb und kam als Freundin bis zu ihrem Tod 2021 regelmäßig vorbei: Elfriede Mayröcker. Heute gibt Anna Buchtipps auf ihrer Homepage annajeller.at und im Podcast „Anna Jeller & die Literatur“. Berufsbedingt lesen, das gehört wohl zu den Traumvorstellungen von vielen, die Bücher durchs Leben begleiten. Ist es jedoch Arbeit, nützt sich der Charme allein dadurch ab, dass man keine Wahl hat. Deshalb sind Buchhändler, die wie Anna ihr Reper toire ausschließlich auf Literatur und ausgewählte Belletristik ausrichten, auch Querleser. Nur Bücher, auf die sie anspringen, werden ganz gelesen. „Es sind zwei Dinge, die mich fesseln müssen“, sagt Anna. „Erstens: der berüchtigte erste Satz. Zweitens: der Sound, in dem eine Geschichte erzählt wird. Wenn der nicht passt, läuft die beste Geschichte weit weg vom Herzen vorbei.“

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Wer in einer Buchhandlung, also mitten in einem Nest, hockt, in dem die Gedankenwelt so vieler Schriftsteller und Schriftstellerinnen ins eigene Sein strahlen, den begleiten naturgemäß mehrere Bücher durchs Leben.

„Ich habe ein paar, die ich immer wieder lese und überprüfe, wer bin ich jetzt, wo stehe ich, wer war ich und hat sich etwas verändert“, sagt Anna. Allen voran „Drei Wege zum See“ aus dem Erzählband „Simultan“ von Ingeborg Bachmann. Die Erzählung über eine Starfotografin, die ihren alten Vater in Klagenfurt besucht und bei Spaziergängen an den Wörthersee ihr Leben reflektiert, wurde 1976 von Michael Haneke verfilmt. Auch die Novelle „Der fremde Freund/Drachenblut“, in der Christoph Hein anhand der Geschichte einer Ostberliner Ärztin über die Einsamkeit und Entfremdung des modernen Menschen erzählt, ist ein Buch, zu dem sie immer wieder greift.

Und dann gibt es eines, das ihr auch in schwierigen Situationen verlässlich den Weg zeigt, sie tröstet. Selbst als sie im Alter von 35 Jahren in einer Situation war, die sie heute als sehr einschneidend bezeichnet. Es war eine Zeit, in der zum ersten Mal die großen Fragen des Lebens bedeutend werden. Die Jugend hat sich verabschiedet, man fragt sich, ob man den richtigen Beruf hat, die Beziehung einem gut tut und als Frau, ob man Kinder haben möchte. Damals begann bei Anna auch noch eine Autoimmunkrankheit, die jedoch lange Zeit nicht diagnostiziert wurde. In dieser Zeit der Ungewissheit hat sich durch den erst später erkannten Morbus Basedow ihre Persönlichkeit komplett verändert. Plötzlich war sie zu nichts mehr fähig, stand permanent am Rande einer Depression, auch die Buchhandlung war längst noch nicht eine gesicherte wirtschaftliche Existenzbasis.

Das war der Punkt, an dem sie sich wieder einmal „Hiob“ von Joseph Roth aus dem Regal geholt hat. „Es war mir ein Trost“, sagt Anna, „was dieser Hiob in seinem Leben alles ertragen und

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vor allem erduldet hat. Hauptsächlich, weil er seinen Gott hatte, den hatte ich nicht, aber ich hatte das Buch. Es hat mir gezeigt, egal was einem widerfährt, man überlebt es, man wird stärker und man wächst damit. Es ist auch so schön zu lesen, weil es sehr gerade geschrieben ist. Hin und wieder gibt es ein paar poetische Einsprengsel, aber im Grunde ist es eine sehr strenge Erzählung.“

Erstmals in die Hände fiel ihr der „Hiob“ mit etwa 17 Jahren, als sie eine vorwissenschaftliche Arbeit zum Thema „Wien um die Jahrhundertwende und seine Künstler“ fürs Gymnasium verfasste. Seit damals sammelt sie alles, was mit Joseph Roth zu tun hat, jede nennenswerte Biografie, seine Briefe und Schriften über sein Leben. Neben zwei Gesamtausgaben, von denen sie sich eine bereits als junges Mädchen vom Mund abgespart hat, besitzt sie Erstausgaben aller seiner Hauptwerke, die teilweise in Amsterdam erschienen sind, da jüdische Menschen während der Nazi-Zeit im deutschen Sprachraum mit Publikationsverbot belegt waren.

Natürlich besitzt sie auch vom „Hiob“ die Erstausgabe, aber darüber hinaus noch mehrere Versionen. „Ich habe ihn so oft gelesen“, sagt Anna, „dass ich bei bestimmten Ausgaben schon beim Umblättern weiß, wie es auf der nächsten Seite weitergeht.“

Natürlich hat sie sich irgendwann gesagt: Jetzt lass’ ich das Joseph-Roth-sammeln aber bleiben! Was allerdings nicht heißt, dass sie nicht doch hin und wieder in Versuchung gebracht wird.

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Anna Jellers Überlebensbuch „Hiob“ von Joseph Roth

erschien 193O bei Gustav Kiepenheuer, Berlin.

Im Roman wird die Geschichte des gläubigen Juden und Thoralehrers Mendel Singer erzählt, der um 19OO in der russischen Provinz lebt. Die Welt der Ostjuden, wie sie Roth schildert, hat mit Schtetl-Romantik nichts zu tun, vielmehr ist sie von Trostlosigkeit geprägt. Nach unzähligen Schicksalsschlägen, wie etwa der Geburt eines beeinträchtigen Kindes, das dessen Geschwister umbringen wollen, droht Mendel unter der Last zusammenzubrechen.

Die Familie beschließt, nach Amerika auszuwandern. In New York geht es den Singers zunächst besser, als jedoch ein Sohn im Ersten Weltkrieg fällt und der zweite in Russland verschollen ist, stirbt Mendels Ehefrau Deborah vor Kummer. Schließlich verfällt Tochter Mirjam dem Wahnsinn. Da beschließt Mendel sich von Gott abzuwenden.

Durch die wundersame Heilung von Menuchem, der inzwischen ein berühmter Künstler ist, wird er schließlich zu Gott zurückgeführt.

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Es gibt biografische Momente in Joseph Roths Leben, die sich literarisch verarbeitet in seinem Roman wiederfinden. Zum einen saß seine nervenkranke Ehefrau beim Schreiben im Nebenzimmer und er machte sich später Vorwürfe, sich nicht mehr um sie gekümmert zu haben. Zum anderen war auch Roth in osteuropäischen Traditionen verwurzelt. Die Heimatlosigkeit dieser Menschen hat er mehrmals in seinen Romanen aufgegriffen.

Joseph Roth wurde 1894 in Brody, Ostgalizien geboren. Sein Vater verließ seine Frau während der Schwangerschaft und starb nach jahrelanger psychischer Krankheit. Roth studierte zunächst in Lemberg und kurz in Wien Philosophie und Germanistik, bevor er sich freiwillig als Soldat im Ersten Weltkrieg meldete.

In den 192Oer Jahren arbeitete er als Journalist u.a. bei der Frankfurter Zeitung, seine ersten Romane (Das Spinnenetz, Hotel Savoy und Die Rebellion) erschienen in Fortsetzungen in der Wiener Arbeiterzeitung. Ab 1933 lebte er im Exil u.a. in Südfrankreich, Belgien und Holland, vor allem aber in Paris, wo er 1939 aufgrund seines Alkoholismus in einem Armenspital starb.

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BARBARA STÖCKL

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Woher die Sehnsucht?

Wie für die TV-Journalistin und Moderatorin Barbara Stöckl die Suche nach einem Zuhause mit dem Lesen begonnen hat. Und wie es ist, mit einer Bücherfresserin unter der Bettdecke zu stecken.

„Meine Entscheidung für ein Buch fällt beim Einband oder beim Klappentext. Und dann bleibe ich dran, selbst wenn es achtzig Seiten brauchen sollte, um mich richtig zu packen.“

Wer seit vierzig Jahren so eine konstante Größe im heimischen Fernsehen ist, eine der man ohne Zögern Eigenschaften wie Seriosität und Tiefgang bescheinigen würde, so jemand zeigt auch beim Lesen Durchhaltevermögen und Gründlichkeit. „Es waren vielleicht fünf Bücher in meinem Leben, die sprachlich einfach nicht lesbar waren und die ich weggelegt habe“, sagt Barbara, die jedoch eine Trennlinie zwischen beruflichem und

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privatem Lesen zieht. Einmal abgesehen von den vielen wissenschaftlichen Unterlagen und philosophischen Abhandlungen, die sie für Sendungen wie „Stöckl live“ und das „Philosophische Forum“ durchackern muss, lädt sie in ihre wöchentliche Talkshow „Stöckl“ immer wieder Schriftstellerinnen und Schriftsteller ein. Dabei empfiehlt es sich als Moderatorin, vorher zumindest in deren Bücher hineingelesen zu haben.

„Querlesen ist leider eine journalistische Untugend, aber drei, vier Bücher an einem Wochenende schafft man einfach nicht“, sagt sie. Manchmal aber kann es passieren, dass ein Buch von ihr zwar aus beruflicher Notwendigkeit zum Reinschnuppern hergenommen wurde, sie es dann aber nicht mehr aus der Hand legen und unbedingt bis zu Ende lesen möchte. Das ist ihr vor kurzem bei Robert Palfraders Debütroman „Ein paar Leben später“ passiert. Die Geschichte über seine ladinischen Vorfahren in Südtirol hat sie bis zur letzten Seite gefesselt, berührt und begeistert.

Bücher bereichern das Leben – das war immer schon ein in Stein gemeißeltes Credo in Barbaras Familie, das besonders von ihrer Großmutter gepflegt wurde. Sie war Lehrerin und hatte eine Bücherwand, in der alte Schmöker, teilweise noch in Kurrentschrift, standen, aus denen sie ihren Enkelkindern vorlas. Über die Napoleonischen Kriege zum Beispiel, aber auch von Max und Moritz aus dem dicken Wilhelm-Busch-Buch. Wenn man mit vier Geschwistern aufwächst und mit einer Schwester das Zimmer teilen muss, hat man so einiges an Reibungspunkten, manche Eigenschaft entwickelt sich ja bereits im Kindesalter. So zeigte sich bald, dass Barbara abends ihren Schlaf braucht, dann keinen Sinn fürs Lesen hat und dunkel sollte es bitte auch sein. Ihre Schwester Claudia hingegen – heute eine bekannte Radio-Moderatorin – war eine richtige Bücherfresserin und löste damit so manchen Konflikt aus. „Sie las unter der

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Bettdecke, über der Bettdecke, unterm Bett und hatte ewig lange das Licht brennen“, sagt Barbara, die bis heute nicht vorm Einschlafen lesen kann. Was sich allerdings im Laufe ihres Lebens verändert hat: Früher hat sie Stellen in ihren Büchern markiert und hineingeschrieben, jetzt mag sie das gar nicht mehr. Ihre Lieblinge von einst, die abgegriffen und voller Notizen sind, hütet sie nach wie vor wie kleine Schätze aus der Vergangenheit.

„Onkel Toms Hütte“ von Harriet Beecher-Stowe etwa, das mit dem Kampf um Gerechtigkeit eine nachhaltige Resonanz in ihr auslöste. Es öffnete ihr die Augen für soziale Härten und Diskriminierung, schärfte ihren Gerechtigkeitssinn und schon war der erste Keim für ihr soziales Engagement gelegt.

Auch Barbaras Berufsweg wurde von einem Buch angestupst. Als sie von ihrem Patenonkel mit vierzehn „Der weiße Rausch. Die Geschichte des Skifahrens in Österreich“ von Dieter Seefranz samt seiner Widmung geschenkt bekam, war sie auf der Stelle begeistert. Nicht so sehr von der Geschichte des Skifahrens, sondern von Dieter Seefranz und seiner vielfältigen Präsenz. Immerhin hat er damals in den 1970er Jahren vom Club 2 bis zum Kleinen SportABC die unterschiedlichsten TV-Sendungen moderiert. „Also beschloss ich Sportreporterin zu werden.“ Doch wie es so ist, wenn das Leben Regie führt, kam es ein klein wenig anders.

Barbara begann nach der Matura zunächst Technische Mathematik zu studieren und schaute sich nach einem Studentenjob um. Der Zufall wollte es, dass man beim ORF neue, junge Leute für die Jugendsendung Okay suchte. Mehr aus Zufall fand sie sich irgendwann selbst vor die Kamera. „Nachdem sich nichts so gut hält wie ein Provisorium“, sagt Barbara, „war damit mein weiterer Weg vorgegeben und eines ergab das andere.“

Wer mit Wertschätzung für Bücher großgezogen wird, kann zeitlebens eine Attitüde nicht loswerden: Wann und wo immer man unterwegs ist, man hat stets ein Buch dabei. Barbara arbeitet

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bis heute hauptsächlich für das österreichische Fernsehen, in jungen Jahren war sie auch einmal beim deutschen ZDF engagiert. Während dieser sechs Jahre war sie permanent im Zug oder im Flugzeug unterwegs und Bücher wurden ihre wichtigsten Begleiter. Neben Michael Köhlmeier, Daniel Wisser, Irene Diwiak oder Arno Geiger hat sie viele österreichische Autoren von ihren Anfängen weg gelesen. Thomas Glavinic zum Beispiel oder Vea Kaiser, Valerie Fritsch und Daniel Glattauer. „Oft waren sie erst Mittoder Endzwanziger und ich war beeindruckt, welche Sprache und welchen literarischen Zugang sie bereits hatten“, sagt Barbara, die sich ihren persönlichen Lesestoff in der kleinen Buchhandlung Riedl auf der Wiener Alser Straße besorgt. Man müsse das Papier riechen, spüren und mit den Händen blättern – noch so eine Attitüde, die einem vermutlich ein Leben lang bleibt.

„Ich glaube, dass manche Bücher mich finden und nicht ich sie“, sagt Barbara und dass diese sie sanft in eine Richtung schubsen, die ihr Leben grundsätzlich beeinflusst. „Die Ungeduld des Herzens“, der Roman-Klassiker von Stefan Zweig, den ihr ein Freund schenkte, gehört auf jeden Fall dazu. Zweig erzählt darin die Geschichte eines gelähmten Mädchens, das sich in einen jungen Leutnant verliebt. Dieser entwickelt zwar eine Zuneigung zu ihr und macht ihr Hoffnungen, da er jedoch nur aus Mitleid und nicht aus Liebe handelt, endet die Geschichte tragisch. Das Mädchen nimmt sich das Leben, der Leutnant stürzt sich von Schuldgefühlen geplagt an die Front des Ersten Weltkrieges. „Zweig verfolgt darin den Gedanken, dass es zwei Arten von Mitleid gibt. Die eine, man könnte auch Mitgefühl dazu sagen, bringt uns an die Grenzen des Menschseins und dadurch in eine soziale Verantwortung. Das andere Mitleid ist flüchtig. Das möchte man eigentlich nur schnell stillen, sein Gewissen beruhigen und ist mit der Ungeduld des Herzens rasch wieder weg. Im Charitywesen kann man so etwas oft beobachten und ich habe

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gelernt, zu unterscheiden. Das tatsächliche, echte Mitleid kann nämlich ein sehr wichtiges Gefühl sein.“

Zu den wegweisenden Büchern in ihrem Leben, die sie immer wieder zum Nachdenken bringen, zählt Barbara auch „Die Zeit, die Zeit“ von Martin Suter. „Ich mag diese leichte Erzählweise über die großen Fragen des Lebens. Das ist für mich gute Literatur“, sagt Barbara. Suters Roman, der sich gegen Ende zum Krimi aufbaut, hat sie in zweierlei Hinsicht fasziniert. Zum einen wird man auf die Vergänglichkeit gestoßen, da der eine Nachbar nach dem Tod seiner Frau versucht, alles genauso wieder herzustellen, wie zu ihrem Todeszeitpunkt. Er ist davon überzeugt, dass man auf diese Weise den geliebten Menschen wiederfinden kann. „Die Frage: kann man Zeit festhalten, hat mich ins Grübeln gebracht“, sagt Barbara. „Es sagt ja nichts anderes, als dass man im Moment leben soll und da bin ich nicht so gut darin. Ich merke manchmal, dass mich Vergangenheit und Zukunft mehr triggern. Zum Moment gehört ja auch eine Gelassenheit, von der ich gehofft habe, dass sie im Alter von alleine kommt. Das tut sie aber nicht, das muss man sich erarbeiten.“

Die andere Frage, die Suter in seinem Roman aufwirft, ist der Perspektivenwechsel, also was wäre, wenn ich in meinem Leben einmal anders abgebogen wäre. „Es gibt einen Satz, von dem ich nicht weiß, von wem er ist: Ganz knapp neben dem Leben, das du lebst, gibt es ein anderes Leben, das genauso gut deines hätte sein können“, sagt Barbara. Der Unterschied ist oft nur eine Begegnung, ein Anruf, ein Moment, ein Ereignis, ob positiv oder negativ, ein Unfall eine Liebesgeschichte und schon wäre alles ganz anders. „Auch das bringt mich zu einer sozialen Verantwortung, weil ich offener auf Menschen schauen kann, denen es schlecht geht. Schließlich hätte das auch mein Leben sein können.“

Es liegt an diesem ehrlichen sozialen Engagement, dass ihr in der Öffentlichkeit das Image einer Kämpferin für das Gute

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anhaftet. Gerne glauben wir dann, dass solche Menschen stetig in sich ruhen, bar jeder noch so kleinen Unsicherheit. Doch auch bei ihnen gibt es Nöte und Ängste.

Bei Barbara ist es ein Gefühl, das sich immer wieder einschleicht und mit dem sie zu kämpfen hat: Heimweh. Es kommt nicht heimlich, still und leise, sondern vehement und lautstark. „Das ist bei mir nicht bloß eine Sehnsucht, es ist so elementar wie Durst“, sagt sie und dass sie die Frage, wonach man eigentlich Heimweh hat, zeitlebens beschäftigte. Schließlich war sie oft genug unterwegs, aber es war nie gesichert, dass sie dort, wo sie ankam, auch blieb. „Mein Firmen-Kompagnon Peter Nagy sagt immer, wenn wir das Ortsschild von Wien im Rücken haben, bin ich schon gefährdet. Es kann sogar im Waldviertel passieren, dass ich umdrehen und zurückfahren muss, weil mich das Heimweh so schmerzt.“

Natürlich hat sie im Laufe der Jahre gelernt damit umzugehen und Taktikten entwickelt, sich an fremden Orten zu erden. Das war allein schon beruflich notwendig, privat hilft es, wenn sie in Begleitung ihres Mannes oder mit vertrauten Menschen verreist. Es gab aber auch Situationen, wo sie in der Fremde in Tränen aufgelöst am Flughafen stand. „Wenn ich über diesen Punkt der Verzweiflung hinwegkomme und mich neu verorte, neue Dinge kennenlerne und mich fasse, dann bildet sich so etwas wie eine Bleibe. Dann fühle ich mich nicht mehr so hinausgestoßen in die Welt und so ganz, ganz allein.“

Vor ein paar Monaten bekam sie dann von ihrem Mann „Zuhause. Die Suche nach dem Ort an dem wir leben wollen“ von Daniel Schreiber in die Hand gedrückt. „Ich schlug es auf und fühlte mich in der Sekunde, als ich die Kapitelüberschriften las, geborgen“, sagt Barbara. „,Woher die Sehnsucht?‘ stand da, oder ,Dieses Gefühl der Sicherheit‘ oder ,Das zuhauselose Zuhause‘ und ,Die Schönheit der Narben‘ – ich spürte sofort, da

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versteht mich jemand, ich bin nicht allein mit meinem Schmerz. Er beschreibt auch den Umschwung eines kollektiven Gefühls: Zuhause ist nichts Gegebenes mehr, sondern ein Ort, nach dem wir uns sehnen, zu dem wir suchend aufbrechen und er stellt die Frage, ob das unbedingt die eigenen vier Wände sein müssen. Dazu lässt Schreiber Erkenntnisse aus Philosophie, Soziologie und Psychoanalyse einfließen und erzählt gleichzeitig seine eigene Geschichte. Wie so viele Familiengeschichten ist sie geprägt von Vertreibungen und Neuanfängen. Genauso ergeht es heute Millionen Menschen, die in Zeiten von Globalisierung und Flüchtlingskrise nicht mehr in dem Land leben, in dem sie geboren wurden. Daher werde das Zuhause immer mehr zu einem imaginären Ort. Sich ein Zuhause zu suchen bedeutet, einen Ort in der Welt zu finden an dem wir ankommen – und dieser Ort wird als Allererstes ein innerer Ort sein, ein Ort, den wir uns erarbeiten müssen. Nach diesem Buch wusste ich, dass ich mich der Suche nach meinem Zuhause stellen muss, das ist meine Lebensaufgabe.“

Die Suche danach hat beim Lesen begonnen und dabei Barbaras schmerzendes Heimweh gelindert. Antwort gibt es noch keine, vielleicht wird sich die Frage nach dem eigenen Zuhause auch erst ganz am Ende, wenn man seine letzte Reise antritt, klären. Jetzt aber hat Barbara ihr Buch gefunden, das ihr Halt gibt, mit dessen Gedanken sie sich ein Gerüst bauen kann, in dem es sich gut leben lässt. Und ganz sicher hat es ab jetzt bei jeder Reise einen fixen Platz im Gepäck.

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Barbara Stöckls Überlebensbuch Zuhause.

Die Suche nach dem Ort, an dem wir leben wollen.

erschien 2O17 bei Hanser Berlin.

Der Autor und Journalist Daniel Schreiber erinnert sich in diesem Buch an seine Jugend in der Provinz von Mecklenburg-Vorpommern, in der er als Homosexueller nicht nur vom ganzen Dorf ausgegrenzt wurde, er war auch dem Psychoterror der DDR-Pädagogik ausgesetzt. Nach der Wende stürzte er sich sofort in die Verheißungen urbaner Freiheit, zunächst in Hamburg, dann in New York und London. Erst Jahre später, nach dem Ende einer Beziehung, wurde ihm die „Leerstelle“ in seinem Nomadenleben bewusst.

In seinem Buch begibt er sich auf die Suche nach einem Ort, der für ihn so etwas wie Bindung und Stabilität bedeuten könnte, wobei er Philosophen, Soziologen und Psychoanalytiker mit einbezieht. Zur Veröffentlichung schrieb er dazu in der Zeit: „Mir war lange klar, dass ich ein Buch über

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Entwurzelung schreiben wollte. Über ein Gefühl, das uns in der Atmosphäre der Unsicherheit, in der wir heute leben, in all seinen Ausprägungen begegnet, einige von ihnen schön, andere überaus bedrohlich. Ein Buch über „Zuhause“, über etwas, das viele Leute meinen, wenn sie dieser Tage wieder über Heimat sprechen und doch damit verwechseln …“

Daniel Schreiber (* 1977) studierte in Berlin und New York Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft, Slawistik, Theaterwissenschaft und Performance Studies. Als Journalist schrieb er Texte u.a. für die Zeit, die taz und die Frankfurter Rundschau. 2OO7 erschien eine Biografie über Susan Sontag, 2O14 mit „Nüchtern“ ein Buch, in dem er anhand seiner eigenen Alkoholsucht ein gesellschaftliches Problem aufzeigt.

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Mich haben die Biografien, die ich über dieses Buch kennenlernen durfte, ungemein beeindruckt. Fasziniert hat mich vor allem die Vielfalt an Büchern, die diese Frauen begleitet haben. Ein literarisches Universum mit unzähligen Impulsen für neue oder neu zu entdeckende Autorinnen und Autoren.

Uschi Korda ist Journalistin und Autorin. Für ihre Interviews, Porträts und Reportagen bereist die ehemalige Chefredakteurin des Magazins „Servus in Stadt & Land“ Österreich und darüber hinaus. Für ihre Kochbücher hat sie einigen Welt:köchinnen über die Schulter geblickt. Uschi Korda lebt und arbeitet in Wien und Triest.

Hinweis: Bei allen Texten in diesem Reisemmuster handelt es sich um durchgesehene, aber nicht korrigierte Fassungen, die sich von der Buchhandelsausgabe noch wesentlich unterscheiden können. © Molden Verlag / Styria Buchverlage, Wien

Literatur macht uns wundern und staunen –oder ist manchmal unsere einzige Rettung. In schwierigen, unglücksverliebten, wütenden, suchenden Phasen unseres Daseins.

Berührend, aufrichtig und voller Lebensklugheit erzählen 17 Frauen über jene Bücher, die ihnen zur Seite standen und ihnen geholfen haben, eine Krise zu meistern.

Der literarische Survival-Guide für herausfordernde Momente.

Uschi Korda Über Lebensbücher

17 Frauen über Literatur, die ihr Leben verändert hat

www.styriabooks.at

Hardcover mit SU & Leseband

13,5 x 21,5 cm, 208 Seiten

€ 27,­

ISBN 978­3­222­15132­3

WG 1.951 Literatur, Biografien

Erscheint am 17. Oktober 2024

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