Hinweis:
Diese Leseprobe ist schwarz-weiß, das Buch kommt aber in Farbe!
Die Texte sind noch unlektoriert. Sie können sich von der Buchhandelsausgabe unterscheiden.
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Einleitung. Den eigenen Panzer ablegen 5
Selbstfürsorge braucht Zeit 8
Sich um das innere Kind kümmern 9
1. Was ist Selbstfürsorge? 12
Selbstfürsorge ist … 16
Selbstfürsorge ist nicht … 20
2. Selbstfürsorge beginnt mit dem Zulassen eigener Gefühle xy
Reizüberflutung xy
Touched-out-Methode xy
Hyperventilation xy
Schmerz und Belastung xy
Weitere Anzeichen … xy
3. Versteckte Ursachen von Stress:
Trauma und innere Stimmen xy
Wir müssen über Stress sprechen xy
Wir müssen über Traumata sprechen xy
Innere Stimmen xy
Stress und Trauma sind untrennbar verbunden xy
Unterschiedliche Reaktionen auf Stress xy
Erste Hilfe bei Stress xy
Wissen, was man fühlt xy
4. Ein Recht auf Verletzlichkeit xy
Verletzlich sein? Lieber nicht! xy
Verletzlichkeit versus Selbstschutz xy
Verletzlichkeit ist eine Stärke xy
Verletzlichkeit zeigen ≠ Opfer sein xy
5. Muster, Muster, Muster:
Der Einfluss von Bindung, Parentifizierung und Loyalität xy
Bindung xy
Parentifizierung xy
Loyalität xy
Geben und Nehmen in Balance xy
Fünf Sprachen der Liebe: Welche Sprache sprichst du? xy
6. Blaue Flecken versorgen und das innere Kind umsorgen xy
Dein inneres Kind xy
Sanfte Mantras xy
Innere Stimmen zur Selbstfürsorge xy
7. Zum Schluss. Selbstfürsorge ist der Anfang von allem xy
Über Geschlechter- und Generationsunterschiede xy
Ein neuer Anfang xy
Dank xy
Weiterführende Literatur xy
Bei mir würden sie sicher nichts finden. Sie, das waren die beiden Supervisoren des kontextuellen Therapiekurses. Und mir, nun ja, das war ich. So ein kontextueller Therapiekurs ist dazu da, sich als angehende Therapeutin und angehender Therapeut mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Aber ich hatte die perfekten Eltern, die perfekte Kindheit und die perfekte Jugend. Ich war mir völlig sicher: Egal, wie sehr sie sich bemühten, sie würden bei mir keine alten Verletzungen oder unverarbeitete Traumata entdecken. Nein, ich würde nicht diejenige sein, die im Kurs in Tränen ausbrach.
Ich war nie wütend. Denn ich war stärker als meine Wut. Ich war auch nie traurig. Ich war stärker als meine Trauer. Ich hatte auch nie Angst ... denn – du errätst es schon – ich war stärker als meine Angst. Aber nichts lag der Wahrheit ferner. Während der Sitzungen wurde mir klar, dass ich seit mehr als 30 Jahren in völliger Verleugnung gelebt hatte. Und langsam, aber sicher, wie beim Klopfen an ein hart gekochtes Ei, zerbrach die perfekte Schale um mich herum. Sie fanden tatsächlich etwas. Und noch etwas mehr. Und ehe ich mich versah, waren die Tränen auch schon da.
Zum Glück. Denn dank dieses Kurses wurde mir klar, dass es vielleicht gar nicht so schlimm war, dass ich mich nie getraut habe, wirklich wütend oder wirklich traurig zu sein oder wirklich Angst zu haben. Mein perfekter Panzer war nichts weiter als genau das: ein Panzer. Und oh, es fühlte sich so gut an, endlich diese Schutzschicht abzulegen. In der Lage zu sein, zu weinen, sich verletzlich zu fühlen. Endlich von jemand anderem getragen zu werden. Meine Gefühle wirklich zu spüren. Nicht nur die schwierigen, sondern auch die schönen Gefühle.
Einleitung. Den eigenen Panzer ablegen 5
Denn ich musste mir eingestehen: Mein Panzer schützte mich nicht nur vor schmerzhaften Gefühlen, sondern sorgte gleichzeitig dafür, dass ich mich schon lange nicht mehr wirklich glücklich gefühlt hatte. Ich sah meine Kinder unbeschwert und fröhlich die Wildwasserbahn hinuntersausen, und mir wurde klar: Hey, das habe ich als Kind auch gern gemacht. Warum konnte ich es jetzt nicht mehr genießen?
Unter meinem starken Panzer steckte ein verletzter Mensch, mit kleinen und großen Blessuren, Prellungen und Traumata. Der Kurs war ein Weckruf: Sie sagten mir, was ich eigentlich schon wusste, aber nicht zuzugeben wagte: Wir alle tragen Traumata mit uns herum. Ich. Und du. Wir alle haben blaue Flecken, wir alle haben in unserer Kindheit, in unserer Jugend – und auch später im Leben – Kummer und Schmerz erlebt. Und wir tragen diesen Schmerz und die Erfahrungen mit uns, auch wenn wir uns wünschten, dass es anders wäre.
Was dachtest du, als du dieses Buch sahst? „Ach, Selbstfürsorge, so schwer ist das doch nicht, oder? Ich kümmere mich ziemlich gut um mich selbst. Ich unternehme regelmäßig etwas mit meinen Freunden. Ich entspanne mich regelmäßig bei einem heißen Bad, ernähre mich gesund, treibe Sport, lese Bücher. Von Zeit zu Zeit nehme ich mir auch wirklich Zeit für mich.“ Und doch spürst du tief in deinem Inneren, dass das nicht ausreicht, dass irgendwo etwas drückt, das etwas fehlt. Sonst würdest du jetzt nicht dieses Buch lesen. All diese Dinge, die du gerade aufgezählt hast, sind Beispiele für „MeTime“. Und ja, all das ist wichtig. Damit kannst du deine Batterien aufladen und sie bieten dir ein Ventil. Aber das ist nicht die Selbstfürsorge, über die ich mit dir sprechen möchte.
Nein, Selbstfürsorge geht tiefer. Selbstfürsorge führt zu deinem wahren Selbst zurück. Das Selbst, das du während des Aufwachsens verloren hast. Es geht um Antworten auf Fragen wie: Was kannst du wirklich geben? Was brauchst du? Kannst du Dinge von jemand anderem akzeptieren? Kannst du dir selbst geben, was du brauchst? Wie geht es deinem Körper? Ignorierst du, wie so viele von uns, Körpersignale? Wie sieht es mit deinen Beziehungen aus? Bist du die Freundin oder der Freund, die oder der sich immer anpasst? Die Kollegin, die immer ja sagt, auch wenn sich deine Arbeit stapelt? Oder bleibst du immer konsequent und stiftest auch mal Unruhe? Wo sind deine Grenzen? „Grenzen“ ist inzwischen ein inflationär verwendetes Wort. Denn Grenzen werden ohne Rücksicht auf andere gezogen. Aber wie macht man das, Grenzen ziehen und gleichzeitig Rücksichtnahme gegenüber anderen und sich selbst finden?
Einleitung. Den eigenen Panzer ablegen 7
Bei Selbstfürsorge geht es nicht um Zeitmanagement, Sport, gesunde Ernährung oder eine „Bucket List“, die man abarbeiten muss. Diese Dinge können hilfreich sein, aber sie reichen nicht. Bei Selbstfürsorge geht es darum, wie du im Leben stehst, ohne dich selbst zu verleugnen.
Bei Selbstfürsorge geht es um ich auch und nicht um nur ich oder nur der anderen. In der Tat geht es darum, immer wieder ein Gleichgewicht zwischen der Selbstfürsorge und der Sorge um andere zu finden. Manchmal ist das eine wichtiger, manchmal das andere. Du musst bewusste Entscheidungen treffen. Es wird Zeiten geben, in denen du dich radikal für dich selbst entscheidest. Manchmal zu radikal. Andere Male entscheidest du dich bewusst für andere. Und manchmal treffen wir unbewusste Entscheidungen. Auch das ist in Ordnung, denn daraus lernen wir. Nichts ist völlig falsch, nichts ist völlig richtig.
Dieses Buch kannst du nicht in einem Rutsch lesen. Und, ehrlich gesagt, empfehle ich es dir auch nicht. Du könntest natürlich versuchen, es an einem Tag durchzulesen. Aber ein solches Vorgehen zeugt nicht von Selbstfürsorge. Nein, echte Selbstfürsorge braucht Zeit. Und wenn du nun denkst: „Nina, ich habe keine Zeit, ich brauche jetzt Selbstfürsorge!“ Dann kann ich sagen, dass ich dieses Gefühl von Dringlichkeit verstehe. Aber gerade jetzt – in diesem Moment – musst du dir Zeit nehmen.
Lies dieses Buch Schritt für Schritt. Leg es von Zeit zu Zeit zur Seite. Lass den Inhalt auf dich wirken. Und nimm dir Zeit. Wenn du erwartest, dass dieses Buch der heilige Gral ist, mit dem du dich wie von Zauberhand um dich selbst kümmern kannst, muss ich dich leider enttäuschen.
Echte Selbstfürsorge ist ein Prozess. Dieses Buch wird dir hoffentlich helfen, diesen Prozess in Gang zu setzen. Folge aber unbedingt deinem eigenen Tempo. Das hier ist kein Wettkampf, mit dem Ziel am Ende die meisten Selbstfürsorgepunkte zu gewinnen. Sind deine Freundinnen und Freunde, die mit dir dieses Buch lesen, schon auf Seite 81 und du grübelst noch über Seite 5 nach? Na und? Ihr alle sorgt für euch selbst am besten, indem ihr eurem eigenen Tempo folgt.
Wie kommt es, dass man sich so gut um andere kümmern kann, während man sich selbst gern vergisst? Das ist die zentrale Frage. Oberflächlich lässt sich diese Frage vielleicht leicht beantworten, aber wenn wir sie wirklich beantworten wollen, müssen wir graben. Tief graben.
Eines kann ich dir verraten: Echte Selbstfürsorge gibt es erst, wenn du als Erwachsener anfängst, dich um dein inneres Kind zu kümmern. Wir alle sind mit blauen Flecken übersät, die von Erfahrungen in unserer Kindheit und Jugend herrühren. Und im Laufe der Jahre kommen immer neue hinzu. Oder alte Flecken machen sich wieder bemerkbar, weil jemand auf sie drückt. Frage dich selbst: „Warum bin ich so wütend auf meine Kinder, meinen Partner, meine Freunde oder Freundinnen, meine Kollegen, meine Chefin, meine Eltern, ja sogar auf die Welt?“ Weil sie alle auf diese blauen Flecken drücken.
Jetzt denkst du vielleicht: „Okay, Nina, zeig mir einfach, wie ich diese blauen Flecken loswerde. “ Nein. Dieses Buch ist kein Skalpell, mit dem du blaue Flecken herausschneiden kannst. Das ist nicht das Ziel. Es ist außerdem unmöglich. Diese blauen Flecken sind ein Teil deines Lebens, sie sind ein Teil von dir. Du kannst sie nicht chirurgisch entfernen. Das Ziel ist also nicht, die blauen Flecken loszuwerden, sondern sie zu erkennen, anzuerkennen und in dein Leben zu integrieren, damit sie abklingen.
„Okay, Nina, dann zeig mir, wie ich die Trigger aus meinem Leben entferne – die Menschen und Ereignisse, die auf meine blauen Flecken drücken. Dann kann ich meinen Frieden finden.“ Auch da muss ich dich enttäuschen. Denn auch die Trigger gehören zum Leben. Du musst lernen, nicht mehr unbewusst auf sie zu reagieren und dich besser gegen sie zu wappnen. Es bringt nichts, Trigger auf ein Minimum zu reduzieren. Das führt nur zu Einsamkeit. Und das hilft dir bei der Selbstfürsorge nicht. Nein, Selbstfürsorge bedeutet, auf die eigenen Bedürfnisse zu achten, und Bindung ist eines der menschlichen Bedürfnisse, die wir alle haben. Zugegeben, manche brauchen mehr Menschen um sich herum als andere, aber wir alle brauchen Bindung.
Einleitung. Den eigenen Panzer ablegen 9
Die blauen Flecken und Trigger sind also nicht das eigentliche Problem, sondern vielmehr das schwer Fassbare, die Sprachlosigkeit, die mit ihnen einhergehen. In diesem Buch helfe ich dir, die Muster, in denen du schon lange feststeckst, in Worte zu fassen. Gemeinsam werden wir diese Muster analysieren und Werkzeuge finden, um neue, konstruktive Muster zu schaffen.
Da ich Psychologie studiert habe, betrachte ich Selbstfürsorge durch die Brille der Psychologin. Es gibt so viele Bücher über Selbstfürsorge, wie es Brillen gibt. Deshalb musst du wissen, welche Brille ich trage und wie ich den Inhalt dieses Buches betrachte. Dieses Buch ist mein persönlicher Beitrag zur Debatte über Selbstfürsorge. Es gibt zweifellos andere interessante Beiträge, nur liegen sie außerhalb meines Fachgebiets.
Aber Achtung: Was ich in diesem Buch schreibe, mag teilweise recht konfrontativ klingen. Wenn du das beim Lesen nicht so empfindest, dann bist du entweder jemand, der geerdet ist (hurra!), oder jemand, der äußerlich alles vertuscht, aber innerlich einen riesigen Kampf führt. Ich übertreibe ein wenig, weil ich möchte, dass du in Bezug auf deinen inneren Schmerz mit dir selbst ehrlich bist. Und es ist völlig normal, Widerstand zu spüren. Ich bin mir durchaus bewusst, dass du dieses Buch wahrscheinlich von Zeit zu Zeit wütend in die Ecke werfen möchtest – und es vielleicht auch tust. Oder es frustriert weglegst, um es dann – nach einiger (langer) Zeit – wieder zur Hand zu nehmen. Das alles ist in Ordnung. Es ist dein Prozess, du bestimmst das Tempo.
Hast du das Gefühl, dass sich durch die Lektüre dieses Buches etwas in dir löst? Verarbeite die Erfahrungen nicht allein. Gehe Schritt für Schritt vor und hole dir Hilfe, wenn du nicht weiterkommst oder wenn dir alles zu viel wird. Auch das ist Selbstfürsorge. Dein Hausarzt kann dich an einen Psychologen, Psychotherapeuten oder Coach in deiner Nähe verweisen.
Einleitung. Den eigenen Panzer ablegen 11
Wie schön, dass du dieses Buch aufgeschlagen hast. Und noch schöner, dass du dir Zeit für die eigene Selbstfürsorge nehmen willst. Denn darum geht es in diesem Buch: sich um sich selbst zu kümmern. Den ganzen Tag über kümmern wir uns um andere: Kinder, Eltern, Freunde, Nachbarn oder Kollegen. Die Selbstfürsorge bleibt dabei oft auf der Strecke.
Du stehst auf, sorgst dafür, dass alle (auch du selbst) gewaschen und angezogen sind und mit vollem Magen in die Schule, in den Kindergarten oder zur Arbeit gehen. Dann machst du dich auf den Weg, um pünktlich deinen eigenen Tagesaktivitäten nachzukommen. Du wechselst zwischen deinen Aufgaben hin und her, hoffst, dass die Besprechung schneller vorbei ist, und eilst zur Kita. Um dann von deinen Kindern zu hören: „Wieso holst du uns schon ab?“
Du rennst nach Hause, beladen mit Einkäufen, und beginnst die dritte Schicht des Tages. Alle satt? Sauber? Im Bett? Dann stellst du dir die wichtige Frage: „Mache ich noch etwas für mich, mit meinem Partner oder Freunden, oder krieche ich früh ins Bett?“ Und schläfst dann ein, bevor deine Lieblingsserie auf Netflix überhaupt angefangen hat. Oder dein Partner muss dir etwas dreimal sagen, weil er nicht mehr zu dir durchdringt. Wie auch immer: In beiden Fällen hattest du keine Zeit für dich. Geistlose Berieselung war eindeutig nicht das, was du brauchtest. Und dem romantischen Abend zu zweit hast du nur dem Partner zuliebe zugestimmt.
Und so geht es tagein, tagaus. Wir wissen – oder glauben zu wissen –, was andere brauchen. Wir geben anderen, was wir denken, dass wir geben sollten. Wir überfordern uns selbst, weil wir uns nicht trauen, abzu
sagen (was wird der andere denken?). Wir trauen uns nicht mehr, unsere Gedanken zu äußern, weil sie beim letzten Mal ausgelacht, heruntergespielt oder schlichtweg ignoriert wurden. Und ehe wir uns versehen, ist da ein neuer blauer Fleck, eine neue Verletzung. Und wir passen uns an, um den Schmerz nicht zu spüren.
Natürlich übertreibe ich. Doch ich bin mir sicher, dass du irgendwann einmal etwas Ähnliches erlebt hast. Ich habe das auf jeden Fall.
Aber was genau ist Selbstfürsorge? Eine gute Frage. Eine, die ich gern mit einem Beispiel aus meinem eigenen Leben beantworten möchte. An diesem Beispiel versuche ich, die Grundlagen echter Selbstfürsorge zu erklären: auf die eigenen Bedürfnisse zu achten. Montagmorgen. Eine anstrengende Woche liegt hinter mir, und auch die neue Woche wird wieder anstrengend. Außerdem war das Wochenende kein richtiges Wochenende, denn ich habe fast die ganze Zeit gearbeitet. Ich bin müde. Müde von der Arbeit und müde, weil ich nicht gut geschlafen habe. Nach meinem Morgenkaffee lässt dieses Gefühl nicht nach, ganz im Gegenteil. Aber ich muss heute eine ganze Reihe von Videos aufnehmen, ein freier Tag kommt also nicht in Frage. Aber was dann?
Option 1: Ich ignoriere meine Gefühle und stürze mich in die Arbeit. Augen zu und durch. Einfach durchstarten und den Berg an Arbeit abarbeiten. Mein altes Ich hätte das getan: über meine Grenzen hinausgehen. Die Folge: In den kommenden Tagen habe ich noch weniger Energie.
Option 2: Ich „horche in mich hinein“ und passe meinen Tag entsprechend an. Ich habe durch Herumprobieren gelernt, dass das die bessere Option für mich ist. Ich nehme mir vor, mir nach jedem Video eine kurze Pause zu gönnen, um zu spüren, wie ich mich fühle und was ich brauche. Und treffe auf dieser Basis bewusste Entscheidungen.
Was ist Selbstfürsorge? 13
Nach einigen abgedrehten Videos merke ich, dass ich Hilfe brauche. Praktische Hilfe, weil die Kinder keine saubere Kleidung mehr haben. Also bitte ich meine Mutter, Wäsche zu waschen. Und emotionale Hilfe, denn ich muss Dampf ablassen. Zum Glück kann ich das über eine Freundinnengruppe auf WhatsApp tun. „Puh, ganz schön heftig dieser Montag. So viele Dinge zu erledigen. Ich muss mal kurz schreien, damit ich wieder atmen kann.“ Eine Freundin antwortet mit einem genialen Gif, das mich zum Lachen bringt. Ich denke auch an meinen Körper, indem ich für einen Moment eine starke Yogastellung einnehme und atme. Einfach atme. Und – ganz wichtig – ich nehme mir morgens eine Viertelstunde mehr Zeit, um mich fertig zu machen. Früher dachte ich, das sei sinnlose Zeitverschwendung. Jetzt ist es ein unverzichtbares Ritual, das mir den nötigen Schwung gibt. Ein Moment, in dem ich bewusst im Jetzt bin. Ohne Ablenkung, Schritt für Schritt: Cremen, Augen schminken … Auch das ist Selbstfürsorge, denn in diesem Moment erfülle ich meine Bedürfnisse. Abends bin ich immer noch müde, aber ich bin froh, einen Großteil meiner TodoListe abgehakt zu haben. Die Videoreihe ist fertig. Ich muss noch ein Kapitel für dieses Buch fertigstellen, aber das kann ich morgen erledigen. Die Wäsche ist gewaschen (danke, Mama). Statt zu kochen, entscheide ich mich für eine Portion Spaghettisauce aus dem Gefrierfach. Weniger Arbeit für mich und glückliche Kinder: ein doppelter Gewinn. Während die Sauce auftaut, räume ich zehn Minuten lang auf, damit die Unordnung verschwunden ist, wenn ich mich nach dem Abendessen aufs Sofa lege. Der Rest wird morgen erledigt.
Was ist Selbstfürsorge? 15
Selbstfürsorge bedeutet, in regelmäßigen Abständen auf deinen Körper zu hören. Es bedeutet, kurz den Autopiloten abzuschalten und darüber nachzudenken, was du fühlst und was du brauchst. Ja, das erfordert Übung, und nein, es ist nicht immer einfach, sich dafür ein Zeitfenster einzubauen. Aber sei nett zu dir: Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut. Ich habe Jahre gebraucht, um herauszufinden, was für mich funktioniert und wie ich in meinem stressigen Leben Zeit für mich einplane.
Selbstfürsorge bedeutet auch, dich zu trauen, um Hilfe zu bitten. Eine sehr einfache, aber gleichzeitig sehr schwierige Fähigkeit, die ich zum Glück inzwischen gelernt habe. Mein 25jähriges Ich hätte sich nie getraut, meine Mutter zu bitten, meine Wäsche zu waschen. „Das kann ich doch nicht machen! Meine Freundinnen erledigen das selbst. Was wird meine Mutter von mir denken?“ Inzwischen weiß ich, dass ich meiner Mutter damit sogar einen Gefallen tue. Denn so gebe ich ihr Gelegenheit, sich um mich zu kümmern. Und Mütter tun das gern, solange sie nicht jedes Mal einen vollen Korb Wäsche mit nach Hause nehmen müssen. (Falls du dir Sorgen machst: Zum Glück kann meine Mutter ziemlich gut ihre eigene Grenzen aufzeigen.)
Selbstfürsorge bedeutet auch, dich mit dir selbst zu verbinden. Mit deinem Körper, mit deinen Gefühlen, mit deinen Bedürfnissen, mit dem inneren Kind in dir. Es bedeutet, genau auf die Signale deines Körpers zu hören, um herauszufinden, was dich triggert. So erfährst du, wie diese Trigger deine Gefühle bestimmen und deine Reaktionen steuern. Dann kannst du sie anerkennen und annehmen, damit du dich nicht mehr von ihnen mitreißen lässt.
Selbstfürsorge bedeutet auch, ehrlich zu dir selbst zu sein und auf die kleine Stimme in deinem Kopf zu hören, die sagt: „Du brauchst etwas!“ oder „Du überschreitest deine Grenzen!“
Schließlich geht es bei Selbstfürsorge auch darum, Entscheidungen zu treffen. Du entscheidest, wie du reagierst. Und du musst nicht über deine Grenzen gehen, um gemocht zu werden.
Ich höre dich denken: „Aber Nina, manchmal muss doch was getan werden. Meine Arbeit und meine Familie haben keine Zeit, auf mich zu warten. Ich kann nicht selbst entscheiden, was ich mache, wann ich es mache und wie ich es mache ...“
Das stimmt. Es gibt viel zu tun. Und doch gibt es gleichzeitig auch viel weniger zu tun, als wir alle denken. Wenn du dir die Geschichte am Anfang dieses Kapitels noch einmal durchliest, wirst du feststellen, dass ich alles gemacht habe, was an diesem Tag notwendig war. Ich habe pflichtbewusst meine Videos zusammengeschnitten. Meine Kinder sind nicht hungrig zu Bett gegangen. Mein Haus war abends aufgeräumt. Aber das alles ging nicht auf meine Kosten. Denn ich habe Entscheidungen getroffen. Und ich habe um Hilfe gebeten.
Ich möchte einen wichtigen Punkt ansprechen. Es mag zwar so aussehen, als bekäme ich alles auf die Reihe. Das ist nicht der Fall. Ich habe es bereits in der Einleitung erwähnt: Selbstfürsorge ist ein Prozess. Man bekommt nicht plötzlich ein Selbstfürsorgediplom, und ist für den Rest seines Lebens völlig ausgeglichen. (Wie langweilig wäre das denn!)
Du lebst nicht in einem Vakuum. Es gibt Menschen um dich herum, die – positiv oder negativ – auf dich einwirken. Darauf hast du keinen Einfluss. Du kannst die Welt um dich herum nicht kontrollieren. Es wird immer Trigger geben, die zu einer instinktiven Reaktion führen. Es wird immer Menschen geben – Kollegen, Freundinnen, Eltern –, die auf einen blauen Fleck drücken. Die dich erstarren, fliehen, kämpfen lassen. Auch bei mir ist das so. Obwohl ich weiß, was mich triggert, verstehe ich oft erst im Nachhinein, was passiert ist und welchen Anteil ich daran habe. Das ist in Ordnung. Am besten wäre es, wenn ich den Trigger in dem Moment selbst aufdeckte, mich um mein inneres Kind kümmerte und erwachsen mit der Situation umginge. Aber so weit bin ich noch nicht.
Deshalb gleich eine zweite wichtige Anmerkung. Ich bin kein leuchtendes Vorbild. Das ist niemand. Vergleiche dich nicht zu sehr mit anderen. Oder besser: Du kannst das tun, aber vor allem solltest du überlegen, was eine Situation mit dir macht. Warum triggert dich etwas? Was nimmst du davon mit? Welche Entscheidung triffst du?
Was ist Selbstfürsorge? 17
Vielleicht wirst du beim Lesen des Buches mit deinen inneren Stimmen konfrontiert. Diesen kleinen Teufelchen auf deiner Schulter, die dir zuflüstern: „Siehst du, du kannst es nicht.“ Oder: „Du grübelst zu viel. Lass es gut sein.“ Auch das ist in Ordnung. Lass diese Stimmen zu. Aber auch hier gilt: Folge ihnen nicht blindlings. Höre sie, spüre, was sie in dir auslösen, und entscheide dann, was du mit ihnen machst.
Denn genau das ist Selbstfürsorge: eigene Entscheidungen treffen.
Keine Dinge tun, nur weil du dem Idealbild anderer entsprechen willst. Nicht, weil du Angst davor hast, „was die Leute sagen“. Sondern weil sich die Entscheidungen für dich richtig anfühlen. Ich hoffe, ich kann dich mit diesem Buch darin bestärken.
Warum? Warum bin ich von diesem Thema so begeistert? Warum habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, möglichst viele Menschen davon zu überzeugen, gut für sich selbst zu sorgen? Weil ich überzeugt bin, dass man sich nur dann gut um andere kümmern kann.
Ich treffe so viele Menschen, die glauben, Selbstfürsorge sei egoistisch. Die immer die Interessen ihrer Kinder, ihres Partners, ihrer Familie, ihrer Kollegen, ihrer Freunde … über ihre eigenen stellen. Und die sich nicht bewusst sind, dass sie damit nicht nur sich selbst vernachlässigen, sondern gleichzeitig auch alle anderen.
Nur, wenn du weißt, was dich triggert, wieso du dich nicht gut oder nicht genug um dich selbst kümmerst, kannst du anderen wirklich etwas bedeuten. Nicht, weil du es musst, sondern weil du es willst. Weil du diese Freiheit hast. Weil du spürst: Ich will das tun und ich kann das tun, das ist für mich in Ordnung. Und zwar in der Familie, in der Beziehung und auch im Job – oder in jeder anderen Rolle, die du einnimmst.
Es gibt Menschen, die behaupten, dass Selbstfürsorge unnötig ist. Das sind die Leute, die immer weitermachen und ihre Bedürfnisse nicht spüren. Sie haben gelernt, ihre Grenzen immer weiter zu verschieben und jedes Mal zu überschreiten. Vielleicht bist du auch jemand, der sich antrainiert hat, nicht mehr auf den eigenen Körper zu hören. Mein Rat an dich: Lies dieses Buch bis zum Ende. Überspringe keinen Abschnitt, halte inne und lasse Gefühle zu. Und kümmere dich um dich selbst. Was ist Selbstfürsorge? 19
Leider kursieren immer noch viele Mythen über Selbstfürsorge, zum Beispiel, dass Selbstfürsorge etwas für faule Menschen oder Egoisten sei. Mythen, die andere Menschen verbreiten und/oder die dir deine inneren Stimmen einflüstern. Diese Überzeugungen sind häufig tief verwurzelt, und du solltest dich fragen, woher sie kommen. Von wem hast du diese Mythen übernommen? Bist du streng mit dir selbst, weil du glaubst, du müsstest es sein? Oder weil jemand anderes das für dich entscheidet? Manchmal sind es kleine, schwer zu benennende Kindheitserfahrungen, die deine inneren Stimmen so laut werden lassen. Vielleicht Erwartungen, die nicht explizit ausgesprochen wurden. Du hast sie im Laufe deines Lebens irgendwo aufgeschnappt. Und sie dir zu eigen gemacht. Im Kapitel zur Parentifizierung (siehe S. xy) gehe ich näher darauf ein. Wie du mit diesen inneren Stimmen umgehst, erfährst du im Kapitel über sanfte Mantras (siehe S. xy).
betreibt, ist faul und labil
Menschen, die Selbstfürsorge praktizieren, sind faul. Oder psychisch labil. Das stimmt natürlich nicht. Wer sich Zeit nimmt, über seine Gefühle nachzudenken, ist man keineswegs faul. Im Gegenteil, es erfordert sogar große Anstrengung. Vor allem, wenn man erst anfängt, echte Selbstfürsorge zu betreiben. Auch was psychische Instabilität betrifft, kann ich nur sagen: Das stimmt nicht. Wie viel Stärke erfordert es, sich Zeit zu nehmen und sich um sich selbst zu kümmern? Statt auf Autopilot zu schalten und immer weiterzumachen. Natürlich können dich Selbstzweifel beschleichen. Vielleicht hattest du schon ein Burnout. Ich bin stolz auf dich, dass du hier bist. Du hast gemerkt, dass du Selbstfürsorge brauchst. Und das ist ein großer Schritt. Ein lebensverändernder Schritt. Gefühle und Bedürfnisse sind erlaubt. Auch wenn wir – oft in unserer Kindheit – gelernt haben, dass es von Schwäche zeugt, wenn wir unsere Gefühle zulassen. Bist du traurig? Komm schon, Kopf hoch. Bist du wütend? Reiß dich zusammen. Hast du Angst? Nein, denn das Leben beginnt erst außerhalb deiner Komfortzone. Du musst weiter laufen, springen, fliegen, tauchen, hinfallen, wieder aufstehen und so fort. Und deine Gefühle und Bedürfnisse beiseiteschieben, denn sonst kannst du in der Welt nicht bestehen. Doch das stimmt nicht. Wenn du auf dich selbst hörst, kannst du in der Welt bestehen. Indem du deine Grenzen kennen lernst, kannst du leichter STOPP sagen. Damit du am Ende nicht mit dem Kopf gegen die Wand läufst oder (wieder) auf ein Burnout zusteuerst.
„Ich dachte, ich bräuchte keine Selbstfürsorge. Das war nichts für mich. Ich konnte es allein schaffen. Ich war stark. Bis ich merkte, ich war zu weit gegangen. Es war höchste Zeit, etwas zu unternehmen. Wie Nina immer sagt: Sich seinen Verletzungen zu stellen, erfordert viel Mut, viel Kraft. Es scheint so viel einfacher zu sein, mit den alten Gewohnheiten fortzufahren. Und ich dachte regelmäßig: ‚F*ck, Nina, du und dein Selbstfürsorge-Mist!‘ Und dann spürte ich plötzlich eine Veränderung. Und ich wusste: Ich bin nicht allein.“ – Aisha
Ein weiterer Mythos: Selbstfürsorge ist egoistisch. Denn die Zeit, die du für dich brauchst, könntest du auch anders nutzen. Für deine Kinder, deine Arbeit, deine Partnerin oder deinen Partner, dein soziales Leben. Dabei vergisst du, dass dich Selbstfürsorge – kurz- oder langfristig – tatsächlich vor Stress, Herausforderungen und schwierigen Momente schützt. Selbstfürsorge schafft Resilienz. Indem du deine eigenen Gefühle und Bedürfnisse kennenlernst, dir bestimmte Muster bewusst machst und dich mit großen und kleinen Traumata auseinandersetzt, wächst du. Du kommst dir selbst näher und kannst wählen. So sorgst du nicht nur besser für dich selbst, sondern auch für die Welt um dich herum.
Selbstfürsorge bedeutet, sich Zeit für sich selbst zu nehmen. Es bedeutet, sich in sich selbst zu versenken, es bedeutet, sich zu überprüfen und sich zu fragen: „Bin ich damit einverstanden?“, „Was fühle ich dabei?“ Es bedeutet, sich seiner eigenen körperlichen und emotionalen Reaktionen bewusst zu werden. So kannst du Schritt für Schritt – in deinem eigenen Tempo – ein starkes Selbstbild entwickeln und dabei achtsam mit dir umgehen.
Ein Bild, das ich hier gern bemühe, ist das der Sauerstoffmasken im Flugzeug. Bei starken Turbulenzen klappen diese Masken automatisch herunter. Vor dem Start haben die Stewards bereits erklärt, dass man zuerst sich selbst eine Maske aufsetzen sollte, bevor man seinem Kind hilft. Aber wenn der Ernstfall eintritt, denkst du vielleicht: „Ich setze zuerst meinem Kind die Maske auf.“ Nein, denn wenn du wegen Sauerstoffmangels ohnmächtig wirst, kannst du dich nicht mehr um deine Kinder kümmern. Mit der Selbstfürsorge ist es genauso: Nur wenn du dich zuerst um dich selbst kümmerst, kann du dich auch gut um andere kümmern.
Es ist also unerlässlich, sich zuerst um sich selbst zu kümmern. So wie du dich auch um den eigenen Sauerstoff kümmerst.
Was ist Selbstfürsorge? 23
du
Unsere inneren Stimmen sagen uns manchmal auch, dass wir durch Selbstfürsorge unseren Partner zusätzlich belasten, oder dass wir den Kolleginnen und Kollegen mehr Arbeit aufbürden. Stimmt das? Oder bildest du dir das bloß ein? Vielleicht springst du ungefragt für jemanden ein. Du entscheidest, dass „du für jemand anderen zur Last wirst, wenn du dich um dich selbst kümmerst“, und bekommst Schuldgefühle. Mein guter Rat: Sprich darüber. Denn vielleicht machst du dir unnötig Gedanken. Versuche für dich selbst herauszufinden, was hinter den Schuldgefühlen steckt: Welches Bedürfnis steckt dahinter? Was brauchst du?
„Mein Partner wollte nicht, dass ich mich für #TeamSelfcare anmelde. Wir hatten einen heftigen Streit. Ich war so wütend. Und meine Wut machte ihn wütend. Wir drehten uns in einem Teufelskreis der Wut, aus dem wir nicht herauskamen. Wir ließen die Angelegenheit ein paar Tage ruhen, das war unsere Abmachung. Ich teilte ihm mein Bedürfnis mit. Ich fragte ihn nach seiner Angst. Nach langem Reden sagte er, er habe Angst, ich würde zu viel Zeit investieren – und Zeit ist ein knappes Gut. Aber seine wahre Angst ging noch tiefer: Er dachte, ich würde mich so sehr verändern, dass er mich nicht mehr erkennen würde. Dass ich eine herrische Zicke werden würde, eine Grenzwächterin in Reinkultur, die keine Rücksicht mehr auf ihn nähme. Ich verstand diese Angst, da ich selbst Angst davor hatte. Ich wollte nicht zu jemandem werden, der ich nicht bin. Heute kann ich sagen: Selbstfürsorge entfernt dich nicht von deinem Ich, sondern bringt dich ihm näher. Und mein Mann? Er war so beeindruckt, dass er am nächsten Kurs teilnehmen möchte. Er meint, unsere Beziehung sei viel einfacher, weil ich jetzt ausdrücken könne, was ich brauche, und genau das will er auch können.“ – Manu
Deine kleine Stimme sagt dir vielleicht, dass du kein Recht auf Selbstfürsorge hast, weil so viel Arbeit auf dich wartet. Weil jemand deine Fürsorge mehr braucht. Oder weil du keine Familie hast oder gerade zwischen zwei Jobs stehst. Wenn du der Überzeugung bist, dich nicht an die erste Stelle setzen zu dürfen, kann das ein Zeichen tiefer Verletzung sein. Du denkst, du seist es nicht wert, dass man sich um dich kümmert. Vielleicht wurde dir in deiner Erziehung diese Botschaft vermittelt? Sei dir selbst gegenüber nachsichtig! Ich bin stolz, dass du dieses Buch trotzdem liest, denn das bedeutet, dass du offenbar doch deinen Selbstwert erkennst. Sei also herzlich willkommen und lies weiter.
In welcher Situation du auch gerade steckst und wo immer du im Leben stehst: Auch du hast ein Recht auf Selbstfürsorge. Auch du darfst Bedürfnisse äußern, Grenzen aufzeigen und Gefühle zulassen. Auch wenn du von anderen ein anderes Signal bekommst. Nicht jeder kann dich in deiner Selbstfürsorge unterstützen. Der Anfang jeglicher Selbstfürsorge besteht darin, in dich hineinzuhorchen, um wissen, was du fühlst, und dir selbst diese Gefühle und Bedürfnisse einzugestehen. Und zwar unabhängig davon, ob du eine Familie oder einen (anstrengenden) Job hast oder nicht.
„Ich habe mich für #TeamSelfcare angemeldet und dann kamen die Zweifel, die Angst, die Schuldgefühle. ‚Ich bin es nicht wert, mich selbst besser kennen zu lernen. Ich bin es nicht wert, Zeit in mich zu investieren.‘ Ich schrieb diese Zweifel in die Facebook-Gruppe und erhielt wunderbare Antworten, genau das, was ich brauchte. Die anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer sahen meine Zweifel und sie alle sagten: ‚Du bist es wert, genau wie wir alle.‘ Es ist kein Wettbewerb, es geht nicht darum, wer es am schwersten hat, wer das härteste Leben lebt oder wer sich in Selbstfürsorge üben darf. Jeder MUSS
Selbstfürsorge betreiben. Aber vielleicht findet Nina das unnachsichtig –haha – und ich übersetze es mal so: Du bist es, genau wie ich, wert, dich selbst wirklich zu kennen und somit Selbstfürsorge zu betreiben.“ – Anneleen
Was ist Selbstfürsorge? 25
Mythos
5: Auf sich selbst aufpassen? Das ist leicht!
Dass Selbstfürsorge leicht wäre, ist ein weiterer Mythos. Selbstfürsorge ist überhaupt nicht leicht. Es ist anstrengend, sich Zeit für sich zu nehmen. Sich mit seinen Gefühlen und Bedürfnissen auseinanderzusetzen. Daher ist dies kein Buch, dass du mal eben schnell durchliest. Du wirst feststellen, dass du Zeit brauchst. Und dass es manchmal konfrontativ ist – so wie es für mich war, wie du in der Einleitung lesen konntest.
Natürlich, wenn du Selbstfürsorge als MeTime betrachtest oder als Zeit für ein heißes Bad oder für Musik ... dann ist Selbstfürsorge in der Tat ziemlich leicht. Aber du weißt inzwischen, dass dies nicht die Art von Selbstfürsorge ist, die ich meine. Durch die psychologische Brille betrachtet, ist Selbstfürsorge kein „quick fix“, sondern braucht einen langen Atem. In diesem Buch erhältst du jede Menge Informationen, wertvolle Einsichten, und es braucht Zeit, diese zu verinnerlichen. Du musst alles verarbeiten, und das kann manchmal Monate oder Jahre dauern.
Selbstfürsorge bedeutet, sich wie eine Zwiebel Schicht für Schicht zu schälen, bis man zum Kern gelangt. Wir sind keine dicke Kartoffel, bei der schon einmaliges Schälen reicht. Nein, Schritt für Schritt entdeckt man neue Erkenntnisse, lässt sie einsickern und ruhen, bis man bereit ist, eine neue Schicht abzuschälen. Nutze dieses Buch dazu. Lies es, arbeite damit und denke darüber nach. Und dann lege es zur Seite, um es wieder hervorzuholen, wenn du bereit bist. Gönne dir diese Zeit und diesen Raum. Das ist in Ordnung. Das darfst du.
„Nina spricht oft von der Zwiebel. Die Schichten, unsere Schichtung. Ich habe diese Zwiebel verflucht. Ich wünschte, ich wäre eine Kartoffel. Eine Kartoffel mit einer einzigen Schale rundherum. Wenn du sie schälst, kommst du direkt zum Kern. Zack, alles liegt offen vor dir, lernst deine Lektion und kannst dann ein freies und glückliches Leben führen. Nein, stattdessen geht es Schicht für Schicht. Du spürst wieder diese Blessuren, jetzt in anderen Situationen oder gegenüber anderen Menschen, du gräbst tiefer, weinst und wirst geheilt. Und doch ... wenn ich es dann durch diese Schicht geschafft habe, bin ich so stolz auf mich. Wieder etwas überwunden, wieder etwas geheilt.“ – Maja
die Leute mich nicht mehr lieben
Ein letzter und leider sehr hartnäckiger Mythos ist, dass man dich nicht mehr lieben wird, wenn du dich um dich selbst kümmerst. Dies ist ein weit verbreiteter Irrglaube, denn viele Menschen mussten in ihrer Kindheit für die Liebe ihrer Eltern etwas tun. Diese Liebe war nicht bedingungslos: Sie mussten Erwartungen erfüllen, gute Noten nach Hause bringen, gut in ihrem Hobby sein und vor allem auf das hören und das tun, was Vater und Mutter wollten. Auf Kosten der eigenen Bedürfnisse. Denn die durften sie eigentlich nicht haben, sie waren nicht wichtig. Und so lernten sie, ihre Gefühle abzuschirmen, zu verstecken, zu ignorieren. Das ist ein großer blauer Fleck, der schmerzhaft spürbar wird, wenn diese Menschen sich um sich selbst kümmern wollen. Denn sie haben gelernt, dass man bestraft wird, wenn man für sich selbst eintritt und seine eigenen Bedürfnisse und Gefühle (an)erkennt. Meist trifft das nicht zu, aber der Mythos ist so stark, dass es schwerfällt, ihn zu ignorieren. Ehrlicherweise muss ich dazu aber noch sagen, dass Selbstführsorge tatsächlich beeinflussen kann, wie andere einen sehen. Da Selbstfürsorge zu mehr Selbsterkenntnis führt, weißt du genau, was du willst und was nicht. Du kannst deine Bedürfnisse äußern und bist eher in der Lage, deine Grenzen aufzuzeigen. Manche Menschen können sich nur mit deinem „alten Ich“ verbinden. Das kann dazu führen, dass du Menschen in deinem Leben verlierts. Manchmal geschieht dies organisch und der Kontakt löst sich schrittweise, ohne Streit. Manchmal kommt es aber auch zum Bruch. Das kann hart sein, weil wir Freundschaft oft als etwas Dauerhaftes betrachten. Wenn eine Freundschaft plötzlich erlischt oder zerbricht, fühlen wir uns schuldig. Lassen wir diesen Freund oder diese Freundin im Stich?
Freundschaften kommen und gehen: In manchen Phasen kannst du einer Person sehr nahe sein, weil euch bestimmte Dinge verbinden, während ihr euch zu anderen Zeiten im Leben aus den Augen verliert – vorübergehend oder dauerhaft. Vielleicht findet ihr später im Leben wieder zueinander, vielleicht ist es ein endgültiger Abschied. Was ist Selbstfürsorge? 27
Du kannst darüber traurig sei. Vielleicht fällt es dir schwer, Abschied zu nehmen. Vielleicht vermisst du diese Person. Vielleicht bist du wütend, weil du dich nicht in deinem neuen Ich gesehen fühlst, das viel echter ist als dein altes. Vielleicht hast du Angst, weil du glaubst, dass du nie wieder einen so guten Freund finden wirst. Das ist alles in Ordnung, und das gehört zu einer Beziehung dazu. Einander loslassen können, bedeutet auch, sich gegenseitig wieder wahrzunehmen. Aneinander festzuhalten, kann schwer wiegen. Man investiert in etwas, das eigentlich zu Ende ist. Es erfordert Mut, dieses Ende zu akzeptieren und zu benennen. Es ist ein MegaKlischee, ich weiß, aber etwas, das zu Ende geht, eröffnet auch neue Türen. Eine neue Beziehung mit einer anderen Person oder eine neue Beziehung mit derselben Person, weil plötzlich Raum dafür da ist.
Diejenigen, die es wagen, sich – mit kleinen Schritten – verletzlich zu machen, werden feststellen, dass die Welt ein sicherer Ort sein kann, an dem man sich selbst, seine Gefühle und Bedürfnisse zeigen kann. Es braucht ein bisschen Übung, bis man sich traut, dies zu tun. Gönne dir diese Sicherheit und diese Selbstliebe.
„Meine Eltern hatten hohe Erwartungen an mich, ihren ältesten Sohn. Ich hatte zum Beispiel das Gefühl, dass meine Schulnoten sehr wichtig waren und dass man von mir erwartete, dass ich studieren würde, meine Fähigkeiten voll ausschöpfen würde. Das war auch bei kleineren Dingen der Fall. Meine Kleidung musste immer tipptopp sein, ich durfte meinen eigenen Stil nicht entwickeln und musste hauptsächlich das tragen, was meine Mutter für mich passend fand. Bei meinem jüngeren Bruder war das alles kein Thema. Er durfte seine Kreativität voll entfalten, Noten waren weniger wichtig, und über seine Gothic-Zeit wurde kein Wort verloren. Ich versuchte, all diesen Erwartungen gerecht zu werden, um die Anerkennung und Liebe meiner Eltern zu bekommen. Ich studierte, weil meine Eltern es wollten, ich machte Karriere, weil sie es von mir erwarteten. Ich musste mich bei der Arbeit ziemlich strecken. Meiner Partnerin gegenüber ging ich bei der kleinsten konstruktiven Kritik ihrerseits direkt in die Luft. Die Arbeit verlangte mir zu viel ab. Das belastete unsere Beziehung. Meine Partnerin gab wirklich ihr Bestes, aber egal wie sorgfältig und konstruktiv sie versuchte, ihr Feedback zu formulieren, ich fühlte mich jedes Mal angegriffen.
Ich wurde wütend oder zog mich zurück. Ich koppelte mich ab. Bei der Arbeit erbrachte ich gute Leistungen, kletterte die Karriereleiter hinauf und kassierte ab. Zu Hause reagierte ich bei jeder Kleinigkeit empfindlich. Nach einem Unfall und viel echter Selbstfürsorge weiß ich jetzt, dass meine Partnerin einen blauen Fleck triggerte. Wir machten schließlich eine Paartherapie. Jetzt kennen wir die Trigger des jeweils anderen. Wir nehmen Rücksicht und sorgen besser füreinander. Ich habe übrigens meinen Arbeitsplatz gewechselt und mache jetzt etwas ganz anderes, etwas, das mir wirklich liegt, weit weg von den hohen Erwartungen meiner Eltern. Es war ein langer Weg, nicht immer einfach, aber jetzt profitiere ich davon. Genau wie die Menschen in meinem Umfeld.“ – Toon
Was ist Selbstfürsorge? 29
Diese sechs Mythen sind, was sie sind: Mythen. Aber sie sind natürlich präsent, in Form von kritischen Stimmen, Annahmen oder blauen Flecken. Es hilft, sich selbst einzugestehen, dass diese Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse präsent sind. Die sanften Mantras, die du weiter hinter im Buch findest (siehe S. xy), können ein erster Schritt dabei sein.
978-3-7088-0857-4
Echte
Selbstfürsorge statt Selbstoptimierung
Erscheint am 23. September 2024
Grenzen aufzeigen, Muster durchbrechen, Verletzlichkeit zulassen
Willkommen in der schaumbadfreien Zone!
Hardcover mit Veredelungen und Illustrationen
15,5 x 22 cm, 208 Seiten
€ 25,-
über 50.000 verkaufte
Exemplare des Originaltitels
Übersetzung: Birgit van der Avoort
Cover: SodaZitronDesign, Satz: Christiane Leesker, www.christianeleesker.de © 2022, Uitgeverij Lannoo nv, Tielt. For the original edition.
Original title: Zelfzorg is het begin van alles. Translated from the Dutch language www.lannoo.com
Der Bestseller aus Belgien endlich in deutscher Übersetzung