Hinter den Kulissen von Stuttgart

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HINTER DEN KULISSEN

VON STUTTGART


ORT VORW bEKANNTE DAS UN RT A STUTTG

Stuttgart, im Frühjahr 2014. Ich bin ein Bayer in Stuttgart, ich habe mir das selbst so ausgesucht. Das ist jetzt fast vier Jahre her. Ich hatte ja keine Ahnung, worauf ich mich einlasse. Ich bin damals nach Stuttgart gezogen, weil die Schwaben plötzlich so krasse Sachen machten. Der Mappus, der Kretschmann, der Juchtenkäfer. Über all das wollte ich für meine Zeitung schreiben. Meine Zeitung sitzt in München, ich war jetzt also Auslandskorrespondent. Es war Winter, als ich in Stuttgart ankam, ein kalter, grauer Sonntagabend im Westen. Ich wusste nichts über 9


DAS UNbEKANNTE STUTTGART

die Stadt. Der Westen, hatte man mir gesagt, sei das Stuttgarter Schwabing. Das hatte mich natürlich überzeugt. Man hatte allerdings irgendwie verpasst, mir zu sagen, dass man im Stuttgarter Schwabing am Sonntag um halb elf nichts mehr zu essen kriegt. Die Einheimischen, die gerade mit der ihnen eigenen Sorgfalt die Lokaltüren verriegelten, schauten mich grimmig an. An jenem Abend fand ich das zentrale Theorem des be­kannten Philosophen Thomas Strunz bestätigt, demzufolge das Beste an Stuttgart die Autobahn nach München sei. Anfangs verbrachte ich viel Zeit auf dieser Autobahn, oft stehend auf der Schwäbischen Alb. Genau wie mein Bürokollege, der Hägler-Max, auch ein Bayer. In Intensivphasen des Heimwehs nannten der Max und ich unseren Arbeitsplatz nicht „Büro Stuttgart“. Wir sagten: „Büro München-West“. Dem Max und mir ist von den Stuttgartern mal ein Preis verliehen worden, ein wirklich formschöner „Arsch mit Ohren“. Wir hatten einen „Hate Slam“ gewonnen, einen Wett­ bewerb unter Journalisten, wer von seinen Lesern am meisten gehasst wird. Ich konnte die Geschichte von der Stuttgart-21-Gegnerin erzählen, die unter meinem Bürofenster gegen mich demonstrierte. Und den Leserbrief einer Dame aus Degerloch vorlesen, die ganz grundsätzlich infrage stellte, ob ein Bayer über schwäbische Belange objektiv berichten könne. Ich hatte auf unserer Internetseite gastronomische Stuttgart-Tipps gegeben; die Leserin fand, dass dieser Schritt „das Fass nun endgültig zum Überlaufen bringt“. Es gebe weit bessere Weinstuben als die, die ich in meiner Münchner Ahnungslosigkeit empfehle: „Welche genau, verrate ich Ihnen aber nicht. Sonst muss ich Sie da noch treffen.“ 10

Die besorgte Leserin brachte mich auf etwas. Eine These: Die Stuttgarter haben eine tolle Stadt – sie erzählen sicherheitshalber nur niemandem davon. Stuttgart ist nicht umsonst die Stadt im Kessel. Von drinnen kann man nicht leicht hinausschauen aus dem ­Kessel; von draußen auch nicht so leicht hinein. Ziemlich lang haben das offenbar sowohl die Stuttgarter als auch der Rest der Republik für eine gute Lösung gehalten. Wahrscheinlich hat Stuttgart deshalb mit Vorurteilen zu kämpfen wie kaum eine andere Stadt in Deutschland: Unaufgeklärten Bayern gilt sie als Heimat kreuzbraver Pietisten, die ihre Maultaschen unbedenklich vom blitzblank gekehrten Bürgersteig essen könnten und sich allabendlich früh zur Ruhe betten, um am Morgen wieder topfit einzustempeln beim Daimler. Nach fast vier Jahren in Stuttgart bin ich ein aufgeklärter Bayer. Das mit den Vorurteilen ändert sich gerade, nicht nur bei mir. Man hat den Stuttgartern ja viel zugetraut, vor allem die sachgerechte Montage von Automobilen. Aber einen Volksaufstand gegen einen Bahnhof? Einen grünen Ministerpräsidenten und Oberbürgermeister? Es gibt jetzt eine Neugierde auf Stuttgart. Es gibt immer mehr Leute, die einen Blick in den Kessel riskieren. Und zu allem Überfluss feststellen, dass er sich lohnt. Kürzlich habe ich ein Stadtporträt von Stuttgart geschrieben; die Dame aus Degerloch wäre vorher sicher gegen das Projekt gewesen. Dabei gibt es gar nichts zu befürchten von dem Text. Es geht darin um eine Stadt, die sich im rasantesten Fortschritt einen Sinn für Langsamkeit bewahrt hat. Eine kleine Metropole, die immer noch ein bisschen Weindorf ist. Meine Kollegen-Redakteure haben beherzt getitelt: 11


DAS UNbEKANNTE STUTTGART

die Stadt. Der Westen, hatte man mir gesagt, sei das Stuttgarter Schwabing. Das hatte mich natürlich überzeugt. Man hatte allerdings irgendwie verpasst, mir zu sagen, dass man im Stuttgarter Schwabing am Sonntag um halb elf nichts mehr zu essen kriegt. Die Einheimischen, die gerade mit der ihnen eigenen Sorgfalt die Lokaltüren verriegelten, schauten mich grimmig an. An jenem Abend fand ich das zentrale Theorem des be­kannten Philosophen Thomas Strunz bestätigt, demzufolge das Beste an Stuttgart die Autobahn nach München sei. Anfangs verbrachte ich viel Zeit auf dieser Autobahn, oft stehend auf der Schwäbischen Alb. Genau wie mein Bürokollege, der Hägler-Max, auch ein Bayer. In Intensivphasen des Heimwehs nannten der Max und ich unseren Arbeitsplatz nicht „Büro Stuttgart“. Wir sagten: „Büro München-West“. Dem Max und mir ist von den Stuttgartern mal ein Preis verliehen worden, ein wirklich formschöner „Arsch mit Ohren“. Wir hatten einen „Hate Slam“ gewonnen, einen Wett­ bewerb unter Journalisten, wer von seinen Lesern am meisten gehasst wird. Ich konnte die Geschichte von der Stuttgart-21-Gegnerin erzählen, die unter meinem Bürofenster gegen mich demonstrierte. Und den Leserbrief einer Dame aus Degerloch vorlesen, die ganz grundsätzlich infrage stellte, ob ein Bayer über schwäbische Belange objektiv berichten könne. Ich hatte auf unserer Internetseite gastronomische Stuttgart-Tipps gegeben; die Leserin fand, dass dieser Schritt „das Fass nun endgültig zum Überlaufen bringt“. Es gebe weit bessere Weinstuben als die, die ich in meiner Münchner Ahnungslosigkeit empfehle: „Welche genau, verrate ich Ihnen aber nicht. Sonst muss ich Sie da noch treffen.“ 10

Die besorgte Leserin brachte mich auf etwas. Eine These: Die Stuttgarter haben eine tolle Stadt – sie erzählen sicherheitshalber nur niemandem davon. Stuttgart ist nicht umsonst die Stadt im Kessel. Von drinnen kann man nicht leicht hinausschauen aus dem ­Kessel; von draußen auch nicht so leicht hinein. Ziemlich lang haben das offenbar sowohl die Stuttgarter als auch der Rest der Republik für eine gute Lösung gehalten. Wahrscheinlich hat Stuttgart deshalb mit Vorurteilen zu kämpfen wie kaum eine andere Stadt in Deutschland: Unaufgeklärten Bayern gilt sie als Heimat kreuzbraver Pietisten, die ihre Maultaschen unbedenklich vom blitzblank gekehrten Bürgersteig essen könnten und sich allabendlich früh zur Ruhe betten, um am Morgen wieder topfit einzustempeln beim Daimler. Nach fast vier Jahren in Stuttgart bin ich ein aufgeklärter Bayer. Das mit den Vorurteilen ändert sich gerade, nicht nur bei mir. Man hat den Stuttgartern ja viel zugetraut, vor allem die sachgerechte Montage von Automobilen. Aber einen Volksaufstand gegen einen Bahnhof? Einen grünen Ministerpräsidenten und Oberbürgermeister? Es gibt jetzt eine Neugierde auf Stuttgart. Es gibt immer mehr Leute, die einen Blick in den Kessel riskieren. Und zu allem Überfluss feststellen, dass er sich lohnt. Kürzlich habe ich ein Stadtporträt von Stuttgart geschrieben; die Dame aus Degerloch wäre vorher sicher gegen das Projekt gewesen. Dabei gibt es gar nichts zu befürchten von dem Text. Es geht darin um eine Stadt, die sich im rasantesten Fortschritt einen Sinn für Langsamkeit bewahrt hat. Eine kleine Metropole, die immer noch ein bisschen Weindorf ist. Meine Kollegen-Redakteure haben beherzt getitelt: 11


DAS UNbEKANNTE STUTTGART

Stuttgart, die Verkannte. Die Unterschätzte. Deutschlands bestgehütetes Geheimnis. Wenn man von unserem schönen Kopfbahnhof aus in die Betonschlucht Königstraße spaziert, ahnt man ja nichts vom Teehaus auf dem Bopser, schon gar nichts vom Café Schurr in Heslach und schon überhaupt rein gar nichts vom Transit am Hans-im-Glück-Brunnen. Stuttgart ist eine Stadt, deren Charme sich so richtig erst hinter den Kulissen entfal­tet. Als Exil-Bayer braucht man dringend einen örtlichen Experten, der einen hinter diese Kulissen führt, zu Fuß oder in wunderbaren Geschichten, wie sie der alte Hipster Ingmar Volkmann in diesem Buch gesammelt hat. Ingmar Volkmann ist ein Reporter mit einem Faible für das Hintergründige und das Abseitige, einer, der auch dahin geht, wo es wehtut, in die letzte Stadtbahn weg vom Wasen oder zum Gastspiel des Musikantenstadls. Er schreibt so witzig und warmherzig, dass kein Schwabe sich weigern wird, sich von diesem Badener Stuttgart zeigen zu lassen. Genauer: ein paar besonders gut versteckte Teile der versteckten Stadt. Inzwischen habe ich mir eine schöne Route zurechtgelegt, auf der ich Besuch aus Bayern durch die Stadt lotse. Der Spaziergang endet auf der Karlshöhe. Die Bayern stehen dann mit offenem Mund im Grünen, schauen auf die Dächer der Stadt und können es kaum fassen, dass es so etwas hier gibt und in München nicht. Ich mag diesen Moment, auch wenn er jedes Mal einen kleinen Landesverrat bedeutet. Ich bin rückwirkend auch sehr froh, dass Giovanni ­Trapattoni die Flasche Strunz damals richtig rundgemacht hat. Manchmal erwischen der Hägler-Max und ich uns übrigens dabei, wie wir in München vom Heimfahren reden – heim 12

nach Stuttgart. Wirklich wahr! Wahr ist natürlich auch, dass ich eines Tages nach München zurückziehen werde. Die Menschen reden dort so wie ich, das hat Vorteile. Aber ich würde behaupten wollen, dass ich Stuttgart nicht mehr verkenne, nicht mehr unterschätze. Man kann schon reinschauen in den Kessel, man muss sich nur strecken dafür. Ingmar Volkmann – der beste Stuttgart-Guide, den ich kenne – kann dabei eine große Hilfe sein. Nicht zuletzt mit diesem Buch. Roman Deininger, Süddeutsche Zeitung

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Stuttgart, die Verkannte. Die Unterschätzte. Deutschlands bestgehütetes Geheimnis. Wenn man von unserem schönen Kopfbahnhof aus in die Betonschlucht Königstraße spaziert, ahnt man ja nichts vom Teehaus auf dem Bopser, schon gar nichts vom Café Schurr in Heslach und schon überhaupt rein gar nichts vom Transit am Hans-im-Glück-Brunnen. Stuttgart ist eine Stadt, deren Charme sich so richtig erst hinter den Kulissen entfal­tet. Als Exil-Bayer braucht man dringend einen örtlichen Experten, der einen hinter diese Kulissen führt, zu Fuß oder in wunderbaren Geschichten, wie sie der alte Hipster Ingmar Volkmann in diesem Buch gesammelt hat. Ingmar Volkmann ist ein Reporter mit einem Faible für das Hintergründige und das Abseitige, einer, der auch dahin geht, wo es wehtut, in die letzte Stadtbahn weg vom Wasen oder zum Gastspiel des Musikantenstadls. Er schreibt so witzig und warmherzig, dass kein Schwabe sich weigern wird, sich von diesem Badener Stuttgart zeigen zu lassen. Genauer: ein paar besonders gut versteckte Teile der versteckten Stadt. Inzwischen habe ich mir eine schöne Route zurechtgelegt, auf der ich Besuch aus Bayern durch die Stadt lotse. Der Spaziergang endet auf der Karlshöhe. Die Bayern stehen dann mit offenem Mund im Grünen, schauen auf die Dächer der Stadt und können es kaum fassen, dass es so etwas hier gibt und in München nicht. Ich mag diesen Moment, auch wenn er jedes Mal einen kleinen Landesverrat bedeutet. Ich bin rückwirkend auch sehr froh, dass Giovanni ­Trapattoni die Flasche Strunz damals richtig rundgemacht hat. Manchmal erwischen der Hägler-Max und ich uns übrigens dabei, wie wir in München vom Heimfahren reden – heim 12

nach Stuttgart. Wirklich wahr! Wahr ist natürlich auch, dass ich eines Tages nach München zurückziehen werde. Die Menschen reden dort so wie ich, das hat Vorteile. Aber ich würde behaupten wollen, dass ich Stuttgart nicht mehr verkenne, nicht mehr unterschätze. Man kann schon reinschauen in den Kessel, man muss sich nur strecken dafür. Ingmar Volkmann – der beste Stuttgart-Guide, den ich kenne – kann dabei eine große Hilfe sein. Nicht zuletzt mit diesem Buch. Roman Deininger, Süddeutsche Zeitung

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Mit Sahne

Mit Sa

E T N E M E /EL N H“ E C N A O L I S T E A H LI LUSTR É SCHURR IN F A C S A „D

hne

ETNEMEL “HCALSE E/NENOITARTSULL H I N I R R U HCS É F A C S A D„

ILLUSTRATIONEN/ELEMENTE „HINTER DEN KULISSEN DER STAATSTHEATER“

Mit Sahne

ILLUSTRATIONEN/ELEMENTE „DAS CAFÉ SCHURR IN HESLACH“


Mit Sahne

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ILLUSTRATIONEN/ELEMENTE „HINTER DEN KULISSEN DER STAATSTHEATER“

Mit Sahne

ILLUSTRATIONEN/ELEMENTE „DAS CAFÉ SCHURR IN HESLACH“


ILLUSTRATIONEN/ELEMENTE „DAS CAFÉ SCHURR IN HESLACH“

Mit Sahne

Mit Sahne

„DAS CAFÉ SCHURR IN HESLACH“ ILLUSTRATIONEN/ELEMENTE

enhaS tiM

„DAS CAFÉ SCHURR IN HESLACH“

ILLUSTRATIONEN/ELEMENTE „DAS CAFÉ SCHURR IN HESLACH“

Mit Sahne

Bis vor wenigen Jahren war der Arbeiter- und Bauernstaat Heslach vor der hässlichen Fratze der Gentrifizierung sicher. Mit Sahne Mit einem Bihlplatz als Ortskern, so dörflich-gemütlich wie ein Kurztrip aufs Land, mit Boule spielenden Lebenskünstlern am Erwin-Schöttle-Platz und einem Café als heimlichem Herzstück, das so süß und aus der Zeit gefallen wirkt wie ein Stück des hier angebotenen Apfelkuchens in Omas Stil, mit dem man eine ganze Kleinfamilie satt und glücklich machen kann. Die Rede ist vom Café Schurr. Das Schurr ist nur eine Haltestelle und doch mehrere Welten vom Marienplatz ent-

ILLUSTRATIONEN/ELEMENTE „DAS CAFÉ SCHURR IN HESLACH“

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fernt. Von dort aus kriecht die Gentrifizierung mitsamt ihren ILLUSTRATIONEN/ELEM ENTE Insignien Bio-Supermarkt, Babyccino bestellenden Müttern „DAS CAFÉ SCHURR IN HESLACH“ und verdrängten Pils-Pinten langsam nach Heslach hinein. Rund um das Schurr zeigt sich der Wandel, den deutsche Innenstädte in den vergangenen Jahren hinter sich gebracht haben. Es gibt einen düster aussehenden Schreibwarenladen, der sich mit Lamy-Füller und linierten Schulheften tapfer gegen den Untergang und den Einzug einer Telekomo2vodafone-Filiale wehrt. Es gibt aber auch schon eine schreckliche Backzeit-BilligbrötchenAufbackbäckerei, in der die Brezel 30  Cent weniger kostet, weil sie aus einer Mischung aus Pappmaschee und FarbstoffLauge besteht. In diesem Spannungsverhältnis stellt das Schurr eine Zeitkapsel dar, in die ich mich immer dann flüchte, wenn ich meine Ruhe haben möchte. Und das kommt immer häufiger vor, seit ich mich konzentriert in Richtung Frühpensionierung voranarbeite. Dieser von der Unesco auf die Weltkulturerbe-Warteliste gesetzte Ort sieht aus, als hätte eine Design-Agentur den Auftrag bekommen, den Look eines deutschen Cafés aus den 70er-Jahren nachzustellen. Hier schwebt man nicht auf Wolke Sieben, sondern auf dem unglaublichsten Teppich der Stadt und freut sich auf gut gepolsterten Möbeln über irrsinnig gute Dekodetails: Vor einiger Zeit befand sich ein Altar mit Engel und Feldpostbrief auf der Fensterbank. Passend zu den Zeitzeugen des Ersten Weltkriegs, die man hier noch beim Studieren des KauflandTipp-Heftchens beobachten kann. Das Schurr bietet „Konditorenhandwerk seit 1955“. Seit 1959 (!) wird hier hausgemachtes Eis serviert. Seit dem Jahr 2000 führt Konditor Michael A. Wulf das Café in dritter 17

Mit Sahne

CINO C U P P CA L A M N TTE – I EI b , E HN MIT SA É SCHURR F DAS CA ACH L ILLUSTRATIONEN/ELEMENTE IN HES

Mit Sahne

Mit Sahne

„DAS CAFÉ SCHURR IN HESLACH“


ILLUSTRATIONEN/ELEMENTE „DAS CAFÉ SCHURR IN HESLACH“

Mit Sahne

Mit Sahne

„DAS CAFÉ SCHURR IN HESLACH“ ILLUSTRATIONEN/ELEMENTE

enhaS tiM

„DAS CAFÉ SCHURR IN HESLACH“

ILLUSTRATIONEN/ELEMENTE „DAS CAFÉ SCHURR IN HESLACH“

Mit Sahne

Bis vor wenigen Jahren war der Arbeiter- und Bauernstaat Heslach vor der hässlichen Fratze der Gentrifizierung sicher. Mit Sahne Mit einem Bihlplatz als Ortskern, so dörflich-gemütlich wie ein Kurztrip aufs Land, mit Boule spielenden Lebenskünstlern am Erwin-Schöttle-Platz und einem Café als heimlichem Herzstück, das so süß und aus der Zeit gefallen wirkt wie ein Stück des hier angebotenen Apfelkuchens in Omas Stil, mit dem man eine ganze Kleinfamilie satt und glücklich machen kann. Die Rede ist vom Café Schurr. Das Schurr ist nur eine Haltestelle und doch mehrere Welten vom Marienplatz ent-

ILLUSTRATIONEN/ELEMENTE „DAS CAFÉ SCHURR IN HESLACH“

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fernt. Von dort aus kriecht die Gentrifizierung mitsamt ihren ILLUSTRATIONEN/ELEM ENTE Insignien Bio-Supermarkt, Babyccino bestellenden Müttern „DAS CAFÉ SCHURR IN HESLACH“ und verdrängten Pils-Pinten langsam nach Heslach hinein. Rund um das Schurr zeigt sich der Wandel, den deutsche Innenstädte in den vergangenen Jahren hinter sich gebracht haben. Es gibt einen düster aussehenden Schreibwarenladen, der sich mit Lamy-Füller und linierten Schulheften tapfer gegen den Untergang und den Einzug einer Telekomo2vodafone-Filiale wehrt. Es gibt aber auch schon eine schreckliche Backzeit-BilligbrötchenAufbackbäckerei, in der die Brezel 30  Cent weniger kostet, weil sie aus einer Mischung aus Pappmaschee und FarbstoffLauge besteht. In diesem Spannungsverhältnis stellt das Schurr eine Zeitkapsel dar, in die ich mich immer dann flüchte, wenn ich meine Ruhe haben möchte. Und das kommt immer häufiger vor, seit ich mich konzentriert in Richtung Frühpensionierung voranarbeite. Dieser von der Unesco auf die Weltkulturerbe-Warteliste gesetzte Ort sieht aus, als hätte eine Design-Agentur den Auftrag bekommen, den Look eines deutschen Cafés aus den 70er-Jahren nachzustellen. Hier schwebt man nicht auf Wolke Sieben, sondern auf dem unglaublichsten Teppich der Stadt und freut sich auf gut gepolsterten Möbeln über irrsinnig gute Dekodetails: Vor einiger Zeit befand sich ein Altar mit Engel und Feldpostbrief auf der Fensterbank. Passend zu den Zeitzeugen des Ersten Weltkriegs, die man hier noch beim Studieren des KauflandTipp-Heftchens beobachten kann. Das Schurr bietet „Konditorenhandwerk seit 1955“. Seit 1959 (!) wird hier hausgemachtes Eis serviert. Seit dem Jahr 2000 führt Konditor Michael A. Wulf das Café in dritter 17

Mit Sahne

CINO C U P P CA L A M N TTE – I EI b , E HN MIT SA É SCHURR F DAS CA ACH L ILLUSTRATIONEN/ELEMENTE IN HES

Mit Sahne

Mit Sahne

„DAS CAFÉ SCHURR IN HESLACH“


„DAS CAFÉ SCHURR IN HESLACH“

Generation. Innen finden 60 Gäste Platz, im kleinen Hinterhöfle, einem der hübschesten Orte Heslachs, gibt es noch mal mehr als 20 Plätze. Im Schurr liegt der Altersdurchschnitt bei gefühlten 96,2 Jahren. Das meine ich nicht abwertend, sondern voller Respekt. Meine Hausärztin, eine weise Frau, die in Heslach praktiziert, schätzt das Schurr ob seiner Heimeligkeit und seiner Kuchen sehr, kann das Lokal aber nicht mehr aufsuchen, da sie sonst grundsätzlich von drei Patienten gleichzeitig um die ambulante Versorgung größerer oder kleinerer Wehwehchen gebeten wird. Zucker im Kaffee, Sahne in den Tee und zum Apfelkuchen kurz die Krampfadern getastet? Kann man mögen, muss man aber nicht. Das Schurr ist das letzte Café der Stadt, das den Cappuccino auf der Karte auch mit Sahne ausweist. Manchmal fragen die bezaubernden Servierdamen mit gespielter Neutralität, ob man eben Sahne oder geschäumte Milch als Topping auf die Crema wünsche. Noch nie habe ich mich in diesem Umfeld für geschäumte Milch entschieden. Denn der Kaffee im Schurr ist so exzellent, dass er sich auch gegen urdeutsche Sahne durchzusetzen vermag, verfügt das Café mit einer Maschine der Marke Gaggia doch über den ernsthafteren Kaffeeautomaten als das vergleichbar bezaubernde Café Stöckle im Stuttgarter Bionade-Biedermeier-Stadtteil West, wo leider nur ein Modell der Marke WMF zum Einsatz kommt. In der Hauptverkehrszeit zwischen 15 und 16  Uhr sind im Schurr fast so viele „Reserviert“-Schilder wie Gäste zu finden. Der extrem hohe Stammgastanteil ist auch auf den exzellenten Service zurückzuführen. Die Servicekraft beherrscht ihre Kunst perfekt. Der Neuankömmling wird 18

Mit Sahne

DAS CAFÉ SCHURR IN HESLACH

freundlich-distanziert bedient, ein weiblicher Stammgast bekommt dagegen ein zärtliches „Schätzle“ zum Abschied. So ist Heslach: Erst ein wenig rau, hat man es aber einmal erobert, ist es an ehrlicher Herzlichkeit nicht zu übertreffen. Selbst im Neuland Internet sind über das Hinterland Schurr wahre Lobeshymnen zu lesen. Im Zentrum der Liebes­ erklärungen steht grundsätzlich der Kuchen. „Ohne das Schurr wäre Stuttgart um ein vieles ärmer, und ein Sonntag ohne Kuchen vom Schurr ist kein Sonntag“, schreibt eine Naschkatze in der digitalen Welt. Und das zu Recht. Die Konsistenz des Käsekuchens ist zum Beispiel schön luftig. Der Boden ist beim ersten Bissen etwas zurückhaltend, entwickelt dann aber teigliche Ausdrucksstärke. Die dezent verwendeten Rosinen führen zu einer grundsätzlichen Glaubensfrage: Sollte Käsekuchen nicht puristisch sein und in sich und seiner eigenen geschmacklichen Stärke ruhen? Wir finden ja, die Rosine lenkt nur vom Wesentlichen ab. Der zweite Kuchen im Test, ein Kirschkuchen mit hohem SchokoNuss-Faktor, ist dagegen tadellos. Ausgewogenes FruchtSüße-Verhältnis macht Vater wie Tochter gleichermaßen glücklich. Ich habe mich ohnehin nicht wegen des Kuchens in das Schurr verliebt, sondern wegen der schon erwähnten Service-Urkraft und wegen des Frühstücks und des Mittagstischs. Lebensrettende Maßnahme zum Start in den Tag: das „Heslacher Frühstück“ – „eine duftende Tasse Kaffee mit zwei mürben Hörnchen“. Treffender ist Heslach selten zuvor beschrieben worden. Cappuccino und Butterbrezel kann ja jeder. In meinem Alter gilt es ja nur noch, unfallfrei und in Würde durch den Tag zu kommen. Der geschützte Rahmen, 19


„DAS CAFÉ SCHURR IN HESLACH“

Generation. Innen finden 60 Gäste Platz, im kleinen Hinterhöfle, einem der hübschesten Orte Heslachs, gibt es noch mal mehr als 20 Plätze. Im Schurr liegt der Altersdurchschnitt bei gefühlten 96,2 Jahren. Das meine ich nicht abwertend, sondern voller Respekt. Meine Hausärztin, eine weise Frau, die in Heslach praktiziert, schätzt das Schurr ob seiner Heimeligkeit und seiner Kuchen sehr, kann das Lokal aber nicht mehr aufsuchen, da sie sonst grundsätzlich von drei Patienten gleichzeitig um die ambulante Versorgung größerer oder kleinerer Wehwehchen gebeten wird. Zucker im Kaffee, Sahne in den Tee und zum Apfelkuchen kurz die Krampfadern getastet? Kann man mögen, muss man aber nicht. Das Schurr ist das letzte Café der Stadt, das den Cappuccino auf der Karte auch mit Sahne ausweist. Manchmal fragen die bezaubernden Servierdamen mit gespielter Neutralität, ob man eben Sahne oder geschäumte Milch als Topping auf die Crema wünsche. Noch nie habe ich mich in diesem Umfeld für geschäumte Milch entschieden. Denn der Kaffee im Schurr ist so exzellent, dass er sich auch gegen urdeutsche Sahne durchzusetzen vermag, verfügt das Café mit einer Maschine der Marke Gaggia doch über den ernsthafteren Kaffeeautomaten als das vergleichbar bezaubernde Café Stöckle im Stuttgarter Bionade-Biedermeier-Stadtteil West, wo leider nur ein Modell der Marke WMF zum Einsatz kommt. In der Hauptverkehrszeit zwischen 15 und 16  Uhr sind im Schurr fast so viele „Reserviert“-Schilder wie Gäste zu finden. Der extrem hohe Stammgastanteil ist auch auf den exzellenten Service zurückzuführen. Die Servicekraft beherrscht ihre Kunst perfekt. Der Neuankömmling wird 18

Mit Sahne

DAS CAFÉ SCHURR IN HESLACH

freundlich-distanziert bedient, ein weiblicher Stammgast bekommt dagegen ein zärtliches „Schätzle“ zum Abschied. So ist Heslach: Erst ein wenig rau, hat man es aber einmal erobert, ist es an ehrlicher Herzlichkeit nicht zu übertreffen. Selbst im Neuland Internet sind über das Hinterland Schurr wahre Lobeshymnen zu lesen. Im Zentrum der Liebes­ erklärungen steht grundsätzlich der Kuchen. „Ohne das Schurr wäre Stuttgart um ein vieles ärmer, und ein Sonntag ohne Kuchen vom Schurr ist kein Sonntag“, schreibt eine Naschkatze in der digitalen Welt. Und das zu Recht. Die Konsistenz des Käsekuchens ist zum Beispiel schön luftig. Der Boden ist beim ersten Bissen etwas zurückhaltend, entwickelt dann aber teigliche Ausdrucksstärke. Die dezent verwendeten Rosinen führen zu einer grundsätzlichen Glaubensfrage: Sollte Käsekuchen nicht puristisch sein und in sich und seiner eigenen geschmacklichen Stärke ruhen? Wir finden ja, die Rosine lenkt nur vom Wesentlichen ab. Der zweite Kuchen im Test, ein Kirschkuchen mit hohem SchokoNuss-Faktor, ist dagegen tadellos. Ausgewogenes FruchtSüße-Verhältnis macht Vater wie Tochter gleichermaßen glücklich. Ich habe mich ohnehin nicht wegen des Kuchens in das Schurr verliebt, sondern wegen der schon erwähnten Service-Urkraft und wegen des Frühstücks und des Mittagstischs. Lebensrettende Maßnahme zum Start in den Tag: das „Heslacher Frühstück“ – „eine duftende Tasse Kaffee mit zwei mürben Hörnchen“. Treffender ist Heslach selten zuvor beschrieben worden. Cappuccino und Butterbrezel kann ja jeder. In meinem Alter gilt es ja nur noch, unfallfrei und in Würde durch den Tag zu kommen. Der geschützte Rahmen, 19


„DAS CAFÉ SCHURR IN HESLACH“ Mit Sahne

DAS CAFÉ SCHURR IN HESLACH

in dem mir nichts passieren kann, ist der Mittagstisch im Schurr. Das Tagesessen ist oft vegetarisch. Die hausgemachten geschmelzten Maultaschen samt Kartoffelsalat sind hier hausgemacht im Sinne von hausgemacht und nicht in der Interpretation „draußen gekauft, aber im Hause aufgewärmt“. Der Kartoffelsalat gehört zu den besten des Genres in der ganzen Stadt: cremig, köstlich – sparsam eingestreute knackige Zwiebeln geben den letzten Biss. Kurzum, der aufmerksame Leser wird es vielleicht schon geahnt haben: Für die Lebensqualität in Stuttgart ist das Schurr unersetzlich und sollte auf die Liste der schützenswerten Arten gesetzt werden. Das Schurr ist so ehrlich und unprätentiös wie Heslach selbst. Und wie durch ein Wunder wird der geneigte Leser die eben gelesenen Zeilen jetzt sofort wieder vergessen. Damit ich auch künftig ganz ungestört mit meinen Zeitzeugen einen Cappuccino mit Sahne in der rührendsten Zeitkapsel der Stadt trinken kann.

Mit Sahne

ILLUSTRATIONEN/ELEMENTE „DAS CAFÉ SCHURR IN HESLACH“

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„DAS CAFÉ SCHURR IN HESLACH“ Mit Sahne

DAS CAFÉ SCHURR IN HESLACH

in dem mir nichts passieren kann, ist der Mittagstisch im Schurr. Das Tagesessen ist oft vegetarisch. Die hausgemachten geschmelzten Maultaschen samt Kartoffelsalat sind hier hausgemacht im Sinne von hausgemacht und nicht in der Interpretation „draußen gekauft, aber im Hause aufgewärmt“. Der Kartoffelsalat gehört zu den besten des Genres in der ganzen Stadt: cremig, köstlich – sparsam eingestreute knackige Zwiebeln geben den letzten Biss. Kurzum, der aufmerksame Leser wird es vielleicht schon geahnt haben: Für die Lebensqualität in Stuttgart ist das Schurr unersetzlich und sollte auf die Liste der schützenswerten Arten gesetzt werden. Das Schurr ist so ehrlich und unprätentiös wie Heslach selbst. Und wie durch ein Wunder wird der geneigte Leser die eben gelesenen Zeilen jetzt sofort wieder vergessen. Damit ich auch künftig ganz ungestört mit meinen Zeitzeugen einen Cappuccino mit Sahne in der rührendsten Zeitkapsel der Stadt trinken kann.

Mit Sahne

ILLUSTRATIONEN/ELEMENTE „DAS CAFÉ SCHURR IN HESLACH“

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