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Ostukraine

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Aufgelesen

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«Wir wollen Frieden. Ist das zu viel verlangt?» Yuliya Vasilevna Horuzhevskaya

Ostukraine Seit sechs Jahren wütet in der Ostukraine ein Krieg, der das Land spaltet. Inzwischen sind viele geflohen. Zurückgeblieben sind alte Menschen, die entlang der Frontlinie in verlassenen Dörfern auf den Frieden warten.

Kiew

UKRAINE

Überleben im Niemandsland

Krieg Mit Politik hat Yuliya Vasilevna nichts zu tun. Trotzdem ist die alte Frau zwischen die Fronten geraten. Und kommt nicht mehr weg.

TEXT UND FOTOS KLAUS PETRUS

Gott behüte, nur ein einziger Krümel von diesem Knoblauchbrot, und ich werde 66 Tage leiden müssen mit Haut und Haar und alle, die meinen Weg kreuzen, werden vor mir zurückweichen und mir naserümpfend hinterhermaulen: Wie konntest du nur?

Ich erlag dem Charme der wundersamen Yuliya Vasi levna Horuzhevskaya, werde ich verschämt erwidern, als hätte ich keine Wahl gehabt.

Hatte ich auch nicht. «Nun wird gegessen!», sagt die 80-Jährige mit forscher Stimme, sie zupft das geblümte Kopftuch zurecht, scheucht die Katze weg, dann tischt sie eingemachte Peperoni auf, Gurken, ein ordentliches Stück Butter, einen Teller mit Schweineschmalz und dieses Brot, das einen wegputzt. Draussen flattern Stofftücher an der Wäscheleine, ein kalter Wind bläst seit den frühen Morgenstunden über den Acker. Hier drinnen aber ist es warm, an den Wänden hängt ein Teppich mit Rehen und einem verschneiten Berg darauf, ausserdem goldverzierte Hei ligenbildchen, eine Uhr, ein Rosenkranz, das Abbild der Muttergottes und eine Kinderfotografie von Yuliyas Tochter. Die alte Frau setzt Wasser auf, dann beginnt sie von früher zu erzählen, und irgendwie scheint alles so normal.

Doch das ist es nicht. Denn wo Yuliya lebt – in Luhanske, einem kleinen Dorf im Osten der Ukraine –, da ist Krieg.

Fast jeden Tag hört sie Schüsse, den Donner von Mörserraketen, dann versteckt sie sich in ihrem Häuschen, kriecht ins Bett und wartet, bis sie nur noch das Gebell ihres Hundes vernimmt, der draussen vor dem Schuppen angekettet ist. Manchmal dauert es Minuten, manchmal Stunden. Und manchmal fragt sich Yuliya, ob all das je ein Ende haben wird. All das begann im November 2013. Damals demonstrierten tausende Menschen auf dem Maidan-Platz in Kiew gegen Präsident Viktor Janukowitsch, der eine Annäherung der Ukraine an die EU ablehnte und sich stattdessen in Richtung Russland orientierte. Die Proteste endeten blutig, und Janukowitsch, kriminell und korrupt, musste Anfang 2014 aus dem Land fliehen. Sein Nachfolger Petro Poroschenko gab sich als Patriot und versprach, die Ukraine an den Westen zu binden und dem «grossen Bruder» Russland zu trotzen. Damit konnte der Oligarch die Proteste in Kiew beenden. Doch im Osten der Ukraine, wo viele Freunde Russlands lebten, erzeugte Poroschenko Verunsicherung. Für sie war der frühere Präsident Janukowitsch ein politischer und wirtschaftlicher Förderer des Donbass, wie die Region im Osten des Landes auch genannt wird. Von Poroschenko dagegen hiess es, er wolle die Menschen im Osten ihrer Identität berauben, sie «verwestlichen».

Leben in der Grauzone

Diese fragile Übergangszeit nutzte der russische Präsident Wladimir Putin und schuf quasi über Nacht Fakten: Zuerst im März 2014 mit der Eingliederung der Halbinsel Krim im Südosten der Ukraine in sein «Neurussland», und dann im April mit der Unterstützung der Separatisten im Donbass. Um ihre Unabhängigkeit zu behaupten, besetzten sie völkerrechtswidrig die Gebiete um Donezk und Luhansk und riefen diese als unabhängige Volksrepubliken aus. Daraufhin schickte die ukrainische Regierung ihr Militär in den Osten. Die Jahre 2014 und 2015 waren bisher die schlimmsten in diesem Krieg, der 1,5 Millionen Menschen in die Flucht getrieben und 13 000 Tote gefor

Im kleinen Dorf Luhanske ist Yuliya geboren, dort will sie sterben. «Wo soll ich denn sonst hin? Hier habe ich mein Häuschen, den Garten, Hund und Katze. Dies ist mein Zuhause, ein anderes habe ich nicht.»

dert hat, unter ihnen 3300 Zivilisten. Bis heute sind die Positionen verhärtet: Auf der einen Seite wollen viele Ukrainer ihre Werte von Selbstbestimmung und Freiheit bis in den östlichsten Zipfel ihres Landes verteidigen; auf der anderen Seite wehren sich prorussische Separatisten gegen eine nationalistische Vereinnahmung durch Kiew. Dazwischen liegt eine Frontlinie, 450 Kilometer lang, die weiterhin umkämpft ist und bis heute Opfer fordert.

Und an dieser Frontlinie, nur wenige hundert Meter auf der ukrainischen Seite, steht Yuliyas Haus und ihr Garten mit dem verlotterten Schuppen. «Das ist nicht mein Krieg», sagt sie auf Russisch und wird still. Später erzählt sie von jenem Tag, als die Panzer der Separatisten vor Luhanske standen. Wie aus dem Nichts seien sie aufgetaucht, hätten auf alles geschossen, was sich bewegte. Bis heute hört sie die Schreie, hat das Blut vor Augen. Damals wohnte Yuliya im Dorfkern, hatte ihr eigenes Haus, ein grosses. Nachdem es beschossen wurde und das Dach einzustürzen drohte, kehrte sie ins Haus ihrer Mutter zurück, die vor ein paar Jahren verstarb. Dort lebt Yuliya bis heute, in diesem einen Zimmer mit dem Teppich an der Wand, mit einem Bett, Tisch, Sessel und einer Kochnische. Viele seien aus dem Dorf geflohen, zurückgekehrt sei niemand. «Wer jetzt noch hier ist», murmelt die alte Frau, «ist alt, krank – oder verrückt.»

So wie um Luhanske steht es um viele Dörfer und Städte auf beiden Seiten der Frontlinie. Man schätzt, dass noch 80 000 Menschen in dieser Grauzone leben, zwei Drittel von ihnen sind über sechzig Jahre alt. Vor dem Krieg lebten hier Hundertausende. Die meisten sind in Richtung Westen gezogen oder ins Ausland. Wie Yuliyas Tochter, ihr einziges Kind, sie ist Mitte fünfzig, verheiratet und lebt heute bei Sankt Petersburg. Yuliya hat sie allein aufgezogen, ihren Mann jagte sie schon bald nach der Hochzeit zum Teufel. «Wo-oodka», zischt sie und verwirft die Hände. Die monatliche Rente von umgerechnet 80 Schweizer Franken war schon damals knapp. Doch Yuliya war jung und kräftig. Und sie hatte einen grossen Garten, verkaufte ihr Gemüse und Obst auf den umliegenden Märkten. «Jetzt schmerzen meine Gelenke, und ich habe Zucker. Eigentlich müsste ich frischen Fisch essen, sagt der Arzt. Doch der ist teuer.» Bis heute bestellt Yuliya ihren Garten, so gut es geht, verkauft ein paar Säcke Kartoffeln, kocht für den Winter Gemüse ein und backt ihre teuflischen Knoblauchbrote.

Im Stich gelassen

Von der patriotischen Euphorie und Unterstützung der Ukrainer zu Beginn des Krieges ist nicht viel geblieben. Die Soldaten beider Seiten halten in den Schützengräben bloss noch ihre Stellung und Kiew liegt 700 Kilometer von Yuliyas Hof entfernt. Auch sonst ist die Hauptstadt der Ukraine in den Köpfen der Leute weit, weit weg. Viele der in der Grauzone Verbliebenen reden von «denen dort drüben», und man weiss nicht immer, wen sie damit meinen: die prorussischen Separatisten auf der anderen Seite der Frontlinie oder die eigenen Leute irgendwo im Westen? Ohne ihre Kinder und Enkel wären sie längst verloren, sagt Yuliya. Zwar sind viele Jugendliche aus den Dörfern fortgegangen, so auch Juri, ihr Enkel, der westlich von Luhanske in Bachmut lebt. Doch der Kontakt ist geblieben, und manchmal bringt er seiner Grossmutter ein wenig Geld mit. «Wenn mein Juri auf Besuch kommt und über Nacht bleibt, dann schläft er im Bett und ich im Sessel», sagt Yuliya und schmunzelt. Juri ist Anfang dreissig, noch unverheiratet und arbeitet in einer Fabrik bei Kramatorsk, einer Stadt mit 160 000 Einwohnern westlich der Grauzone. Zu Beginn des Krieges, im Frühjahr 2014, nahmen

die Separatisten die Stadt ein. Doch bald wurde Kramatorsk von der ukrainischen Armee zurückerobert und viele, die aus dem Donbass fliehen mussten, zogen dorthin – darunter auch reiche, investitionswillige Unternehmer. Heute sind in Kramatorsk die ukrainischen Nationalfarben Blau-Weiss allgegenwärtig und die Fabriken laufen wieder auf Hochtouren.

Yuliya kann verstehen, dass ihr Enkel nicht in Luhanske leben will. Obschon Kramatorsk keine hundert Kilometer von der Frontlinie entfernt ist, liegen Welten zwischen dort und ihrem kleinen Dorf: unwegsame, vom ständigen Kriegsgeschehen aufgebrochene Strassen, Gasund Stromleitungen, die seit Jahren nicht funktionieren, Sendungen des russischen Rundfunks, in denen die Ukrainer als Faschisten beschimpft werden – und Häuser mit durchschossenen Wänden, eingefallenen Dächern und überwucherten Gärten.

Hauptsache Frieden

Wie es wäre, wenn es diesen verdammten Krieg nie gegeben hätte oder wenn er endlich aufhören würde, darüber mag Yuliya nicht nachdenken. Sie misstraut den Politikern, hüben wie drüben. Zwar hatte sie, wie die meisten hier, vorigen Mai den Schauspieler und Komödianten Wolodymyr Selenskyj zum Präsidenten gewählt: Schluss mit dem Krieg im Donbass und soziale Gerechtigkeit für alle, das waren seine Parolen. Getan hat sich nichts. Der Krieg dauert an, die Waffenstillstandsvereinbarungen werden regelmässig ignoriert. Und kaum war Selenskyj im Amt, hat er die Ausgaben für Soziales gekürzt, von 2,7 Milliarden Franken im Jahr 2019 auf 2,3 Milliarden fürs 2020. Zu spüren kriegen das vor allem alte Menschen wie Yuliya. Doch sie zuckt nur mit den Achseln, als wolle sie sagen: Was kann man schon tun?

Überhaupt sind die Menschen hier der Politik überdrüs sig geworden. Wem die besetzten Gebiete gehören sollten –der Ukraine oder den Separatisten–, ist für sie zweitrangig geworden, Hauptsache, der Krieg hat ein Ende. Sie haben sich daran gewöhnt, dass andere über ihr Los entscheiden: Zaren, Oligarchen, der liebe Gott. Ohnehin kommt Yuliya von hier nicht mehr fort. Wohin sollte sie auch gehen? In die Nachbardörfer, ein paar Kilometer weiter weg von den Schützengräben? In die grossen Städte? Hier in Luhanske hat die alte Frau wenigstens ein Dach über dem Kopf, einen Garten, die übriggebliebenen Menschen aus dem Ort – vielleicht noch ein paar hundert –, die sie ihr Leben lang schon kennt.

Doch das sind schwere Gedanken, in diesem kleinen Zimmer mit dem Wandteppich, den Rosenkränzen und Heiligenbildchen. Lieber erinnert sich Yuliya an früher, als Tochter und Enkel noch bei ihr waren. «Schau, wie klein Juri da war, mit dem blauen Hut und einer Blume in der Hand», sagt sie und zeigt auf eine Fotografie wie aus einer anderen Zeit. Dann redet Yuliya über Stalingrad, über verbrannte Kinder, über einen Liebhaber aus Sankt Petersburg, der sie partout heiraten wollte vor vierzig Jahren, und über ihre Kartoffeln, die allerbesten im ganzen Land. Manchmal hält sie inne und weint und wimmert wie ein kleines Mädchen, ein andermal kann sie sich kaum halten vor Lachen, dann leuchten die Augen dieser alten Frau, die so charmant ist und verwirrt zugleich.

Einmal, erzählt Yuliya, sei sie im Garten gewesen, um nach Kartoffeln zu graben, da fand sie eine Mine. Ob sie von der ukrainischen Armee stammte oder von den pro russischen Separatisten, das wusste sie nicht. Was spielt das auch für eine Rolle, dachte sie bei sich und grub weiter. «Wenn sie mich töten wollen, dann töten sie mich halt.»

Spuren eines Krieges, der nicht enden will: 13 000 Tote hat der Konflikt bisher gefordert. Gemäss Statistik des «Landmine Monitor» steht die Ukraine nach Afghanistan, Libyen, Jemen und Syrien an fünfter Stelle, was Minenopfer angeht.

POLEN BELARUS RUSSLAND

UKRAINE

UKRAINE

RUMÄNIEN

KRAMATORSK

LUHANSKE STANITZA LUHANSKA

LUHANSK

0

DONEZK

ASOWSCHES MEER

50 KM

RUSSLAND

Kontakt-Linie Buerzone 5 km Buerzone 15 km Separatistenterritorium Ukrainisches Territorium

«Ein Krieg der Mentalitäten»

Standpunkt Als der Ostukraine-Krieg begann, hörte der Schriftsteller Andrej Kurkow mit der Literatur auf. Nun hat er einen neuen Roman verfasst – der ausgerechnet mitten im Krieg spielt.

INTERVIEW KLAUS PETRUS

Andrej Kurkow, der Krieg in der Ostukraine sei auch ein Krieg unterschiedlicher Mentalitäten, heisst es immer wieder. Was meinen Sie dazu?

Diese unterschiedlichen Mentalitäten gibt es tatsächlich, und sie spielen für das Verständnis dieses Krieges eine wichtige Rolle. Die russische, kollektive Mentalität hat im Osten der Ukraine, im Donbass, eine lange Tradition. Sie hat viel mit Monarchie zu tun und dem Glauben an eine strenge Hand. Man liebte den Zaren und folgte ihm – und wenn man genug von ihm hatte, tötete man ihn und folgte dem nächsten. Die ukrainische Mentalität dagegen ist eine anarchische, eine, die den Individualismus und die Freiheit ins Zentrum stellt. 1991, im Jahr der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine, verlief die Grenze zwischen diesen Mentalitäten ziemlich genau durch die Mitte des Landes. In den Jahren danach hat sie sich immer weiter nach Osten verschoben, und ich bin überzeugt, sie wäre schon bald bis an die Grenze zu Russland vorgerückt.

Doch dann kam 2014 der Krieg. Hatte man im Donbass Angst, vom Rest der Ukraine vereinnahmt und «verwestlicht» zu werden?

Der Donbass wird seit jeher von Oligarchen und der lokalen Ma fia kontrolliert. Obgleich sie sich immer gegen einen wirtschaftlichen Einfluss Russlands wehrten, gab – und gibt – es diese starke Affinität zum «grossen Bruder», die Liebe zur russischen Kultur. Und einen Hass auf alles Westliche, auch provoziert durch die prorussische und russische Propaganda. In jedem Fall wollte man vermeiden, dass Kiew auch diese Regionen kontrolliert. Auch jetzt: Es geht dabei nicht um die NATO und Moskau oder um die USA und Russland, sondern um zwei Mentalitäten.

Bezieht die lokale Bevölkerung in den Kriegsgebieten politisch überhaupt noch Position?

Ich habe den Eindruck, dass die Menschen müde geworden sind, sie wollen keine Kämpfe mehr. Viele verstehen den Grund für diesen Krieg gar nicht. Entsprechend gibt es auch keinen Widerstand oder Protest gegen den Krieg. Die Leute warten einfach auf ein Ende. Sie versuchen zu überleben, das ist alles.

Sie sind Schriftsteller, schreiben Romane und Stücke. Nach dem Ausbruch des Kriegs haben Sie damit aufgehört.

Ja, ich fand wie andere Autoren, dies sei nicht die Zeit für Litera tur. Damals ging es darum, die politische Lage zu analysieren, die Gründe für den Krieg ausfindig zu machen und den Menschen diesen Konflikt zu erklären. Das habe ich in Kolumnen, Essays und politischen Kommentaren getan. Inzwischen ist die Situation eine andere, die Fakten liegen auf dem Tisch, und es gibt bereits viele Arbeiten über den Ostukraine-Krieg.

Und so haben Sie einen neuen Roman geschrieben. Er heisst «Graue Bienen» und handelt von einem Dorf in der Grauzone, also mitten im Kriegsgebiet. Was unterscheidet für Sie die Arbeit an einem Roman von journalistischen Beiträgen?

In der Literatur beziehe ich nicht so deutlich Stellung wie in Es says, ich lasse meine Meinung in die Figuren einfliessen. Auch kann ich mich stärker auf die Psychologie der Leute einlassen und auf ihre Wahrnehmung von diesem Krieg. Denn darum, wie schon gesagt, geht es letztlich: um die Mentalität der Menschen. Auch kann ich mir den Humor zunutze machen, das geht im Journalismus weniger gut.

Einige Ihrer bisherigen Romane bestechen tatsächlich durch sehr skurrile und surreale Beschreibungen des postsowjetischen Alltags, wie etwa «Pinguine frieren nicht» oder «Picknick auf dem Eis». Ihr neuer Roman dagegen ist vergleichsweise realis tisch und ernst.

Der Humor spielt auch im neuen Buch eine Rolle, nur kommt er leiser daher. Aber ja, ein Pinguin hätte darin tatsächlich keinen Platz gehabt, er hätte der Realität sogar etwas weggenommen. Denn die Situation in diesem Kriegsgebiet ist schon für sich genommen surreal.

Ihre Bücher sind in Russland verboten. Und «Graue Bienen» wurde in Ihrem Land als zu wenig ukrainisch kritisiert. Fühlen Sie sich zwischen Stuhl und Bank?

Nein, ich bin ein ukrainischer Schriftsteller, der auf Russisch schreibt, das ist alles. Aber eben einer, der in seinen Büchern nicht die angeblich typischen Helden auftreten lässt, die Soldaten, Generäle und Politiker. Viele Menschen können anscheinend nicht verstehen, dass in einem Buch über den Krieg auch ein einfacher Mann ein Held sein kann.

Andrej Kurkow (59) gehört zu den meistgelesenen Autoren der Ukraine, seine Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Er lebt und arbeitet in Kiew. Für seinen neuen Roman «Graue Bienen» (Diogenes 2019) ist er mehrmals in die Kriegsgebiete der Ukraine gereist.

Der beschwerliche Weg zur Rente

Grenzübergang Selbst wer im Separatistengebiet lebt, hat von der Ukraine Anrecht auf eine Pension. Dafür müssen die Rentner die Seiten wechseln.

Einmal im Monat kommen sie von den Separatistengebieten herüber auf ukrainisches Territorium, sie nehmen die Brücke über den Grenzfluss Siwerskji Donez nach Staniza Luhanska, einem Städtchen gut zwanzig Kilometer von der russischen Grenze entfernt: tausende Frauen, mit Taschen beladen und hier am Klagen und dort am Murren, Männer in dunklen Anzügen, tatterig und zahnlos. Sie sind gekommen, um ihre Rente zu holen. Denn von den Separatisten bekommen sie kein Geld. Und von den Ukrainern nur, wenn sie es auf ihrem eigenen Grund und Boden abholen: 80 Franken in der Regel, manchmal sind es 100.

Hinter dem Kontrollposten warten Taxis und Kleinbusse, sie bringen die Alten zu den Bankautomaten von Staniza Luhanska. Oder zu Bekannten von Bekannten, die ihnen ein Zimmer vermieten, für 100 Griwna oder vier Franken pro Nacht, falls sie es gleichentags nicht mehr zurückschaffen in die selbsternannte Republik. Was gut sein kann. Einkäufe wollen getätigt werden, Gemüse, Schweinespeck und Medikamente. Am ukrainischen Checkpoint vergehen aufs Neue die Stunden, Soldaten durchwühlen die Taschen, sie prüfen ID und Passierschein. Gott sei Dank gibt es ein paar überdachte Sitzbänke gegen die Sommersonne, Zelte gegen den rauen Wind und das Schneegestöber, Toiletten für alle Jahreszeiten, einen Rollstuhl für die Gebrechlichsten. Hin ter dem Kontrollposten stellen sich die alten Frauen und Männer plaudernd in Reih und Glied, sie warten auf einen Bus, drängeln und drücken sich hinein, als gelte es, einem schrecklichen Schicksal zu entrinnen. Dabei wollen sie doch bloss nicht laufen müssen – diese 800 Meter hinüber bis zur Brücke, an deren Ende die Separatisten warten. Manchmal sind es pro Tag 12000 Menschen, die hier hin und hergehen, über eine Million sind es in einem Jahr.

Seit Ausbruch der Corona-Pandemie ist für die Grenz gänger alles noch mühseliger geworden. Um die Verbreitung des Virus zu verhindern, hat die ukrainische Regierung die Beschränkungen am Grenzübergang bei Staniza Luhanska verschärft. So können nur noch jene Menschen auf die andere Seite, die dort einen Wohnsitz haben. Für tausende Arbeiter und Binnenflüchtlinge aus dem Donbass bedeutet dies, dass sie zuhause bleiben müssen – und für die Pensionäre, dass sie vorerst kein Geld bekommen.

Dereinst kamen die Menschen von weit her nach Staniza Luhanska, wegen der prächtigen Birkenwälder entlang des Flusses Siwerskji Donez. Nun, sechs Jahre nach Kriegsausbruch, sind die Bäume fahl und die Äcker voller Minen. KP

Viele Dörfer und Häuser entlang der Frontlinie sind verlassen und werden langsam überwuchert. Die meisten der Zurückgebliebenen sind ältere Menschen. Einmal im Monat holen sie sich die Rente. Dafür müssen sie bei Stanitza Luhanska zu Fuss den Grenzübergang überqueren; manche schaffen das nur im Rollstuhl.

Kommentar Wenn Nachbarn zu Feinden werden

Kriege werden niemals nur auf Schlachtfeldern geführt, sie spielen sich auch in den Köpfen der Menschen ab. Dabei entstehen Feindbilder selten über Nacht. Meist sind sie das Produkt einer ausgefeilten Propaganda, die sich alteingesessene Vorurteile zunutze macht.

Im Falle der Ukraine sind die Vorurteile auf beiden Sei ten alt: Die Ukrainer im Westen halten die Bewohner des Donbass für rückständig, autoritätsgläubig, korrupt und kriminell, die Menschen im Osten unterstellen den übrigen Ukrainern, dass diese ihnen westliche Werte aufzwingen wollen. Mit dem Ausbruch des Krieges im Frühjahr 2014 wurden diese Vorurteile zementiert und im Zuge einer für die neuere Zeit wohl beispiellosen Propaganda verzerrt.

Namentlich in den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk wird den Menschen durch die prorussischen Separatisten, aber auch im russischen Fernsehen und Rundfunk immer wieder vermittelt, dass sie die «guten» Ukrainer seien, alle anderen aber die «schlechten» – ein Bild, das inzwischen auch in die Schulen hineingetragen wird. In einer besonderen Situation befinden sich, einmal mehr, die Menschen unmittelbar entlang der Frontlinie auf der ukrainischen Seite. Sie reden in der Regel russisch, sie haben womöglich russi sche Vorfahren, gehören der orthodoxen Kirche an, haben seit Beginn des Krieges nur Zugang zu prorussischen oder russischen Medien – und verstehen sich trotzdem als Ukrainer. Oft geht diese Zugehörigkeit da mit einher, dass sie mit diesem Krieg nichts anfangen können und sie auch gar nicht mehr verstehen, wieso er überhaupt geführt wird. Die Menschen sind, mit einem Wort, kriegsmüde. Was nicht heisst, dass eine Annähe rung an den einstigen Feind problemlos möglich ist, wenn der Konflikt dereinst beigelegt wird.

Je länger dieser Krieg andauert, umso weniger wird es Orte geben, an denen sich Menschen von hüben wie drüben begegnen können; kaum jemand lebt heute noch im Donbass, der pro-ukrainisch ist, und umgekehrt. Zwar gibt es an der Frontlinie Übergänge zwischen ukrainischem Regierungsgebiet und Separatistenterritorium. Dennoch leben die Menschen auf beiden Seiten der Linie in eigenen Welten: Arbeit, soziale Beziehun gen, kulturelle Ereignisse finden unter Ausschluss der je Anderen an separaten Orten statt. Dauert dieser Zu stand an, so wird der Ukraine-Krieg früher oder später wohl zu einem «eingefrorenen Konflikt» (frozen con flict) werden, der die Menschen einander immer mehr entfremdet und das Land politisch wie sozial auf lange Zeit spaltet. KP

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