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Sans-Papiers
Die Odyssee hat Reda Rouabhi gezeichnet.
Endlich legal
Sans-Papiers Seit Reda Rouabhi in Algerien auf der Strasse landete, folgte eine Katastrophe der anderen.
TEXT SIMON JÄGGI
FOTOS ROLAND SCHMID
Um vier Uhr früh setzt sich Reda Rouabhi in Basel-West auf sein Fahrrad. Er tritt in die Pedale und fährt durch die Nacht. Sein Ziel: eine Backstube am Stadtrand, in einer Stunde ist Arbeitsbeginn. Frisches Brot einräumen, Maschinen reinigen, Boden schrubben. Es ist harte Arbeit, früh am Tag. Rouabhi fährt mit einem Lächeln im Gesicht durch die verlassene Stadt. Erst vor wenigen Tagen hat er den Arbeitsvertrag unterschrieben, für ihn ist es das Ticket in ein neues Leben.
Rouabhi lebte zuletzt als Sans-Papiers in Basel. Mit seinen weissen Haaren und dem hageren Gesicht wirkt der 47-Jährige älter, als er ist. Einst sei er stolzer Polizist gewesen, sagt er, Mitglied einer algerischen Spezialeinheit. Er erzählt und zeigt Bilder, die er auf seinem Smartphone gespeichert hat. Sie zeigen einen jungen Mann mit Sturmgewehr und Uniform, doch das ist lange her. Die vergangenen Jahre verbrachte er hinter Gittern und zuletzt auf der Strasse. Nun steht er vor einem Neuanfang: Es ist die Geschichte einer glücklichen Wendung.
Doch zuerst ein Blick zurück, Algerien im Jahr 2006. Rouabhi ist 33, die Polizei sein Leben. Er wohnt in der Kaserne, seine Kollegen sind seine Familie. Dann folgt der Absturz: Nach einem Streit mit seinem Vorgesetzten verliert er alles, landet auf den Strassen Algiers. 2007 reist er zum ersten Mal in die Schweiz ein. Weil er in Algerien als ehemaliger Polizist um seine Sicherheit fürchtet, bittet er um Asyl. Doch die Schweizer Behörden lehnen sein Gesuch ab. Rouabhi taucht unter, landet kurz im Gefängnis, dann reist er doch zurück nach Algerien. Dort findet er entgegen seiner Befürchtungen eine neue Stelle, eine Wohnung. Überraschend trifft er eine Schweizerin wieder, die er bei seinem Aufenthalt in der Schweiz kennengelernt hatte. Sie verlieben sich, heiraten, schliesslich folgt ihr Rouabhi nach Basel.
Das Glück ist von kurzer Dauer. Die Ehe geht bald in die Brüche, Rouabhi verliert seine Aufenthaltsbewilligung. Er taucht unter und wird schliesslich verhaftet. Die Behörden wollen ihn ausschaffen, zwischen der Schweiz und Algerien besteht jedoch kein Rückübernahmeabkommen, das dafür notwendig wäre. Nach einem zweifelhaften Verfahren verurteilt ihn das Gericht 2015 zu drei Jahren Haft: Weil er sich wiederholt ohne Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz aufgehalten und in Untersuchungshaft ein T-Shirt in Brand
gesetzt hatte – es war sein Protest gegen die unzumutbaren Haftbedingungen, er selbst damals psychisch angeschlagen. Die Behörden stecken ihn in ein völlig veraltetes Gefängnis im Kanton Baselland, das selbst die Anforderungen für Kurzhaft nicht mehr erfüllt. Rouabhi verbringt dort einen Grossteil seiner dreijährigen Haftstrafe und geht in dieser Zeit fast zugrunde. (Zu den rechtswidrigen Haftbedingungen und dem zweifelhaften Strafverfahren publizierte Surprise im Februar 2019 eine ausführliche Recherche: «Herr Mourad und seine Richter», Heft 443.)
Immer wieder setzt sich jemand ein
Es ist der 16. Oktober 2018, als sich die Gefängnistüren in Muttenz für Rouabhi öffnen, er der Freiheit und erneut einem Leben in der Illegalität entgegentritt. Alles, was Rouabhi noch besitzt, trägt er in einer Sporttasche über der Schulter. Die ersten Nächte verbringt er im Stadtpark unter einem Baum. Er zieht die frische Luft ein, die er lange nicht mehr geatmet hat. Schaut in den Himmel, fühlt sich frei und verloren zugleich. Er hat keine gültigen Papiere, seine Aufenthaltsbewilligung ist längst abgelaufen. Nach Algerien zurück will er auf keinen Fall, aber auch in der Schweiz wartet nichts und niemand auf ihn. Doch hier nimmt seine Geschichte eine unerwartete Wende.
Rouabhi weckt Mitgefühl. Seit dem Beginn seiner Odyssee trifft er immer wieder auf Menschen, die sich für ihn einsetzen. Ein ehemaliger Lehrer, der ihn in Algier aus der Gosse holte und ihm eine Arbeit verschaffte. Eine ältere Frau in der Schweiz, die ihn regelmässig im Gefängnis besuchte. Der Leiter einer Asylberatungsstelle, der sich in langen Briefen an die Behörden wandte und Rouabhis Freilassung verlangte. Auch dieses Mal dauert es nicht lange, bis er jemanden findet, der sich für ihn einsetzt.
Nach drei Nächten unter freiem Him mel besucht er in Basel die diakonische Anlaufstelle Elim Open Doors, eine Institution, die Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz begleitet. Bereits vor seinem Gefängnisaufenthalt hatte Rouabhi hier Unterstützung gesucht. «Plötzlich stand er bei mir im Büro, blass und dünn. Ich habe ihn fast nicht wiedererkannt», sagt der Leiter Lukas Siegfried. Siegfried findet für ihn Unterschlupf in einer evangelikalen Kirche, der er selbst angehört. Einige Wochen später nimmt er ihn schliesslich bei sich zuhause auf. Rouabhi wäscht Kleider, bügelt, räumt auf, kümmert sich um den Garten.
Zwischen den beiden Männern entwickelt sich eine Freundschaft, langsam erholt sich Rouabhi von den Jahren in Haft. Doch seine Situation bleibt prekär. Seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis darf er den Kanton Baselland eigentlich nicht mehr verlassen. Als ihn im Sommer 2019 eine Bekannte in Not darum bittet, ihn nach Bern zu ihrer Tochter zu begleiten, nimmt das Unglück erneut seinen Lauf. In Bern wird er von der Polizei kontrolliert, die Rückkehr nach Basel erfolgt im Streifenwagen. Ziel: Untersuchungsgefängnis Waaghof. Die nächsten zwei Monate ver bringt Rouabhi in Haft wegen Missachtung des Kantonsverbots.
Der Kanton entscheidet sich um
Abermals entgleitet Rouabhi sein Leben, die eben erst gewonnene Stabilität bricht ein. Gerade ein paar Wochen ist es her, dass Lukas Siegfried von Elim Open Doors in Rouabhis Namen ein dringliches Härtefallgesuch an das Migrationsamt Baselland gesendet hat. Sans-Papiers können gemäss Ausländergesetz eine Aufenthaltsbewilligung beantragen, wenn sie sich in einer Notlage befinden und genügend Bindung zur Schweiz haben. Siegfried hatte ein dickes Dossier zusammengestellt. Er beschreibt darin die problematische Haftzeit Rouabhis, die fehlende Existenzgrundlage für ein Leben in Algerien und seine Bemühungen um Integration in der Schweiz. Es ist Oktober, als Rouabhi das Gefängnis ein weiteres Mal verlässt. Er bezieht kurz darauf in Basel eine kleine Wohnung, die ihm Siegfried in Form eines zinslosen Dar
lehens vorübergehend finanziert. Rouabhis Zukunft ist ungewiss. Wird sein Härtefallgesuch bewilligt? Erhält er eine Arbeitserlaubnis? Muss er die Schweiz verlassen? Anfang 2020 landet eine Einladung des Migrationsamts Baselland im Briefkasten von Lukas Siegfried. Betreff: Vorladung zum Gespräch, Härtefallgesuch. Die nächsten Tage sitzt Rouabhi wie auf Nadeln. Er arbeitet in einem Reinigungsunternehmen auf Probe und putzt in seiner Aufregung versehentlich einen Parkettboden mit Bleichmittel. Dann fährt er am 7. Januar mit Lukas Siegfried zum Migrationsamt nach Frenkendorf, er ist angespannt und nervös. Dort werden sie von zwei betont freundlichen Beamten empfangen. Diese wollen wissen, ob Rouabhi noch immer eine Rückkehr nach Algerien ausschliesst. Zwanzig Minuten später stehen die beiden Männer wieder auf der Strasse. «Das kommt gut», sagt Siegfried zu Rouabhi.
Nur wenige Tage später kommt per ein geschriebenem Brief der Entscheid: Das Staatssekretariat für Migration und der Kanton Baselland haben dem Härtefallgesuch stattgegeben. Rouabhi soll einen Ausländerausweis B erhalten. Dieser gilt für fünf Jahre und kann beliebig oft verlängert werden. Derselbe Kanton, der Rouabhi ein paar Jahre zuvor während Monaten unter rechtswidrigen Bedingungen eingesperrt hatte, hat ihm nun zu einem legalen Aufenthalt verholfen.
Seither sind vier Monate vergangen. Den definitiven Ausweis hat Rouabhi noch nicht erhalten, wegen der Corona-Pandemie wer den zurzeit keine biometrischen Daten erfasst. Doch sein Leben hat sich grundlegend verändert. Nachdem er an verschiedenen Orten auf Probe arbeiten konnte, unterzeichnete er Anfang Mai einen festen Arbeitsvertrag als Hilfsarbeiter in der Bäckerei am Stadtrand von Basel. Für Rouabhi schliesst sich damit ein Kreis, und er freut sich darüber: Schon als Jugendlicher hat er in einer Bäckerei gearbeitet.
Jeden Morgen kurz vor fünf trifft er bei der Bäckerei ein und arbeitet bis kurz vor Mittag. Dann fährt er wieder nach Hause. Wenn er sich dann wieder ins Bett legt, schläft er so tief wie vorher jahrelang nicht. Rouabhi hat wieder Sicherheit in seinem Leben. Und hofft, dass dieses Mal der Boden unter seinen Füssen hält.
Surprise Talk:
Reporter Simon Jäggi spricht mit Radiomacher Simon Berginz über die Hintergründe: surprise.ngo/talk
Legal arbeiten: Das Staatssekretariat für Migration und der Kanton Baselland haben Rouabhis Härtefallgesuch stattgegeben.


Sein Gerichtsverfahren in der Schweiz war zweifelhaft. Erdbeertörtli und Butterzopf zu verkaufen, ist im Vergleich ein Traum.

Für ihn schliesst sich ein Kreis: Rouabhi hat schon als junger Mann in Algerien in einer Bäckerei gearbeitet.

Akut gefährdet
Rechtslage Sans-Papiers leben in der Schweiz prekär. Die Corona-Krise bringt ihre Existenzen noch stärker ins Wanken.
Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung leben in der Schweiz unter prekären Bedingungen. Sans-Papiers haben kein Bankkonto, in den meisten Fällen keine Sozialversicherungen und leben in der Regel weit unter dem gesetzlichen Existenzminimum.
Genaue Zahlen dazu, wie viele Sans-Papiers in der Schweiz leben, gibt es keine. Eine Studie im Auftrag des Bundes aus dem Jahr 2015 geht davon aus, dass in der Schweiz 58 000 bis 105 000 Menschen ohne geregelte Aufenthaltsbewilligung leben – und zwar seit vielen Jahren. Ein Grossteil stammt aus Süd- und Zentralamerika, gefolgt von Personen aus Osteuropa.
Als Folge der Corona-Pandemie hat sich die Lebens situation der allermeisten drastisch verschärft. «Viele fürchten um ihre Existenz», sagt Fabrice Mangold von der Anlaufstelle für Sans-Papiers in Basel. Die Studie von 2015 kommt zum Schluss, dass neun von zehn Sans-Papiers ein Einkommen haben. Jede zweite arbeitet als Reinigungskraft in einem privaten Haushalt, weitere am Bau und in der Gastronomie. «Bei vielen ist mit der Corona-Krise das gesamte Einkommen weggebrochen», sagt Mangold. Anders als andere Arbeitnehmende haben Sans-Papiers keine Möglichkeit zu Kurzarbeit oder staatlicher Unterstützung. Besonders prekär ist die Situation für Familien mit Kindern.
Bei den schweizweiten Beratungsstellen für Sans-Papiers haben sich die Themen aufgrund der Corona-Pandemie verschoben. «Viele können ihre Mieten und Krankenkassen nicht mehr bezahlen und es fehlt an Geld fürs Essen», sagt Karin Jenni von der Berner Beratungsstelle für Sans-Papiers. «In der aktuellen Krise geraten Existenzen ins Wanken.»
Die Anlaufstellen in Bern und Basel haben sich deshalb auf die Suche nach Hilfe und zusätzlichen Ressourcen gemacht, um Betroffene vorübergehend stärker zu unterstützen. Geld kam unter anderem von Stiftungen, der Glückskette, Kirchen und den Kantonen. «Damit können wir Überbrückungshilfe leisten» sagt Fabrice Mangold von der Anlaufstelle in Basel. Das Wichtigste wäre aber, so Mangold, dass Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen auch während des Shutdown die Löhne bezahlen.
Und noch ein weiteres Problem kommt hinzu: Sans-Papiers haben sich ein Leben in der Unsichtbarkeit eingerichtet. Sie wissen, wie sie Polizeikontrollen umge hen und mitten in der Gesellschaft unbemerkt überleben können. In der aktuellen Situation funktionieren viele dieser Strategien nicht mehr. Essensausgabestellen haben geschlossen, die Polizei hat ihre Präsenz massiv verstärkt. Wer sich im öffentlichen Raum bewegt, fällt auf und riskiert, kontrolliert zu werden. Im schlimmsten Fall droht die Ausschaffung. SIM