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Rassismus
LAURA RIVAS KAUFMANN, 30, arbeitet in der Bildredaktion des Tages-Anzeigers und als freie Journalistin bei Tsüri.ch. Als Aktivistin ist sie in mehreren PoC-Kollektiven dabei und beschäftigt sich intensiv auch mit Feminismus.
Rassismus Seit dem Tod von George Floyd in den USA diskutiert man auch in der Schweiz über strukturelle Diskriminierung. Eine Herausforderung, die alle etwas angeht.
«Wir können wirklich etwas verändern»
Gespräch Was bewegt Aktivist*innen aus der antirassistischen Bewegung in Zeiten von «Black Lives Matter»? Surprise hat die Autorin und Slampoetin Fatima Moumouni, die freie Journalistin Laura Rivas Kaufmann, den Aktivisten Mardoché Kabengele und den Journalisten Ugur Gültekin zum Gespräch eingeladen und ausnahmsweise einfach nur zugehört.
Fatima Moumouni: Unter nicht-weissen Menschen ist es vollkommen klar, dass es in der Schweiz Rassismus gibt. Die Mehrheitsgesellschaft dagegen geht sehr naiv mit diesem Thema um und gibt vor, keine Ahnung zu haben. Warum ist das so?
Uğur Gültekin: Die Schweiz hat ein verzerrtes und ignorantes Selbstbild. Man erzählt sich selbst die ganze Zeit, wie demokratisch, weltoffen und humanitär man ist. Und dass man die schönsten Berge hat, natürlich. Jegliche Kritik wird als fundamentaler Angriff verstanden. Gleichzeitig existiert ein enormer Assimilationsdruck: Die Mehrheitsgesellschaft verlangt, dass man so wird wie sie.
Laura Rivas Kaufmann: Man könnte ja auch sagen: «Guck mal, wir haben die schönsten Berge und wir sind übrigens auch megadivers.» Aber das würde man niemals nebeneinanderstellen als Werte unseres Landes. Im Unterschied zu Deutschland musste sich die Schweiz auch noch nie aktiv mit etwas sehr Schlimmem auseinandersetzen, was in unserer Gesellschaft passiert ist. Uns fehlt die Kultur dafür.
Mardoché Kabengele: Dazu passt aus meiner Sicht das Integ rationsversprechen der Schweiz: Mach den Schweizerpass, integrier dich, dann gehörst du dazu! Doch selbst wenn man sich vollständig integriert, kommt dann mit der Beantragung der Staatsbürgerschaft keine Parade und kein Konfetti und alle freuen sich, sondern die Gemeindeversammlung stimmt darüber ab, ob sie dich dabeihaben wollen oder nicht. Und der Alltagsrassismus hört auch mit Schweizerpass nicht auf. Das Integrationsversprechen macht es umso schwieriger, weil man alles dafür tut dazuzugehören, und am Ende ist es doch nur eine Bubble, die platzt.
Moumouni: Das versucht ja eigentlich jeder Nationalstaat: sich selbst gut und seine Mehrheitsgesellschaft positiv darzustellen. Das Spannende an der Schweiz ist, dass sie es so gut schafft. Das verhindert aber, dass man Probleme besprechen kann, ohne dass immer wieder behauptet wird, dass eigentlich alles gut ist. Ich glaube, einige Teile der Schweizer Kultur sind zwar einerseits positiv, andererseits aber auch hinderlich, um Themen wie Rassismus zu diskutieren. Dazu gehört die Gesprächskultur, in der man nie richtig streiten darf, man nähert sich lieber an. Bei gewissen Diskussionen kann es aber keine Annäherung geben. Man kann nicht mit Roger Köppel über Rassismus diskutieren und finden, wir treffen uns in der Mitte.
Gültekin: Ich würde behaupten, dass es neben dem historischen Opportunismus noch zwei weitere Sachen gibt, die zur Schweizer Identität gehören und relevant für die Auseinandersetzung mit dem Rassismus in der Schweiz sind: einerseits die Abgrenzung gegen aussen. Man ist wie in einem Bunker, der von keinem eingenommen werden kann, man ist nicht in der EU. Es fällt auf, wie identitätsstiftend Abgrenzung ist. Andererseits halte ich Verdrängung für einen Teil der Schweizer Identität. Die Konsensorientierung verhindert konfrontative Debatten. Geschichtlich und politisch sehe ich da Parallelen.
Rivas Kaufmann: Richtig, das Verdrängen sitzt auch auf der persönlichen Ebene tief. Ich habe schon erlebt, dass Menschen sagen, ich kenne gar keine People of Color (PoC) oder Schwarze, während ich in der Runde stehe (zu Schreibweisen und Begriffen siehe Glossar auf Seite 12, Anm. d. Red). Und wenn ich dann darauf hinweise, kommt als überraschte Antwort: Oh, ich habe dich nie als das wahrgenommen.
Kabengele: Als Jugendlicher bin ich mal zusammen mit mei nen Schweizer Kollegen auf Interrail-Tour gegangen in Richtung Osten. Ich habe von vornherein gesagt, an den Grenzen werde ich immer kontrolliert. Sie haben es mir nicht geglaubt. Auch nicht nach der siebten Grenzüberquerung mit Mehrfachscans, Polizeihunden und Polizisten mit Maschinenpistolen. Erst jetzt beginnen wir, darüber zu sprechen, zehn Jahre später.
Gültekin: Bei mir wurde es so richtig spürbar, als es ums Geldverdienen ging. Da dachte ich: Moment mal, warum bekomme ich keine Lehrstelle nach 150 Bewerbungen und trotz guter Noten? Rassismus ist psychisch etwas sehr Belastendes, schliesslich sagt man dir die ganze Zeit auf die ein oder andere Art: Du bist Scheisse. Du bist anders. Du bist allein. Und das zu brechen, er scheint mir persönlich sehr wichtig. Wir müssen positive Selbstbilder entwickeln und leben – das ist sehr wichtig. Auch Spass zu haben an diesen Kämpfen, das klingt zwar absurd, aber es ist nun mal ein Lebensthema von uns und es muss irgendwie auch Spass machen. Sonst wird es schwierig.
FATIMA MOUMOUNI, 28, schreibt seit vier Jahren eine Kolumne im Surprise, ist (unter anderem im Duo mit Laurin Buser) eine preisgekrönte Spoken-Word-Künstlerin. Sie gibt zudem Anti-Rassismus-Workshops und studiert Sozialanthropologie in Bern.
«Rassismus zieht sich durch alle Strukturen.»
MARDOCHÉ KABENGELE, 25, arbeitet bei der Stadt Bern, ist Mitglied des Berner Rassismus-Stammtisches und bei FRINES, dem Unterstützerverein von INES, Institut Neue Schweiz.
UĞUR GÜLTEKIN, 36, ist Journalist bei der WOZ sowie Vorstands- und Gründungsmitglied von INES. Er ist Teil von popkulturellen Formaten, die Rassismus thematisieren, wie «Salon Bastard», «Yabani Jukebox», oder einem Late-Night-Format gemeinsam mit Fatima Moumouni.
Glossar
People of Color, Person of Color (PoC): Der Begriff bezeichnet Individuen oder Gruppen, die vielfältigen Formen von Rassismus ausgesetzt sind und die Erfahrung teilen, von der weissen Dominanzgesellschaft als anders und unzugehörig definiert werden. Er wurde im Laufe der 1960er Jahre im Kontext der Black-Power-Bewegung ebenfalls als politischer Begriff geprägt.
Schwarz und weiss: Indem Schwarz mit grossem «S» geschrieben wird, soll sichtbar gemacht werden, dass sich das Wort nicht auf das Adjektiv «schwarz» als Name für eine Farbe bezieht, sondern für eine politische Selbstbezeichnung steht. Der Begriff sollte nie im Sinne von «Schwarze» verwendet werden, sondern immer z. B. als Schwarze Menschen, Schwarze Kinder, etc. Als weisse Menschen werden jene bezeichnet, die nicht von Rassismus betroffen sind.
Institutioneller und struktureller Rassis
mus: Eine Form des Rassismus, der in den Strukturen öffentlicher und privater Organisationen verankert ist. Diese Strukturen haben sich aufgrund historischer und gesellschaftlicher Macht- und Gewaltverhältnisse entwickelt. Sie sind weitgehend unsichtbar und beeinflussen bewusst oder unbewusst das Verhalten, die Sicht- und Denkweise von Individuen. Struktureller Rassismus findet sich z. B. in Schulbüchern oder in einer rassistischen Sprache, aber auch im Fahndungsauftrag der Polizei («racial profiling»).
Privilegien: Wer keine Diskriminierung erfährt, ist privilegiert. Ein Privileg bezeichnet ein Vorrecht, das einem zuteil wird, weil die gesellschaftlichen Strukturen die Art bevorzugen, wie eine Person aussieht, wen sie liebt oder wie sie lebt.
Rivas Kaufmann: Als ich nach meiner abgeschlossenen Lehrer*innen-Ausbildung das erste Mal vor einer Klasse stand, merkte ich, die Kinder empfinden mich als anders. Sie spiegelten mir: Sie sind eine von uns! Ein albanischer Vater kam zu mir und begann mit: «Ihnen kann ich das ja sagen ...» In dem Moment habe ich das erste Mal wahrgenommen: Das ist auch eine Community. Ich muss nicht weiss werden, es gibt auch Alternativen, andere Arten, Schweizerin zu sein.
Moumouni: Habt ihr Angst davor, dass die Diskussionen, wie sie derzeit über Rassismus geführt werden, auch spaltend sein könnten?
Rivas Kaufmann: Der Vorwurf der Spaltung kommt schnell, wenn man fordert, dass auch linke Menschen in der Schweiz sich mit Rassismus auseinandersetzen müssen. Dabei geht es darum, bei Freunden und Verbündeten anzufangen, damit man weiter gemeinsam arbeiten kann. Was will ich jetzt mit einem Rechten über Rassismus diskutieren, das ist doch hoffnungslos! Aber mit meinen linken Kolleginnen und Kollegen möchte ich endlich ansprechen, wo sie ihre unbewussten Vorurteile haben.
Kabengele: Viele denken, es sei so einfach: Entweder man gehört zur SVP, dann ist man böse, oder man steht links von der SVP, dann ist man gut. Dabei zieht sich Rassismus durch alle Strukturen.
Moumouni: Ich finde es grundsätzlich wichtig, dass es im Rahmen der Rassismusdebatte einen diversifizierten Diskurs gibt – auch innerhalb der Bewegung. Dass wir auch darüber reden, was PoC gegen Anti-Schwarze-Rassismus machen können und wir reflektieren, dass wir selbst zwar betroffen sind, aber innerhalb des ganzen Systems dann doch auch wieder eine privilegierte Position einnehmen, weil wir in der Schweiz wohnen oder aufgewachsen sind, weil wir die Sprache sprechen und so weiter. Für mich war beispielsweise der Moment sehr bedeutend, in dem ich mein «light skin privilege» realisiert habe, um zu merken, wie gehe ich selbst um mit Kritik, mit Konfrontationen bezüglich meiner eigenen Privilegien? Das ist ein ähnlicher per sönlicher Prozess, den ich von weissen Menschen erwarte, wenn ich sage: «Überlegt euch, was es heisst, weiss zu sein!»
Kabengele: Es ist wichtig, dass wir die verschiedenen Realitäten genau anschauen. Zum Beispiel wie ein Geflüchteter ohne Aufenthaltsstatus Rassismus wahrnimmt, wie Rassismus sich in der Schule, in der Arbeitswelt oder «wenn man es geschafft hat» ausdrückt – und dabei im Kopf behalten, dass dies Facetten desselben Phänomens sind. Es ist eine sehr sensible Zeit und es ist anstrengend, das soll es auch sein, und wir sollten das möglichst lange aushalten und viel daraus lernen. Wir sollten auch die anderen Kämpfe drum herum nicht vergessen, die ebenfalls geführt werden.
Gültekin: Natürlich ist es wichtig, eigene Erfahrungen miteinander auszutauschen und zu teilen, wichtig aber finde ich auch, daraus politische Forderungen zu formulieren. Wir sollten als Bewegung noch politischer werden, als wir es eigentlich schon sind. Wir sollten eingreifen und uns das holen, was uns als Bürger*innen von diesem Land zusteht.
Rivas Kaufmann: Gleichzeitig gibt es jetzt nach den Demos und mit all den neuen Initiativen eine ganze Menge junge Leute, die jetzt erst über das Thema Alltagsrassismus realisieren, überhaupt ein politisches Bewusstsein entwickeln. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht mit zu komplizierten politischen Forderungen kommen. Kabengele: Ich habe auch ein wenig Angst davor, dass wir zu schnell Forderungen stellen. Dies könnte sehr schädlich sein. Ich denke da an einen Punktekatalog, welcher Schritt für Schritt abgehakt werden könnte, und schon würde das Thema Rassismus für die nächsten Jahre wieder in den Hintergrund rücken. Diese Proble matik sehe ich zum Beispiel in den USA. Es gab starke Repression, dann kam es zu Forderungen – und heraus kam der Black History Month, mit dem sich dann alle zufriedengeben sollten. Ende der Diskussion. Dabei ist es ein strukturelles Problem. Ein spannen derer Ansatz wäre, was gerade bei der Pandemie passiert: Je länger es geht, desto sensibler wird die Gesellschaft, desto mehr Wissen wird angehäuft, desto breiter wird diskutiert und argumentiert.
Moumouni: Das ist auch etwas Besonderes im Kontext Schweiz, dass wir da so ein krasses Informationsdefizit haben. Die koloniale Vergangenheit der Schweiz wird beispielsweise erst jetzt breiter diskutiert. Wir können nicht erwarten, dass die Diskussion hier so geführt wird wie in den USA. Gleichzeitig dürfen wir auch nicht die grossen Themen aus den Augen verlieren. Die Leute beissen sich an der Schokokuss-Debatte fest, sie verteidigen sich, und wir argumentieren zurück. Und schon geht vergessen, dass wir diese Debatte eigentlich im Rahmen einer grossen Debatte führen, in der es um Verteilung geht, um Gerechtigkeit. Wo stehen wir denn in der Flüchtlingspolitik, in der Ausbeutung des Globalen Südens? Welche Rolle haben wir da und wieso schaffen wir es, das so auszublenden?
Gültekin: Was mich positiv stimmt ist, dass ich inzwischen das Gefühl habe, dass es auch gut nebeneinander funktioniert. Es müssen nicht alle am Gleichen schaffen. Es ist gut, wenn die einen auf Instagram am Awareness bilden sind, Posts machen, Wissen teilen, die anderen machen Musik, Journalismus oder Politik. Das geht alles ganz gut mit- und nebeneinander.
Kabengele: Es gibt einen tollen Satz, den ich mir sehr zu Her zen nehme: In der Solidarität gibt es keine Konkurrenz. Wenn also jemand dieselbe Idee hat wie du und sie eine Minute vor dir bringt, dann ärgere dich nicht, sondern frag, wie du helfen kannst.
Rivas Kaufmann: Dass wir aber noch so am Anfang sind, macht es auch sehr anstrengend. Dabei ist es ja auch schön, Teil von einem so historischen Moment zu sein. Sagen zu können, es ist sehr lang gegangen, aber jetzt ist es da und das ist positiv. Wir können wirklich etwas verändern!
Gültekin: Umso wichtiger sind Initiativen wie «Guerilla Wellness» oder Partys, an denen man mit Menschen aus der Bewegung zusammenkommen kann, oder auch Eins-zu-Eins-Treffen. Ich finde es gerade sehr schön, wenn man nicht alles von Null an erzählen muss und man sich auf einem gewissen Wissensstand, aber auch Gefühlsstand trifft. Was Laura gesagt hat stimmt, wir haben Zeit. Es passiert ja schon ganz viel und es wird in politische Veränderungen oder auch sonstige Entwicklungen münden.
Rivas Kaufmann: Ich würde mir wünschen, dass die Leute aus der Mehrheitsgesellschaft ebenfalls beginnen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, Bücher zu lesen, Podcasts zu hören, sodass wir mit ihnen irgendwann ähnliche Gespräche führen können, wie wir sie untereinander führen. Ich möchte, dass sie da ihre Arbeit machen.
Moumouni: Das ist ein wichtiger Punkt. Dies ist eine Einladung. Wir möchten diese Auseinandersetzung nicht allein führen.
Die Rolle der Dominanzgesellschaft
Rassismus Die Debatte um die Benachteiligung von Schwarzen Menschen und People of Colour erfordert Arbeit von jenen, die an Privilegien gewöhnt sind. Das ist anstrengend.
TEXT SARA WINTER SAYILIR
Auch diesmal begann hierzulande die mediale Debatte über Rassismus mit den Fragen: Was hat das alles mit uns zu tun? Gibt es in der Schweiz überhaupt Rassismus? Und wieder sind die Betroffenen zum x-ten Mal in der unangenehmen Lage, erklären zu müssen, was eigentlich das Problem ist, worunter sie leiden, wie es ihnen damit geht und was sie ihr Leben lang so zu hören gekriegt haben, während die weissen Diskussionsteilnehmer*innen und Moderator*innen (im besten Fall) betroffen schauen und ansonsten unbeteiligt bleiben. Gleichzeitig legen sich diejenigen mächtig ins Zeug, denen schon die Umbenennung einer Beiz, einer Süssigkeit oder Fasnachtsclique als unerträglicher Eingriff in die persönliche Freiheit erscheint. Offensichtlich haben wir weissen Menschen massive Schwierigkeiten anzuerkennen, dass wir selbst Teil des Problems sind.
Es macht keinen Spass, sich mit Rassismus auseinanderzusetzen. Es kann wehtun, anstrengend sein und Arbeit machen. Für weisse Menschen wohlgemerkt. Nicht-weissen Menschen tut Rassismus ohnehin weh, ist anstrengend und macht verdammt viel Arbeit. Sie haben keine Wahl, ob sie in die Auseinandersetzung einsteigen: Für viele ist Rassismus eine Konstante in ihrem Leben. Das können die meisten Nicht-Betroffenen nicht nachfühlen. Wir haben es so nie erlebt. Und weil wir es nicht nachfühlen können, glauben viele von uns immer noch nicht, dass es «wirklich so schlimm ist» oder dass Rassismus überhaupt existiert.
Sich in Empathie üben
Angestossen wurde die aktuelle Rassismusdebatte durch die Ermordung von George Floyd durch einen Polizisten in den USA und die darauffolgenden Kundgebungen der Black-Lives-Matter-Bewegung. Dass es gerade jetzt zu einer derart grossen, weltweiten Solidarisierungswelle kam, hängt sicher auch mit dem speziellen Moment während der Corona-Pandemie zusammen sowie mit der immer schnelleren und intensiveren Vernetzung durch die Sozialen Medien. Denn neu ist die Thematik nicht, auch nicht für die Schweiz, wo sich zahlreiche NGOs seit Jahren mit dem Thema befassen und rassistische Vorfälle, Polizeigewalt und Racial Profiling dokumentieren. Auch gibt es seit fünfzehn Jahren die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus, deren offizielles Mandat es ist, direkte oder indirekte rassistische Diskriminierung zu bekämpfen. Damit wir weissen Menschen besser begreifen können, was Rassismus ist und was er macht, sollten wir unsere Empathiefähigkeit trainieren: uns besser einfühlen lernen. Das kann und soll auch mal wehtun, wie Prozesse der Selbstbegegnung es häufig sind. So forderte der deutsche Journalist Malcolm Ohanwe gemeinsam mit der Afrikawissenschaftlerin Josephine Apraku auf Twitter weisse Menschen dazu auf, unter dem Hashtag #kritischesweißß sein über Rassismus zu sprechen, ihre Privilegierung anzuerkennen und aufzuarbeiten.
Wir müssen uns bewusst werden, wie privilegiert wir sind, auch wenn viele sich vielleicht subjektiv nicht so empfinden. Wer beispielsweise an der Armutsgrenze lebt, dem wird es schwerfallen, sich als Teil der Privilegierten zu sehen. Auch sind wir es gewohnt, dass man uns als Individuen oder zumindest als Teil vielfältiger Gruppen wahrnimmt. Gleichzeitig fällt es uns weniger auf, wenn pauschal über die Ausländer*innen, den Islam, die Eritreer*innen oder über Afrika gesprochen wird, als sei es ein Land. Man kann es also als Teil der Übung sehen, auszuhalten, dass wir als Teile der Dominanzgesellschaft hier zugunsten der Darstellung gesamtgesellschaftlicher Machtverteilung einmal alle in einen Topf geworfen werden. Auch wenn die berechtigte Frage geklärt werden muss, ob nicht auch andere Parameter wie beispielsweise die Wohlstandsverteilung als weiterer entscheidender Faktor in die Analyse und Bekämpfung struktureller Ungerechtigkeit einberechnet werden sollten.
Für Rassismus gilt, was auch für andere strukturelle Probleme wie Armut gilt: Nur wenn wir uns unserer eigenen Privilegien bewusst sind, können wir uns in diejenigen einfühlen, die weniger Privilegien geniessen. Empathiefähigkeit gehört zu den Grundvoraussetzungen unserer Gesellschaft, ohne Empathie regiert einzig das Recht der Stärkeren, sind Errungenschaften wie der Kinderschutz und die Antidiskriminierungsgesetze hinfällig. Wie gut, dass es in der Präambel der Schweizer Verfassung heisst: «Die Stärke des Volkes bemisst sich am Wohl der Schwachen.»
Zu meinen Privilegien gehört, dass mir nie jemand an einer Clubtür gesagt hat, es seien schon «genug von Dir da drinnen», wie es meinem türkischstämmigen Freund in der Schlange direkt vor mir geschah. Ich werde auf der Reise im Zug zwischen Freiburg und Basel nie kontrolliert, mir folgt kein Ladendetektiv im Kaufhaus, die Menschen checken im Gespräch mit mir nicht ab, wie ich zu
meiner Religion stehe, wie es vielen muslimischen Freund*innen passiert. Wenn ich in der Schweiz gefragt werde, woher ich stamme, ist mir aus meiner Antwort noch nie ein Nachteil entstanden. Niemand rückt von mir ab oder ändert den Tonfall, höchstens fragt jemand, ob Schweizerdeutsch ok sei. Niemand käme auf die Idee, nach den Stammbäumen meiner Eltern zu fragen, obwohl ich hochoffiziell immigriert bin – aber eben als weisser Mensch aus dem Nachbarland. Mein Mann, der aus der Türkei stammt, und ich haben bei der Hochzeit bewusst entschieden, dass ich meinen deutschen Mädchennamen behalte, damit wir bei der Wohnungssuche bessere Chancen haben. Da ich im Alltag nicht darauf verzichte, unseren türkischen Familiennamen trotzdem zu nennen und darauf bestehe, ihn richtig auszusprechen, habe auch ich schon am Telefon zu hören gekriegt: «Ach, ich hatte jetzt gar nicht erwartet, dass Sie so gut Deutsch sprechen.» Klassiker. Für mich ist das eine harmlose, fast belusti
gende Erfahrung, aber auch nur, weil ich weiss, dass ich mich mit einer kleinen Erklärung wieder daraus befreien kann. Ich musste mir nie Gedanken darüber machen, ob mir manche Bereiche unserer Gesellschaft möglicherweise verschlossen sind – so wie einem meiner Freunde, der seine Hochschulkarriere aufgegeben hat, weil er wusste, er würde als Mensch mit einem Elternteil aus Guinea so gut wie keine Chance auf eine Hochschulprofessur an einer deutschen Uni haben. Und selbst wenn er doch berufen worden wäre, man hätte ihm wohl dreisterweise vorgehalten, dass es «trotz» seiner Hautfarbe geklappt habe und weil er so ein «Ausnahmetalent» sei.
Verknüpfung mit institutioneller Macht
Menschen, die als nicht-weiss wahrgenommen werden, müssen nachgewiesenermassen mehr leisten, um auf dieselben Schulnoten zu kommen wie ihre weissen Mitschüler*innen, sie haben es schwerer bei der Lehrstellensuche, sind weniger repräsentiert, je höher in der Hierarchie eigentlich egal welcher Branche man schaut. Es ist auch kein Zufall, dass ein grosser Teil der Surprise-Verkäufer*innen Schwarze Menschen oder People of Colour sind – ihr Armutsrisiko ist wesentlich höher als das von weissen Menschen, weil sie systematisch mehr Hürden beim Zugang zu Ressourcen haben. Rassismus ist «die Verknüpfung von Vorurteil mit institutioneller Macht. Entgegen der landläufigen Meinung ist für Rassismus eine ‹Abneigung› oder ‹Böswilligkeit› gegen Menschen oder Menschengruppen keine zwangsläufige Voraussetzung. Rassismus ist keine persönliche oder politische Einstellung, sondern ein institutionalisiertes System, in dem soziale, wirtschaftliche, politische und kulturelle Beziehungen für weissen Alleinherrschafts-Erhalt wirken», so die treffende Definition von Susan Arndt und Nadja Ofuatey-Alazard, die ich einer Rede des Schauspielers Necati Öziri am Frankfurter Stadttheater entnommen habe.
Sobald ich mir meiner Privilegien bewusst bin, kann ich Rassismus erkennen. Ich sehe zum Beispiel: Weil ich das System internalisiert habe und an vielen Stellen davon profitiere, bin ich selbst eine Rassistin. Das ist schmerzhaft sich einzugestehen, es ist nichts, mit dem man prahlen kann oder nur schon kokettieren, und es gibt daran wenig herumzudeuteln. Einzig tröstend (und zugegeben ironisch): Ich weiss, ich bin damit nicht allein. Es ist ein kollektives Falsch, in dem wir verharren, das aber das Individuum nicht aus der Verantwortung entlässt. Wir können das noch ein wenig wegdrängen, die einen mehr, die an deren weniger, wir können noch mehr Tote in Kauf nehmen (denn auch das Sterben im Mittelmeer ist Teil dieses Systems), wir können offensiv so weitermachen wie bisher, wir können das Falsch sogar noch verstärken, wie es sich manche Kräfte wünschen.
Wir können aber auch anders. Es ist eine Entscheidung– eine moralische, eine politische, eine demokratische, eine gesellschaftliche. Eine, die wir durch unser Handeln treffen. Weisse Alliierte, «white allies», nennen die US-Amerikaner*innen diejenigen, die sich mit denen solidarisieren, die unter Rassismus leiden. Weisse Alliierte sind erwünscht und notwendig, denn sonst wird sich kaum etwas ändern, und die Idee von einer gerechten demokratischen Gesellschaft, in der alle gleich an Rechten und Würde geboren sind, bleibt weiterhin eine Illusion.
Es ist unsere Arbeit, Rassismus zu erkennen, die eigene Rolle zu reflektieren und aufzuarbeiten. Wir können dafür sorgen, dass wir innerhalb unserer Freundeskreise, unserer Arbeitskontexte und im Alltag auf rassistische Strukturen hinweisen und dazu beitragen, diese abzubauen. Wir können aufstehen, uns zu Wort melden oder einschreiten, wenn wir Zeugen rassistischer Gewalt werden. Wir können unsere eigenen verinnerlichten rassistischen Reflexe erkennen, hinterfragen und bewusst mit ihnen umgehen lernen. Wir können Raum schaffen für die, die wenig davon bekommen, wir können den Mund halten, wenn Rassismus-Erfahrene sprechen, und zuhören, wir können unsere Privilegien nutzen, um Menschen, die weniger davon haben, zu unterstützen.
Was wir nicht können, ist: dafür Applaus erwarten. Wenn wir aber von unseren demokratischen Grundwerten überzeugt sind, werden wir ausserdem aushalten müssen, dass wir Fehler machen. Dass wir angegriffen werden für unsere Position und wir langfristig verunsichert sein werden, was denn nun von uns erwartet wird. Und dass wir auch mal für die Fehler anderer geradeste hen müssen, mit denen wir uns vielleicht nicht einmal identifizieren oder mit denen wir nicht in einen Topf geworfen werden wollen. Es ist eine Übung in echter Empathie, denn so geht es nicht-weissen Menschen in unserer Gesellschaft permanent.