2 minute read
Verkäufer*innenkolumne
Verkäufer*innenkolumne
Über den Ozean
Mexiko hat sich sehr verändert, es ist nicht mehr wie in den 1980er-Jahren. Viele Geflüchtete, vor allem aus El Salvador und Honduras, sind seither gekommen. Zum letzten Mal war ich letztes Jahr dort, meine Frau ist Mexikanerin. Ich habe von 1981 bis 1986 da gelebt, kurz vor der WM bin ich zurückgekommen in die Schweiz. Ein halbes Jahr war ich durch die USA gereist und dann mit meinen letzten 400 Dollar nach Mexiko. Dort bin ich fast verhungert, als Letztes habe ich in Puerto Escondido meine Kamera, eine Rollei 35, verkauft.
Ich ging auf die Botschaft und dachte, sie könnten mir einen Job vermitteln, aber sie wollten mir nur das Geld für die Heimreise geben. Das wollte ich nicht und so habe mich selber durchgeschlagen und begonnen, Deutsch und Englisch zu un terrichten, als Freelancer für eine Schule. Ich ging zu den Leuten nach Hause. In Mexiko-Stadt bedeutet das schnell einmal je zwei Stunden Weg, das war natürlich kein sehr lukratives Geschäft. Zum Glück habe ich dabei meine Frau kennengelernt, sie war meine Schülerin. Ich hatte auch eine Agentin, die mich als Statist für Filme vermittelte. Trotzdem reichte es kaum zum Überleben.
Ich wohnte eine Zeitlang in einer WG, zuerst waren es gute Leute. Später kamen andere dazu, und als ich einmal von einem Ausflug zurückkam, waren alle meine Sachen weg. Danach hatten meine Frau und ich zusammen eine kleine Wohnung. 1985 überlebten wir das Erdbeben in Mexiko-Stadt, im dritten Stock, keine Chance runterzurennen, es war reines Glück. Die moderneren Gebäude stürzten ein, es gab Brände. Zwischen den Trümmern sah man Hände oder Füsse herausragen, es war schlimm.
Meine Frau hat zwanzig Jahre hier in der Schweiz gearbeitet, aber ihre Pension ist zum Heulen. Wenn es geht, besuchen wir ihre ganze Familie und ihre 95-jährige Mutter in Mexiko. Die Mutter lebt im Norden des Landes, in der Wüste, dort ist es sehr heiss und wird immer heisser. Meine Frau will nicht mehr zu rück, obwohl man mit der Pension dort besser leben könnte. Im Norden wäre es mir ohnehin zu heiss, dann eher Mexiko-Stadt. Noch mag ich nicht aufhören mit Surprise, drum bin ich immer noch hier. An die Zeit in den 1980er-Jahren erinnere ich mich gern, ich bin viel gereist und hatte nie Probleme. Heute wäre das wahrscheinlich nicht mehr so einfach, weil das Leben dort mit den Drogen- und Bandenkriegen gefährlicher geworden ist.
RENÉ SENN verkauft Surprise seit Dezember 2003 an den Zürcher Bahnhöfen Enge und Wiedikon. Nachdem er die ersten sechzehn Jahre seines Lebens unfreiwillig herumgeschoben worden war, nahm er das Steuer in die eigene Hand, machte das Unstetige zu seiner Tugend und zog durch die Welt. Er heuerte auf einem Öltanker an und umschiffte Afrika, lebte in Holland (unter anderem als Hippie im Vondelpark in Amsterdam) und in Mexiko. Wenn er an Mexiko zurückdenkt, spürt er ein Freiheitsgefühl – auch wenn es langsam verblasst.
Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.