3 minute read

Buch

Next Article
Kino

Kino

Ein Spagat, der nicht sein dürfte: Ulyana lebt mit ihrem Vater illegal in der Schweiz, ihre Ambitionen im Kunstturnen werden zur potenziellen Gefahr.

sie sich als Mutter von Artems Tochter Ulyana ausgibt, damit diese an einer Meisterschaft im Kunstturnen teilnehmen kann. Irgendwann wird Marina der Boden zu heiss, aber letztendlich muss sie erkennen, dass sie bereits zu tief in der Geschichte drinsteckt. Diese Szenen sollen klarmachen: Marina befindet sich zwar in einem Dilemma, aber sie hat jederzeit eine Wahlmöglichkeit. Ein Privileg, das ihrem Geliebten und dessen Tochter verwehrt bleibt. Nur Privilegierte haben immer eine Wahl.

Ulyana will aber nicht auf ihren Traum verzichten. Somit handelt «Spagat» auch vom Schmerz, den gerade Kinder wegen der Unmöglichkeit zur Selbstverwirklichung erleben?

Ja, auf jeden Fall. Trotzdem, in manchen Szenen darf «Spagat» auch als Ermächtigungsfilm verstanden werden, wenn auch nicht mit Happy End. Ulyana erlaubt sich, entgegen den Umständen, für ihre Karriere im Profisport zu kämpfen und nimmt sich auch die Freiheit heraus, zu einer sozialen Gruppe dazuzugehören. Doch gleichzeitig wird klar: Alleine kann sie es nicht schaffen, denn sie ist abhängig von einem System, das andere geschaffen haben. Und in diesem System neigt man zur Haltung, dass marginalisierte Menschen, seien sie nun Sans-Papiers, Arbeitslose oder Menschen mit einer Behinderung, keinen Anspruch auf Selbstverwirklichung erheben dürfen. Sie müssen zuerst ihren gesellschaftlichen Status verändern, bevor sie träumen dürfen.

Die Corona-Krise hat die prekäre Lage vieler Sans-Papiers offensichtlich gemacht: Bilder von Warteschlangen an Essensausgaben schockierten die Schweizer Öffentlichkeit. Wie haben Sie darauf reagiert?

Diese Bilder haben mich nicht überrascht, aber nachdenklich gemacht, denn in der Schweiz spielt sich vieles hinter Fassaden ab. Hier lebt man oft Tür an Tür mit Menschen, die jederzeit abgeschoben werden könnten, und duldet dies mehrheitlich stillschweigend, womöglich auch, weil man es einfach nicht weiss. So wie die Nachbarn von Artem und Ulyana.

Christian Johannes Koch: «Spagat», CH 2020, 110 Min., mit Rachel Braunschweig, Alexey Serebryakov, Masha Demiri u.a. Läuft ab 24. Juni im Kino. Buch In der Graphic Novel «Nachtgestalten» ziehen zwei Kneipenbrüder durch die Nacht.

«Ich habe die Tiefe der Oberfläche entdeckt», hat der 2005 verstorbene deutsche «Poet unter den Kabarettisten», Hanns Dieter Hüsch, einmal gesagt. Dieses Bonmot passt bestens zur heiter-melancholischen Graphic Novel «Nachtgestalten» des tschechischen Autors Jaroslav Rudiš und des österreichischen Comiczeichners Nicolas Mahler.

Zwei Männer gehen durch die Nacht. Sie schweigen, reden und ziehen von Kneipe zu Kneipe, um dort zu schweigen, zu reden und Bier zu trinken. Zwischendurch wird eine Pausentaste gedrückt, wenn wieder ein Wirt seine Kneipe schliesst und die beiden, wie andere Nachtgestalten auch, zurück auf die Strasse geschwemmt werden, wo sie ihre Odyssee fortsetzen. Manchmal gehen sie nur schweigend durch die Nacht. Manchmal sitzen sie still vor ihrem Bier.

Der erste Satz, der das Schweigen bricht, ist: «Hast du eigentlich mit Hana geschlafen?» Männergespräche eben. Gespräche, die sich um Frauen drehen oder darum, wie toll es doch wäre, wie ein Wisent (ein europäischer Bison) allein oder mit anderen Wisent-Kumpels durch die Wildnis zu ziehen, dort, wo man fern aller Kritik und allem Rumgemäkel lebt. Im Mai besucht man dann die Frauen, um sich zu paaren und die Kinder anzuschauen. Das reicht. Für die Frauen wär’s auch besser. Dumm nur, wenn man die Natur hasst, ein Städter durch und durch ist.

Und dumm auch, wenn man das Unglück anzieht. Zum Beispiel von einem Hubschrauber gerettet werden muss, weil man mit Sommerlatschen an einem Berghang strandet. Schuld daran ist, ausser der eigenen Dummheit, vor allem die Geschichte, die der Unglücksrabe, obwohl er studierter Historiker ist, nicht versteht und die ihn nicht loslässt.

Dann beginnt die Oberfläche zu bröckeln, das Wortgeplänkel gewinnt an Tiefe. Dann schwappt Theresienstadt hoch und die Grosseltern, die vergast wurden, mit Zyklon B, das immer noch hergestellt wird, wenn auch unter einem anderen Namen. An einem Ort, an dem der Enkel nicht im Zug vorbeifahren kann, ohne sich zu betrinken. Noch so ein Unglück, denn die Frau, mit der er ein neues Leben anfangen könnte, verabscheut diese hilflose Sauferei.

Es ist eine berührende Tragikomödie. Langsam, lakonisch und liebenswert. In den wunderbaren Bildern von Nicolas Mahler, die mit nichts als Schwarz und Blau und Weiss die Nacht, die Gedanken und die Gespräche einfangen. Und auch die Liebe kommt nicht zu kurz, denn da ist immer wieder Hana und die Erinnerung an sie, die sich mit keinem Bier der Welt wegtrinken lässt. CHRISTOPHER ZIMMER

ZVG

FOTO:

Jaroslav Rudiš, Nicolas Mahler: «Nachtgestalten»

Luchterhand 2020 CHF 27.90

This article is from: