5 minute read
Literaturbetrieb
Visitenkarten, keine Cash Cows
Literaturbetrieb Wegen Corona wurden Buchpublikationen verschoben und Auftritte abgesagt. Aber auch sonst gilt: Vom Buchverkauf allein lässt es sich nicht leben.
TEXT DIANA FREI
Milena Moser (links) ist ausgewandert, um sich die Freiheit beim Schreiben zu bewahren. Christoph Simon (rechts) kann vom Schreiben leben, für ein Auto reicht es allerdings nicht.
Rosa, grüne und gelbe Post-its, die sich zu Handlungssträngen zusammenfügen. Ein Schreibblock, dazu Caffè latte und Sfogliatelle vom SBB-Spettacolo, Unterzeile: «Geplottet wird traditionell im Zug …» So sieht #writerslife auf Facebook oder Instagram aus. Es gehört dem Krimi autor Sunil Mann, der auch fast jeden Tag ein neues Schulhaus postet, wo er eine Lesung hält. Manchmal sind es drei an einem Tag, manchmal vier. Schullesungen sind etwas weniger lukrativ als Erwachsenenlesungen, etwa in Buchhandlungen, aber die Menge summiert sich.
Die Erträge aus den Buchverkäufen seien «minim», sagt Mann, sie machten etwa ein Fünftel seines Einkommens aus. Hinzu kämen sporadische Auftragsarbeiten für Magazine, Banken oder Genossenschaften. «Zusammen ergibt das ungefähr einen Primarlehrerlohn.»
Der Plot im Zug, die ganz frühen Phasen beim Schreiben: Ist das schon bezahlte Arbeit bei einem Autor, der sich etabliert hat? «In dem Fall war es das nicht», sagt Mann, «weil ich da noch keinen Vertrag abgeschlossen hatte. Aber ich weiss in der Zwischenzeit, dass ich in der Regel einen Abnehmer finde, wenn ich etwas schreibe.»
Gemäss einer Umfrage von Suisseculture Sociale von 2016 können lediglich 21 Prozent der Autor*innen in der Schweiz von der Literatur leben. Kommt hinzu, dass sie in der Regel sehr bescheiden leben: Insgesamt verdienen nur 23 Prozent mehr als knapp 25 000 Franken aus der literarischen Tätigkeit. Die Lebenssituationen der Schreibenden sind sehr unterschiedlich, aber grundsätzlich unsicher.
Die Autorin Renata Burckhardt sagt etwa: «Ich arbeite an diversen Institutionen und Orten und für unterschiedlichste Projekte. Mein Einkommen setzt sich zusammen aus Aufträgen für theatrale Texte, Stücke, szenische Einrichtungen, Kolumnen, Essays, Schreibworkshops, Dozenteneinsätze und selten Lesungen. Es ist toll, aber auch anstrengend. Unsicherheit muss man aushalten können. Und immer wieder muss man sogar Auftraggebern erklären, dass man gewisse Sachen gerne schriftlich vereinbart hat – was in anderen Branchen total üblich ist.»
Im Kollektiv das System ausgleichen
Jemand wie der Autor und Spoken-Word-Künstler Gerhard Meister lebt von den Einkünften aus seinen Theaterstücken und Hörspielen und eigenen Auftritten, auch mit der Gruppe Bern ist überall. «Wenn ich ein neues Theaterstück schreibe, dann im Auftrag des Theaterhauses oder der Gruppe, die das Stück aufführen werden. Ich bekomme ein Honorar, und für die Aufführungen gibt es zusätzlich Tantiemen.»
Jede*r Autor*in ist in einer anderen Situation. Das sagt auch Daniela Koch vom Zürcher Rotpunktverlag. Und: «Jeder Text ist anders, jede Zusammenarbeit ist anders. Standard ist bei uns, dass wir 20 bis 30 Seiten Text brau-
chen und ein Exposé. Je nach Interesse bestellt man dann mehr.» Der Rotpunkt-Verlag konnte dank einer grösseren Spende einen Autorenfonds einrichten, aus dem je nachdem Vorschüsse bezahlt werden können – in der Belletristik auf Basis des ganzen Manuskripts, bei einem Sachbuch nach einem überzeugenden Konzept und allenfalls einem Probekapitel. Entsteht ein Buch, wird per Vertrag die Beteiligung am Verkauf festgelegt, in der Regel sind das neun bis zwölf Prozent.
«Vorschüsse hab ich noch nie bekommen», sagt der Berner Autor und Slam-Poet Christoph Simon (der in anderen Verlagen publiziert). «Die Bücher sind eher Visitenkarten als Cashcows. Dank ihnen kommt man zu Lesungen, Festivals, in Schulen und an bezahlte Aufträge.» Simon kann seit dem ersten Roman vom literarischen Schreiben leben. «In bescheidenen Verhältnissen allerdings, ohne Auto, bis vor Kurzem in Wohngemeinschaften lebend und Kindertagesstätten-subventioniert.»
Auch Ronja Fankhauser hatte mit «Tagebuchtage Tagebuchnächte» auf Anhieb einen beachtlichen Erfolg und viel Presseecho. Entstanden war das Buch als Maturarbeit. Die Publikation ist gerade mal ein Jahr her, und Fankhauser lebt unterdessen in einem Kollektiv mit knapp zwanzig anderen, manche mit regelmässigem Einkommen, manche freischaffend. «Manchmal verdiene ich einen Monat lang recht viel und dann wieder gar nichts. Es gibt im Kapitalismus generell Menschen, die wenig arbeiten und viel verdienen und umgekehrt. Unsere Lebensform versucht, die Ungleichheit des Systems auszugleichen.»
Gerade beim Schreiben ist oft von nötigem Mut die Rede, von Frustrationstoleranz und Durchhaltewillen. Worauf Fankhauser aber hinweist: Die Frage, wer sich die nötige Sicherheit verschaffen kann und genügend Selbstvertrauen hat, hängt nicht nur mit der eigenen Persönlichkeit zusammen. Sondern auch mit dem gesellschaftlichen Status. «Schriftsteller*in kann nur werden, wer die Zeit und das Geld hat, um erstmal unbezahlt ein Buch zu schreiben und eine Veröffentlichung zu organisieren – das sind meistens eher reiche, weisse Leute, oft auch heterosexuell und cis – Menschen also, die sehr privilegiert sind.» Fankhauser fehlen denn auch die vielfältigeren Perspektiven in der Schweizer Literaturszene: People of Color, Menschen mit Migrationserfahrung, mit Beeinträchtigungen oder chronisch Kranke sind kaum vertreten.
Dragica Rajčić Holzner ist in Kroatien geboren und kam 1980 zum ersten Mal in die Schweiz. Sie schreibt ihr ganz eigenes Deutsch, in dem die Nicht-Muttersprachlerin deutlich erkennbar bleibt: Es ist die Sprache von Eingewanderten, die sie zu Literatur gemacht und sich damit einen Platz in der Schweizer Literaturszene geschaffen hat. «Meine Sprache hat den Leuten gezeigt, dass Literatur und Poesie auch möglich ist, wenn die Muttersprache eine andere ist», schreibt sie per Mail. Nach zehn Jahren Arbeit hat sie letztes Jahr zwei Bücher veröffentlicht. 27 Lesungen wurden wegen Corona abgesagt. «Da ich aber einen Werkbeitrag und den Buchpreis des Kantons Zürich und den Schweizerischen Buchpreis bekommen habe, kann ich nun ein Jahr lang vom Schreiben leben. Zum ersten Mal in meinen Leben. Ich bin 62.» Die Pensionskasse hat sie sich bereits 2018 auszahlen lassen. Sie werde nicht in der Schweiz alt werden, meint sie, sondern nach Kroatien ziehen: «Ich habe zu viele AHV-Beitragslücken.»
Milena Moser hat sich längst einen Namen gemacht, aber sagt: «Das Etikett Bestsellerautorin ist etwas trügerisch. Ich verdiene zwischen 15 000 und 25 000 Franken an einem Buch, in dem zwei bis vier Jahre Arbeit stecken.» Ihren Lebensunterhalt verdient sie mit Lesungen und Auftritten, Kursen, Kolumnen und Auftragsarbeiten. «Doch diese Verzettelung hat das Schreiben von Romanen immer mehr eingeschränkt. Ich bin in erster Linie in die USA ausgewandert, um mein Schreiben zu schützen.» Moser konnte dadurch ihren Lebensstandard so reduzieren, dass sie mehr Freiheiten hat und sich stärker auf Romane konzentrieren kann. Trotzdem schreibt sie seit Anfang 2020 wieder eine wöchentliche Kolumne im SonntagsBlick, was gerade in Pandemie-Zeiten geholfen hat. Weil sie in den USA lebt, bekam sie keine Schweizer Ausfallentschädigungen für entfallene Auftritte. Ihr Mann Victor Zaballa ist Künstler, er hat für das Jahr 2020 vom US-Staat einen «Stimulus» von 1200 Dollar bekommen. «Victor hat im Gegensatz zu mir langjährige Erfahrung im Armsein», sagt Moser. «Wir sind ganz gut durchgekommen. Zum Teil auch dank den Lebensmittelvorräten, die er angelegt hatte.»
Alle erwähnten Autor*innen – und viele mehr – haben uns für unsere Sommer-Literaturausgaben «Perfekt» vom 2. Juli und «Defekt» vom 16. Juli einen Text geschenkt.
ANZEIGE
PIERFRANCESCO FAVINO
EIN FILM VON CLAUDIO NOCE
BARBARA RONCHI MATTIA GARACI FRANCESCO GHEGHI
Progetto «Made in Italy» sostenuto dal Ministero per i Beni e le attività Culturali e per il Turismo MiBACT, in collaborazione con Istituto Luce Cinecittà