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Biodiversität
Umbruch unter Sechsbeinern
Biodiversität Klimaerwärmung, Asphalt und Landwirtschaft bedrohen die Insektenvielfalt. Doch manche Insekten begeben sich erst wegen dem milden Klima in die Schweiz – andere vermehren sich ungebremst. Ein paar warme Worte für die schöne Efeu-Seidenbiene und den oft geschmähten Borkenkäfer.
TEXT BENJAMIN VON WYL ILLUSTRATIONEN CHI LUI WONG
Sie sind einen Grossteil ihres Lebens lebendig begraben, und das ist auch gut so. Oft tief in den Sandkästen von Schweizer Kindergärten, weit tiefer, als Kinder spielen, liegen sie in den Nestern: Efeu-Seidenbienen im Larvenstadium. Zumindest wenn sie Glück haben, sind sie lebendig dort unten: Manche Bieneneier werden verdaut, bevor die Tiere schlüpfen. Denn in den Sandkastentiefen, in die nie Licht dringt, kann auch eine andere Spezies begraben sein: die Larven des Seidenbienen-Ölkäfers. Die Efeu-Seidenbiene hat sich, wie ihr Name schon sagt, auf Efeu spezialisiert. Der Seidenbienen-Ölkäfer hat sich, wie sein Name schon sagt, auf Seidenbienen spezialisiert. Beide Tiere sind erst in den letzten Jahrzehnten in die Schweiz eingewandert – die Biene wahrscheinlich wegen der Klimaerwärmung.
Menschen schauen ihre Katze an und glauben, sich in ihr zu erkennen. Wohl niemand vermenschlicht Insekten. Das hat zur Folge, dass viele Menschen nichts über Insekten wissen, dass auch die Menschheit insgesamt über sehr viele Arten sehr wenig weiss. Man kann nicht schützen und unterstützen, worüber man nichts weiss. Wer sich auf Insekten einlässt, merkt, wie anders diese Form von Leben ist. Jedes Insektenleben findet in Stadien statt. In seiner letzten Form – bernsteinfarbener Hinterleib, schwarzer Kopf – wirkt der Seidenbienen-Ölkäfer für Laien wie eine Kreuzung aus Ameise und Kakerlake. Doch zu leben beginnt er als Kleinsttierchen mit drei Klauen. Diese klammerten sich im letzten Herbst an Efeu-Seidenbienen und liessen sich in die Nester tragen. Dort essen die Ölkäfer erst die Bieneneier, dann deren Futter: ein Gemisch aus Pollen und Nektar, das die Bieneneltern für den Nachwuchs gesammelt haben.
Aus welchem Sandkasten graben sich Efeu-Seidenbienen, aus welchem Seidenbienen-Ölkäfer frei? Das zeigt sich im Spätsommer – wenn überhaupt jemand hinschaut. Besorgte Kindergärtner*innen schauen sicher genau: Die gelben Streifen der Seidenbienen leuchten – ist ihr Stachel wirklich harmlos? Bei den städtischen Betrieben von Schaffhausen winkt man ab. Wie vielerorts hat man dort bereits Erfahrung mit den ungefährlichen, «gern gesehenen» Bienen. Fünf oder sechs Kindergärten hätten vor zwei, drei Jahren gefragt, was sie mit den Sandkastenbienen tun sollen. Die Verunsicherung konnte zerstreut werden: Während der Tage, in denen sich die neue Bienengeneration freigräbt, wird der Sand einfach für die Menschenkinder gesperrt. Vergangenes Jahr meldeten sich allerdings in Schaffhausen kaum Kindergärten. Hat etwa der Seidenbienen-Ölkäfer die Bieneneier geholt? Den kennt der verantwortliche Beamte noch nicht: «Bei den Insekten gibt es so einiges.» Der Käfer lebt noch nicht lange in der Schweiz. Die Efeu-Seidenbiene ist ebenfalls erst vor einigen Jahren aus Südeuropa zugewandert – und 1993 überhaupt erst als Spezies entdeckt worden. Die ersten Menschen in der Schweiz, vor deren Augen sie summte, dachten sich wohl: Eine Biene halt. Als wäre Biene gleich Biene! Ja, Hummeln – diese Nilpferde der Lüfte – erkennen alle. Aber sonst?
Ebenso still ist der Seidenbienen-Ölkäfer eingewandert. Den Bienen nachgereist, mitgereist, Jahr für Jahr, Generation um Generation aus Regionen, wo sandige Hänge zum Landschaftsbild gehören, in die Schweiz – wo Sand in der Regel eher in Sandkästen lagert. Nun ist auch er hier zuhause. Wie lange er wirklich schon hier ist, weiss niemand genau.
Der Seidenbienen-Ölkäfer folgt seinem Futter
Die Efeu-Seidenbiene und der Seidenbienen-Ölkäfer sind gekommen, weil sie sich im wärmer werdenden Klima wohlfühlen. «Wer hat den Schalter umgelegt?», fragt Urs Weibel, Kurator im Museum Allerheiligen. Niemand weiss, was der Auslöser war, dass sich die gerade erst entdeckte Efeu-Seidenbiene in die Schweiz, nach Deutschland und mittlerweile bis über den Ärmelkanal ausgebreitet hat. In Schaffhausen als Erstes beschrieben hat sie Weibel.
Dass ihr der Seidenbienen-Ölkäfer gefolgt ist, ist hingegen nachvollziehbar: Er ist komplett von ihr abhängig. In der Insekten-Fachzeitschrift Entomo Helvetica schrieb Weibel über seine Beobachtungen der Eiablage des Seidenbienen-Ölkäfers. Es ist ein Haufen Eier, sie sehen ein wenig wie klebrige Reiskörner aus, diese legt das Weibchen des Seidenbienen-Ölkäfers an einen Grashalm. Nach etwa zweieinhalb Wochen schlüpfen die «Triungulinen», die Larven mit den drei Klauen. «Zeitweise waren sie unruhig, streckten ihre Beine und krabbelten übereinander», schreibt Weibel. «Vermutlich» bilden sich aus den Hüllen der Ölkäfer-Eier Fäden. An denen hängen sie zusammengeknäuelt wie ein Pendel. Ob durch Duftstoffe oder über visuelle Anziehung:
Die Efeu-Seidenbiene (Colletes hederae) stammt aus der Gattung der Seidenbienen. Sie wurde erst 1993 als eigenständige Art beschrieben. Das Weibchen ist durchschnittlich 13 mm, das Männchen 10 mm gross. Die Brust ist dicht gelbbraun behaart, der Hinterleib besitzt breite, durchgehende Binden an den Enden der Hinterleibsringe, die bei frischen Tieren gelbbraun gefärbt sind.
Etwas an ihnen macht die Seidenbienenmännchen rollig. 30 von 30 zufällig Gefangenen waren bei Weibels Untersuchung mit der Ölkäferbrut befallen. Bedroht also der neuzugezogene Käfer die neuzugezogene Biene? Weibel verneint: «Das kommt in Wellen – der Bestand wird sich regulieren.» Wenn es in einem Jahr weniger Seidenbienen gibt, schaffen es auch weniger Ölkäfer übers Larvenstadium hinaus.
Menschen mögen Bienen. Vielleicht, weil sich die meisten gerne mit dem Wintervorrat der Honigbienen verköstigen. Menschen mögen keine Motten, die den Spiess umdrehen und ihre Babys mit unserem Mehl füttern. Menschen mögen Käfer. Dass diese als Larven weich und glibberig sind, überlegen sich die zweibeinigen Säugetiere nicht, wenn die hartbeschalten Sechsbeiner im Licht hübsch glänzen. Generell gilt: Menschen denken an Insekten, wenn sie für den Menschen etwas bedeuten. Die Schädlinge und Schönheiten fallen auf: Tagfalter und Kleidermotten; Borkenkäfer und Hirschkäfer. Seltener denken Menschen darüber nach, was ihre Lebensweise für Insekten bedeutet. Dabei verändern Landwirtschaft, Zersiedlung und Klimawandel das Leben von Tieren, die teilweise noch nicht einmal wissenschaftlich entdeckt sind.
In der Schweiz leben 437 Wirbeltiere + 4292 Pflanzen + bis zu 15 000 Pilze = weniger als Insekten. Bis zu 60 000 Insektenarten sind hierzulande zuhause, mehr als das andere Leben zusammen. Allerdings sind wegen uns Menschen viele Insektenarten bedroht. Gemäss der «Krefelder Studie» ist die Anzahl der Fluginsekten in deutschen Naturschutzgebieten von 1989 bis 2015 um 75 Prozent gesunken. Ruhigere Töne entnimmt man der ersten umfassenden Studie zur «Insektenvielfalt in der Schweiz», die im letzten Herbst erschien. Darin werden auch allzu vereinfachende Medienberichte über eine angebliche «Insektenapokalypse» aufgenommen. Zwar lautet der Befund, die Situation sei besorgniserregend und zwei Drittel der Arten mindestens «potenziell gefährdet». Doch bei «einigen wenigen Insektenarten» gebe es «positive Trends» und manche Arten wanderten ein.
Der Sandkasten als Nische
Im Idealfall reguliert die Insektenwelt sich selbst. Sie hat aber weder mit Pflastersteinen gerechnet noch mit Zement, der die Lücken im Pflaster versiegelt. Auch nicht mit Asphalt und Beton. Ebenso kalkulierte sie nicht mit dem Ideal des BürstenschnittRasens, mit Fichtenwäldern im Flachland und dem menschgemachten Klimawandel. Manche Arten finden sich zurecht: Mehlmotten gefällt es in menschlichen Küchen. Die Grosse Holzbiene ist mit bis knapp drei Zentimetern eine der grössten heimischen Bienenarten. Sie galt lange als sehr selten – und ist nun in Mitteleuropa weitverbreitet. Sie nistet gerne im morschen
Der Seidenbienen-Ölkäfer oder Schwarze Pelzbienen-Ölkäfer (Stenoria analis) gehört zur Familie der Ölkäfer (Meloidae). In Mitteleuropa kommt er nur lokal vor. Der Käfer ist etwa 12 mm gross und ein Brutschmarotzer. Die Triungulinen (Primärlarven) des Ölkäfers locken Efeu-Seidenbienen mit Sexual-Pheromonen an. Sie heften sich an diese und gelangen so in deren Nesthöhlen, wo sie sich weiterentwickeln.
Holz von Gärten. Noch näher an die menschliche Architektur wagt sich die Töpferwespe, die ihr Nest vertikal an Hauswände zimmert. Die Nester sind massiv, hart, entstehen ganz ohne Baubewilligung.
Dass die Efeu-Seidenbienen statt in Lösswänden auch in Sandkästen nisten, ist ein schöner Zufall. Die Efeu-Seidenbiene hat eine Nische. Ihre Nische kann mit menschlicher Gesellschaft umgehen. Viele Arten aber sehen ihren Lebensraum schwinden: Seit 1900 sind in der Schweiz von 20 artenreichen Trockenwiesen 19 verschwunden. Von den Moorlandschaften ist weniger als ein Fünftel übrig. Ein Grossteil der Gewässer sind auf eine Weise begradigt und genutzt, dass sie Menschen genügen, aber dem tierischen Lebensraum zuwiderlaufen. Die Wälder haben sich im letzten Jahrhundert verändert: Viele Bäume werden lange vor ihrem natürlichen Lebensende gefällt; Fichten in tiefen Lagen angebaut.
Manchmal hat die menschliche Zivilisation die Nische von Insekten aber auch richtig aufgespreizt. Das passierte oft aus Versehen, auch in den Wäldern. Adrienne Frei schält ein Stück Rinde von einem liegenden Stamm. Darunter stehen und gehen sie, obwohl noch Eis auf dem Weiher in der Nähe liegt: die Borkenkäfer. Frei ist Forstingenieurin und spezialisiert auf Xylobionten – Käfer, die im Totholz wohnen. Einer von ihnen ist der Grosse Buchdrucker, Ips typographus, DER Borkenkäfer. Frei geht näher hin, betrachtet die Tierchen von nahe. Sie bewegen sich in einem Tempo, das dem menschlichen Auge gefällt. Obwohl auf einem menschlichen Daumen fünf Borkenkäfer Platz hätten, sind ihre pelzigen Härchen erkennbar. «I wetze mini Zähndli am Liebschte amene Tänndli», hörte Frei als Kind Peach Weber über «D’ Borkechäfer» singen. Als Kind stellte sie sich die Tiere monströs vor. Später hat sie gesehen, wie zierlich und hübsch sie sind.
Lieblingsessen und Lebensgrundlage
«Manche Förster würden sie sofort zerdrücken», sagt Frei vor den liegenden Stämmen im Zürcher Unterland. Das würde natürlich nichts ändern: Der Borkenkäfer liebt Fichten. Frei erklärt: «In dieser Dichte kommen die Fichten natürlicherweise im Mittelland nicht vor.» Fichten sind die wirtschaftlich wichtigsten Bäume der Schweiz. Sie sind dem Borkenkäfer, was die Seidenbienen-Sandnester dem Ölkäfer sind: Lieblingsessen und Lebensgrundlage.
Darum löst ein Borkenkäferbefall bei den meisten Förster*innen Stress aus: Innert kurzer Zeit kann er grosse Waldbestände abtöten. Fichten leiden in der Klimakrise, kommen mit ihren flachen Wurzeln nicht mehr an die tieferen Wasserspiegel und trocknen schneller aus. Der Borkenkäfer hingegen mag es warm: Seit kurzem entstehen bis zu drei Generationen pro Jahr. Es gebe
eine «Massenvermehrung», heisst es in der «Insektenvielfalt»-Studie. Die Studie würdigt das Tier: Der Borkenkäfer agiere «wie ein Ingenieur auf der Ebene ganzer Ökosysteme». Er verändere Lebensräume so, dass Spechte und andere xylobionte Käfer profitieren. Frei vergleicht seine Rolle mit jener des Bibers.
Schon auf der Hinfahrt ist Adrienne Frei im Element. Sie schildert das Dilemma zwischen Gesellschaft und Käfern bereits an den Bäumen mit toten Ästen entlang der Autobahn: «Die könnten herunterfallen und werden wohl als Risiko gesehen», sagt sie. Gleichzeitig bieten genau solche Äste – stehendes Totholz – wichtigen Lebensraum für viele Xylobionten. Insgesamt gibt es etwa 1400 verschiedene Arten. Viele sind gefährdet, in Deutschland stehen 60 Prozent von ihnen auf der Roten Liste.
Als sie auf der Landstrasse das Tempo drosselt, zeigt Frei auf den frisch entbuschten Waldrand. Wer keine Ahnung hat, meint, dort hat die Abholzungsgier obsiegt – dabei entsteht so ein seltener Lebensraum. «Hirschkäfer sind sehr wählerisch.» Die Weibchen der grössten Käferart Europas graben sich am Fuss alter und besonnter Eichen in den Boden, legen ihre Eier nah zu «bereits abgestorbenem Wurzelwerk». Frei erklärt: «Auf einer alten Eiche kommen bis zu 640 Käferarten vor.» Auf Fichten seien es nur etwa 60 verschiedene. Mehr totes Holz in Wäldern und Gärten findet Frei super – doch es brauche auch tote und halbtote Bäume in der Vertikalen. Eine Buche kann bis zu 400 Jahre alt werden. Im Studium, vor etwa 20 Jahren, lernte Frei noch, Buchen solle man von 120 bis 140 Jahren wirtschaftlich nutzen. Heute fällt man sie bereits Jahrzehnte früher. Sie werden oft nur noch 100 Jahre alt.
Baumstämme als Fallen
Der Mensch wirkt auf das Klima ein, wirkt auf die Wälder ein, wirkt auf die Insektenvielfalt ein. Momentan ist Umbruch in den Wäldern und unter den Käfern, da ist sich Frei sicher. Wie es wohl in ein paar Jahrzehnten im Wald aussieht? «Die Natur verschwindet nicht», sagt Frei, «Aus menschlicher Perspektive wird sie aber durcheinandergewirbelt. Dass es passiert, müssen wir aushalten. Aber wir sind nicht hilflos.» Was ein Wald braucht, Pflege oder Ruhe, könne man lernen – durch Erfahrung, Austausch mit Expert*innen und genaues Beobachten.
Liegengebliebene Beigen dünner Baumstämme, wie jene, wo Frei die Borkenkäfer unter der Rinde vorfand, können zu regelrechten Fallen werden. Käfer legen ihre Eier hinein, im übernächsten Frühjahr werden die Bäume mit den Larven geschreddert. Sie landen zum Beispiel in Holzschnitzelheizungen. Mit Holzschnitzelheizungen soll der Klimawandel bewältigt werden. Klimaerwärmung und Artenvielfalt, Achtlosigkeit und Wirtschaftsdenken: Es hängt zusammen.
Der Buchdrucker oder Grosser Achtzähniger Fichtenborkenkäfer (Ips typographus) stammt aus der Unterfamilie der Borkenkäfer (Scolytinae). Er legt seine Brut-
systeme in der Rinde von Wirtsbäumen
an und befällt vor allem Fichten, aber auch Lärchen, Douglasien, Weymouth- und Schwarzkiefern sowie Weisstannen. Bei geeigneter Witterung (optimal: trocken, heiss, windstill) kann es zu einer Massenvermehrung kommen, der dann ganze Bestände zum Opfer fallen können.