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Migration
Bis zu zehn Tage dauert es, um den Urwald von Darién zu durchqueren. Unter den Migrant*innen sind besonders viele aus Venezuela, die weiter in die USA wollen.
Für manche ist die Szenerie am Strand von Necoclí, im Norden Kolumbiens, die Definition vom Paradies: Palmwedel winken in der karibischen Brise, frisch geschnittene Mangostücke wechseln den Besitzer, Reggaeklänge hängen in der Luft. Doch das Salz auf Esly Carillos Gesicht stammt nicht von einem Bad im Golf von Urabá, sondern von ihren Tränen. «Zwei Söhne sind schon in den USA», erzählt die Mutter. Erst wenige Monate sei es her, dass auch sie hier gewesen sind. Sie nahmen eines der Schiffe, auf die andere Seite des Golfes. Gingen zu Fuss in den Urwald, auf die andere Seite der Grenze, von Kolumbien nach Panama. Sie reisten immer weiter Richtung Norden. Durch Panama, Costa Rica, Nicaragua, Honduras, Guatemala, Mexiko. Gut vier Monate später hatten sie ihr Ziel erreicht: die USA.
Nun will die Mutter es ihnen gleichtun. Doch Esly Carillo, ihr Mann und die zwei Töchter, die ihre ersten englischen Wörter üben, stecken fest. Seit acht Tagen schläft die Familie aus Venezuela in einem der Zelte am Strand von Necoclí. Der Karibikkleinstadt, deren Name zu einem Symbol für Hoffnung und für Verzweiflung wurde. «Wir werden es schaffen», schluchzt Carillo.
Hitze, Schlangen und Paramilitärs
Rund 134 000 Migrant*innen haben im vergangenen Jahr die Grenze zwischen Kolumbien und Panama überquert, die Grenze zwischen Süd- und Zentralamerika. Das sind zusammengezählt mehr als in den elf Jahren zuvor. Ihr Weg gilt als eine der gefährlichsten Migrationsrouten der Welt. Sie führt bis zu zehn Tage lang durch den Urwald von Darién. Nur hier wird die Panamericana, die längste mit dem Auto befahrbare Strasse, die vom Feuerland bis nach Alaska führt, unterbrochen – deshalb
Bis sie genug Geld hat für die Bootsfahrt nach Capurganá, schläft die Familie von Esly Carillo in einem Zelt am Strand von Necoclí. Zwei Söhne sind bereits in den USA.
PANAMA
KARIBISCHES MEER
CAPURGANÁ
PAZIFISCHER OZEAN DARIÉN-URWALD
NECOCLÍ
KOLUMBIEN
auch der Name «Gap» (Lücke) für die Region. Reiseführer raten, den Urwald zu meiden. Wegen der Hitze, der reissenden Flüsse und der giftigen Schlangen. Vor allem aber wegen der Paramilitärs. Tourist*innen, die es trotzdem wagten, wurden getötet. Dennoch könnte es sein, dass dieses Jahr noch mehr Migrant*innen den Urwald durchqueren. Die Zahlen der Rekordmonate von 2021 werden aktuell zwar nicht erreicht. Doch die panamaischen Behörden zählen jeden Monat über 4000 Grenzübertritte. In den Vergleichsmonaten des Vorjahres waren es viermal weniger.
Seit Jahren wird der Darién Gap von vielen, die in Richtung USA migrieren wollen, als Route gewählt. Menschen aus China, Pakistan oder dem Kongo fliegen erst nach Ecuador, wo sie leicht an ein Visum kommen. Anschliessend fahren sie mit Bussen nach Norden zum Nadelöhr im Urwald. 2021 waren es jedoch vor allem die Haitianer*innen, die den Weg auf sich nahmen. Viele von ihnen hatten wegen dem Erdbeben von 2010, der anhaltenden Gang-Gewalt oder der politischen Instabilität ihre Heimat verlassen. Sie kamen nach Südamerika, bauten sich ein zweites Leben auf. Doch Chile, eines der Hauptaufnahmeländer, verschärfte bald seine Visabestimmungen. Und mit dem Coronavirus brach die informelle Wirtschaft Lateinamerikas zusammen. Viele Haitianer*innen standen wieder vor einem Trümmerhaufen. Es blieb ihnen einzig die Hoffnung, die sie in Richtung USA treiben sollte. Ihrer dritten Heimat.
Doch in den USA hatte die Politik andere Pläne. Joe Bidens demokratische Regierung übernahm eine vom republikanischen Vorgänger Donald Trump eingeführte Verordnung. Mit dieser können die USA Migrant*innen innert Stunden ausschaffen. Seit Pandemiebeginn
«Viele sprechen vom amerikanischen Traum. Doch für mich ist es der venezolanische Traum.»
ESLY CARILLO
Mexiko erschwerte den Menschen aus Venezuela die Einreise per Flugzeug. Der Weg durch die grüne Hölle des Darién wurde für mehr Menschen zu einer Option.
wandten die Behörden die Verordnung bei 1,6 Millionen Menschen an. Die Bilder, wie berittene Grenzpolizist*innen am Rio Grande, der die Grenze zwischen Mexiko und USA bildet, Jagd auf Haitianer*innen machten, gingen um die Welt. In Necoclí warteten zwischenzeitlich so viele Migrant*innen auf die Weiterreise in Richtung USA, dass Hausbesitzer*innen angestammte Mieter*innen auf die Strasse stellten, weil sie die Immobilien teurer an Durchreisende vermieten konnten.
Fliehen vor der Hyperinflation
Inzwischen sind es vorwiegend Venezolaner*innen, die in Necoclí landen. Vor dem Ukraine-Krieg war Syrien das einzige Land vor Venezuela, das 2021 von mehr Menschen verlassen wurde. Allein in Kolumbien leben schätzungsweise 1,7 Millionen Venezolaner*innen, die vor Hyperinflation, der autoritären Regierung von Präsident Nicolás Maduro oder Hunger flohen. Esly Carillo war eine von ihnen. Mit der Armut im Rücken machte sich ihre Familie nach 2015 auf ins Nachbarland. Ihre Situation schien erst vielversprechend: Der Familienvater fand Arbeit, auch ohne Aufenthaltsgenehmigung. Doch die Kinder konnten nicht eingeschult werden. Als «Veneca», eine abwertende Bezeichnung für venezolanische Migrantinnen, sei Esly Carillo beim Amt beschimpft worden: «Verschwinde von hier!» Zurück in Venezuela stand die Mutter vor der Wahl: Was ist wichtiger, Essen zu kaufen oder die Kinder zur Schule zu schicken? Für beides reichte das Geld nicht. Es trieb sie Richtung Norden.
«Viele sprechen vom amerikanischen Traum», sagt Carillo jetzt am Strand von Necoclí. «Doch für mich ist es der venezolanische Traum.» Bis vor Kurzem flogen Zehntausende ihrer Landsleute nach Mexiko, um von dort zu Fuss die Grenze nach Norden zu überqueren. Doch die Biden-Regierung intervenierte auch hier: Mexiko erschwerte den Venezolaner*innen – auf Druck der USA – die Einreise per Flugzeug. Der Weg durch die grüne Hölle des Darién wurde für mehr Menschen zu einer ernsthaften Option.
Den Bewohner*innen von Necoclí kommen die Migrat*innen gelegen. Mit dem Coronavirus wechselte ihre Klientel: Die Tourist*innen blieben fern, die Migrant*innen kamen. Wer genug Geld hat, schläft in einem der Hotels an der Küste. Und wer sich vor Moskitos, Malaria und den Migrationsbehörden schützen möchte, kauft bei Strassenverkäufer*innen Zelte, Insektensprays und eine Hülle für den Reisepass. Alle müssen nach Capurganá, dem Fischerdorf auf der anderen Seite des Golfes von Urabá. Die Boote dorthin legen in Necoclí von zwei Molen
ab. Eine für Tourist*innen, die andere für Migrant*innen. Menschen aus Venezuela bezahlen für ein Ticket 50 US-Dollar, solche aus Kolumbien sowie Tourist*innen 25 US-Dollar. Den Bug der Boote ziert ein Schriftzug: «Turismo Responsable». Verantwortungsvoller Tourismus. Geschätzt 120 Millionen US-Dollar sollen die Migrant*innen auf ihrem Weg von Necoclí bis zur Grenze zu Panama 2021 ausgegeben haben.
Zwei Realitäten
Familie Carillo rechnet mit Kosten von 250 US-Dollar pro Person für die Reise nach Panama, insgesamt also mit 1000 US-Dollar. Das Geld will sie sich mit Betteln und dem Weiterverkauf von Hygienemasken vor einem Supermarkt erarbeiten. Sobald sie es zusammengespart hat, will sie sich rund 50 Meter von ihrem Schlafplatz entfernt an der Mole der Migrant*innen einreihen. Eineinhalb Stunden später, direkt nach dem Boot der Tourist*innen, werden sie den Steg von Capurganá erreichen. Im Fischerdorf existieren zwei Realitäten. Welche man betritt, hängt davon ab, welches Boot man in Necoclí bestiegen hat. Für die Tourist*innen führt der Weg am Ende des Steges nach rechts zum Strand, den Restaurants und den Öko-Resorts. Für die Migrant*innen geht es nach links an den Dorfrand und in den Urwald.
«Die Migrant*innen sind praktisch unsichtbar», sagte kürzlich Darwin García, der Vorsitzende von Capurganá, «sogar für uns.» Trotz Polizeipräsenz im Fischerdorf ist es nicht der Staat, dem daran liegt, die Migrant*innen unsichtbar zu machen. Es ist der Clan del Golfo. Das vermutlich mächtigste Verbrechersyndikat Kolumbiens kontrolliert zusammen mit dem mexikanischen Sinaloa-Kartell nicht nur schätzungsweise die Hälfte des kolumbi-
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Naturama Aargau, Feerstrasse 17, 5000 Aarau, naturama.ch anischen Kokainexports. Es kontrolliert auch den Alltag in Capurganá und nimmt so von den Migrant*innen einige Millionen US-Dollar ein. Abgesehen davon – und ein paar Schuhen und Jacken am Wegrand – bleibt von den Migrant*innen im Fischerdorf kaum etwas zurück.
Die Reiseführer der Migrant*innen, die «Coyotes», verlangen zwar viel Geld für den Weg vom Dorf in den Urwald, etwa 150 US-Doller, je nach Service. Doch sie bieten auch Sicherheit – zumindest bis kurz vor der Grenze. Auf der anderen Seite soll der panamaische Grenzschutz patrouillieren. Einige Coyotes, die es gewagt hatten, die Grenze zu überqueren, wurden wegen Menschenschmuggels vor Gericht gestellt. Sind die Coyotes weg, beginnen die Torturen. Die Luftfeuchtigkeit ist hoch und erdrückend, die Pfade durch den Darién sind schlammig und schwer begehbar, die Routen unübersichtlich und die Ausrüstung aus Necoclí ihr Geld nicht wert. Noch vor der Grenze rauben immer wieder schwer bewaffnete Gruppierungen auch das letzte Geld der Migrant*innen. Hinter der Grenze unterteilen oftmals maskierte Männer die Migrant*innen in Männer und Frauen. Manche Migrantinnen berichten, von bis zu zehn Männern vergewaltigt worden zu sein. «Die Situation ist alarmierend», sagt Claudia Paz y Paz von der Menschenrechtsorganisation Cejil. Denn immer mehr Frauen und Minderjährige durchquerten den Darién.
Esly Carillo hat den Darién noch vor sich. «Der Urwald ist gefährlich», das weiss auch sie. «Wir haben keine Angst», ergänzt José, der Vater der Familie. Es fehle nicht mehr viel bis zum Urwald, sind sie sich sicher. Doch seit ihrer Ankunft vor gut einer Woche haben die Carillos und zwei befreundete Familien zehn US-Dollar verdient. Geht es so weiter, trennen sie fast 4000 zusätzliche Dollar, oder weitere 400 Wochen, von der Grenze nach Panama. Und sollten sie es dorthin schaffen, sind es weitere 4000 Kilometer bis zu ihrem Ziel. Dem venezolanischen Traum.
Dieser Artikel wurde finanziell durch den Medienfonds «real21 – Die Welt verstehen» unterstützt.