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Kunst
«Es muss nicht mehr nach Herkunft gelabelt werden»
Kunst Die Ausstellung «The Other Kabul» mit afghanischen und internationalen Künstler*innen in Thun wurde vor der Regierungsübernahme der Taliban konzipiert. Kuratorin Susann Wintsch über schwierige Zuschreibungen, kuratorische Verantwortung und den Fokus auf das Schöne.
INTERVIEW KATJA ZELLWEGER
Susann Wintsch, Sie kuratieren die Ausstellung «The Other Kabul. Remains of the Garden». Was hat es mit dem Garten auf sich?
Susann Wintsch: Ein Garten ist ein anderes Universum, er ist nicht homogen oder geschlossen. Im Garten ist man anderswo, hat aber trotzdem Zugriff auf die Welt ausserhalb. Hier kann man die Welt als etwas Schönes und Lebendiges anschauen; das ist für mich das Fantastische. Der Garten zeigt, was möglich wäre im Leben. Zudem ist Kabul als Stadt der Gärten bekannt. Der Garten muss Nahrung in extremen Temperaturen generieren und ist architektonisch wichtiger Teil einer Wohnung. Während des ersten Talibankriegs Anfang der 1990er-Jahre wurde die berühmteste Gartenanlage, Bagh-e Babur, stark zerstört und abgeholzt. Heute ist sie wieder instandgesetzt und auf der Kandidatenliste fürs UNESCO-Weltkulturerbe. So nahmen wir den Garten als Werkzeug für ein «anderes Kabul», das überall sein kann: in Zürich, Südafrika, auf dem Mond. Es geht um eine Zukunftsprojektion, in der eine Gemeinschaft (wieder neu) entstehen kann.
Verstehen Sie das Motiv auch als Sinnbild der Realitätsflucht vor dem «ewigen Krieg»?
Wir verstehen den Garten als einen zu erschaffenden Mikrokosmos, der überall entstehen kann und entstehen sollte. Wie kann man es bewerkstelligen, dass eine Ausstellung mit afghanischen Künstler*innen nicht nur als Darstellung von Krieg, Elend und Flucht wahrgenommen wird, oder aber das Land, Afghanistan, und seine Kultur erklärt? Beides finde ich eine problematische Praxis. Wie also «The Other Kabul. Remains of mit den Erwartungen, die da the Garden», Sa, 3. Sept. sind, brechen und neue Horibis So, 4. Dez., Kunstmuseum zonte eröffnen? Wird es nicht Thun, Hofstettenstrasse 14. erst dann auch für die KünstRundgang mit Susann Wintsch ler*innen interessant, wenn das am So, 11. Sept. und So, 4. Thema offener ist? Dez., jeweils 11.15 bis 12.15 Uhr www.kunstmuseumthun.ch Wie versuchen Sie als Kuratowww.treibsand.ch rin diesen Kriegsfokus zu
vermeiden?
Wir gehen von der vorhandenen künstlerischen Position aus, lernen das Werk kennen, erklären den Fokus der Ausstellung und fragen, worauf die Künstler*innen Lust haben. Dafür lerne ich sie zunächst kennen. Für vorherige Projekte zu Ex-Jugoslawien, Iran und der Türkei ging ich auf Reisen, für diese Ausstellung allerdings fanden die Gespräche digital statt, erst wegen Corona, dann wegen der Machtübernahme der Taliban im letzten Sommer. Die Welt über Kunstwerke und Erläuterungen der Künstler*innen wahrzunehmen, öffnet ganze Universen. Das Resultat dieser Gespräche ist nun in Thun zu sehen.
Sie waren noch nie in Kabul?
Nein. Mich fasziniert, dass das Internet es möglich macht, dass zeitgenössische Kunst überall entstehen kann. Deshalb nehmen neben den sieben Künstler*innen mit afghanischem Hintergrund auch zehn weitere an der Ausstellung teil. Es muss nicht mehr mit verschiedenen Ellen gemessen und nach Herkunft gelabelt werden. Kunst aus entfernten Ländern ist nicht länger nur traditionell oder hinkt der Moderne hinterher. Es war im Übrigen gar nicht unsere Absicht, künstlerische Positionen nach der politischen Aktualität auszuwählen. Wir wollten das Schwierige immer mit dem Schönen verbinden: Als universeller Weg in die Zukunft, plastisch formuliert, aber natürlich zerbrechlich, wie alles Schöne.
Schönheit und Sinnlichkeit: Wie kreiert man so etwas angesichts von Chaos und Traumata?
Alles präsentiert sich sehr zweiseitig, nicht unbedingt zwiespältig. Ein Beispiel: Der Künstler Baqer Ahmadi hat in Pakistan und dann in Kabul mit Videoarbeiten begonnen, in denen er seinen Körper einer Dusche mit Lebensmitteln aussetzt: So stäubt etwa Mehl auf seinen Kopf. Was erst andächtig und schön aussieht, wird zunehmend unangenehm, seine Nase und Augen verstopfen. Als Honig hinzukommt, wird es noch prekärer. Die Verschwendung des essbaren Goldes, das es vielleicht nicht mehr lange gibt, wird als reale Strafe am eigenen Leib gezeigt. Der Künstler aber lässt alles über sich ergehen, bleibt würdevoll. Diese Arbeit generiert starke Bilder und subtile Fragen.
Ist ein ähnliches Verfahren auch bei einer anderen künstlerischen Position zu beobachten?
Shahida Shaygan hat in «The doll project» kleine Figuren aus dem Kabuler Strassenabfall gestaltet. Es sind Objekte entstanden, die an Puppen erinnern, aber eine eigene Geschichte haben. Eine sehr zeitgenössische Mischung aus Konzeptkunst und Arte povera. Als Shaygan nach Zürich emigrierte, nahm sie die ersten Objekte in ihrem Rucksack mit. Dann hat sie das Kunstwerk mit hiesigem Abfall fertiggestellt – der Bruch des Lebensortes ist also sichtbar in ihren Objekten.
Von den afghanischen Künstler*innen lebt seit spätestens letztem Sommer niemand mehr in Kabul. War Ihnen das bei der Auswahl bereits bewusst?
Nein. Niemand konnte wissen, was im Sommer 2021 geschehen würde. Mittlerweile sind viele Künstler*innen aus Afghanistan geflüchtet. Dass dies für uns interessant ist, zeigt sich in Ausstellungen, die aus dem Boden wachsen. Alle wollen helfen, aber es ist heikel, wenn Künstler*innen als Geflüchtete gelabelt werden. Wir starteten mit unserer Idee und der Planung bereits im Jahr 2019. Anstelle der flüchtigen Aktualität konzentrierten wir uns auf das Nachdenken über die Zukunft, unser aller Zukunft.
Habe ich das richtig verstanden: Die ganze Kunstszene ist geflüchtet?
Die Taliban hatten gedroht, sich an Kollaborateur*innen des Westens zu rächen. Da viele Künstler*innen Kontakte ins Ausland haben, standen sie im Fokus. Einige vergruben ihre Instrumente oder ihre gesamte Bibliothek, andere zerstörten ihre Kunstwerke. Frankreich startete damit, Künstler*innen und Intellektuelle auszufliegen. Das finde ich einzigartig in der Geschichte, dass erst Künstler*innen gerettet wurden. Anderntags haben auch wir Bundesrat Ignazio Cassis einen Brief geschrieben und gefordert, ebenfalls Künstler*innen herauszuholen, mit denen wir arbeiten. Was auch geschah.
Sie wurden also über die Kunst hinaus aktiv?
Man ist ja nicht nur für die Kunstwerke verantwortlich, die rechtzeitig im Museum landen sollen. Kunst besteht in der Zusammenarbeit mit Menschen.
ZVG
FOTO: Susann Wintsch, 55, ist Kuratorin in Zürich. 2019 gründete sie den Verein «Treibsand», der in enger Zusammenarbeit mit Künstler*innen vor allem aus West- und Zentralasien Ausstellungen erarbeitet.
In Surprise 520 haben wir ausführlich über die Lebens- und Fluchtgeschichte von Baqer Ahmadi und Shahida Shaygan berichtet.