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Obdachlosigkeit
Obdachlosigkeit Feantsa-Direktor Freek Spinnewijn appelliert an Politiker*innen, über ihre Amtsperioden hinauszudenken. Für die Abschaffung von Obdachlosigkeit brauche es Durchhaltevermögen.
INTERVIEW SARA WINTER SAYILIR
Freek Spinnewijn, warum braucht es eine Allgemeine Erklärung der Rechte der Obdachlosen?
Freek Spinnewijn: Wir wollten als zentrale Idee dahinter zeigen, dass die Kriminalisierung von Strassenobdachlosen nicht funktioniert. Sie ist teuer, ineffizient und löst das Problem nicht. Und wir wollten eine Debatte anstossen – in der Politik, aber auch innerhalb und zwischen sozialen Institutionen. Erstmals hat eine Organisation in Los Angeles vor mehr als zehn Jahren eine solche Erklärung verfasst.
Hat die Erklärung eine Debatte ausgelöst?
Mancherorts ja, auch unter unseren Mitgliedern. Ich würde es als ersten kleinen Erfolg der Erklärung bezeichnen, dass die Bestrafung und Kriminalisierung von Strassenobdachlosigkeit von unseren Mitgliedern als Problem erkannt wurde. Und einige Städte – knapp fünfzig – haben sich dem Aufruf angeschlossen.
Sie schreiben im Zusatzmaterial zur Erklärung, dass die Kriminalisierung und Bestrafung von Strassenobdachlosigkeit in Europa wieder zunehme. Wie kommt es, dass das Europaparlament gleichzeitig vom Ziel der Abschaffung der Obdachlosigkeit bis 2030 spricht?
Es existieren eine Menge Widersprüche und Unstimmigkeiten im politischen Umgang mit Obdachlosigkeit. In den meisten Ländern gibt es ein grosses Interesse an Housing First, gleichzeitig werden die Notschlafstellen ausgebaut – während auch noch Verfolgung und Kriminalisierung zunehmen. Das hat auch damit zu tun, dass die Politik in diesem Bereich auf verschiedenen Ebenen agiert: Die Kriminalisierung findet oft auf lokaler Ebene statt, während Housing-First-Ansätze eher auf regionaler und nationaler Ebene erarbeitet werden. Zudem passiert die Kriminalisierung von Strassenobdachlosigkeit häufig aus einem grundlegenden Missverständnis von Obdachlosigkeit heraus.
Und das wäre?
Kriminalisierung geht oft davon aus, dass Obdachlose auf der Strasse leben wollen, dass sie stören wollen und die Menschen nerven wollen. Das ist ganz offensichtlich falsch. Denn Obdachlosigkeit wird durch strukturelle Faktoren bedingt und braucht demzufolge strukturelle Lösungsansätze – wobei die Verfügbarkeit von Wohnraum ein Schlüsselfaktor ist. Lokale Politiker*innen und Behörden durchschauen das nicht immer bis ins Detail.
Gibt es weitere Schlüsselfaktoren?
Natürlich gibt es auch eine Verbindung mit dem Thema Migration. In Europa kann man beobachten, dass die im Freien übernachtende Bevölkerung zunehmend Migrant*innen sind: Menschen aus der EU, Fahrende, abgelehnte Asylbewerber*innen. Für Sans-Papiers wäre der einzige Weg, sie in die Gesellschaft zu integrieren, ihnen einen Aufenthaltstitel zu geben. Solange sie kein Aufenthaltsrecht haben, müssen sie in Notunterkünften oder auf der Strasse leben. In Skandinavien kann man sehen, dass die Kriminalisierung von Obdachlosigkeit klar auf Migrant*innen abzielt.
Vermutlich befassen sich häufig verschiedene Ministerien oder Behörden mit Obdachlosigkeit oder mit Migration.
Richtig. Es gibt schon ein Bewusstsein dafür, dass Migration auch im Bereich Obdachlosigkeit ein Faktor ist, aber der Politikbereich Obdachlosigkeit wird noch nicht als feste Grösse im Bereich Migration angesehen. Auch nicht auf europäischer Ebene.
Wie gross ist der Faktor Migration im Bereich Obdachlosigkeit?
Zählt man die Menschen in den Notschlafstellen und die Strassenobdachlosen zusammen, kommt man in den meisten eu-
«Das Problem in der Schweiz wäre lösbar»
ropäischen Ländern auf eine Verteilung von etwa 50 Prozent Ortsansässige und 50 Prozent Migrant*innen. Das ist seit etwa 2015/16 der Fall. Vorher war diese Verteilung nur in Südeuropa gegeben. Der Einfluss der Migration auf die Obdachlosigkeit hat sich überall erhöht. Nur Osteuropa ist eine Ausnahme, dort stellt Obdachlosigkeit immer noch fast kein Problem dar.
Hat Ihr Dachverband der Organisationen für Obdachlose denn Ideen, wie damit umzugehen ist?
In Bezug auf Lösungen versuchen wir in erster Linie darauf hinzuwirken, dass die Mitgliedsstaaten das EU-Recht einhalten. Zum Beispiel gibt es in meinem Heimatland Belgien Hunderte Asylsuchende, die keinen Zugang zu Notunterkünften haben. Das ist gegen das Gesetz. Also führen wir Prozesse gegen Belgien und die Niederlande, um diese Situation zu ändern. Auch Sans-Papiers sollten regulären Zugang zu Notunterkünften haben. Von den langfristigen Debatten aber halten wir uns fern, weil es auch innerhalb von Feantsa keinen Konsens beispielsweise zum Thema Regularisierung gibt.
Viele Betroffene sind ja auch EU-Binnenmigrant*innen, zum Beispiel Fahrende.
Das ist nochmal eine andere Frage: Hier müsste die EU Verantwortung übernehmen, Freizügigkeit ist ein EU-Recht. Doch die EU verschliesst die Augen davor, dass es Tausende, ja Zehntausende EU-Bür-
«Das Problem in der Schweiz wäre lösbar»
ger*innen gibt, die als Obdachlose in einem anderen EU-Land leben. Dabei könnte EURecht allen Bürger*innen den Zugang zu Notunterkünften zusichern. Ich verstehe nicht, warum dies nicht beschlossen wird.
Zwischen der EU-Gesetzgebung auf supranationalem Level und den kommunalen Hilfsangeboten ist eine riesige Distanz: Ein Beschluss auf EU-Ebene braucht wahrscheinlich ewig, bis er auf die lokale Ebene heruntergebrochen wird.
Auf lokaler Ebene ist das Problem meist, dass die Umsetzung der Gesetze oft viel komplizierter ist, als von den Gesetzgeber*innen beabsichtigt. Wir müssen mit den lokalen Behörden Verständnis haben. Ausserdem ist der Faktor Zeit absolut essenziell. Um Obdachlosigkeit signifikant zu reduzieren, braucht es Durchhaltevermögen. Die Politiker*innen müssen über ihre Amtszeiten hinausdenken. In Finnland brauchte es zwanzig Jahre konsistenter Wohnraumpolitik, um dorthin zu kommen, wo sie jetzt sind. Das sind in den meisten Ländern im Schnitt fünf Politikmandate!
Manche Städte in der Schweiz haben entschieden, die Notschlafstellen auch für Sans-Papiers zu öffnen. Jedoch ergibt sich daraus keine Perspektive für eine Verbesserung der Lebenslage der Betroffenen.
Das ist überall so. Es ist keine Lösung des Problems, aber man verhindert das Schlimmste. Die einzige Lösung wäre, diesen Menschen einen legalen Aufenthalt zu ermöglichen oder aber sie auf nachhaltige Art und Weise zurückzuschicken – sofern das überhaupt möglich ist. Ausserdem kostet es viel Geld, abgelehnte Asylbewerber*innen oder EU-Migrant*innen über Jahre auf der untersten Stufe im Hilfssystem zu halten, weil man die Anzahl der Plätze kontinuierlich erhöhen muss.
Das ist interessant!
Finnland hat gerade erst eine neue Strategie verabschiedet, in der das Ende der Obdachlosigkeit auf 2027 angepeilt wird. Sie stecken viel Geld und Ressourcen hinein und die neue Wohnungsministerin engagiert sich immens. Sie konnten die Notschlafstellen-Plätze auf ein absolutes Minimum reduzieren. Das ist beeindruckend. Aber es ist wahr: In Ländern wie Finnland und Dänemark gehören die Themenbereiche Immigration und Obdachlosigkeit zu verschiedenen Systemen. Sans-Papiers und Migrant*innen tauchen nicht im System der Bekämpfung der Obdachlosigkeit auf. Den oder die Politiker*in, die*der mir sagt, lass uns Housing First für Sans-Papiers machen, muss ich erst noch treffen. In Finnland oder Dänemark wird diese Frage gar nicht gestellt.
Für wen ist dann Housing First?
Housing First will die Lage von Langzeitobdachlosen mit komplexen Bedürfnissen verbessern. Nicht alle Obdachlosen haben komplexe Bedürfnisse – manche brauchen einfach nur Wohnraum. Wir müssen nuanciert über Housing First reden, sonst stecken wir zu viele falsche Erwartungen hinein und machen das Konzept kaputt.
Die Schweiz ist nicht Teil der EU, liegt aber mittendrin. Könnten Schweizer Städte wie Basel, Bern, Zürich oder Genf die allgemeine Erklärung der Obdachlosenrechte ebenfalls ratifizieren?
Natürlich. Es ist ein sehr praxisorientiertes Dokument; vieles davon ist einfach umzusetzen. Es ist nicht schwer, auf die Vertreibung obdachloser Menschen aus öffentlichen Parks zu verzichten. Das Problem ist in der Schweiz nicht so gross, dass es nicht lösbar wäre.
Finnland mit seinem Housing-FirstAnsatz wird oft als erfolgreiches Modell für die Abschaffung von Obdachlosigkeit präsentiert. Ist das eine Lüge? Schliess-lich haben Sans-Papiers und EU-Migrant*innen in der Regel keinen Zugang zu Housing First.
Bevor Sie es als Lüge bezeichnen, müsste man vielleicht erst einmal zurückfragen: Wer hat denn die Lüge verbreitet? Es ist definitiv nicht die Finnland. Ich habe noch keine finnische Person sagen hören, sie hätten die Obdachlosigkeit abgeschafft.
ZVG
FOTO: FREEK SPINNEWIJN aus Belgien ist seit 2001 Leiter von Feantsa (Fédération Européenne des Associations Nationales Travaillant avec les Sans-Abri). Der 1989 gegründete Dachverband vereint als europäisches Netzwerk über 120 Organisationen aus 30 Ländern, die mit Obdachlosen arbeiten. feantsa.org