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Vor Gericht

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Veranstaltungen

Veranstaltungen

Das Magazin wird ausschliesslich von Freiwilligen produziert (Redaktion, Journalismus, Fotografie, Layout und Design), die sich virtuell zu Redaktionskonferenzen treffen. Berichtet wird vor allem über kulturelle Veranstaltungen sowie über soziale und politische Themen wie LGBTQI+, Obdachlosenrechte und Rassismus.

2 — Revista Traços, Brasília, Brasilien

Traços gibt es seit sieben Jahren. Das Magazin ist als Kulturzeitschrift bekannt. Durch den Verkauf von Traços finden die Verkäufer*innen einen Weg aus der extremen Armut heraus und sie schaffen es, selbst für grundlegende Ausgaben wie Wohnung, Nahrung und Gesundheit aufzukommen.

3 — Aurora da Rua, Salvador, Brasilien

Mehr als 350 Obdachlose haben bereits auf verschiedene Weise von Aurora da Rua profitiert, nicht nur finanziell. Es geht auch um Selbstwertgefühl, Arbeitstraining, Autonomie, Selbstvertrauen sowie medizinische und psychologische Gutachten. Das Projekt hält sich an einen Verhaltenskodex, der von den ersten Verkäufer*innen ausgearbeitet wurde, jedes Jahr von ihnen selbst aktualisiert wird und in der Zeitschrift zusammen mit einem Porträt in jeder Ausgabe veröffentlicht wird.

4 — Mi Valedor, Mexico-City, Mexiko

... erscheint alle vierzehn Tage und bietet Obdachlosen, Migrant*innen, älteren Erwachsenen und Menschen mit Behinderungen eine Chance zur sozialen und beruflichen Wiedereingliederung.

5 — Hecho en Bs. As., Buenos Aires, Argentinien

Die Zeitschrift ist führend, was Umweltthemen betrifft. Weitere Themenschwerpunkte sind die lokale Wirtschaft, Menschenrechte und Kultur. Das Magazin bietet Menschen die Möglichkeit, ein Einkommen zu erzielen, ist aber auch ein Lernumfeld und stellt einen Rahmen für soziale Beziehungen zur Verfügung.

Festung Europa in Dietikon

Der Fall ist Routine: Ein abgewiesener Asylsuchender, der gestohlen hat. Einer der Tausenden von Menschen aus dem globalen Süden, deren Reise aus der Perspektivlosigkeit in einer ebenso ausweglosen Situation endet. Der Fall wird im abgekürzten Verfahren erledigt. Das heisst, die Anklageschrift ist zugleich Urteilsvorschlag. Sie besteht vorwiegend aus Listen von gestohlenen Gegenständen. Der Richter prüft die Personalien des Beschuldigten: Er ist 23, in diesem Frühjahr von Deutschland in die Schweiz eingereist, eigentlich um seinen Bruder zu besuchen. Seit 167 Tagen sitzt er im vorzeitigen Strafvollzug. «In zehn Tagen werde ich sechs Monate in UHaft gewesen sein», sagt der junge Mann. Er sei jetzt ein anderer Mensch geworden. Insbesondere habe er mit den Medikamenten aufgehört, von denen er abhängig war. Schön, sagt der Richter.

Es geht um fünf Anklagevorwürfe: zwei Einschleichdiebstähle, Diebstahl eines Rucksacks aus einem unverschlossenen Auto und Diebstahl einer Gleitsichtbrille. Unüblich ist der letzte Anklagepunkt: Der Beschuldigte hat ein iPhone 7 gefunden, das jemand auf einer Parkbank liegengelassen hat – und den Fund nicht der Polizei gemeldet. Gut zu wissen: Wer etwas findet, das den Wert von 10 Franken übersteigt, ist zur Meldung verpflichtet.

Für die Diebstähle stehen 13 Monate bedingt im Raum, für das Unterlassen der Anzeige des Fundes eine Busse von 300 Franken. Zudem, erklärt ihm der Richter, soll ein Landesverweis von fünf Jahren ausgesprochen werden und die Ausschreibung im Schengener Informationssystem. Der Beschuldigte nickt, sei er einverstanden.

«Aber haben Sie wirklich verstanden?», hakt der Richter nach. Das bedeute, dass es ihm nicht möglich sein wird, in den Schengenraum einzureisen. Wo er denn gedenke hinzugehen? Nach Italien, antwortet der Migrant.

Darauf der Gerichtspräsident: «Wenn Sie ausgeschrieben werden und nirgends einen Aufenthaltstitel haben, werden Sie Europa verlassen müssen. Wohin gehen Sie?» Zusammen kommen sie darauf, dass der junge Mann als Automechaniker gearbeitet hat, in Bosnien. Ob er nicht dort wieder anheuern könnte, fragt der Richter. Denn: Bosnien ist nicht im Schengenraum.

Das Schlusswort des jungen Mannes ist eine Entschuldigung, «von tiefstem Herzen», wie er sagt. Er habe Gewissensbisse.

Das Gericht erhebt den Vorschlag der Staatsanwaltschaft zum Urteil. Es gesteht dem Verurteilten zu, dass er über knappe finanzielle Mittel verfügt. Er sei «ein Engpasstäter», kein Profi. Sondern einer, der ertappt wurde, weil er eine Energydrink Dose am Tatort vergessen hatte. Andererseits habe er regelmässig gestohlen, die Deliktsumme belaufe sich auf immerhin 12 000 Franken. Und: «Sie sind in ein Haus eingedrungen. Was hätten Sie getan, wenn jemand da gewesen wäre?» Auch den Vorwurf «Nichtanzeigen eines Fundes» lässt das Gericht gelten.

Während die Dolmetscherin die Worte des Richters wiedergibt, wischt sich der Mann verstohlen eine Träne aus dem Auge. Was wohl in ihm vorgeht?

YVONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin in Zürich.

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