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Eine erschreckende Idee
Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs verfolgten die Nazis als «Lösung der Judenfrage» den sogenannten Madagaskarplan: Millionen europäische Jüd*innen sollten auf die Insel an der Ostküste Afrikas deportiert werden. Historiker*innen werten den Plan als psychologischen Meilenstein hin zum Holocaust, als entscheidenden Schritt in der Entschlussfassung zum Völkermord.
Im April 2022 verkündete die britische Regierung einen Deal mit Ruanda: Für 120 Millionen Pfund übernimmt das Land ab sofort Menschen, die «auf gefährlichem oder illegalem Weg oder unnötigerweise in das Vereinigte Königreich einreisen». Also die meisten Asylsuchenden. Ihnen wird praktisch von vornherein das Recht abgesprochen, überhaupt Asyl zu beantragen. Die Zahl dieser «illegal people», wie Ex-Premier Boris Johnson sie nannte, steigt seit dem Brexit an. Mehr als 44 000 sind 2022 über den Ärmelkanal nach Grossbritannien gelangt. Geht es nach dem Willen der Regierung, sollen sie künftig nach Afrika abgeschoben werden. Kirchenoberhäupter, Flüchtlingsorganisationen und britische Bürger*innen reagierten empört. King Charles, damals noch Prinz, nannte diesen Plan Gerüchten zufolge «eine erschreckende Idee». Ein südafrikanischer Politiker sagte, wenn Ruandas Präsident diesen Menschen ein neues Zuhause bieten wolle, solle er sie ohne Gegenleistung aufnehmen. Geld gegen Menschen wecke schmerzhafte Erinnerungen an den Sklavenhandel.
Ein erster, für Juni 2022 anberaumter Ausschaffungsflug nach Ruanda konnte in letzter Sekunde mit einer einstweiligen Verfügung des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte in Strasbourg gestoppt werden. Mehrere NGOs und die Gewerkschaft der britischen Grenzbeamt*innen sowie Betroffene hatten geklagt. Im Dezember ging der Prozess am Londoner High Court um den Ruandaplan in die zweite Runde. Diesmal geht es einerseits um übergeordnete Fragen, die sich um die Rechtmässigkeit dieser Asylpolitik drehen. Zum Beispiel, ob das «offshoring» unerwünschter Menschen gegen die Flüchtlingskonvention verstösst oder gegen beibehaltenes EU-Recht. Anderseits geht es um elf Einzelfälle, Geflüchtete aus Syrien, Iran, Irak, Vietnam, Sudan und Albanien, die sich gegen ihre Abschiebeentscheide wehren.
Die Richter kommen zu einem beklemmenden Ergebnis: Sie schmettern alle übergeordneten Klagen ab. Der Ruandaplan sei rechtmässig. Gleichzeitig heissen sie sämtliche individuellen Beschwerden gut. Die Umstände der auszuschaffenden Personen seien nicht ausreichend geprüft worden. Schon will auch Dänemark Asylbewerber*innen nach Ruanda schicken, und die SVP fordert, die Schweiz müsse dieses Vorgehen ebenfalls prüfen. In einer Online-Umfrage von Nau.ch unterstützen 80 Prozent der Teilnehmenden dieses Ansinnen.
Übrigens: Die Umsetzung des Madagaskarplans der Nazis scheiterte damals am Seekrieg gegen Grossbritannien und der fehlenden Hoheit über die Seewege. Stattdessen wurde schliesslich ein Grossteil der europäischen Juden im Holocaust vernichtet.
Verkäufer*innenkolumne
Muss man wirklich?
Man muss oder will von Punkt A nach Punkt B kommen.
Sei es zum Arbeiten, die Bestellung liefern, zum Einkaufen, ins Kino, Urlaub, jemand besuchen, ans Konzert, an die Sportveranstaltung, Training oder was auch immer.
Wie weit ist der Weg?
Weniger als 500 Meter? 18 km? 250 km? 800 km? 6000 km?
Welches Verkehrsmittel nehmt ihr?
Wir alle sind also Verkehr. Zu Fuss, Trottinett, Rollschuh, Velo, Pferd, Bus, S-Bahn, Intercity, TGV, Auto, Motorrad oder Flugzeug.
Muss man wirklich dorthin?
Muss ein Schweizer, der weder den Oeschinensee noch das Centovalli kennt, um alles in der Welt nach Thailand?
Braucht es in einem Land, das so viel gutes Wasser hat, San Pellegrino? Müssen Autorennen auf unseren
Strassen stattfinden? Müssen Karotten aus dem Aargau nach Holland gekarrt werden bloss zum Verpacken? Wenn neun Fussballfans, alle vom selben Club, zusammen an den Match wollen, muss dann jeder im eigenen Auto fahren? Braucht man in der Stadt Geländewagen? Muss man wegen 500 Metern das Auto nehmen?
Ich sage klar: Nein!
Welches Verkehrsmittel verursacht wie viel Umweltschaden?
Durchschnittlicher CO²-Ausstoss pro Person und Kilometer (Quelle: WWF):
– Schnellzug SBB 6,7 g
– Reisebus 51,8 g
– ICE-Hochgeschwindigkeitszug 62,1 g
– Personenwagen 195,3 g
– Interkontinentalflug 217,3 g
– Kurzstreckenflug 319 g
Autofahrer*innen brauchen massiv mehr Platz als Radler*innen oder ÖVBenutzer*innen. Ich fahre nicht Auto, und was ich in meinem Leben geflogen bin, lässt sich an einer Hand abzählen.
Ich fahre Velo, manchmal auch nur als Training, und gehe zu Fuss einkaufen.
Motorisierter Verkehr lärmt, Verkehr nervt, Verkehr kostet die Allgemeinheit viel Geld, motorisierter Verkehr stösst Schadstoffe aus, Verkehr verursacht Unfälle, Verkehr tötet.
Gerade der ÖV schafft aber auch viele Arbeitsplätze. Verkehr ist manchmal notwendig, hat aber auch viele Nachteile.
MICHAEL HOFER, 42, verkauft Surprise vor dem Neumarkt Oerlikon. Von seinem Wohnort Winterthur aus gelangt er mit dem Zug zur Arbeit. Zwei S-Bahnen fahren in regelmässigen Abständen direkt, dazu einmal pro Stunde ein Intercity und ein Interregio.
Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.