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Wer nötigt hier wen?
Er ist 45, studierter Wissenschaftler und Lehrer. 2021 stellte er sich mit gut 200 Mitstreiter*innen und einem Transparent auf die Strasse vor der Polizeiwache Urania im Herzen Zürichs. «Wir wollen leben!»
Andere wollten freie Fahrt. Dass der Lehrer mit seinem Handeln vorübergehend den Verkehr in Zürichs Innenstadt behinderte, taxiert die Staatsanwaltschaft, wie in solchen Fällen üblich, als Nötigung. Nun steht er vor dem zuständigen Einzelrichter am Bezirksgericht Zürich und bittet um ein weises Urteil. Er sagt: «Lassen Sie sich nicht einschüchtern!»
Dieser Satz fiel schon einige Monate zuvor in einer Verhandlung am selben Gericht, zum selben Protest – allerdings in umgekehrter Richtung. In jenem Fall ermunterte der Richter Roger Harris einen Klimaaktivisten, den Mut nicht zu verlieren. Und sagte öffentlich, dass er keine Schuldsprüche mehr gegen friedlich Demonstrierende aussprechen werde –, weil es die Europäische Menschenrechtskonvention und die Rechtsprechung des Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) so verlangten. Es gebe ein Mass an Beeinträchtigung, das in einem Rechtsstaat geduldet werden müsse, um die Versammlungs und Meinungsäusserungsfreiheit zu gewährleisten. Nach Rechtsprechung des Gerichtshofs gilt das auch für unbewilligte Kundgebungen.
Diese Äusserungen hatten Folgen für Richter Harris: Sämtliche Dossiers betreffend Klimaaktionen wurden ihm entzogen. Die Staatsanwaltschaft drang beim Zürcher
Obergericht mit einem Ausstandsbegehren durch. Richter Harris sei befangen. Darüber wird das Bundesgericht befinden müssen. Mindestens zwei Beschwerden sind in Lausanne eingetroffen.
Doch zurück zum Lehrer, der zugibt, an der Demo teilgenommen zu haben, um auf die Klimakatastrophe hinzuweisen. Auch er sieht sich genötigt: Das Nichtstun des Staates zwinge auf die Strasse. Es sei ihm bewusst gewesen, was ihm durch den zivilen Ungehorsam blühe: dieser Prozess. Aber Nichthandeln berge mehr Risiken. Unabhängig vom Urteil werde er den Saal als unschuldiger Mensch verlassen, er werde die Sache notfalls bis nach Strassburg tragen.
Sein Verteidiger verweist auf die «Affäre Harris». Die Rechtsprechung des EGMR müsse zwingend beachtet werden. Und: Gleiches sei gleich zu behandeln. Um nichts anderes als diese juristische Selbstverständlichkeit sei es Harris gegangen. Es gehe um Rechtssicherheit, alles andere sei Willkür.
Die Stimmung im voll besetzten Gerichtssaal ist geladen, als der Richter das Urteil verkündet: Schuldig. Für ihn steht fest, dass der Aktivist Verkehrsteilnehmer*innen genötigt hat. Daran ändere auch das «berechtigte Interesse» der Aktion nichts, so der Richter. Die Versammlungsund die Meinungsäusserungsfreiheit gälten nicht schrankenlos. Mit solchen Aktionen würden die Rechte anderer eingeschränkt, einige Verkehrsteilnehmer*innen hätten einen Umweg fahren müssen oder seien im Stau stecken geblieben.
Der Richter verhängt die von der Staatsanwaltschaft verlangte Geldstrafe: 15 Tagessätze à 90 Franken, bedingt, bei einer Probezeit von zwei Jahren. «Trotzdem alles Gute.»
Verkäufer*innenkolumne
Ein Stein in Davos
Sport ist für mich wichtig, er gibt mir die Motivation, die ich brauche. Früher war ich selber im Street Soccer Team, heute, weil ich einen kaputten Fuss habe, verfolge ich den Sport eher vom Sofa aus. 2016 war ich an der Street Soccer WM in Glasgow, das war ein wunderbares Erlebnis. Das Training und die Spiele haben mein Verhalten geändert, früher war ich eher laut, was an den Verkaufsorten nicht gerne gesehen wird, danach bin ruhiger geworden. Der Einfluss des sportlichen Erfolgs machte mich stark.
Wenn ich eine schlechte Phase im Verkauf habe, gehe ich in meine Heimat in Davos, an den Davosersee, dort hat es einen bestimmten weisslichen Stein, der für mich eine Bedeutung hat. Da schreibe ich jeweils sechs schlechte Sachen auf, die ich an mir finde, und die sechs Dinge, die ich erreichen will.
Davos hat mir einst das Leben gerettet. Ich hatte Probleme mit dem Atmen, Lungenprobleme. Da bin ich zu meiner Grossmutter nach Davos gereist, sie hat mich schön warm eingepackt und auf den Balkon gesetzt, damit ich die Herbstsonne geniessen konnte. Sie hatte schlechte Beine und konnte eigentlich nicht mehr so gut gehen. Trotzdem sind wir zusammen um den See gegangen, sie mit einem Kinderwagen, an dem sie sich festhalten konnte. So lernte sie langsam wieder gehen, sogar ohne Stock, obwohl die Ärzte ihr gesagt hatten, sie würde nie mehr normal gehen können. Sie lebte im vierten Stock ohne Lift, sie musste einfach die Treppen hinauf und hinunter.
Davos ist für mich immer noch sehr wichtig. Als ich 2020 meinen Fuss operieren lassen musste, war ich nach dem Spital wohnungslos und lebte im Hotel Dischma, das früher dem Präsidenten des Eishockey-Clubs gehört hatte. Von da aus fuhr ich jeden Tag nach Chur. Fünf Tage vor Ostern fand ich ein Studio in Chur, wo ich jetzt wohne. Wie oft in meinem Leben findet sich irgendwann doch noch eine Lösung. Seit drei Jahren lebe ich nun dort, aber leider wird bald saniert, und ich muss wieder etwas Neues suchen. Das wird wieder eine spannende Sache, denn in meinem Fall ist das nicht so einfach. Doch davon ein nächstes Mal.
RUEDI KÄLIN, 64, verkauft Surprise in Zürich und Chur. Er ist ehemaliger Surprise Stadtführer. Er musste diese Aufgabe aufgeben, weil er wegen Diabetes seinen Fuss fast verloren hat.
Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.