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Armut und Sozialhilfe
Die Armut in der Schweiz nimmt zu, die Zahl der Sozialhilfebeziehenden aber sinkt. Und das nicht erst seit der CoronaPandemie. 2017 zählte das Bundesamt für Statistik rund 675 000 armutsbetroffene Menschen in diesem Land, fünf Jahre später sind es 722 000. In der gleichen Zeitspanne sank die Zahl der Personen, die von der Sozialhilfe unterstützt werden, von 278 000 auf 272 000. Wie lässt sich diese gegenläufige Entwicklung erklären?
Der Nichtbezug von sozialstaatlichen Leistungen wird seit geraumer Zeit in Fachkreisen diskutiert. Drei Gründe dafür finden sich rasch. Da ist zum Ersten die Angst vor Stigmatisierung und Scham, also psychosoziale Gefühle, die Menschen abhalten, ihr Anrecht auf materielle Hilfe geltend zu machen. Zweitens mangelt es vielen an Wissen, wie sie zu ihrem Geld kommen können, oder sie haben die falschen Informationen über ihre Chancen, Unterstützung von den Sozialdiensten zu erhalten. Und drittens trägt die konkrete Ausgestaltung der Sozialhilfe, etwa die Rückerstattungs- oder die Verwandtenunterstützungspflicht, dazu bei, dass Menschen darauf verzichten, einen Antrag auf Sozialhilfegeld zu stellen.
So plausibel diese Gründe sind, so wenig können sie die gegenläufige Entwicklung bei den Armuts- und Sozialhilfezahlen erklären. Denn mit Blick auf diese drei Beweggründe für den Nichtbezug hat sich in den letzten Jahren kaum etwas Wesentliches geändert. Was sich hingegen geändert hat, ist die Verknüpfung von Sozial- und Ausländerrecht. 2019 wurde das Ausländerrecht verschärft. Beziehen Migrant*innen Sozialhilfe, riskieren sie den Entzug oder die Einschränkung der Aufenthaltsbewilligung. Diese Regelung hat eine diskriminierende Mauer um die Sozialhilfe gebaut und viele Familien mit
Zahl der Armutsbetroffenen und Sozialhilfebeziehenden 2011-2020
Migrationsgrund in existenzielle Notlagen gebracht. Sie sind auf die Hilfe von kirchlichen Organisationen oder NGOs wie Caritas oder das HEKS angewiesen.
Zudem lässt sich ein demografischer Effekt vermuten. Mehr Menschen haben aus prekären Arbeitsverhältnissen oder direkt aus der Sozialhilfe in die Pensionierung gewechselt. Ob sie dort Ergänzungsleistungen beziehen, ist eine offene Frage. Damit steigt die Armut im Alter. Vermutlich beeinflusst noch ein weiteres Phänomen die geschilderte gegenläufige Tendenz, die sogenannte Armutslücke. Diese beschreibt die Differenz zwischen dem vom Haushalt erzielten Erwerbseinkommen und der Armutsgrenze. Je kleiner die Lücke ist, desto geringer ist die Bereitschaft, einen Antrag auf Sozialhilfe zu stellen. Man scheut nicht nur den Aufwand, sondern ist auch nicht bereit, etwa auf ein Auto zu verzichten.
Die sehr tiefen Arbeitslosenzahlen lassen vermuten, dass eine wachsende Zahl von Sozialhilfebeziehenden in den letzten zwei, drei Jahren wieder eine Stelle auf dem Arbeitsmarkt gefunden haben. Dabei dürfte es sich vor allem um prekäre Arbeitsverhältnisse mit tiefen Lohneinkommen handeln. Diese Working-poor-Haushalte finden sich weiterhin in der Armutsstatistik, verzichten aber auf den eher geringen Beitrag an wirtschaftlicher Sozialhilfe, auf den sie im Prinzip Anrecht hätten.
PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.
Serie: Digitalisierung In einer fünfteiligen Serie machen wir uns auf die Spur der Gräben, welche die Dig italisierung schafft. Und schauen dorthin, wo sie Teilhabe an der Gesellschaft ermö glicht.
Schlecht vernetzt
Apps, Smartphones und Chatgruppen erleichtern viele Lebensbereiche. Doch wir nehmen längst nicht alle in die digitale Gesellschaft mit.
TEXT FLORIAN WÜSTHOLZ ILLUSTRATIONEN TIMO LENZEN
Die Digitalisierung hat unsere Welt verändert. Gerne wird sie uns als Chance verkauft, weil sie unser Leben erleichtert: Wir können einfach Geld überweisen, uns mit Gleichgesinnten über tausende Kilometer hinweg austauschen oder Ersatzteile für das Lieblingsvelo per Klick finden und bestellen. Nur profitieren davon nicht alle. Denn für viele Menschen bedeuten Apps, Smartphones, Online-Schalter und kontaktloses Bezahlen nicht Bequemlichkeit und Flexibilität, sondern: Ausgrenzung.
«Wir sprechen oft über die Chancen –die natürlich durchaus da sind –, vergessen aber, dass es viele Menschen gibt, die abgehängt werden», sagt Isabelle Lüthi von Caritas Zürich. Ob jemand von der digitalen Teilhabe ausgeschlossen ist, sieht man einer Person von aussen kaum an. Manche verzichten freiwillig darauf, ständig vernetzt zu sein und Datenspuren zu hinterlassen. Andere haben keine Wahl. «Menschen, die von Armut betroffen sind, haben in unserer Informationsgesellschaft – wo Digitalisierung überall in unseren Lebensbereichen stattfindet – ein massiv höheres Risiko als der Einkommensdurchschnitt, digital abgehängt zu werden», sagt Christine Mühlebach von Sozialinfo.
Die moderne Gesellschaft stellt sie vor Hürden, weil sie keinen Zugang zu digitalen Mitteln oder zu wenig Geld und Wissen haben, um digitale Angebote zu nutzen. Sie können ihr Auto nicht mehr am Bahnhof parkieren, weil die Parkuhr nur noch per App bezahlt werden kann. Sie erhalten nur auf Umwegen eine persönliche Gesundheitsberatung, weil die Grundversorgung auf Chatbots im Internet verlagert wurde. Oder sie bezahlen extra, um sich einen ausgedruckten Kontoauszug nach Hause schicken zu lassen.
Für all jene Menschen wird es zunehmend schwieriger, sich in der digitalisierten Gesellschaft zurechtzufinden und den Anschluss nicht zu verlieren. Denn mit der Digitalisierung meinen wir oft einen ganzen Strauss von Entwicklungen, der in alle Bereiche der Gesellschaft vordringt: Digitale Arbeitsprozesse und -inhalte, neue Medien und Technologien, digitale Kommunikation, papierlose Gesellschaft, Robotik und künstliche Intelligenz, elektronische Daten, Optimierung, Effizienz. Nicht nur Spiel und Spass werden digital – auch unsere Grundbedürfnisse und die Wege zur sozialen Teilhabe stehen oft nur noch über Smartphones und das Internet offen.
Dabei steckt beim Internet der Grundgedanke der Inklusion eigentlich im Erbgut. Am 7. April 1999 erklärte der Internetpionier Vint Cerf: «Das Internet ist für alle da –aber nur, wenn es für alle, die es nutzen wollen, erschwinglich ist. Das Internet ist für alle da – aber nur, wenn es nicht zu kompliziert ist, um von allen problemlos genutzt werden zu können.» Das Internet hatte damals geschätzte 150 Millionen Nutzer*innen. Heute sind es über fünf Milliarden –und trotzdem bleibt Cerfs Erklärung so gültig wie eh und je. Denn das Bundesamt für Statistik geht davon aus, dass 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung in der Schweiz –das sind rund zwei Millionen Menschen –keine oder nur geringe digitale Kompetenzen haben (siehe «Der digitale Graben: Für mich, aber auch für dich?», S. 10). Sie finden sich im Internet nicht zurecht oder schaffen es nicht, mit dem eigenen Smartphone um- zugehen. Als Folge haben sie zum Beispiel Schwierigkeiten, soziale Kontakte aufrechtzuerhalten oder einen Job zu finden und zu behalten. «Um zu erfassen, was die Digitalisierung mit uns als Gesellschaft macht, wäre es wichtig, die Lebenswelt der verschiedenen Betroffenen besser in den Blick zu bekommen», sagt Mühlebach.
Ungleich verteilte Chancen
Grund genug, sich in einer fünfteiligen Serie auf die Spur der digitalen Gräben, Hürden und Sümpfe zu machen. Denn die Chancen, an der digitalen Gesellschaft teilzuhaben und auf den Zug der digitalen Möglichkeiten aufzuspringen, sind ungleich verteilt. Sie hängen von einer ganzen Palette sozialer Faktoren ab. Dabei müssen wir uns die Fragen stellen: Was machen wir mit diesem Werkzeug, das uns in die Hand gedrückt wurde? Und wie können wir dafür sorgen, dass es wirklich für alle da ist?
So ist diese Serie auch ein Versuch, den Blick auf die digitale Lebenswelt und die Betroffenen zu schärfen. Wobei aufgrund berechtigter Kritik das vielversprechende Positive nicht untergehen soll. Denn dank der Digitalisierung können sich Menschen einfach im Internet Hilfe holen und vernetzen. Menschen auf der Flucht koordinieren sich und bleiben dank ihrer Smartphones in Kontakt. Wer schlecht sieht, kann sich die Nachrichten von einer Software vorlesen lassen. Und Suchtkranke erhalten Unterstützung durch Apps und Chatgruppen, an die sie sich fast jederzeit wenden können.
So ist die Digitalisierung auch ein Werkzeug der Ermächtigung, das ausgeschöpft werden darf – bloss, bitte, ohne dabei Menschen auszugrenzen.
Digitalisierung: eine Serie in fünf Teilen
Teil 1: Der digitale Graben, Surprise Nr. 548
Teil 2: Fehlender Zugang, Surprise Nr. 550
Teil 3: Ungleiche Datensammlung, Surprise Nr. 552
Teil 4: Migration und Digitalisierung, Surprise Nr. 553
Teil 5: Blick in die Zukunft, Surprise Nr. 554
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