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«Impulsgeber*innen für die Gesellschaft»
Bio grafiearbeit Sybille Roter begleitet Surprise Stadtführer*innen dabei, eine erzählbare Version ihrer Lebensgeschichte zu entwickeln. Das ist Übersetzungsarbeit für die Gesellschaft und Arbeit an sich selbst.
Sybille Roter, auf den sozialen Stadtrundgängen sprechen Menschen über Armut, indem sie ihre Lebensgeschichte erzählen. Gibt es denn nur eine wahre Version einer Biografie?
Jeder Mensch könnte jeden Tag seine eigene Biografie auf andere Weise schildern. Wir erzählen auf den Touren jeweils die «Armutsbiografie»: Es sind biografische Ereignisse, die mit Hintergrundinformationen zum Thema strukturelle Armut verbunden werden. Dazu gehören Selbstreflexion, aber auch gesellschaftliche Dimensionen. Die Stadtführer*innen setzen sich mit Themen wie kultureller Teilhabe, Obdachlosigkeit oder dem Schuldensystem in der Schweiz fachlich auseinander. Es ist entscheidend, das gesellschaftliche System und seine Weichenstellungen zu verstehen, die eine individuelle Biografie letztlich stark prägen.
Ich stelle mir vor, dass sich die Authentizität irgendwann abnutzt, die Erzähler*innen sich weiterentwickeln – auch durch die Arbeit selbst. Was passiert, wenn irgendwann die eigene biografische Erzählung nicht mehr recht passen mag?
Die Stadtführer*innen – und auch ich als Zuhörerin – merken, wenn sie sich mit ihrem Lebensgefühl zu weit von ihrer erzählten Lebensgeschichte entfernen. Beispielsweise tauchen neue Themen auf. Plötzlich geht es nicht mehr so sehr um die Erfahrungen als Obdachlose*r, sondern um den Prozess, aus der Obdachlosigkeit heraus und in den eigenen vier Wänden anzukommen. Das ist ja das vermeintliche Happy End. In Wahrheit setzen sich die Schwierigkeiten dort in neuer Form fort. Viele Probleme, gerade in Zusammenhang mit Schulden, bleiben an den Betroffenen hängen wie eine chronische Krankheit. Von da aus gelangen wir auf eine nächste Ebene und erzählen davon, dass es in der Schweiz fast keine Housing-First-Projekte gibt und weshalb die Türen der Gesellschaft trotz Wohnung oft verschlossen bleiben. Was braucht es, um wirklich ein neues Leben beginnen zu können?
Kommt irgendwann auch der Punkt, an dem man Expert*in für Armutsthemen sein kann, ohne als Betroffene*r ständig seine eigene Biografie erzählen zu müssen?
Surprise hatte einen Stadtführer, der 600 Touren absolviert hatte. Wir merkten beide, dass er sich im Grunde zu stark von seinem früheren Leben entfernt hatte. Er war ein Experte, aber verknüpfte das Thema Armut nicht mehr mit sich selbst. Das Wissen, das er bei Surprise aufgebaut hat, kann er jetzt beim Verein «ATD – Vierte Welt» auf andere Weise einbringen. ATD betreibt angewandte Forschung und erarbeitet Konzepte für die Partizipation von armutsbetroffenen Menschen in der Gesellschaft. Sie wollen die gelebte Erfahrung in den politischen Prozess einbringen.
die Partizipation von Betroffenen in Institutionen – in der Sozialhilfe, der sozialen Arbeit, in Housing-First-Projekten etwa, sodass sie dort ihr Wissen operativ einbringen können nund so auch zur Unterstützung fürs System werden. Betroffene mit Erfahrungswissen und einer begleitenden Ausbildung können wichtige Impulsgeber*innen für die Gesellschaft sein.
Ändert sich damit auch der Blick auf Armutsthemen?
Auf jeden Fall. Ich sehe, dass laufend neue Themen in die Öffentlichkeit getragen werden. Man spürt dies in der Gesellschaft. Zum Beispiel im Bereich Frauenarmut oder sexualisierte Gewalt. Es braucht eine Öffnung in der Gesellschaft, damit wir diese Themen auch unseren Besucher*innengruppen zumuten können. An eine gesellschaftliche Debatte anknüpfen zu können, ist ein wichtiger Schritt.
Trotzdem sind Armutsthemen oft gesellschaftliche Tabus, die mit Scham und Schuld zu tun haben.
SYBILLE ROTER, 61, ist verantwortlich für die Entwicklung der ersten Sozialen Stadtrundgänge in der Schweiz, die Surprise anbietet.
Mir scheint, es gibt immer mehr Bereiche, in denen Armutsbetroffene eine Expertenrolle einnehmen. Stimmt das?
Wir sind oft in Kontakt mit Fachhochschulen und sehen da verstärkt Ansätze dazu, die Expertise von Betroffenen in Lehre und Forschung einzubinden. Oder sie werden als Vermittler*innen eingesetzt, als sogenannte Peers. In der Psychiatrie werden schon länger Betroffene auf diese Weise eingesetzt. Ein wichtiger Schritt wäre auch
Sexuelle Gewalt, Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Sucht und Schulden sind Themen, die immer stark mit Schuldzuweisungen an die Betroffenen verknüpft waren. Damit stösst man schnell auf Ablehnung. Die Schuldenthematik, die auf vielen unserer Stadtrundgänge zur Sprache kommt, war in der Gesellschaft lange kaum greifbar. Nun fängt plötzlich ein Umdenken an, viele realisieren, dass am Schuldensystem in der Schweiz viele Akteure verdienen – Kreditinstitute etwa am offensichtlichsten. Da ist etwas aufgebrochen. Schulden werden endlich als gesellschaftliches System diskutiert und nicht mehr bloss als persönliches Versagen verstanden.
Auf den Sozialen Stadtrundgängen vermitteln Menschen, die Armut und Ausgrenzung aus eigener Erfahrung kennen, ihre Perspektive auf die Städte Basel, Bern und Zürich. surprise.ngo/Stadtrundgang