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Wer bekommt wo ein Dach über dem Kopf?
Wie verschiedene Staaten in Europa und den USA Obdachlosigkeit begegnen.
TEXTE SARA WINTER SAYILIR
Obdachlosigkeit gefährdet grundsätzliche Menschenrechte wie das Recht auf Leben, auf Gesundheit, auf körperliche Unversehrtheit und auf Menschenwürde. Der Staat ist verpflichtet, diese zu schützen. Sogar ein Recht auf Wohnen ist in den sogenannten sekundären Menschenrechten verankert. Jedoch kommen die Staaten ihrer Verpflichtung auf sehr unterschiedliche Weise nach. Ein Blick auf Europa und die USA.
USA: Ein massives Problem
Die Zahl der Menschen ohne Obdach in den USA steigt: Mehr als eine halbe Million lebten 2022 auf der Strasse. Das sind 34 Prozent mehr als noch 2020. Die USA verfügen über ein dezentral geregeltes System von Notunterkünften, das jede Nacht etwa 354 000 Menschen unterbringt. Immerhin gibt es hier im Gegensatz zu den meisten europäischen Staaten einen Überblick über das Ausmass des Problems. Es bestehen erhebliche Unterschiede zwischen den Bevölkerungsgruppen: Die Wahrscheinlichkeit, dass Familien mit Kindern nicht untergebracht werden, ist am geringsten (zehn Prozent der nicht untergebrachten Personen). Allerdings hatten 50 Prozent der unbegleiteten wohnungslosen Jugendlichen im Jahr 2020 kein Dach über dem Kopf. Alleinstehende tragen ein besonders starkes Risiko, keinen Platz in einer Notunterkunft zu bekommen. Es mangelt an sicheren, barrierefreien Unterkünften oder Übergangswohnungen. Viele Notunterkünfte sind voll oder verweigern Menschen den Zutritt, die mit einer psychischen Erkrankung zu kämpfen haben und/oder an einer Drogenabhängigkeit leiden, die vorbestraft sind, mit einer Behinderung oder chronischen Krankheit leben oder sich als LGBTQIA+ identifizieren – trotz anderslautender Vorschriften, die diese Art der Diskriminierung verbieten. Darüber hinaus werden die Unterkünfte den Bedürfnissen der Menschen oft nicht gerecht. Zudem haben die Auswirkungen der steigenden Obdachlosigkeit auf die Umgebung in vielen Gemeinden die Unterstützung für weitere Investitionen untergraben. Immerhin hat die Regierung Biden die Wohnungslosigkeitskrise auf nationaler Ebene als solche anerkannt und einen strategischen Plan zur Bekämpfung entworfen mit dem Ziel, die Wohnungslosigkeit bis 2025 um 25 Prozent zu reduzieren.
Polen: Öffnung für Auswärtige
Die Notunterkünfte in Polen richten sich grundsätzlich an sogenannte «selbständige Wohnungslose»: Menschen, die selbständig laufen, essen und Körperpflege betreiben können und keine ansteckenden Krankheiten haben. In den Notschlafstellen spielt es seit einer Gesetzesänderung von 2016 allerdings keine Rolle mehr, ob man am entsprechenden Ort gemeldet ist oder mit dem lokalen Sozialhilfesystem kooperiert. 2018 wurde das Angebot ergänzt: Nun gibt es auch Notunterkünfte mit Pflege- und Betreuungsangebot für sogenannte «unselbständige» Obdachlose. Menschen mit einer Drogen- oder Alkoholabhängigkeit jedoch dürfen nur die Wärmestuben besuchen (ausser an sehr kalten Tagen). Und der Zugang zu ganztägig geöffneten Einrichtungen bleibt beschränkt auf Leute, die mit der örtlichen Sozialhilfe kooperieren – es braucht hier eine amtliche Zuweisung. Es bestehen Diskrepanzen zwischen Rechtsanspruch und lokaler Praxis, vor allem bei der Öffnung der Notschlafstellen für Nicht-Einheimische.
Irland: Menschen in normales Wohnen überführen
In Irland stieg die Zahl der von der Wohnraumkrise betroffenen Menschen in den zwei Jahren vor 2018 stark an: um knapp 60 Prozent. Die Regierung reagierte und erhöhte das Budget der Gemeinden für die Bereitstellung entsprechender Auffangangebote von 70 Millionen im Jahr 2016 auf 120 Millionen Euro im Jahr 2018. Geändert hat sich nicht nur die reine Anzahl der Betroffenen, sondern auch, wen es trifft: Immer mehr junge Menschen sind obdachlos, zudem ist das Phänomen vermehrt auch in ländlichen Gegenden zu beobachten. Passende Unterbringungsmöglichkeiten fehlen vor allem für Familien. Da die vorhandenen Notunterkünfte in den Ballungsräumen nicht für Familien geeignet sind, akquirierten die Behörden zusätzlich Hotel- und Gästezimmer. Dies entwickelt sich zu einer längerfristigen Behelfslösung. Das Housing-First-Programm in Dublin ist lediglich auf rund 300 Langzeitobdachlose ausgerichtet. Auf Dauer gelingt es nur mit einem Ausbau an erschwinglichem Wohnraum, Menschen aus der Wohnungslosigkeit wieder in «normales Wohnen» zu überführen, das anerkennt auch der irische Minister für Wohnen.
Deutschland: Unterkunft für unfreiwillig Wohnungslose
In Deutschland sind die Kommunen ordnungsrechtlich verpflichtet, «unfreiwillig obdachlose Personen» unterzubringen. Es gibt keine bundesweit geregelten Mindeststandards, Fachverbände fordern diese seit Langem. Das explizite Recht auf Wohnen, wie es in den sekundären Menschenrechten verankert ist, fehlt im Grundgesetz. Zuständig für die Unterbringung ist jeweils die Gemeinde, in deren Gebiet die Betroffenen sich aufhalten, nicht mehr die Meldegemeinde. Das umfasst neben der Notversorgung auch längerfristige Unterbringung, sofern die Betroffenen sich nicht durch Eigeninitiative selbst eine Unterkunft verschaffen könnten (indem sie bspw. zur Sozialhilfe gingen), und betrifft auch Angehörige aus EU- und Drittstaaten, also auch aus dem Asylwesen. Ein Verweis auf die Rückkehrmöglichkeit bei EU-Bürger*innen ist rechtlich nicht zulässig. Jedoch wird gerade im Falle von EU-Bürger*innen teilweise mit eben diesem Verweis die Unterkunft verweigert.
Praxisberichte und Studien zeigen, dass je nach Gemeinde entweder grundsätzlich Menschen nicht ordnungsrechtlich untergebracht oder bestimmte Gruppen vom Anspruch ausgeschlossen werden. Mangel gibt es vor allem bei Menschen mit besonderen Bedürfnissen wie Frauen, Menschen mit Behinderungen, auch psychischen Erkrankungen, Familien, jungen Wohnungslosen, Abhängigen oder Haustierhalter*innen. Teilweise werde der Zugang auch davon abhängig gemacht, ob die Betroffenen ihren Anspruch auf Sozialleistungen nachweisen können. Eine bundesweite Strategie zur Vermeidung von Wohnungslosigkeit fehlt.
Niederlande: Wer für sich selbst sorgen kann, ist allein
Rund 30 500 Menschen galten 2016 in den Niederlanden als wohnungs- oder obdachlos. Sie hätten dem Gesetz nach ein Recht auf Unterstützung, viele Gemeinden erfüllen dieses Recht allerdings nur unzureichend. In Amsterdam ist beispielsweise die Schwelle für eine Hilfeleistung extrem hoch: Mit bis zu sechs Behördenmitarbeiter*innen müssen Betroffene sprechen, allein um auf eine Warteliste für eine Notunterkunft zu kommen. Der Prozess kann länger als acht Wochen dauern. Die Betroffenen müssen nachweisen, dass sie «nicht selbständig» sind, um Anspruch auf Unterstützung zu haben (also gerade eine gegenteilige Handhabe als in Polen). Vor allem obdachlose Menschen ohne psychische Erkrankungen oder Suchtprobleme haben demnach keinen Anspruch auf Unterstützung durch den Staat. Zudem werden die Betroffenen von den Behörden oft unzureichend über ihre Rechte informiert. Bei einer Untersuchung in 43 Gemeinden kam heraus, dass Obdachlose vor allem aufgrund der strengen Kriterien daran scheitern, überhaupt Hilfe zu beantragen. Dies führt in der Folge oft zu einer weiteren Verschlechterung ihrer Lebenslage. Besonders Menschen, die unverschuldet auf der Strasse gelandet sind, die grundsätzlich aber einigermassen zurechtkommen, werden von den Anlaufstellen mit dem Verweis auf fehlende Ressourcen und Eigenverantwortung zurückgewiesen.
Frankreich: Zentral geregelter Zugang als Nadelöhr
Gesetzlich hat in Frankreich jede*r Obdachlose in einer medizinischen, psychischen oder sozialen Notlage ein Recht auf bedingungslosen Zugang zu einer Notunterkunft. Die Zuweisung erfolgt seit 1997 über die zentrale Hotline 115, die in der Verantwortung der regionalen Verwaltungseinheiten, der Départements, liegt. Wer nicht durchkommt oder eine Absage kassiert, muss erneut anrufen. Seit 2010 erteilen die Einrichtungen selbst keine Einlassbewilligungen mehr. Die Anzahl der Bedürftigen übersteigt die Kapazitäten der Notunterkünfte seit vielen Jahren. 2017 wurden am Stichtag im September nur 36 % der Anrufer*innen untergebracht. Die meisten Notunterkünfte sind nicht auf Familien ausgerichtet, weshalb betroffene Familien oft in Hostels und Hotels eingemietet werden –was zunächst als kurzfristige Lösung gedacht, de facto aber oft längerfristig wird und teuer ist. 2018 blieben am Stichtag im März sogar mehr als die Hälfte aller Anrufer*innen ohne Obdach; dabei sind nicht Durchgekommene und solche, die gar nicht erst anrufen, nicht miteingerechnet. Auch in französischen Asylunterkünften herrscht Platzmangel, weshalb viele Asylsuchende auf die Hotline 115 ausweichen. Abgewiesene Asylsuchende und Menschen ohne Duldung sind dabei besonders vulnerabel: Sie leben zwischen Strassenobdachlosigkeit, Übergangsbehausungen und Notunterkünften – ohne Perspektive auf Änderung. Hieran könnte nur eine offizielle Duldung inkl. Zugang zu Arbeits- und Wohnungsmarkt etwas ändern.
Verzicht auf Chemo und Spitalbehandlung: Mit dieser Entscheidung wird das Zuhause zum Hauptschauplatz des Films.